Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Allgemeine Anatomie 1. Achsen und Ebenen Die Topografische Anatomie sowie die Bewegungen des menschlichen Körpers werden mithilfe seiner Achsen und Ebenen beschrieben. Die Kenntnis dieser Achsen und Ebenen ist folglich für das anatomische Grundverständnis des Bewegungsapparates unerlässlich. Achsen: Longitudinale Achse: Die longitudinale (vertikale) Achse des Körpers verläuft längs des aufrecht stehenden Menschen. Sie trifft also senkrecht auf die Standfläche. Bezogen auf einzelne Röhrenknochen verläuft eine longitudinale Achse immer entlang des Knochenschaftes. Je nach Position des Knochens (oder der Gliedmaße) kann hier somit die longitudinale Achse von der vertikalen Position abweichen. Transversale Achse: Die transversale (horizontale) Achse zieht quer durch den Körper. Somit verbindet sie entsprechende Punkte beider Körperhälften. Sagittale Achse: Die sagittale Achse durchstößt vordere und hintere Rumpfwand gleich einem Pfeil (Sagitta), der senkrecht auf den Körper geschossen wird. Ebenen: Eine Ebene wird immer durch zwei nicht parallele Geraden (Achsen) gebildet, die durch denselben Punkt verlaufen. Frontalebene: Die Frontalebenen (Koronarebenen) verlaufen parallel zur Körpervorder- bzw. Körperrückseite. Sie teilen den Körper folglich in ein vorderes und ein hinteres Segment. Zu den Frontalebenen orthogonale (senkrechte) Achsen sind immer Sagittalachsen. Sagittalebene: Die Sagittalebenen teilen den Körper in ein rechtes und ein linkes Segment. Die Mediansagittalebene verläuft als Spezialfall exakt durch die Mitte des Körpers und teilt ihn in zwei gleichgroße Hälften. Transversalachsen stehen immer senkrecht (orthogonal) zu den Sagittalebenen. Transversalebene: Die Transversalebenen (Horizontalebenen) teilen den Körper in ein oberes und ein unteres Segment. Vertikale Achsen (bzw. longitudinale Achsen des gesamten Körpers) stehen senkrecht (orthogonal) zu den Transversalebenen. 1 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Beschriebene Objekte drehen sich bei Rotationsbewegungen, die sich in einer Ebene abspielen, immer um die orthogonale Achse zu dieser Ebene. Z.B. bewegt sich das Knie bei einer Beugung im Hüftgelenk in einer sagittalen Ebene um eine transversale Achse. Richtungen im Raum: Für die Beschreibungen von Richtungen verwendet die Anatomische Nomenklatur eine eigene Terminologie. Im Folgenden werden die wichtigsten Bezeichnungen beschrieben. Ventral (anterior) = bauchwärts, zur Vorderfläche hin Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Distal = körperfern, rumpffern, zentrumsfern (Beispiel: die Finger sind weiter distal als der Oberarmknochen) Rostral = vorne, „schnabelwärts“ (am Kopf) Occipital = hinten (am/zum Hinterhaupt) Ulnar = ellenwärts Radial = speichenwärts Dorsal (posterior) = rückenwärts, zur Rückfläche hin Tibial = schienbeinwärts Medial = zur Mitte, zur Medianebene hin Fibular = wadenbeinwärts Lateral = von der Mitte / Medianebene weg Volar (palmar) = auf der Handflächenseite Median = in der Medianebene Plantar = auf der Fußsohlenseite Kranial (superior) = „schädelwärts“, zum Kopfende hin Kaudal (inferior) = „schwanzwärts“, zum Steißende hin Zentral = zum Körperzentrum hin Peripher = zur Körperoberfläche/zum Körperrand hin Superfizial Bewegungsarten: Flexion = Beugung Extension = Streckung Abduktion = Bewegung vom Körper weg =oberflächlich Adduktion = Bewegung zum Körper hin Profund = tief Rotation = Drehung, Kreiselung Proximal = körpernah, rumpfnah, zentrumnah (Beispiel: der Oberarmknochen ist weiter proximal als die Finger) Innenrotation = Einwärtsdrehung Außenrotation = Auswärtsdrehung 2 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Zirkumduktion = Umführbewegungen („Kreisen“, Kombination aus mehreren Bewegunsarten) Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen 2. Knochenlehre Funktion Supination = Umwendebewegung von Hand oder Fuß, so dass die Handfläche nach oben oder ventral zeigt, bzw. die Fußsohle nach medial, bzw. teilweise leicht nach oben. Eselsbrücke: Handhaltung wie beim Tragen einer kleinen Suppenschüssel in der Handfläche. Knochen bilden als Skelett das Stützgerüst unseres Körpers. Neben der Stützfunktion übernehmen sie aber auch eine Schutzfunktion des zentralen Nervensystems (Schädel und Wirbel), sowie der inneren Organe von Thorax und Becken (Rippen und knöchernes Becken). Außerdem dienen sie als Calciumspeicher des Körpers und sind nach der Geburt Ort der Blutbildung. Davon abgesehen ist die Skelettmuskulatur an Knochen befestigt und überspannt in der Regel mindestens ein Gelenk zwischen zwei Knochen. Somit stellen Knochen auch die strukturelle Grundlage für die meisten Bewegungen des menschlichen Körpers dar. Inversion Aufbau Pronation = Umwendebewegung von Hand oder Fuß, so dass die Handfläche nach unten oder dorsal zeigt, bzw. die Fußsohle nach unten, bzw. leicht nach lateral. Eselsbrücke: Handhaltung wie beim „Prot schneiden“. = Innenrotation im unteren Sprunggelenk, Anheben des medialen Fußrandes Eversion = Außenrotation im unteren Sprunggelenk, Anheben des lateralen Fußrandes Anteversion = nach vorne führen (z.B. Arm) Retroversion = nach hinten führen (z.B. Arm) Die Knochen des Bewegungsapparates sind grundsätzlich aufgebaut aus einer Knochengrundsubstanz, verschiedenen Zellen sowie aus versorgenden Blutgefäßen und Nerven. Die äußeren und inneren Oberflächen werden von Knochenhäuten umgeben: Das Periost umgibt als äußere Knochenhaut die Außenfläche eines Knochens, das Endost bedeckt als innere Knochenhaut die inneren Oberflächen eines Röhrenknochens. Knochengrundsubstanz: Knochengrundsubstanz besteht etwa zu 65% aus anorganischer und zu 35% aus organischer Matrix. Anorganische Matrix beinhaltet hauptsächlich Hydroxylapatit. Dieses ist zu 50% aus Phosphaten, 35% Kalzium, 7% Karbonaten und weiteren Mineralien aufgebaut und bildet harte Kristalle. Die Anorganische Matrix, bzw. das Hydroxylapatit ist folglich für die Härte und Druckfestigkeit eines Knochens verantwortlich. Organische Matrix besteht hingegen aus Proteoglykanen, anderen Glykoproteinen und Kollagen Typ I. Das Kollagen ist vor allem für die Zugfestigkeit eines Knochens verantwortlich. 