Projekt Soziale Wirklichkeit Salem Kolleg 20.02.2023 Cornelius Bergweiler Lenno Hannig Franka Kloepfer Lukas de la Trobe Antonio Heller Anna Rübenthaler Paul Backhaus Ramin von Maydell DER NORWEGISCHE STRAFVOLLZUG Bastoy: Ein Insasse, welcher den Decknamen Niels bekam, 36 Jahre alt ist und zu 16 ½ Jahren Haft verurteilt wurde aufgrund von Mord und Drogenmissbrauchs. Er liegt sich sonnend auf einer Liege vor seiner Heimat auf Bastoy. (Photo by Marco Di Lauro/Reportage by Getty Images) Projektfrage: Inwiefern lässt sich das norwegische Strafvollzugsystem auf das deutsche übertragen? INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG IN DIE THEMATIK................................................................................................... 3 2. GESCHICHTE STRAFVOLLZUGSSYSTEM DEUTSCHLAND UND NORWEGEN .................................... 5 3. RESOZIALISIERUNG ................................................................................................................... 7 3.1 STRAFVOLLZUGSSYSTEM IN NORWEGEN............................................................................................ 8 3.1.1 RESOZIALISIERUNG IN NORWEGEN ....................................................................................................... 13 3.1.2 ROLLE DES VOLLZUGSBEDIENSTETEN..................................................................................................... 13 3.2 STRAFVOLLZUGSSYSTEM IN DEUTSCHLAND ...................................................................................... 15 3.2.1 RESOZIALISIERUNG IN DEUTSCHLAND ................................................................................................... 19 3.2.2 WARUM DAS DEUTSCHE STRAFVOLLZUGSSYSTEM NICHT SO FUNKTIONIERT WIE ES SOLLTE ............................. 20 3.3 ARCHITEKTUR........................................................................................................................... 21 4. FINANZIERUNG DES STRAFVOLLZUGS ...................................................................................... 23 5. MORALISCHE VERTRETBARKEIT ............................................................................................... 25 6. ANWENDBARKEIT DES NORWEGISCHEN SYSTEMS AUF DAS DEUTSCHE .................................... 28 6.1 POLITIK UND JUSTIZ ................................................................................................................... 28 6.1.1 VIELE GEFANGENE FÜR KLEINE DELIKTE ................................................................................................. 28 6.1.2 KEIN POLITISCHES HANDELN ............................................................................................................... 29 6.2 KULTURELLE ASPEKTE ................................................................................................................. 30 6.2.1 BEVÖLKERUNGSDICHTE ...................................................................................................................... 30 6.2.2 GRÖßERER ANTEIL AN MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND .......................................................... 31 6.3 FINANZIERUNG ......................................................................................................................... 33 6.3.1 ZU GERINGE INVESTITION .................................................................................................................... 33 2 1. EINLEITUNG IN DIE THEMATIK „Willst du einen Nachbarn, der zehn Jahre in seiner Zelle isoliert lebte, damit er möglichst hart für seine Tat bestraft wird? Was wird das wohl für ein Mensch sein, wenn er wieder freigelassen wird? Oder willst du später einen Menschen als Nachbarn haben, der menschenwürdig 5 behandelt und auf sein Leben nach der Freilassung vorbereitet wurde? Der gemerkt hat, dass er sein Leben ändern kann und dass es sich lohnt, wenn er sich anständig benimmt und sich anstrengt?1“ Wer sich mit dem norwegischen Strafvollzugssystem beschäftigt, wird dieses Zitat immer wieder hören. Es beschreibt die Einstellung der Norweger gegenüber Straftätern und ist die Er- 10 klärung dafür, warum norwegische Gefängnisse so sind wie sie sind. Fast jeder zweite Gefangene wird in Deutschland nach seiner Haftzeit wieder rückfällig.2 In Norwegen nur jeder dritte.3 Das norwegische Strafvollzugssystem hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erregt, da es als eines der fortschrittlichsten und effektivsten Systeme weltweit gilt. Im Vergleich dazu steht das deutsche Strafvollzugssystem, das als traditionell 15 und eher restriktiv angesehen wird. In diesem Projektbericht werden wir uns mit beiden Systemen intensiv beschäftigen und sie miteinander vergleichen. Mithilfe dieses Vergleiches werden wir uns mit der Frage auseinandersetzten, ob und wie das System der norwegischen Gefängnisse auf das deutsche übertragen werden könnte. Zuerst beschreiben wir die Entstehungsgeschichte des norwegischen Strafvollzugssystems. 20 Wir gehen darauf ein, wie Norwegen in den 70er Jahren begann, sein System zu reformieren und sich auf Resozialisierung und Prävention zu konzentrieren. Wir diskutieren auch die grundlegenden Prinzipien des deutschen Strafvollzugssystems, welches laut Strafvollzugsgesetz zwar auch die Resozialisierung in den Mittelpunkt stellt4; dies allerdings geschichtlich bedingt anders umsetzt. 25 Im zweiten Teil der Arbeit beschreiben wir die Resozialisierungsmaßnahmen und die Rückfallquote in beiden Ländern. Wir stellen dar, welche Strategien angewandt werden, um Häftlinge erfolgreich in die Gesellschaft zu reintegrieren und wie hoch die Rückfallquote in beiden Ländern ist. Dadurch kann abgeleitet werden, wie erfolgreich die Resozialisierungsmaßnahmen beider Länder sind. 1 Gefängnisdirektor Runar Eidissen Im Fokus Interview 2018: https://www.focus.de/perspektiven/14-laender-14reporter/14-laender-14-reporter-norwegen-warum-norwegen-viel-geld-fuer-glueckliche-haeftlinge-ausgibt_id_9792837.html 2 Studie des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht in Zusammenarbeit mit der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen: https://www.uni-goettingen.de/de/479190.html 3Studentische Recherche der Coastal Carolina University: https://digitalcommons.coastal.