3 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Zellen: Zu den Knochenzellen gehören Osteoblasten, Osteozyten und Osteoklasten. Vereinfacht ausgedrückt sind Osteoblasten verantwortlich für die Synthese von kollagener Knochenmatrix und für die Mineralisierung des Knochens. Beim Auf- oder Umbau eines Knochens werden immer wieder Osteoblasten in die Grundsubstanz eingebaut, und werden somit zu Osteozyten, ausgereiften Knochenzellen. Diese liegen in kleinen Hohlräumen des Knochens (Lakunen) und kommunizieren über lange Ausläufer, die durch feine Knochenkanälchen (Canaliculi) ziehen, mit anderen Osteozyten, Osteoblasten und Osteoklasten. Somit sind sie an der Regulation des Knochenauf- und -abbaus beteiligt. Osteoklasten, auch Knochenfresszellen genannt, lösen Knochengewebe auf und geben die dabei frei werdenden Mineralien (v.A. Kalzium und Phosphat) ins Blut ab. Periost: Die äußere Knochenhaut bedeckt mit Ausnahme von überknorpelten Gelenkflächen den ganzen Knochen und besteht aus zwei Schichten: Einem äußerem Stratum fibrosum und einem inneren Stratum osteogenicum (Kambium). Das Stratum fibrosum besteht aus faserreichem, zellarmem Bindegewebe, dessen kollagene Fasern bei Röhrenknochen vorwiegend parallel zur Längsachse ziehen. Davon zweigen sich einzelne Faserbündel (sog. Sharpey-Fasern) ab,durchstoßen das Stratum osteogenicum und verankern die äußere Knochenhaut im Knochen. Das Stratum osteogenicum ist hingegen faserarm und zellreich und enthält Stammzellen zur Neubildung (Regeneration) des Knochens, Blutgefäße und Nervenfasern. Endost: Das Endost kleidet die Oberfläche des inneren Hohlraumes eines Knochens (Markhöhle) aus und trennt somit das Knochengewebe vom Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Knochenmark. Außerdem kleidet es auch die gefäßführenden Havers-Kanäle und VolkmannKanäle des Knochens aus (siehe unten). Auch die Zellen des Endosts beteiligen sich an der Regeneration eines beschädigten Knochens. Knochenarten Generell wird Geflechtknochen von Lamellenknochen unterschieden. Das Gewebe des Geflechtknochens (Primärknochen) ist nicht in Schichten (Lamellen) angeordnet und hat keine bestimmte Vorzugsrichtung, entlang derer sich dessen Komponenten ausrichten. Somit erscheint das Gewebe in allen Richtungen geflechtartig organisiert. Knochenlamellen oder Osteone (siehe unten) gibt es hier nicht. Alle Knochen des menschlichen Körpers entstehen in der Embryonalentwicklung als Geflechtknochen (Primärknochen) und werden, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, (siehe unten) sekundär zu Lamellenknochen (Sekundärknochen) umgebaut. Somit ist beim Erwachsenen fast jeder Knochen alsLamellenknochen ausgebildet. Ausnahmen hiervon sind die Suturen der platten Schädelknochen, Alveolen der Zähne, manche Sehnenansätze und die Pars petrosa des Schläfenbeins. Da Geflechtknochen durch den ungerichteten Verlauf seiner Kollagenfasern und einen niedrigeren Mineralgehalt gekennzeichnet ist fällt er in Röntgenaufnahmen durch eine geringere Absorption der Röntgenstrahlen auf. Lamellenknochen (Sekundärknochen) zeigen eine äußere Substantia compacta (=corticalis) und eine innere, schwammartig erscheinende Substantia spongiosa. Die Substantia corticalis baut sich aus sog. Havers’schen Systemen (Osteonen) auf. Hierbei umgeben bis zu 20 Lamellen ein Nerven-GefäßBündel. Der Verlauf der Gefäße bestimmt folglich die Ausrichtung der Osteone. Einzelne Osteone kommunizieren durch schräg verlaufende sog. Volkmann’sche Kanäle. Innerhalb einer Knochenlammelle verlaufen die Kollagenfasern parallel zueeinander in einer Spirale entlang der longitudinalen Achse des jeweiligen 4 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Osteons. In benachbarten Lamellen verlaufen die Kollagenspiralen in entgegengesetzten Richtungen. Die Substantia sponiosa ist aus kleinen Knochenbälkchen (Trabekeln) aufgebaut. Die Verlaufsrichtung der Knochentrabekel entspricht der Ausrichtung der Hauptspannungslinien (Trajektorien) im Knochen. Sie ergibt sich somit aus der funktionellen Belastung des Knochens und kann sich bei langfristiger Belastungsänderung anpassen und verändern. Die Trabekel der Substantia spongiosa bestehen ebenfalls aus Knochenlamellen, die sich hier jedoch nicht zu Osteonen zusammenlagern, sondern parallel zueinander und zur Trabekeloberfläche verlaufen. Die Substantia spongiosa umgibt die Markhöhle und ist entsprechend von Knochenmark umgeben. Knochentypen Die grundsätzliche Gestalt der Knochen ist genetisch festgelegt. Die Ausbildung einzelner Knochenstrukturen (z.B. Knochenfortsätze, Knochengrate, etc.) und die innere Struktur eines