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1032&context=bridges 4 §2 des StVollzG: https://www.gesetze-im-internet.de/stvollzg/__2.html Im dritten Teil gehen wir auf die Finanzierung der Gefängnisse in beiden Ländern ein und vergleichen die Kosten der Systeme. Wir diskutieren, ob sich das teurere, norwegische System langfristig möglicherweise auszahlen könnte und stellen dies in einem Rechenbeispiel dar. Im vierten Teil unserer Projektarbeit untersuchen wir moralische Fragen, die mit dem Straf5 vollzug verbunden sind. Wir diskutieren, ob das Ziel des Strafvollzugs darin bestehen sollte, Straftäter zu bestrafen und die Bevölkerung vor ihnen zu beschützen oder sie zu resozialisieren. Wir betrachten auch ethische Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung von Zwang und Kontrolle im Strafvollzug. Im fünften Teil der Arbeit diskutieren wir die Frage, ob das norwegische System auch in 10 Deutschland anwendbar wäre. Wir stellen dar, welche Herausforderungen bei der Übertragung des Systems auf Deutschland bestehen und welche Anpassungen erforderlich wären. Zum Schluss ziehen wir ein Fazit und geben Empfehlungen ab, welche Aspekte des norwegischen Systems möglicherweise in Deutschland umgesetzt werden könnten, um die Resozialisierung von Straftätern zu verbessern. 15 Für unsere Projektarbeit haben wir verschiedene Methoden angewandt. Wir haben Straßenumfragen in Oslo durchgeführt, um die Meinungen der Öffentlichkeit zu hören. Wir haben eine Führung durch die JVA Stuttgart bekommen, um einen Eindruck vom Alltag der Häftlinge und der Mitarbeiter zu bekommen. Darüber hinaus haben wir Interviews mit Gefängnisleitern, Kriminologen, Experten für Resozialisierung sowie einem ehemaligen Häftling geführt. Das hat 20 uns sehr geholfen differenzierte Meinungen zu sammeln und an Informationen zu kommen, welche nicht in Internetquellen zu finden wären. 25 4 2. GESCHICHTE STRAFVOLLZUGSSYSTEM DEUTSCHLAND UND NORWEGEN In der Bibel heißt es „Du sollst nicht stehlen.“ Oder „du sollst nicht töten“ und seit 1949 legt 5 das Grundgesetz §1 die Würde des Menschen als unantastbar fest5. Fast schon seit Anbeginn der Menschheit gibt es Regeln, an die man sich halten muss und Gesetze, die nicht zu brechen sind. Wie genau, war schon immer von Zeit und Ort abhängig. So wurden Leute gesteinigt, verbrannt oder auf jede erdenkliche Art und Weise gefoltert und bis vor circa 70 Jahren in Deutschland sogar noch zur Todesstrafe verurteilt. Und doch, obwohl dies für viele von uns 10 unvorstellbar ist, gibt es weiterhin Länder, in denen dies die Realität widerspiegelt. Heute äußert sich die Strafvollstreckung in vielen verschiedenen Formen, insbesondere einer Geld- oder eine Freiheitsstrafe. Letztere muss in Deutschland durch ein staatliches Gericht verhangen und in einer Justizvollzugsanstalt, kurz JVA, vollzogen werden. Lange Zeit spielte das tatsächliche Einsperren von Straftätern in Gefängnissen keine weitge- 15 hende Rolle. Eher dienten sie als Untersuchungshafteinrichtung, also zur Verwahrung der Menschen während laufender Prozesse oder um bereits Verurteilte bis zur Vollstreckung Ihrer eigentlichen Strafe festzuhalten. In vielen europäischen Ländern, unter anderem auch Norwegen, entstanden erst im späten 16. Jahrhundert Gefängnisse, sogenannte Zuchthäuser. Dort wurden allerdings hauptsächlich nicht Straffällige, sondern Bettler oder Angehörige verschie- 20 dener Minderheiten eingesperrt, um harte Arbeit zu erledigen. Erst nach vielen Jahrzehnten begann die Zeit, in der Gefängnisse der Verwahrung wirklicher Krimineller dienten.6 Zwischenzeitlich galten für den Strafvollzug die USA und England als die großen Vorbilder. So entwickelten sich auch in Preußen Ende des 18. Jahrhunderts die Gefängnis- und Strafanstalten weiter. Es wurde erstmals die Idee eines Stufenstrafvollzugs entwickelt und zwischen bes- 25 serungsfähigen und unverbesserlichen Straftätern unterschieden. Außerdem hat man die Strafhaft von der Untersuchungshaft abgesondert. Der Erziehungs- und Besserungsgedanke entstand und begann eine wesentliche Rolle zu spielen. Das bedeutet, dass deutlich mehr Wert auf das Unterstützen der Insassen gelegt wurde.7 In der Weimarer Republik wurde dieser Gedanke weiter ausgeführt, Gefangene sollten jetzt nicht mehr heruntergemacht und ge- 30 schwächt, sondern – ganz im Gegenteil – gestärkt und auf den rechten Weg gebracht werden. Dennoch bestand nach wie vor das Stufensystem, wovon viele Gefangene indirekt unter Druck gesetzt wurden. Außerdem herrschte noch immer das Bedürfnis nach militärischer Härte und Disziplin in den Köpfen der Menschen. Durch die Wirtschaftskrise wurden die Zuschüsse des 5 https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html 6 https://de.wikipedia.org/wiki/Gefängnis#Geschichte 7 https://de.wikipedia.org/wiki/Gefängnis#Entwicklung_in_Deutschland 5 Staates an die Gefängnisse gekürzt, wodurch sich wiederum die Verhältnisse in den Haftanstalten immer weiter verschlechterten. Spätestens ab 1933 verschärften sich die Haftbedingungen drastisch, die Inhaftierten wurden immer stärker segregiert und immer weniger als Menschen angesehen. Die Gefängnisse waren dauerhaft überfüllt, wodurch sich die Hygiene5 verhältnisse weiter zuspitzten.8 1968 wurde das Reichsstrafgesetzbuch durch das Strafgesetzbuch der DDR abgelöst und im Zuge dessen die Zuchthausstrafe abgeschafft. Die tatsächliche Reform fand 1972 statt, als das Bundesverfassungsgericht den Entschluss fasste den Strafvollzug gesetzlich zu regeln. Vier Jahre später wurde das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) erlassen und trat am 1. Januar 1977 in Kraft. Dieses Gesetz regelt den Vollzug der 10 Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung.9 Hierbei wurde sich stark an skandinavischen Vorbildern, wie dem norwegischen Strafvollzugssystem, orientiert. Heute äußert sich allerdings noch immer ein veraltetes Gedankengut in der Meinung der deutschen Gesellschaft. Hier wird nämlich die Sühne nach wie vor als der eigentliche Gefängniszweck angesehen, so Herr Nagel, der Gefängnis- 15 leiter der JVA Stuttgart. Und das, obwohl es laut StVollzG §2 von höchster Priorität ist, dass Straftäter „ein Leben künftig in sozialer Verantwortung ohne Strafen“10 führen sollen. Das bedeutet, dass die Resozialisierung, das Wiedereingliedern von Straftätern in die Gesellschaft nach dem Verbüßen einer Haftstrafe, das eigentliche Vollzugsziel darstellt. Dennoch scheint dies noch nicht vollkommen umgesetzt zu worden sein. Nicht nur Sühne, sondern auch der 20 Schutz der Allgemeinheit stehen also vermeintlich weiterhin im Vordergrund. In Norwegen dagegen ist das Strafvollzugssystem inzwischen anders aufgebaut. Hier liegt der Fokus tatsächlich auf der Rehabilitation und Resozialisierung der Insassen. Allerdings sah das System in Norwegen früher so ähnlich aus wie das deutsche heutzutage. Die Priorität lag ebenfalls auf der Bestrafung der Schuldigen. Über lange Zeit hinweg entwickelten sich das 25 deutsche und norwegische Strafvollzugssystem simultan, wie bereits erläutert. Erst in den 1970er Jahren wurde das System reformiert. Dabei war vor allem die Entstehung des norwegischen Verbands für strafrechtliche Reform, kurz „KROM“ entscheidend.11 KROM ist auch heute noch aktiv und setzt sich weiterhin für eine humane Kriminalpolitik ein, im engeren Sinne für aktuelle und ehemalige Gefängnisinsassen, deren Rechte und Forderungen. 30 Besonders relevant ist hierbei, dass der Verband politisch unabhängig ist und die Mitglieder aus unterschiedlichsten Berufsfeldern stammen. Die Mitglieder versuchen sogar derzeit Gefängnisse ganz abzuschaffen und all Ihre Ansätze und Ideen in anderen Ländern zu verbreiten.12 Ausschlaggebend für die große Reform in Norwegen war auch die Abschaffung der 8 https://gefaengnisseelsorge.net/geschichte 9 https://www.gesetze-im-internet.de/stvollzg/__1.html 10 https://www.gesetze-im-internet.de/stvollzg/__2.html 11 https://en.wikipedia.org/wiki/Incarceration_in_Norway#cite_note-:0-7 12 https://krom.no/om 6 Zwangsarbeit 1970.11 Seitdem wird dort das System „restorative justice“, auf Deutsch restaurative Justiz, angewendet, wobei die Geschädigten und die Straftäter einen hohen Stellenwert in dem Prozess des Vollzugs haben und viel an der Wiedergutmachung und Aufarbeitung der Tat gearbeitet wird.13 Und durch solche und viele andere Verfahren, die noch genauer erläutert 5 werden, hat sich das norwegische Strafvollzugssystem zu einem der renommiertesten überhaupt entwickelt.14 3. RESOZIALISIERUNG Begriffserklärung: 10 Unter Resozialisierung versteht man den Zusammenhang mit der Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft. Dabei geht es um den Prozess der sozialen und psychologischen Rehabilitation von Personen, die eine Straftat begangen haben, verurteilt wurden und ihre Haft im Gefängnis absitzen mussten. Das Ziel der Resozialisierung besteht darin, sicherzustellen, dass Straftäter nach Absitzen ih- 15 rer Strafe in der Lage sind, wieder ein Teil der Gesellschaft zu werden und einen produktiven Beitrag leisten können, anstatt in die Kriminalität zurückzufallen. Den Straftäter abzuschrecken und zu bestrafen, ist dabei nebensächlich. Es geht hauptsächlich darum, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Verhalten zu ändern und ihre Taten wiedergutzumachen. Bildungs- und Berufsbildungsprogramme helfen den Straftäter sich auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten und ihnen 20 die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln, um ein eigenständiges Leben führen zu können. Psychologische Beratung und Therapie ist ein wichtiger Bestandteil des Resozialisierungsprozesses, damit die Straftäter sich selbst und ihre Taten besser reflektieren, negative Verhaltensmuster überwinden und soziale und emotionale Fähigkeiten verbessern können. Ein erfolgreicher, abgeschlossener Resozialisierungsprozess reduziert die Wahrschein- 25 lichkeit von Rückfällen und verringert das Risiko von Straftaten in der Zukunft. 15 16 30 13 https://de.wikipedia.org/wiki/Restorative_Justice 14https://books.google.no/books?hl=de&lr=&id=jLQuDwAAQBAJ&oi=fnd&pg=PR3&dq=penal+system+Norway+history&ots=4aKNCFO6xX&sig=fkL2SsshMDJkecjdRZ2Pc5D9QQQ&redir_esc=y#v=onepage&q=penal%20system%20Norway%20history&f=false (S. 20) 15 https://de.wikipedia.org/wiki/Resozialisierung 16 https://www.sign-lang.uni-hamburg.de/projekte/slex/seitendvd/konzepte/l54/l5465.htm 7 3.1 STRAFVOLLZUGSSYSTEM IN NORWEGEN Das norwegische Strafvollzugssystem funktioniert nach einem sogenannten "drei Stufen Konzept". Es umfasst die drei Phasen, die Gefangene während ihrer Haftzeit durchlaufen, um ihre Resozialisierung zu fördern.17 18 19 5 Die erste Stufe ist die "geschlossene Phase". Auch Norwegen hat einen geschlossenen Vollzug, dort sind die Gefangenen in Einzelhaft untergebracht und haben begrenzten Kontakt zu anderen Insassen. Ziel ist es, sie vorerst von der Gesellschaft zu isolieren, ihre kriminellen Verhaltensmuster zu durchbrechen und zu lernen Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen. Dennoch ist selbst der geschlossene 10 Vollzug in Norwegen vergleichsweise komfortabel. Die Zellen haben oft ein eigenes Bad und können frei gestaltet werden. Während dieser Phase haben die Insassen weiterhin Zugang zu Sport- und Freizeitmöglichkeiten, sowie aber auch psychologische Unterstützung, Bildung und Arbeitstrainingsprogramme, um ihre Fähigkeiten zu verbessern und ihnen eine Chance auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung zu geben. 15 Die zweite Stufe ist die "halboffene Phase". Der halboffene Vollzug, bietet den Insassen mehr Freiheiten als der geschlossene Vollzug. Es besteht der Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen und Aktivitäten wie Arbeit, Ausbildung und Freizeitprogramme. Die Insassen bereiten ihr eigenes Frühstück zu oder können in der Gemeinschaftsküche essen. Sie sind auch in der Lage, Besuche von Freunden und Familienmit- 20 gliedern zu empfangen. Es gibt aber immer noch einige Einschränkungen und Regeln, die befolgt werden müssen. Es gibt eine gewisse physische Begrenzung, wie z.B. Zäune, und die Gefangenen haben normalerweise bestimmte Einschränkungen in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit. Die Insassen müssen sich an festgelegte Tagesabläufe halten, sich Kontrollen und Überprüfungen unterziehen, um sicherzustellen, dass sie keine Verstöße gegen die Re- 25 geln begehen. Schrittweise wird den Insassen ein geregelter Tagesablauf vorgelegt, um sich an Vorschriften zu gewöhnen, dennoch wird ihnen mehr Verantwortung gegeben, um zu schauen, wie sie damit klarkommen. Dieses Vertrauen den Insassen gegenüber und das schrittweise verbessern ihrer Möglichkeiten, gibt ihnen ein Gefühl von Selbstwert und Weiterentwicklung. 30 17https://en.wikipedia.org/wiki/Incarceration_in_Norway#:~:text=Norway's%20criminal%20justice%20system%20focuses,a%20functioning%20member%20of%20society 18https://www.firststepalliance.org/post/norway-prison-system-lessons#:~:text=The%20Benefits%20of%20Norway's%20Prison%20System&text=The%20most%20profound%20benefit%3A%20Norway,recidivism%20rate%20is%20only%2025%25 19 https://www.epea.org/wp-content/uploads/AnotherSpring_Norway_.pdf 8 Die dritte und letzte Phase ist die "offene Phase". Um in den offenen Vollzug zu kommen, müssen die Gefangenen bestimmte Kriterien erfüllen, wie z.B. eine minimale Haftzeit abgesessen haben, eine positive Einstellung zur Resozialisierung zeigen und keine Disziplinarverstöße begangen haben. In dieser Phase können die In5 sassen tagsüber das Gefängnis verlassen, um zu arbeiten oder zu studieren. Die Häftlinge müssen jedoch regelmäßig zur Überprüfung in die Vollzugsanstalt zurückkehren und dürfen normalerweise nur für begrenzte Zeiträume von einigen Stunden bis zu einem Tag außerhalb der Anstalt bleiben. Drogen, Alkohol und das Begehen von Straftaten führen zu einem Ausstoß aus dem offenen Vollzug. Ziel dieser Phase ist es, die Insassen auf eine erfolgreiche Rückkehr 10 in die Gesellschaft vorzubereiten. Die Dauer des offenen Vollzugs hängt von der individuellen Situation jedes Häftlings ab. Einige Häftlinge können für einen kurzen Zeitraum im offenen Vollzug bleiben, während andere für einen längeren Zeitraum untergebracht sein