Knochens hängt jedoch ganz maßgeblich von seiner mechanischen Belastung ab. Man unterscheidet: - Lange Knochen Kurze Knochen Flache Knochen Lufthaltige Knochen Unregelmäßige Knochen Sesambeine Akzessorische Knochen Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Beim langen Knochen beschreibt man verschiedene Abschnitte: Als Epiphysen bezeichnet man die Enden der langen Knochen, die am Aufbau der Gelenke beteiligt sind. Der Knochenschaft (Diaphyse) stellt den länglichen Hauptteil des langen Röhrenknochens dar. Epiphysen und Diaphyse haben jeweils ein eigenes Verknöcherungszentrum. Zwischen Diaphyse und den Epiphysen bleibt im Bereich der Metaphyse eine knorpelige Wachstumsfuge bis ins frühe Erwachsenenalter bestehen. Diese Metaphyse oder Wachstumsfuge ist also die Zone des Längenwachstums und wird auch Epiphysenfuge genannt. Die Diaphyse zeigt einen röhrenförmigen Aufbau mit äußerer Substantia compacta und einer inneren Substantia spongiosa. In der Markhöhle befindet sich das Knochenmark. Diese Röhrenstruktur sorgt für eine hohe Belastbarkeit der Knochen auf Druck- und Zugkräfte bei gleichzeitiger Minimierung des dafür notwendigen Baumaterials. Außerdem verringert sie das Gewicht und erlaubt dadurch höhere Effizienz bei Bewegungen. Als Apophysen werden oberflächliche Knochenverdickungen, wie zum Beispiel Fortsätze, Knochengrate oder Rollhügel bezeichnet, die als Ansatzstellen für Sehnen und Bänder dienen. Beispiele für lange Knochen sind: - Humerus (Oberarmknochen) Femur (Oberschenkelknochen) Ossa metacarpi (Mittelhandknochen) Ulna (Elle, als Beispiel für einen langen Knochen mit nur einer Epiphyse) Bei kurzen Knochen umgibt eine äußere Substantia corticalis (=compacta) eine innere Substantia spongiosa. Eine Einteilung in Epiphyse und Diaphyse ist hier nicht gegeben. Beispiele für kurze Knochen sind Hand- und Fußwurzelknochen. Flache Knochen bestehen aus einem etwas dickeren Knochenrahmen, der eine sehr dünne, teilweise durchscheinende Knochenschicht 5 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen umgibt. Somit wird ebenfalls Gewicht eingespart. Beispiele für flache Knochen sind: - Rippen Sternum Scapula Os ilium Schädelkalotte Lufthaltige (pneumatisierte) Knochen bilden in ihrem Inneren von Schleimhaut ausgekleidete Hohlräume. Trotz der Gewichtersparnis entstehen hier auch Risiken einer Entzündung. Beispiele für pneumatisierte Knochen sind die Knochen der Nasennebenhöhlen (Maxilla, Os sphenoidale, Os ethmoidale, Os frontale), sowie der Proc. mastoideus. Unregelmäßige Knochen lassen sich aufgrund ihres komplexen Aufbaus keinem der genannten Knochentypen zuordnen. Beispiele hierfür wären die Wirbel und das Os coxae (Hüftbein). Unter Sesambeinen versteht man kleine Knochen, die in eine Sehne eingelagert sind (Sehnenverknöcherungen). Sie vergrößern den Abstand zwischen Gelenk und Sehne und optimieren durch den größeren Hebel die biomechanische Wirkung der zugehörigen Muskeln. Oft wirken sie auch als Umlenkrolle (Hypomochlion) und verändern damit die Richtung der Zugkraft. Außerdem schützen sie die Sehnen vor Abrieb. Das wichtigste und prominenteste Beispiel für ein Sesambein ist die Patella (Kniescheibe). Weitere wären das Os pisiforme (Erbsenbein) der Hand oder die beiden Sesambeine am Großzehengrundgelenk. Manchmal kommen als individuelle Variante der Anatomie auch akzessorische Knochen vor, die im Normalfall nicht auftreten (z.B. Halsrippe). Somit kann also die Zahl der 223 standardmäßig im Menschen vorhandenen Knochen im Einzelfall auch höher oder geringer sein. 6 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie 3. Gelenke Gelenke können allgemein als Orte der (beweglichen) Verbindung zwischen Knochen aufgefasst werden. Man unterscheidet unechte Gelenke (Synarthrosen) von echten Gelenke (Diarthrosen). - - - Synarthrosen Synarthrosen sind knöcherne, knorpelige oder bindegewebige Knochenverbindungen ohne einen Gelenkspalt. Folglich ist die Beweglichkeit hier stark eingeschränkt. Als Wachstumszonen des Körpers sind sie teilweise trotzdem von großer Bedeutung. Zu den knorpeligen Knochenverbindungen (Junctura cartilaginea) zählen die Synchondrosen und Symphysen. Bei Synchondrosen sind zwei Knochen über hyalinen Knorpel verbunden. Als Beispiel dienen die über Synchondrosen verbundenen Einzelteile des Sternums oder auch die Metaphysen bei langen Knochen. Symphysen sind Knochenverbindungen über Faserknorpel, etwa die Symphysis pubica (Schambeinfuge). Der Begriff Junctura fibrosa (bindegewebige Knochenverbindung) umfasst die Syndesmosis, Sutura, Schindylesis und Gomphosis. Bei einer Syndesmose (Bandhaft) sind Knochen entweder durch kollagenes (Membrana interossea cruris) oder elastisches (Ligg. flava in der Wirbelsäule) Bindegewebe verbunden. Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Sutura serrata (Zackennaht, z.B. Sutura sagittalis zwischen den Ossa parietalia) Sutura sqamosa (Schuppennaht, eine Knochenfläche überlappt die andere. Z.B. zwischen Os parietale und Sqama ossis temporalis) Sutura plana (Glattnaht, z.B. Sutura palatina mediana Als Schindylesis bezeichnet man eine Synarthrose, bei welcher die Knochenplatte eines Knochens in die Knochenfuge eines anderen Knochens eingelassen ist. Z.B. die Verbindung zwischen Lamina perpendicularis des Os ethmoidale und Vomer. Unter einer Gomphosis versteht man die Einzapfung / Einkeilung eines Knochens in einen anderen. Auf diese Weise sind Zähne in den Alveolen aufgehängt. Viele Synarthrosen verknöchern im Laufe des Lebens. Wenn sich als Folge dessen die an einer Synarthrose beteiligten Knochen ohne zwischengeschaltetes Gewebe berühren, so nennt man diese Verbindung Synostose (Knochenhaft). Dies erfolgt zum Beispiel bei der Verschmelzung von Darmbein (Os ilium), Sitzbein (Os ischii) und Schambein (Os pubis) zum Hüftbein (Os coxae) oder auch bei der Verknöcherung der Schädelnähte. Suturae (Knochennähte) findet man an der Schädelkalotte. Sie stellen eine Sonderform der Syndesmose dar, bei der zwischen den aus embryonalem Bindegewebe entstandenen Schädelknochen weiteres Bindegewebe als Wachstumszone zurückgeblieben ist. Man unterscheidet weiter nach der Form: 7 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Gelenkflüssigkeit (Synovia, Gelenkschmiere) ausgefüllt. Klinik! Synostosen können auch pathologisch entstehen. Etwa, wenn sich Wirbelkörper bei atrophierter Bandscheibe durch Knochenauswachsungen (Osteophyten) verbinden. Dies vermindert den relativen Druck auf die Wirbelkörper, schränkt aber auch die Beweglichkeit stark ein. Den Spezialfall der pathologischen Synostosenbildung an der Wirbelsäule nennt man Spondylose. Synostosen können sich aber auch aufgrund von Inaktivität (z.B. wegen langer Bettlägerigkeit) an echten Gelenken im Rahmen einer Gelenkversteifung (Ankylose) bilden. Im Extremfall kann der komplette Gelenkspalt bei einer Ankylose durch Knochen ersetzt sein. Bewegungen sind im betroffenen Gelenk dann nicht mehr möglich. Glenkknorpel: Gelenkknorpel ist eine Schicht aus hyalinem Knorpel, der die Reibung zwischen den Gelenkflächen herabsetzt und in gewissem Umfang als eine Art Stoßdämpfer wirkt. Ausnahmen sind hier das Kiefer- und Schlüsselbein-Brustbeingelenk, welche anstelle von hyalinem Knorpel mit Faserknorpel ausgestattet sind. Die Schichtdicke variiert je nach Größe und Belastung des Gelenks zwischen 0,5mm (Fingergelenke) und 5mm (Kniegelenk). Aufgrund der arkadenartigen Anordnung der Kollagenfibrillen unterteilt man im Gelenkknorpel vier Zonen vom Gelenkspalt in Richtung Knochen: - Pseudoarthrosen sind keine Gelenke im eigentlichen Sinn, sondern pathologische Unterbrechungen in der Knochenstruktur, ohne dass hier ein echtes Gelenk ausgebildet wäre. Pseudoarthrotische Knochenspalten oder -lücken dürfen also keineswegs mit einem Gelenkschmiere enthaltenden Synovialspalt verwechselt werden. Pseudoarthrosen entstehen z.B. durch eine schlecht verheilte Fraktur. - Diarthrosen Echte Gelenke weisen zwischen den beteiligten Knochen eine physiologische Unterbrechung auf, den Gelenkspalt oder Synovialspalt. Dieser trennt die knorpelüberzogenen Gelenkflächen der Knochen. Der Gelenkspalt ist von einer bindegewebigen Gelenkkapsel umgeben, welche einen luftdichten Raum einschließt: Die Gelenkhöhle. Diese ist von der viskösen - In der Tangentialzone verlaufen die Kollagenfasern annähernd tangential (parallel) zur Oberfläche und fangen so Zugspannungen ab. Auch die Chondrozyten sind hier parallel zur Oberfläche ausgerichtet. In der Übergangszone orientiert sich die Ausrichtung der Fasern von tangential nach radial um. Die Chondrozyten sind hier runder und liegen in Gruppen vor. In der Radiärzone sind die Kollagenfibrillen senkrecht zur Oberfläche ausgerichtet. Sie ist die breiteste Schicht des Gelenkknorpels. Der Übergang von Radiär- zu Mineralisationszone färbt sich histologisch aufgrund der vielen Proteoglykane stark und wird als Tide Mark bezeichnet. Die Mineralisierungszone ist die kalzifizierte Übergangszone zwischen Knorpel und subchondralem Knochen. Hier strahlen die Kollagenfibrillen ein und sorgen für die Druckübertragung von Knorpel auf Knochen. Die Proteoglykane, welche in der Extrazellulärmatrix des Knorpels eingelagert sind, geben bei Druckbelastung Wasser ab, wodurch der 8 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Knorpel etwas komprimiert wird. Dadurch „federn“ sie einen Teil des Druckes ab und unterstützen so die Stoßdämpferfunktion des Knorpels. Wird der Knorpel entlastet, können die Proteoglycane wieder vermehrt Wasser binden und es kommt zum Flüssigkeitseinstrom in den Knorpel. Gleichzeitig dekomprimiert sich der Gelenkknorpel wieder. Dieser Mechanismus des belastungsabhängigen Flüssigkeitsstroms in und aus dem Knorpel wird Konvektion genannt. phagozytierenden Typ A Synoviozyten und synoviabildenden Typ B Synoviozyten. Das subsynoviale Gewebe ist neben vielen Fibroblasten, Fettzellen und Makrophagen auch reich an Schmerz und Mechanorezeporen. Bei einem Gelenkerguss schmerzt also die überspannte Gelenkkapsel. Die Versorgung mit Lymph- und Blutgefäßen ist hier ebenfalls sehr hoch. Da Knorpel grundsätzlich keine Blutgefäße enthält, wird der Gelenkknorpel durch Diffusion über die Synovialflüssigkeit ernährt und ist somit nur sehr eingeschränkt regenerationsfähig. Konvektion ist zur Unterstützung der reinen Diffusion für die Ernährung des Gelenkknorpels sehr wichtig, weshalb man auch von „erleichterter Diffusion“ spricht. Daraus ist ersichtlich, dass Bewegung einen entscheidenden Beitrag zur Gesunderhaltung des Gelenkknorpels leistet. Bänder (Ligamenta) Bänder sind Verdichtungen von kollagenem Bindegewebe, die bewegliche Knochenteile verbinden. Im Bereich von Gelenken schränken sie Bewegungen auf das physiologisch gewünschte Maß ein, oder sichern die Gelenkführung (z.B. Lig. anulare radii). Sie können entweder innerhalb (intraartikulär, z.B. Kreuzbänder im Kniegelenk) oder außerhalb (extraartikulär) eines Gelenks verlaufen. Die extraartikulären Bänder sind in die Kapsel mit eingebaut, oder durch lockeres Bindegewebe von ihr getrennt sein. Synovia: Die visköse Gelenkflüssigkeit hat neben der Ernährung des Knorpels noch zwei weitere Aufgaben: Sie verringert als „Gelenkschmiere“ die Reibung des Gelenks und kann ebenfalls stoßdämpfend wirken. Synovia wird von den Synoviozyten der Gelenkkapsel produziert (siehe unten). Gelenkkapsel (Capsula articularis): Die Capsula articularis umschließt als Fortsetzung des Periosts das Gelenk von allen Seiten. Sie besteht aus einer äußeren derben Faserschicht (Mambrana fibrosa) und einer zellreichen Innenschicht (Membrana synovialis). Die Membrana fibrosa besteht überwiegend aus Kollagen Typ I. Sie verstärkt oft mithilfe von einstrahlenden Bändern ein Gelenk (z.B. Kollateralbänder im Kniegelenk). Die Membrana synovialis teilt sich wiederum in zwei Schichten: Synoviale Intima und subsynoviales Gewebe. Die synoviale Intima ist besiedelt von Hilfsstrukturen der Gelenke Disci / Menisci articulares Diese Gelenkzwischenscheiben sind in ein Gelenk zwischengeschaltet, um Unebenheiten auszugleichen, die Gelenkfläche zu vergrößern, als bewegliche Gelenkspfanne zu dienen und somit die Lastübertragung in jeder Gelenkposition zu optimieren. Disci articulares bestehen aus straffem Bindegewebe und Faserknorpel und kommen z.B. im Kiefergelenk oder auch im Schlüsselbein-Brustbeingelenk vor. Menisci articulares sind sichelförmige, im Querschnitt keilförmige Scheiben aus Faserknorpel. Sie wirken zum Beispiel im Kniegelenk als bewegliche Gelenkflächen. Gelenklippen (Labra articularia) Unter Labra articularia versteht man den ringförmigen Faserknorpelsaum um die Pfannen von Schulter- und Hüftgelenk. Er dient zur Vergrößerung der Gelenkpfanne. 9 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Schleimbeutel (Bursae synoviales) Bursen sind synoviagefüllte Gewebesäcke, deren Aufgabe die Druckumverteilung und Reibungsminderung zwischen Knochen und einer weiteren Struktur ist. Die Bursa ist jeweils nach der zweiten Struktur benannt, z.B. Bursa submuskularis (Muskel) oder Bursa subcutanea (Haut) Einteilung der Gelenke: Gelenke kann man nach unterschiedlichen Gesichtspunkten einteilen: - Anzahl der Gelenkkörper Anzahl der Freiheitsgrade Form der Gelenkkörper Anzahl der Gelenkkörper: Man unterscheidet einfache Gelenke (Articulatio simplex) mit zwei Gelenkkörpern (z.B. Hüftgelenk mit Oberschenkelknochen und Hüftbein) von zusammengesetzten Gelenken (Articulatio composita) mit mehreren Gelenkkörpern (z.B. Kniegelenk mit Oberschenkelknochen, Schienbein und Kniescheibe). Anzahl der Freiheitsgrade: Gelenke variieren in der Anzahl ihrer möglichen Bewegungen, also in der Anzahl der Achsen, um die sich die Gelenkkörper drehen können (Rotation), bzw. entlang derer sie sich verschieben können (Translation). Es gibt maximal drei Freiheitsgrade, da unsere dreidimensionale Welt durch ein dreiachsiges Koordinatensystem beschrieben wird. Form der Glenkkörper Die Form oder Geometrie der Gelenkkörper bestimmt die Anzahl der Freiheitsgrade und somit die Funktionalität des Gelenks. Im Folgenden werden die wichtigsten Gelenkformen nach der Anzahl ihrer Freiheitsgrade aufgelistet: Einachsige Gelenke: Beim Ginglymus (Scharniergelenk, Articulatio ginglymus, Articulatio cylindrica) dreht sich ein walzenförmiger Gelenkkopf in einer einem Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Hohlzylinder gleichenden Gelenkpfanne. Verschiebebewegungen (Translation) des Gelenkkopfes gegenüber der Gelenkpfanne werden durch bestimmte Knochen- oder Gelenkstrukturen verhindert. Im Humeroulnargelenk greift z.B. ein Grat der Gelenkpfanne in eine Rinne der Gelenkwalze. Im oberen Sprunggelenk hingegen sorgen die Knöchel für einen ähnlichen Effekt, indem sie auf beiden Seiten der Gelenkpfanne die Gelenkwalze umgreifen. Somit sind hier ausschließlich Flexions- und Extensionsbewegungen um eine transversale Achse möglich; Verschiebebewegungen entlang dieser Achse sind, wie beschrieben, nicht möglich. Ein Ginglymus wird meist durch Kollateralbänder gesichert, z.B. im oberen Sprunggelenk. In einem Drehgelenk liegt ein zapfenförmiger Gelenkkopf in einer ring- oder muldenförmigen Gelenkpfanne. Es erlaubt Rotationsbewegungen. Dreht sich der zapfenförmige Gelenkkopf in der feststehenden Gelenkpfanne, so spricht man von einem Zapfengelenk (Articulatio conoidea). Ein gutes Beispiel ist hierfür das proximale Radioulnargelenk. Dreht sich die Gelenkpfanne um den fixierten Gelenkkopf, so wird das Gelenk als Radgelenk (Articulatio trochoidea) bezeichnet (z.B. Articulatio atlantoaxialis oder distales Radioulnargelenk). Zweiachsige Gelenke: Die Articulatio ellipsoidea (Eigelenk, Articulatio ovoidea) zeigt einen konvexen Gelenkkopf und eine größere, konkave Gelenkpfanne mit jeweils ovalem Querschnitt. Hier sind Bewegungen um eine Flexions-/Extensionsachse und um eine Ab-/Adduktionsachse möglich. Rotationsbewegungen können hier nicht ausgeführt werden. Ein Beispiel für ein eine Articulatio ellipsoidea ist das proximale Handgelenk. Die Gelenkflächen in einer Articulatio sellaris (Sattelgelenk) verhalten sich wie die Beine eines Reiters und der Sattel. Die konkave Wölbung der einen Gelenkfläche passt jeweils in die konvexe Wölbung der anderen und umgekehrt. Das ermöglicht Flexions- 10 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie /Extensionsbewegungen (wie ein Reiter, der sich sich seitlich vom Pferd rutschen lässt) und Ab-/Adduktionsbewegungen (wenn der Reiter im Sattelmit steifer Hüfte nach vorne und hinten pendelt). Beispiel ist das Daumensattelgelenk. Im Unterschied zum Eigelenk können hier auch leichte Rotationsbewegungen um eine dritte (meist longitudinale) Achse durchgeführt werden, wobei sich die artikulierenden Knochen etwas voneinander entfernen. Dies ist zum Beispiel bei der Opponierbewegung des Daumens wichtig. Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Translationsbewegungen sowie andere Rotationsbewegungen möglich (mehr dazu in den jeweiligen Kapiteln). Die Articulatio plana (ebenes/planes Gelenk) besitzt flache Gelenkflächen, die gegeneinander gleiten können. Hierbei sind Translationsbewegungen (Verschiebebewegungen) in mehrere Richtungen innerhalb der Ebene zwischen (parallel zu) den Gelenkflächen möglich. Beispiel ist das Wirbelbogengelenk (Art. zygapophysialis). Dreiachsige Gelenke: In einer Articulatio sphaeroidea (Kugelgelenk) artikulieren ein annähernd kugelförmiger Gelenkkopf mit einer entsprechenden Gelenkpfanne. Bewegungen sind um alle drei Achsen des Raumes möglich und erlauben somit den größten Bewegungsspielraum. Beispiele für Articulationes sphaeroideae sind das Schultergelenk und das Hüftgelenk. Das Hüftgelenk stellt jedoch eine Sonderform des Kugelgelenks dar: Eine Enarthrosis sphaeroidea (Nussgelenk). Da hier die Gelenkpfanne über den Äquator des Gelenkkopfes hinausreicht, ist die Beweglichkeit etwas eingeschränkt. Spezialfall Bikondylargelenk: Sowohl Eigelenke als auch Scharniergelenke können als Bikondylargelenk (Kondylengelenk, Articulatio bicondylaris) ausgebildet sein. Hierbei ist jeweils der Gelenkkopf/die Gelenkwalze aus zwei morphologisch getrennten Gelenkrollen (Kondylen) aufgebaut. Die beiden Gelenkrollen artikulieren entsprechend nicht gemeinsam mit einer einzelnen Gelenkpfanne sondern mit zwei separaten Gelenkpfannen. Beispiele hierfür wären das Kniegelenk, das Kiefergelenk und das obere Kopfgelenk. Bikondylargelenke haben im Vergleich zu reinen Scharnier- oder Eigelenken oftmals einen erweiterten Bewegungsspielraum. So sind im Kiefergelenk und im Kniegelenk beispielsweise neben der reinen Kniestreckung/Kniebeugung, bzw. Kieferöffnung/Kieferschluss auch Muskeln Muskeln sind kontraktile Elemente, die aktiv und unter Energieverbrauch Bewegungen in unserem Körper bewerkstelligen. Man unterscheidet quergestreifte von glatter Muskulatur. Die quergestreifte Muskulatur lässt sich nochmals in Herz- und Skelettmuskulatur unterteilen. Nachfolgend soll aufgrund ihrer Bedeutung für den Bewegungsapparat nur die Skelettmuskulatur beschrieben werden. Der Begriff „Skelettmuskulatur“ ist trügerisch, da es zwar in den allermeisten Fällen, aber durchaus nicht immer eine Befestigung an Knochen gibt. Dies gilt zum Beispiel für manche Zungenmuskeln. Skelettmuskulatur ist meist willkürlich steuerbar und ist für die Motorik des Körpers verantwortlich. Der Ursprungsbereich eines Skelettmuskels wird als Muskelkopf (Caput) bezeichnet, der Ansatzbereich als Muskelschwanz (Cauda) und der dazwischen liegende, größte Teil als Muskelbauch (Venter). Diese kontraktilen Bereiche des Muskels sind über Sehnen mit den zu bewegenden Knochen verbunden. Üblicherweise wird der weiter proximal oder zentral gelegene Befestigungspunkt als Origo (Ursprung) bezeichnet, der weiter distal oder peripher gelegene Befestigungsbereich entsprechend als Insertio (Ansatz). Alternativ kann auch der Befestigungspunkt, der sich bei Muskelkontraktion 11 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie nicht bewegt, und somit als Widerlager dient (Punctum fixum), als Ursprung definiert werden. Folglich repräsentiert dann der bewegliche Befestigungspunkt (Punctum mobile) den Ansatz. Je nachdem, welche Kriterien zur Definition herangezogen werden, können sich für einen bestimmten Muskel unterschiedliche Ursprünge bzw. Ansätze ergeben. Außerdem können Punctum fixum und Punctum mobile je nach Bewegungsform und Körperposition variieren, bzw. vertauscht werden. Der Musculus iliopsoas etwa hebt durch seinen Verlauf vom Hüftbein und der Lendenwirbelsäule auf der einen Seite zum Oberschenkelknochen auf der anderen Seite bei den meisten Bewegungen das Bein (Beugung in der Hüfte). Hierbei dient die Hüfte und die Lendenwirbelsäule als Punctum fixum und der Oberschenkel als Punctum mobile. Beim Aufrichten aus dem Liegen jedoch hilft der Muskel dabei, den Oberkörper zu heben mit dem Bein als Punctum fixum und der Hüfte/der Lendenwirbelsäule als Punctum mobile. An den Extremitäten wird meistens die proximalere Verbindungsstelle als Ursprung angesprochen. Muskeln können auch mehrere Ursprünge besitzen, die in eine gemeinsame Ansatzsehne übergehen. Entsprechend sind in einem solchen Fall mehrere Muskelköpfe vorhanden und man spricht von einem zwei-, drei- oder mehrköpfigen Muskel. Oft sind derartige Muskeln in der Nomenklatur nach der Anzahl ihrer Köpfe benannt (M. biceps brachii, M. triceps brachii, M. quadriceps femoris…). Des Weiteren unterteilt man Muskeln nach der Organisation ihrer Muskel- und Sehnenfasern. Einen Muskel mit einem langen, parallelfaserigen Muskelbauch, dessen Fasern auf jeder Seite in direktem Verlauf in die Sehnen übergehen bezeichnet man als Musculus fusiformis (spindelförmiger Muskel). Da nur verhältnismäßig wenige Muskelfasern gleichzeitig an der Sehne ansetzen können, ermöglicht ein Musculus fusiformis zwar ausgiebige, jedoch nur Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen vergleichsweise schwache Bewegungen. Ein Beispiel hierfür wäre der M. extensor carpi radialis brevis. Ein gutes Beispiel für einen zweiköpfigen parallelfaserigen Muskel wäre der M. biceps brachii. Um eine größere Kraft zu entfalten, können Muskeln auch gefiedert sein. Die Muskelfasern verlaufen dann nicht in direkter Fortsetzung der Sehnenlängsrichtung, sondern setzen schräg an der Sehne an. Dies vergrößert den physiologischen Querschnitt und somit auch die übertragbare Kraft. Der Winkel, unter dem die Muskelfasern in die Sehne einstrahlen wird als Fiederungswinkel bezeichnet. Je kleiner der Fiederungswinkel, desto größer ist die Effizienz der einzelnen Muskelfasern. Nach der Anzahl der Seiten, von denen Muskelfasern in die Sehne übergehen, teilt man gefiederte Muskeln ein in einfach gefiederte Muskeln (Musculus unipennatus/semipennatus z.B. M. extensor digitorum longus), zweifach gefiederte Muskeln (Musculus bipennatus, z.B. M. rectus femoris) oder mehrfach gefiederte Muskeln (Musculus multipennatus M. deltoideus). Bei mehrbäuchigen Muskeln (Musculus intersectus) sind von der Ursprungssehne bis zur Ansatzsehne mehrere Muskelbäuche in Reihe hintereinander angeordnet und durch Zwischensehnen (Intersectiones tendineae) voneinander getrennt. Sind nur zwei Muskelbäuche hintereinander geschaltet, spricht man von einem M. biventer (z.B. M. digastricus, M. omohyoideus. Bei trainierten oder sehr schlanken Menschen imponieren die Bäuche des mehrbäuchigen M. rectus abdominis als „Sixpack“. Platte Muskeln (Musculus planus) kommen vor allem an der Rumpfwand vor. Im Falle der schrägen Bauchmuskeln (M. obliquus externus abdominis, M. obliquus internus abdominis, M. transversus abdominis) geht der ein flächig platter Muskelbauch in eine Sehnenplatte (Aponeurose) über. 12 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Ein weiteres Einteilungskriterium von Muskeln ist die Anzahl der Gelenke, die sie überspannen. Je mehr Gelenke sie überspannen, desto komplexer die möglichen Bewegungen. Ein gutes Beispiel für einen eingelenkigen Muskel ist der M. deltoideus. Zweigelenkig wäre z.B. der M. biceps brachii und mehrgelenkig die Flexoren der Finger, die also mehr als zwei Gelenke überspannen. Die mimischen Muskeln zählen auch zur Skelettmuskulatur, überspannen jedoch kein Gelenk. An den meisten Bewegungen sind mehrere Muskeln beteiligt. Unterstützen diese dieselbe Bewegung, so sind es Synergisten, arbeiten sie gegensätzlich, werden sie als Antagonisten (Gegenwirker) bezeichnet. Die Mm. biceps femoris und semitendinosus sind bei der Flexion im Kniegelenk z.B. Synergisten. Der M. quadriceps femoris wirkt als Kniestrecker jedoch antagonistisch zu den beiden erstgenannten Muskeln. Dieselben Muskeln können je nach betrachteter Bewegung im Vergleich zu anderen Muskeln sowohl Synergisten als auch Antagonisten sein. Bei der Rotation im Kniegelenk sind die Mm. biceps femoris und semitendinosus Antagonisten. M. biceps femoris rotiert im gebeugten Knie nach außen und M. semitendinosus nach innen. Bei der Kniebeugung wirken sie jedoch synergistisch, wie bereits beschrieben. Das Wirkungsgefüge von Muskeln ist auch im Hinblick auf den Muskeltonus relevant. Der Muskeltonus beschreibt den Spannungszustand eines Muskels. Jeder Muskel hat auch dann einen gewissen Ruhetonus, wenn er gerade nicht kontrahiert ist. Bei Kontraktion steigt der Muskeltonus natürlich an. Durch einseitige Belastung kann der Ruhetonus von Wirkern (Agonisten) und Gegenwirkern (Antagonisten) aus dem physiologischen Gleichgewicht geraten und pathologische oder zumindest problematische Gelenkstellungen (Fehlhaltungen) bewirken. Übersteigt zum Beispiel der Ruhetonus der Innenrotatoren der Schulter jenen der Außenrotatoren, so führt dies zu einer Fehlhaltung, die weitere Probleme Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen verursachen kann. Bei einer Lähmung des innervierenden Nerven verliert der Muskel jegliche Spannung. Der Tonus ist dann gleich null und eine Kontraktion ist unmöglich. Bei langanhaltender oder irreversibler Lähmung kommt es mit der Zeit zu einer Rückbildung (Atrophie) des betroffenen Muskels. Muskelmechanik: Muskeln wirken nach den Hebelgesetzen der Physik. Sie überspannen ein Gelenk und setzen dabei in einem gewissen Abstand von der jeweils relevanten Bewegungsachse des Gelenks an. Dieser Abstand ist der Kraftarm. Das erzeugte Drehmoment lässt sich durch den Term: Kraft × Kraftarm berechnen, wenn die Kraft senkrecht zum Kraftarm wirkt. Da die Muskelkraft selten senkrecht zum Kraftarm wirkt, errechnet man das Drehmoment unter Annahme eines spitzen Ansatzwinkels α folgendermaßen: Drehmoment = Kraft × sin(α) × Kraftarm Je näher α an 90° ist, desto effizienter wirkt der Muskel. Um den Ansatzwinkel und somit die Wirkung des Muskels zu vergrößern, werden manche Sehnen durch Sesambeine, wie z.B. die Kniescheibe, umgelenkt. Aber auch Muskeln oder Sehnen können als Umlenker dienen. Diese „Umlenkrollen“ bezeichnet man als Hypomochlion. Das Drehmoment des zu bewegenden Objekts berechnet man parallel dazu mit dem Term: Last × Lastarm Überwiegt das Drehmoment des Muskels, verkürzt sich der Muskel. Es erfolgt eine konzentrische Kontraktion. Überwiegt das Drehmoment der Last, dehnt sich der Muskel trotz Anspannung und man spricht von einer exzentrischen Kontraktion. 