können. Die Entscheidung darüber, wer für den offenen Vollzug geeignet ist, trifft die Vollzugsbehörde auf Grundlage einer Bewertung des Risikos, individuellen Verhaltens und dem Charak- 15 ter des Häftlings. Im offenen Vollzug leben die Insassen in kleineren Wohneinheiten, die normalerweise für 8-12 Personen ausgelegt sind. Die Zimmer sind einfach, aber funktional eingerichtet und bieten den Häftlingen eine gewisse Privatsphäre. Die Wohneinheiten haben auch gemeinsame Räume wie Wohnzimmer, Küche und Bad. In Norwegen gibt es mehrere offene Vollzugsanstalten, die normalerweise in ländlichen Gegenden angesiedelt sind. Eines der Pa- 20 radebeispiele ist die Haftanstalt Bastøy:20 21 22 23 24 25 Die norwegische Gefängnisinsel Bastøy liegt etwa 46 Kilometer südwestlich von Oslo und ist Teil der Inselgruppe Vestfold. Die Insel ist etwa 2,6 Quadratkilometer groß und hat eine Bevölkerung von etwa 115 Personen, darunter 80 Insassen und 35 Gefängnisangestellte. Die Insel ist ein offenes Gefängnis, was bedeutet, dass die Insassen sich frei auf der Insel bewe- 25 gen können, solange sie sich an die Regeln halten. Die Philosophie hinter Bastøy ist, eine Umgebung zu schaffen, die sich auf die Rehabilitation der Insassen konzentriert, anstatt sie einfach nur zu bestrafen und wegzusperren. Das Ziel ist es, die Insassen auf ein Leben in der Gesellschaft vorzubereiten, indem ihnen praktische, soziale, aber auch intellektuelle Fähigkeiten beigebracht werden und sie auch lernen Verantwor- 30 tung für sich und andere zu übernehmen. 20 https://www.travelbook.de/orte/bastoy-in-norwegen-gefaengnis 21 https://bachrauf.org/strafvollzug-norwegen-bodo-halden-bastoy/ 22 https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-neue-menschlichkeit-6966709.html 23 https://www.youtube.com/watch?v=fxfMSS-q5C4 24 Verzeihen statt Bestrafen: Norwegens Gefängnisse als Zukunftsmodell - YouTube 25 200929_Focus_Norwegen.pdf 9 Dazu werden sie in Arbeitsprojekte auf der Insel eingebunden, um Fertigkeiten wie Landwirtschaft, Fischerei, Handwerk und Holzverarbeitung zu erlernen. Die Insassen werden ermutigt, selbstständig zu sein und Verantwortung zu übernehmen, indem sie ihre eigenen Mahlzeiten kochen, ihre Unterkünfte reinigen und die Insel pflegen. 5 Wie sieht ein normaler Tag auf Bastøy aus? Ein Tag auf der Gefängnisinsel Bastøy unterscheidet sich sehr von einem typischen Gefängnisalltag, da das Gefängnis eine offene Struktur hat und die Insassen ein hohes Maß an Freiheit und Eigenverantwortung haben. Das Ziel des Programms ist, die Insassen auf eine erfolgreiche Reintegration in die Gesellschaft vorzubereiten, indem sie Fähigkeiten erwerben, arbei- 10 ten und sich engagieren können. So könnte ein Tag auf Bastøy aussehen: 5:45 Uhr: Die Insassen werden von einem Wachmann geweckt und beginnen ihren Tag. Einige Insassen wählen jedoch auch, etwas länger zu schlafen und stehen später auf. 6:00 Uhr: Das Frühstück wird serviert. Die Insassen haben eine Auswahl an frischem Brot, Käse, Wurst, Müsli, Marmelade und Fruchtsäften. 15 6:30 Uhr: Arbeitstag beginnt. Die Insassen können aus einer Vielzahl von Stellen wählen, darunter Landwirtschaft, Fischerei, Holzarbeiten und Haushaltsarbeiten. Jeder Insasse wird in der Regel einem bestimmten Arbeitsbereich zugeteilt, aber er kann auf Anfrage auch wechseln. 8:30 Uhr: Die Insassen werden zum ersten Mal gezählt, es wird danach geguckt, ob alle voll- 20 zählig sind oder ob jemand fehlt, danach geht es weiter an die Arbeit. 10:30 Uhr: Kaffeepause. Die Insassen haben Zeit, sich zu entspannen und Kontakte zu knüpfen. Einige nutzen diese Zeit, um an Freizeitaktivitäten teilzunehmen oder das Fitnessstudio zu besuchen. 11:00 Uhr: Arbeit geht weiter. Insassen können ihre Arbeit bis zu 8 Stunden am Tag fortsetzen. 25 12:30 Uhr: Mittagspause. Das Mittagessen ist eine warme Mahlzeit, die von den Insassen selbst zubereitet wird. Das Essen variiert von Tag zu Tag und kann zum Beispiel aus Fisch, Gemüse, Fleisch oder Pasta bestehen. 13:30 Uhr: Arbeit geht weiter. 15:30 Uhr: Feierabend. Insassen können wählen, wie sie ihre Freizeit verbringen möchten. 30 Einige nutzen diese Zeit, um sich auszuruhen oder zu schlafen, während andere ihre Freizeit aktiv gestalten und verschiedene Aktivitäten nutzen. 10 16:00 Uhr: Die Häftlinge werden ein zweites Mal auf dem Appellplatz gezählt. 18:00 Uhr: Das Abendessen wird serviert. Die Insassen können aus verschiedenen Gerichten wählen und es gibt auch vegetarische Optionen. 19:00 Uhr: Abendaktivitäten. Insassen können wählen, wie sie ihre Abende verbringen möch5 ten, und es gibt eine Vielzahl von Aktivitäten zur Auswahl, darunter Sport, Musik, Kunst, Lesen oder Schachspielen. Es gibt auch eine Bibliothek und einen Musikraum. 22:00 Uhr: Nachtruhe. Sie haben eine gewisse Flexibilität, wann sie schlafen gehen möchten, solange sie sich an bestimmte Regeln halten. Es gibt verschiedenen Freizeitaktivitäten, darunter Sportplätze und ein Fitnessstudio. Es gibt 10 auch kulturelle Veranstaltungen und Workshops, an denen sie teilnehmen können. Die Insassen haben auch die Möglichkeit, an Bildungsprogrammen und Beratungsangeboten teilzunehmen, um ihre Fähigkeiten und ihr Wissen zu erweitern. Die Bezahlung für die Arbeit ist eher symbolisch, es ist kein reguläres Gehalt. Jedoch erhalten die Insassen eine Gegenleistung für ihre Arbeit, sie erhalten ungefähr 50 Kronen (umgerech- 15 net ca. 4,56 Euro) pro Tag. Man kann sich davon in einem kleinen Laden auf der Insel Lebensmittel, Getränke oder auch Tabak kaufen. Die Häftlinge müssen selbst für ihre Verpflegung auf der Insel sorgen, da es nur einmal am Tag essen in der Kantine gibt, müssen sie somit auch lernen wie sie mit ihrem Einkommen haushalten können, was ebenfalls hilft nach dem Beenden ihrer Haftstrafe besser zurück in die Gesellschaft zu kehren26. 20 Wie ist der Umgang zwischen Häftlingen und Gefängnisangestellten? Der Umgang zwischen Häftlingen und Gefängnisangestellten auf Bastøy ist auf Augenhöhe und respektvoll. Die Insassen werden als verantwortliche Erwachsene behandelt und ermutigt, Entscheidungen zu treffen, die zu ihrem Fortschritt beitragen. Die Gefängnisangestellten fungieren als Mentoren und Berater und helfen den Insassen dabei, ihre Ziele zu erreichen. Es 25 gibt auch regelmäßige Treffen zwischen Insassen und Gefängnisangestellten, bei denen die Insassen ihre Probleme und Anliegen besprechen können. Die Gefängnisangestellten versuchen, Lösungen für Probleme zu finden und den Insassen bei der Bewältigung von Schwierigkeiten zu helfen. Welche Vorschriften und Regeln müssen auf Bastøy beachtet werden? 