13 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Muskeln können zwei Arten von Funktionen erfüllen: Eine aktive Bewegungsfunktion oder eine passive Haltefunktion (obwohl der Muskel selbst dabei nicht passiv ist). Beispiele für die passive Haltefunktion wären die kurzen Muskeln der Fußsohle und die tiefen Wadenmuskeln, die ergänzend zu den Bändern das Fußgewölbe aufspannen. Auch die tiefe Rückenmuskulatur (autochthone Rückenmuskulatur) zeigt eine vorwiegende Haltefunktion. Ob ein bestimmter Muskel gerade eine vorwiegende Bewegungs- oder Haltefunktion ausübt, hängt natürlich von der Position des betreffenden Gelenks und des gesamten Körpers sowie von der jeweiligen Bewegung ab. Folglich können so gut wie alle Muskeln sowohl eine Haltefunktion als auch eine Bewegungsfunktion ausüben. Muskeln können nicht nur Bewegungen in den Gelenken ermöglichen, sie können den Bewegungsspielraum auch einschränken. Dies kann durch aktive oder passive Insuffizienz erfolgen. Aktive Insuffizienz bedeutet, dass das maximal mögliche Bewegungsausmaß des Gelenks noch nicht erreicht ist, der Muskel sich jedoch nicht weiter verkürzen kann. Als Beispiel dienen die Flexoren der Finger: Es ist nicht möglich, bei maximal flektiertem Handgelenk fest die Faust zu ballen. Bei passiver Insuffizienz begrenzt die Dehnbarkeit des Muskels die Beweglichkeit eines Gelenks. Dabei wird jeweils die antagonistische Bewegung des Muskels eingeschränkt. Beispielsweise bewirkt die ischiocrurale Muskulatur (Oberschenkelrückseite) bei Kontraktion eine Extension im Hüftgelenk und Flexion im Kniegelenk. Durch ihre passive Insuffizienz ist es nicht möglich, bei gestreckten Knien im Hüftgelenk voll zu flektieren. Der Muskel wirkt folglich mechanisch gesehen ähnlich einem Band. Wird ein Muskel über die Grenze seiner passiven Insuffizienz hinaus gedehnt, so kommt es zur Zerrung, bzw. Muskelfaserriss. Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen Hilfseinrichtungen der Skelettmuskel Die Funktion der Skelettmuskel wird durch verschiedene Strukturen optimiert: Sesambeine (Ossa sesamoidea) sind in die Sehnen von Muskeln eingelagert (Sehnenverknöcherungen), um als Hypomochlion deren Hebelarm zu vergrößern. Schleimbeutel (Bursae synoviales) vermindern die Reibung zwischen Muskeln, bzw. Sehnen, und benachbarten Strukturen oder wirken als Druckverteiler. Somit werden Schäden, Reizungen und Energieverlust durch Reibung oder Druck verringert oder vermieden. Schleimbeutel sind sackartige Gebilde mit einer bindegewebigen Wand und einem flüssigkeitsgefüllten Innenraum. Die Wand ist ähnlich aufgebaut wie eine Gelenkkapsel oder eine Sehnenscheide. Sie besitzt ein äußeres Stratum fibrosum aus kollagenem, straffem Bindegewebe und ein inneres Stratum synoviale, das ähnlich einer Synovialmembran Zellen besitzt, die Synovialflüssigkeit in den Innenraum abgibt. Somit gleicht ein Schleimbeutel einem Wasserkissen und kann Druck und Reibung verringern. Besonders häufig kommen Schleimbeutel folglich an Stellen erhöhten Druckaufkommens oder erhöhter Reibung vor. Dies ist unter anderem an Stellen gegeben, wo Sehnen umgelenkt werden. Sehnenscheiden (Vaginae tenidines/synoviales) treten vor allem an Stellen auf, wo Sehnen umgelenkt werden müssen oder einer erhöhten Reibung ausgesetzt sind. Sie erhöhen folglich die Gleitfähigkeit von Sehnen und vermindern potenziell schädliche Reibung. Ähnlich einer Gelenkkapsel oder eines Schleimbeutels sind sie aus einem äußeren Stratum fibrosum und einem inneren Stratum synoviale aufgebaut. Das Stratum fibrosum besteht aus kollagenem Bindegewebe und ist mit umliegenden Strukturen (Knochen, Bändern) verwachsen. Dadurch wird der Verlauf der Sehne bestimmt. Das Stratum synoviale liegt mit einem 14 Funktionelle Anatomie des Bewegungsapparates Kapitel 1: Allgemeine Anatomie Alexander Popp Ludwig Ueberall Dr. Christian M. Hammer Prof. Dr. Friedrich Paulsen viszeralen Blatt (Pars parietalis) der Sehne auf und heftet sich mit einem parietalen Blatt (Pars parietalis) an das Stratum fibrosum an. Die Zellen des Stratum synoviale sezernieren Synovialflüssigkeit gewissermaßen als Schmiermittel in den Spaltraum zwischen viszeralem und parietalem Blatt. Dadurch gleitet die Sehne unter stark verminderter Reibung. Faszien sind derbe Hüllstrümpfe aus kollagenem Bindegewebe. Sie umgeben entweder einzelne Muskeln, Muskelgruppen oder ganze Körperabschnitte. Sie geben den Muskeln Stabilität und verhindern den Verlust des morphologischen Zusammenhalts der Muskelfasern während der Aktivität. Außerdem verhindern sie, dass sich Muskeln durch ihre Kontraktion gegenseitig beeinflussen und aneinander reiben. Umfassen sie größere Muskelgruppen oder Körperabschnitte, so können sie auch eine Muskelloge bilden. In meinem gewissen Rahmen bilden Faszien auch eine Barriere für Entzündungsprozesse. Klinik! Ergießt sich Flüssigkeit in eine Loge oder schwillt ein darin enthaltener Muskel übermäßig an, so kann sich im Logeninneren ein Druck aufbauen, der die Kapillargefäße oder auch Nervenfasern abschnürt. Dieses Phänomen nennt man Kompartmentsyndrom (Englisch Kompartment = Loge). Um eine Lähmung oder ein Absterben des Gewebes zu verhindern, kann es in Einzelfällen erforderlich sein, die betreffende Faszie chirurgisch zu spalten, damit der Druck entweichen kann. 15