30 Obwohl Bastøy für seine offene Atmosphäre bekannt ist, gibt es dennoch Regeln und Vorschriften, die von den Insassen beachtet werden müssen. Zum Beispiel ist Alkohol auf der 26 https://www.travelbook.de/orte/bastoy-in-norwegen-gefaengnis 11 Insel strengstens verboten, ebenso wie Drogen. Wenn ein Insasse gegen diese Regeln verstößt, kann er auf eine andere Insel verlegt werden oder in ein herkömmliches Gefängnis zurückgeschickt werden. Es gibt auch Regeln bezüglich der Arbeitszeiten, der Nutzung von Computern und der Verwendung von Werkzeugen. Die Insassen müssen auch regelmäßige Dro5 gen- und Alkoholtests bestehen und dürfen keinen Kontakt zu früheren kriminellen Partnern haben. Zusätzlich gibt es Regelungen zur Sicherheit, die befolgt werden müssen. Die Insassen werden jedoch ermutigt, Verantwortung zu übernehmen und aufeinander aufzupassen. Dies trägt dazu bei, dass ein Gefühl der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit auf der Insel entsteht27. 10 Insgesamt hat das Konzept der offenen Gefängnisinsel Bastøy international für Aufsehen gesorgt. Die Philosophie, die hinter Bastøy steht, konzentriert sich auf die Rehabilitation der Insassen und soll helfen, sie auf ein Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Die Erfolgsquote des Systems ist beeindruckend, mit einer Rückfallquote von nur 16 Prozent im Vergleich zu einer Rückfallquote von etwa 70 Prozent in den meisten Ländern. Das Konzept von Bastøy ist 15 jedoch nicht ohne Kritik. Einige argumentieren, dass es zu weich ist und den Insassen zu viele Freiheiten gibt. Andere argumentieren, dass das Konzept nur in Norwegen erfolgreich sein kann, da das Land eine einzigartige Kultur und ein einzigartiges Rechtssystem hat28. Trotz der Kritik hat Bastøy gezeigt, dass ein anderes Gefängnissystem möglich ist. Das System von Bastøy setzt auf Rehabilitation und Verantwortung, anstatt auf Bestrafung und Ent- 20 mündigung. Es soll dazu beitragen, dass Insassen nach ihrer Entlassung nicht in alte Gewohnheiten zurückfallen und so die Kriminalitätsrate senken. Abschließend lässt sich sagen, dass Bastøy ein einzigartiges Gefängnis ist, das darauf abzielt, Insassen auf ein Leben außerhalb des Gefängnisses vorzubereiten, indem es eine offene Atmosphäre schafft, die auf Respekt, Vertrauen und Gemeinschaft basiert. Das Ziel ist es, den 25 Insassen zu helfen, sich zu besseren Menschen zu entwickeln, indem sie Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben und sich auf eine erfolgreiche Reintegration in die Gesellschaft vorbereiten. Die Philosophie hinter Bastøy kann als inspirierend und zukunftsweisend angesehen werden und hat bereits die Aufmerksamkeit von Experten und Interessengruppen auf der ganzen Welt auf sich gezogen. Obwohl das Konzept von Bastøy nicht perfekt ist, hat es gezeigt, 30 dass es eine Alternative zu den herkömmlichen Gefängnissystemen gibt29. Grundsätzlich soll das "drei Stufen Konzept" im norwegischen Strafvollzugssystem sicherstellen, dass die Insassen schrittweise in die Gesellschaft reintegriert werden und auf eine erfolgreiche Rückkehr vorbereitet werden. Durch die Einführung von Bildung, Arbeit und anderen 27 https://uni.de/redaktion/bastoy-gefaengnis-norwegen 28 https://gefaengnisseelsorge.net/der-strafvollzug-in-norwegen-und-schweden 29 https://bachrauf.org/strafvollzug-norwegen-bodo-halden-bastoy/ 12 Programmen in allen Phasen sollen die Insassen die Fähigkeiten und Ressourcen erwerben, die sie benötigen, um ein Leben ohne kriminelle Aktivitäten zu führen. 3.1.1 RESOZIALISIERUNG IN NORWEGEN 5 In Norwegen gibt es ein umfassendes Programm zur Resozialisierung von Straftätern, welches als eines der modernsten und erfolgreichsten der Welt gilt. Die Rückfallquote liegt gerade mal bei 25 % und ist damit die niedrigste der Welt. Das Programm in Norwegen legt dabei besonders Wert auf eine humane Behandlung von Inhaftierten, die einzige Strafe soll nur der Verlust von Freiheit sein. Sozialpädagogen unterstützen bei der Suche nach Wohnraum und Arbeit, 10 indem sie bei der Beschaffung und Ausfüllung von Anträgen helfen und auf dem Weg zu den zuständigen Behörden beratend zur Seite stehen. Insbesondere informieren sie über finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten, abhängig von der Dauer der Haft. Der sozialpädagogische Dienst fungiert somit als Verbindungsglied zwischen dem Leben im Gefängnis und dem Leben außerhalb. Durch diese Unterstützung kann eine drohende Obdachlosigkeit verhindert und 15 einem weiteren sozialen Abstieg vorgebeugt werden. Ein solcher Abstieg würde das Risiko eines Rückfalls in die Kriminalität deutlich erhöhen. Bestrafung und Humanismus sollen in norwegischen Haftanstalten kein Gegensatz sein. Das Prinzip: Wer gut behandelt wird, übernimmt dieses Verhalten, wenn er frei ist und wird nicht mehr straffällig.30 31 32 33 34 20 3.1.2 ROLLE DES VOLLZUGSBEDIENSTETEN Der norwegische Vollzugsbedienstete trägt die Verantwortung für Sicherheit, Intervention, Resozialisierungsarbeit und ist Kontaktbeamter. In Norwegen wird viel Wert auf die individuelle Betreuung und Behandlung der Insassen gelegt. Jeder Insasse hat einen eigenen Betreuer, der für ihn zuständig ist und ihm bei Bedarf mit Ratschlägen und Unterstützung zur Seite steht. 25 Das Ziel ist es, den Insassen dabei zu helfen, ihr Leben zu verbessern und erfolgreich in die Gesellschaft zurückzukehren. Die Interaktion trägt zu einer besseren Kenntnis des Gefangenen und dessen, was in der Abteilung vor sich geht, bei. Dieses Wissen ist entscheidend für eine gute Risikobewertung und ist somit ein sehr wichtiger Teil ihrer Resozialisierung. Für Risikobewertungen werden zugelassene Methoden verwendet und die Bediensteten nehmen an 30https://opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/13148/1/KernTamara-Joan_Das_Pradaxon_der_Inhaftierung_und_Resozialisierung.pdf 31file:///C:/Users/Lenno%20Hannig/Downloads/%C3%85rsrapport+2020+kriminalomsorgen-+engelsk+-+endelig+versjon.pdf 32 file:///C:/Users/Lenno%20Hannig/Downloads/KDI_strategibrosjyre_TRYKK_FINAL2_Engelsk.pdf 33 https://www.theguardian.com/society/2013/feb/25/norwegian-prison-inmates-treated-like-people 34 https://gefaengnisseelsorge.net/der-strafvollzug-in-norwegen-und-schweden 13 einer Ausbildung teil, um das notwendige Wissen zu erlangen, um die Methode zu beherrschen und herauszufinden, welche Maßnahmen für den jeweiligen Gefangenen oder die jeweilige Situation angemessen sind. Die Rolle des Vollzugsbediensteten ist in viele Aufgaben aufgeteilt und beinhaltet ein hohes Maß an Verantwortung, was bedeutet, dass eine qualitativ 5 gute Lehre notwendig ist. Die Ausbildung zum Vollzugsbeamten in Norwegen ist speziell auf die Bedürfnisse des norwegischen Strafvollzugssystems ausgerichtet und umfasst mehrere Stufen. Die Anforderungen an Bewerbende sind vergleichsweise hoch. Um Vollzugsbeamter in Norwegen zu werden, müssen Bewerber mindestens 18 Jahre alt sein und eine abgeschlossene Sekundarschulaus- 10 bildung vorweisen können. Es wird auch erwartet, dass Bewerber eine gute körperliche Fitness und geistige Stärke haben. Die Grundausbildung zum Vollzugsbeamten in Norwegen umfasst ein 1,5-jähriges Programm, das von der norwegischen Regierung finanziert wird. Während der Ausbildung lernen die Schüler die Grundlagen des Strafvollzugs und erhalten eine praktische Ausbildung in Gefängnissen und anderen Einrichtungen. Der Inhalt der Lehrpläne ist in ver- 15 schiedene Module unterteilt. Jedes Modul besteht aus mehreren Fächern, und einige der Fächer sind Teil aller Module, wie z. B. Recht, Sicherheits- und Risikomanagement, Ethik und Kommunikation. Im Anschluss daran können sich Vollzugsbeamte für eine fortgeschrittene Ausbildung in verschiedenen Bereichen des Strafvollzugs qualifizieren, wie z. B. Verwaltung, Sicherheit oder Resozialisierung. Es gibt auch Möglichkeiten für Vollzugsbeamte, sich auf spe- 20 zielle Bereiche des Strafvollzugs zu spezialisieren, wie z. B. Psychologie, Sozialarbeit oder forensische Wissenschaft. Die Ausbildung zum Vollzugsbeamten in Norwegen zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen im Strafvollzug, wie z. B. Sozialarbeitern, Psychologen und Krankenpflegern ist. 35 36 37 Die Ausbildung zum Vollzugsbeamten in Norwegen umfasst eine erhebliche praktische Erfah- 25 rung in verschiedenen Gefängnissen und Einrichtungen, um den Schülern einen Einblick in die verschiedenen Aspekte des Strafvollzugs zu geben. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern, die sich stärker auf Sicherheitsaspekte des Strafvollzugs konzentrieren, ist die Ausbildung in Norwegen einzigartig. Darüber hinaus erhalten Vollzugsbeamte in Norwegen regelmäßige Fortbildungen, um sicherzustellen, dass sie auf dem neuesten Stand der Entwicklun- 30 gen im Strafvollzug bleiben und ihre Fähigkeiten und Kenntnisse verbessern. Der Umgang mit Insassen ist in Norwegen einen sehr unterschiedlichen Ansatz, im Vergleich zu Deutschland. Während Deutschland eher auf eine restriktive und disziplinäre Atmosphäre setzt, betont Norwegen die humane Behandlung der Insassen. Norwegische Gefängnisse haben den Ruf, einige der fortschrittlichsten und menschenwürdigsten Einrichtungen der Welt zu 35 https://www.etui.org/sites/default/files/Hesamag_19_EN-23-26.pdf 36https://digitalcommons.coastal.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1032&context=bridges 37 https://www.bbc.com/news/stories-48885846 14 sein. In Norwegen gibt es keine Uniformen für Insassen. Stattdessen tragen sie zivile Kleidung, um ihre Identität als Individuum zu betonen. Dies soll dazu beitragen, dass die Insassen sich weniger stigmatisiert fühlen und sich eher als Teil der Gesellschaft sehen.38 39 Zusammenfassend kann man sagen, dass Norwegen im Umgang mit Insassen einen sehr 5 individuellen und respektvollen Ansatz verfolgt. Sie werden als Menschen angesehen, die Fehler gemacht haben, und nicht als schlechte Menschen. Die Betonung liegt darauf, ihnen zu helfen, ihre Fehler zu erkennen und zu korrigieren und ihnen die Möglichkeiten und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um ihr Leben in eine positive Richtung zu lenken. 10 3.2 STRAFVOLLZUGSSYSTEM IN DEUTSCHLAND Zuallererst gucken wir uns das Strafvollzugssystem in Deutschland an, wobei man natürlich erstmal beachten muss, was man genau unter einer Justizvollzugsanstalt verstehen kann. Definitionsgemäß verbüßen Inhaftierte in einer Justizvollzugsanstalt ihre Freiheits-oder Jugendstrafe, ihre Ersatzfreiheitsstrafe oder auch Untersuchungshaft. Dabei lautet das Vollzugsziel 15 den Gefangenen dahingehend zu befähigen, soziale Verantwortung zu übernehmen und ein Leben ohne Straftaten zu führen. Zusätzlich ist die Resozialisierung ein großer Punkt des Strafvollzugs, wobei auf längerfristige Sicht die Grundlagen für zukünftige Integration schon früh im Strafvollzug gestellt werden soll. Naturgemäß der wahrscheinlich offensichtlichste Punkt, der Schutz der Bevölkerung vor weiteren Straftaten der Inhaftierten. Dadurch ist die 20 Justizvollzugsanstalt viel genauer beschrieben als der allgemeine Begriff Gefängnis, wo man rein formell darunter sich einen Ort vorstellt, wo Menschen gegen ihren Willen gehalten werden. Im weiteren Definitionsbereich unterscheidet man unter dem offenen Vollzug und dem geschlossenen Vollzug, wobei aber noch im weiteren Verlauf der Arbeit drauf eingegangen wird.40 25 Außerdem sollen Gefangene ihren Pflichten und Rechten bewusst werden. Den Gefangenen soll ihre Straftat als sozialschädigend klargemacht werden und sie sollen unterstützt und gefördert werden, auf dem Weg der Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen und Konflikten. Angebote für diesen Weg der Resozialisierung der Häftlinge lautet: Arbeit und Ausbildung, Therapie, soziale Hilfe und Alltagshilfe.40 38 https://www.coe.int/en/web/prison/home/-/asset_publisher/ky2olXXXogcx/content/publication-of-the-latest-european-data-on-prison-populations?inheritRedirect=false&redirect=https%3A%2F%2Fwww.coe.int%2Fen%2Fweb%2Fprison%2Fhome%3Fp_p_id%3D101_INSTANCE_ky2olXXXogcx%26p_p_lifecycle%3D0%26p_p_state%3Dnormal%26p_p_mode%3Dview%26p_p_col_id%3Dcolumn-1%26p_p_col_count%3D4 39https://www.focus.de/perspektiven/14-laender-14-reporter/14-laender-14-reporter-norwegen-warum-gefaengniswaerter-hier-keine-waffen-brauchen_id_9794774.html 40 https://www.juraforum.de/lexikon/justizvollzugsanstalt 15 In der JVA (Justizvollzugsanstalt) wird auch die Untersuchungshaft durchgeführt was bedeutet Gefangene werden sicher verwahrt, damit ein sicheres und geordnetes Strafverfahren bzw. Strafvollstreckung durchgeführt werden kann.40 Während dann manche Insassen die Gefängnisluft nur kurz erhaschen, müssen die meisten 5 sich für längere Zeit an ihr neues Zuhause gewöhnen. Dafür ist vor allem das Miteinander mit den Beamten des Gefängnisses essenziell. Wie Herr Sülzer, Wärter in der JVA Stuttgart sagte, solang der Insasse „mitmacht“ existiert ein sehr gutes und respektvolles Miteinander zwischen den Gefangenen und den Mitarbeitern. Denn im Endeffekt besteht das Leben im Gefängnis aus einem Geben und Nehmen zwischen allen Beteiligten. Der Gefangene muss von sich aus 10 bereit sein sich helfen zu lassen und offen gegenüber der Resozialisierung sein. Ansonsten ist es den Mitarbeitern nicht möglich, mit ihnen ein entspanntes Verhältnis aufzubauen bzw. ihnen zu helfen. Der Wärter will dementsprechend einen freundlichen und friedlichen Insassen und einen, der wieder versucht sich in die Gesellschaft zu integrieren. Während der Gefangene ein Entgegenkommen haben möchte bei bürokratischen Probleme und die möglichst größte 15 Unterstützung auf dem Weg wieder raus aus dem Gefängnis. Dies bekommen aber nicht alle Häftlinge zu spüren. „Ich bin kein besserer Mensch geworden“, sagte Christian C. in einem Interview mit dem Spiegel. Das untereinander mit den anderen Insassen habe stark geprägt. Hierarchien und Macht kontrollieren das Leben der Häftlinge. Feinde sollte man sich definitiv nicht machen, da vieles im Gefängnis passiert bzw. passieren kann, ohne dass es die Wärter 20 mitbekommen. Laut einer Studie des kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) über Gewalt von Gefangenen untereinander haben von knapp 6400 Befragten mehr als 15 Prozent der männlich Befragten angefangen Drogen zu konsumieren, bei Jugendlichen lag die Quote bei über 20 %. Ungefähr 25% der Männer und Frauen und fast die Hälfte der Jugendlichen behaupten, körperliche Gewalt erfahren zu haben. Selbst eine Beziehung zu füh- 25 ren, nach dem Leben in einer Einzelzelle, habe er verlernt, meint C.41 Einer der Schritte um überhaupt erstmal auf ein Leben nach der Haft zu schauen, ist für den Häftling einen geregelten Tagesablauf zu erfahren und durchzuführen. Dieser wandelt sich von Gefängnis zu Gefängnis ab und wird landesweit anders gehandhabt, da zum Beispiel allein die Arbeitspflicht in Gefängnissen nicht überall in Deutschland greift, wie zum Beispiel in Brandenburg oder in 30 Rheinland-Pfalz.42 Aber große Unterschiede sind im Grunde nicht wirklich auszumachen, alle sind stark durchstrukturiert, um Ordnung und Halt in das Leben eines Häftlings zu bringen. Im Folgenden ist hier ein Beispiel gegeben, wie ein normaler Alltag eines Häftlings in Deutschland aussieht: 41 https://www.spiegel.de/panorama/justiz/gefaengnis-in-deutschland-ex-gefangener-erzaehlt-vom-alltag-in-hafta-869733.html 42 https://tatort-zukunft.org/fakten/arbeit-im-gefaengnis/ 16 5 10 ï‚· 06:00 Uhr wecken durch einen Stationsbeamten ï‚· 06:45 Uhr Arbeitsbeginn ï‚· 11:45 Uhr Pause/ Mittagessen ï‚· 15:30 Uhr Feierabend ï‚· 16:00 Uhr Abendbrotausgabe ï‚· 16:30 Uhr Freizeitgestaltung je nach Angebot ï‚· 18:00 Uhr Möglichkeit zu telefonieren ï‚· 20:00 Uhr Einschluss in die Zelle43 Wie schon im Alltag zu sehen, ist die Freizeitgestaltung ein fester Punkt im Leben eines Häftlings, der einen wichtigen Beitrag dazu beisteuert, wie das Leben eines Insassen hinter Gittern abläuft. Dieser aber ist natürlich freiwillig und man muss dieses Angebot nicht annehmen. „Verstehen kann ich das gar nicht“ sagte daraufhin Herr Sülzer kopfschüttelnd. Man hätte nur so geringe Zeit in der Woche, in der man solche Freizeitangebote wahrnehmen könnte und 15 sich dann dagegen zu entscheiden diese auszunutzen wäre unverständlich. So unverständlich ist aber die Entscheidung mancher Gefangener gar nicht sich gegen gewissen Angebote auszusprechen. Klar, wenn sie es nur abschlagen, da sie keine Lust haben ist nicht ganz nachzuvollziehen, aber der Rundgang draußen oder gewisse Freizeitaktivitäten können für manche Insassen, die sich Feinde gemacht haben, gefährlich werden, weswegen sie es bevorzugen 20 sich der Gefahrenzone fernzuhalten. Zum einen haben die Gefangenen in der JVA Stuttgart wöchentlich 1:15 h, die sie in dem Kraftsportraum verbringen können. Zum anderen auch einen Raum mit einem Billard Tisch, einer Tischtennisplatte und sogar mit Dart scheiben. Neben diesen Freizeitaktivitäten haben auch Gefangene die Chancen sich in Gesprächsgruppen auszutauschen über die verschiedensten Themen, von Familien Gesprächskreisen, singen und 25 musizieren bis hin zu Glaubenskreisen, wo sich über verschiedene Religionen ausgetauscht wird. Auch finden teilweise in Gefängnissen kulturelle Großveranstaltungen statt wie das Auftreten von Musik und Theatergruppen in der JVA Münster. Neben den schon aufgezählten Freizeitmöglichkeiten ist die Gefangenenbücherei ein breitgenutztes und beliebtes Freizeitangebot wo in der JVA Münster bis zu 80 % der Insassen dieses Angebot wahrnehmen. Letzt- 30 endlich darf man auch nicht den Gefangenenförderverein vergessen, der die Anstalt dabei unterstützt, Ausbildungs-, Betreuungs-, Freizeit-, und Schulmaßnahmen durchzuführen durch 43https://opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/13148/1/KernTamara-Joan_Das_Pradaxon_der_Inhaftierung_und_Resozialisierung.pdf 17 die Bereitstellung von Finanz- sowie Sachmitteln aus Spenden und Bußgeldern.44 Finanzierung dieser Aktivitäten stellt sich aber als nicht ganz einfach dar, da für beispielsweise die JVA Stuttgart nur eine niedrige 4-stellige Zahl zur Verfügung steht. Die Freizeitgestaltung ist ein großer Punkt der Freiheiten, die ein Häftling besitzt. Aber nicht 5 nur das steht ihm zu bzw. muss er beachten. Allein schon bei der Einlieferung der Gefangenen ist eine heimatnahe Unterbringung zu beachten. Im Gefängnis haben Häftlinge die Möglichkeit sich auf eigene Kosten über die Außenwelt zu erkundigen durch Hörfunk-und Fernsehgeräte, die natürlich auch für einen gewissen Komfort dienen. Grundsätzlich genießt ein Gefangener das auch in einer Einzelzelle, wobei auch mehrere Leute in einer Zelle erlaubt sind, soweit die 10 Häftlinge zustimmen und keine Gefahr für den Insassen herrscht. Die Besuchszeiten von Häftlingen variieren untereinander in den Gefängnissen. Im Freistaat Sachsen dürfen die Gefangenen vier Stunden Besuch im Monat empfangen. Falls Besuche zu wenig sind, haben die Gefangenen die Möglichkeit auf eigene Kosten zu telefonieren, aber natürlich nur die Telefoneinrichtung der Anstalt, eigene mobil Funkgeräte zu besitzen ist nicht erlaubt. Werden gegen 15 solche Regeln verstoßen oder werden im generellen, Straftaten begangen sowie gegen Anstaltsregeln verstoßen, dann wird eine disziplinarische Maßnahme gegen den Gefangenen vorgenommen. Darunter muss man sich jetzt nicht die Schikane vorstellen, die man aus amerikanischen Fernsehserien kennt, sondern einfache, aber effektive Strafen wie Entzug des Fernsehempfangs oder Verbot der Teilnahme an gewissen Freizeitveranstaltungen, die bis zu 20 drei Monate dauern können.45 In deutschen Gefängnissen ist es generell so, dass bei der Vergabe von Strafen der Hauptmerk auf dem Ausschluss der Straftäter aus der Gesellschaft liegt, um somit die Gefahren für die Bevölkerung aufs geringste zu minimieren. Das allein ist aber nicht der einzige Grund weswegen in Deutschland Menschen im Gefängnis landen. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist auch eine 25 verbreite Methode, um mit Straftaten von den Menschen umzugehen. Das bedeutet, wenn Leute Geldstrafen nicht bezahlen können, weil sie sowieso schon am Existenzminimum sind, dann wird Zeit hinter den Gittern verbracht, anstatt die Geldsumme zu bezahlen.46 30 44 https://www.jva-muenster.nrw.de/aufgaben/freizeit_der_gefangenen/index.php 45 https://www.mdr.de/ratgeber/recht/gefaengnis-gefangener-rechte-pflichten-erlaubt-insasse-inhaftierter100.html 46 https://taz.de/Die-Haerten-des-Strafvollzugs/!5568800/ 18 3.2.1 RESOZIALISIERUNG IN DEUTSCHLAND Die Resozialisierung von Straftätern ist in Deutschland ein wichtiger Bestandteil des Strafvollzugs. Das Ziel ist es, die Gefangenen auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten und sie wieder 5 in die Gesellschaft zu integrieren, um das Risiko eines Rückfalls zu reduzieren. Der Strafvollzug in Deutschland bietet eine Vielzahl von Resozialisierungsmaßnahmen, um den Gefangenen bei der Wiederherstellung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten zu helfen und ihre sozialen Kompetenzen zu stärken. Ein wichtiger Bestandteil des Resozialisierungsprozesses ist die Ausbildung und Berufsbildung, die den Gefangenen helfen soll, nach ihrer Haftstrafe 10 eine Arbeit zu finden. Hierzu bieten viele Gefängnisse Arbeitsplätze und Schulungen an, um die Insassen auf eine Karriere vorzubereiten. Auch eine Vermittlung an Unternehmen außerhalb der Haftanstalt ist möglich47. Neben der Ausbildung und Berufsbildung bieten viele Gefängnisse auch psychologische und soziale Unterstützung an. Dazu gehören beispielsweise therapeutische Behandlungen, Fami- 15 lienberatungen und Suchtprävention. Ziel ist es, den Insassen dabei zu helfen, ihre emotionalen Probleme zu bewältigen und ihre sozialen Fähigkeiten zu verbessern47. Auch die Freizeitgestaltung spielt eine wichtige Rolle bei der Resozialisierung. Viele Gefängnisse bieten Sportangebote, Musik- und Kunsttherapie oder auch Literaturkurse an, um den Insassen dabei zu helfen, ihre Fähigkeiten und Interessen zu entdecken und positive Erfah- 20 rungen zu sammeln. Dies soll dazu beitragen, dass sich die Gefangenen in der Gemeinschaft engagieren und ihre kreativen Fähigkeiten entfalten können48. Ein wichtiger Faktor bei der Resozialisierung ist auch die Einbindung der Gesellschaft. Dazu gehören beispielsweise Programme zur Vermittlung von Arbeitsplätzen und Wohnungen oder auch ehrenamtliche Arbeit. Viele Organisationen bieten auch Mentor-Programme an, um den 25 Insassen dabei zu helfen, ihre Fähigkeiten und Interessen zu entdecken und ihre sozialen Kompetenzen zu stärken48. Insgesamt ist die Resozialisierung von Straftätern in Deutschland ein wichtiger Bestandteil des Strafvollzugs. Ziel ist es, den Insassen dabei zu helfen, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten wiederherzustellen, ihre emotionalen Probleme zu bewältigen und ihre sozialen Fähigkeiten zu 30 verbessern. Ein erfolgreicher Resozialisierungsprozess soll dazu beitragen, dass sich die Insassen wieder in die Gesellschaft integrieren und ein Leben ohne weitere Straftaten führen können. 47 https://www.hamburg.de/bjv/justizvollzug/11078696/resozialisierung/ 48 https://www.deutschlandfunkkultur.de/resozialisierung-knast-hat-noch-keinem-geholfen-oder-doch-100.html 19 3.2.2 WARUM DAS DEUTSCHE STRAFVOLLZUGSSYSTEM NICHT SO FUNKTIONIERT WIE ES SOLLTE Nach einer deutschen Studie schrecken Gefängnisstrafen Täter kaum ab, Straftaten zu begehen. Eher wird in Betracht gezogen, wie wahrscheinlich es ist, erwischt zu werden. Ein Bürger 5 zum Beispiel wird einen Mord begehen, wenn er dies möchte, da es meistens tiefere Gründe gibt. Die möglichen Konsequenzen fallen weniger ins Gewicht und werden meistens nicht bedacht, egal wie hart sie sind.49 In den letzten Jahrzehnten ist die Resozialisierung auch in Deutschland in den Mittelpunkt gerückt. Die Menschen werden Therapien unterzogen, machen Ausbildungen und bereiten 10 sich auf ein Leben nach der Haft vor. Es wird aber kaum überprüft, ob dieses Vorhaben erfolgreich ist und Menschen nach der Haft weniger Straftaten begehen. Die wenigen Untersuchungen, die es dazu gibt, deuten eher auf das Gegenteil hin. Das soziale Netzwerk bricht mit dem Einzug ins Gefängnis zusammen und eine Chance auf Arbeit danach ist sehr klein und die Arbeitgeber sind begrenzt. 15 Eine Umfrage besagt, dass Insassen in deutschen Gefängnissen deutlich mehr Gewalt als außerhalb erfahren. Zum Zeitpunkt der Umfrage hatte fast jeder vierte in den letzten vier Wochen Gewalt erlebt. Die Suizidrate ist siebenmal höher als in der Normalbevölkerung.50 51 Gefängnisse machen die Bevölkerung nicht wirklich sicherer. Es liegt immer bei den Tätern, ob sie auf die Angebote im Gefängnis eingehen, ihre Taten 20 überdenken und Reue zeigen. Jedoch kann der Staat dies nicht erzwingen. Letztendlich ist es jedem selber überlassen sich zu bessern und ganz unabhängig davon kommt am Ende jeder, der seine Strafe abgesessen hat, wieder frei. Egal ob dieser mit großer Wahrscheinlichkeit wieder kriminell wird.52 Die meisten Gefangenen sind keine Mörder oder Vergewaltiger, sondern eher Diebe, Betrüger 25 und Drogenhändler. Opfer würden eher davon profitieren, wenn diese Leute nicht ins Gefängnis kommen und ihren Schaden begleichen könnten. Im Gefängnis bei einem Stundenlohn von 1€-3€ ist das schlecht möglich. 49 https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/24623/ssoar-soziprobleme-2006-2-dolling_et_alzur_generalpraventiven_abschreckungswirkung_des_strafrechts.pdf;jsessionid=1BC9DD5101673F9E3804FF94B01213F9?sequence=1 50https://opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/13148/1/KernTamara-Joan_Das_Pradaxon_der_Inhaftierung_und_Resozialisierung.pdf 51https://www.hamburg.de/contentblob/12754848/6beab28272e26b5ba30cf393682e188d/data/hartenstein-meischner-al-mousawi-hinz-studie-gewalt-im-gefaengnis.pdf 52 https://www.moment.at/story/wieso-gefaengnisse-niemandem-nuetzen-5-punkten 20 Natürlich muss ein Gericht über den Täter urteilen und eine Strafe erlassen, jedoch wäre die Vermittlung zwischen Täter und Opfer manchmal besser als eine Gefängnisstrafe. Im Moment liegt der Fokus mehr auf dem Täter als auf dem Geschädigten.50 Viele Straftaten lassen sich mit der Lebensgeschichte der Täter erklären. Wie zum Beispiel, 5 dass viele jugendliche Straftäter in ihrer Kindheit häusliche Gewalt erlebt haben. Mit dem Rückgang dieser ist auch die Jugendkriminalität zurückgegangen. Der Staat muss die Kriminalität schon verhindern, bevor sie überhaupt passieren kann. Kinder aus gewalttätigen Familien entfernen und Angebote für Drogenhilfe erweitern. Außerdem wären die Fußfesseln mit dem einhergehenden Hausarrest, wie schon in vielen anderen Ländern, 10 eine angemessene Strafe für manche Vergehen, welche im Moment noch mit einer Haftstrafe abgetan werden.50 Durch die Verminderung von Haftstrafen würden viele aktuelle Probleme gelöst werden. Die Gefängnisse wären nicht mehr so überfüllt wie sie es derzeit sind und es könnte mehr Wert auf die persönlichen Bedürfnisse der Gefangenen und deren Resozialisierung gelegt 15 werden. Außerdem wäre die Hygiene und der Zugang zu Bildungs- und Rehabilitationsprogrammen gewährleistet. Also Straftäter, die wirklich schwerwiegende Verbrechen begangen haben und ins Gefängnis kommen, werden besser betreut und haben eine bessere Chance nach der Haftzeit ein normales Leben führen zu können. 20 3.3 ARCHITEKTUR Norwegische Gefängnisse unterscheiden sich stark von deutschen im Hinblick auf die Architektur. Ein markantes Beispiel ist das 2010 in Betrieb genommene Gefängnis in Halden. Es fasst 227 Insassen und hat umgerechnet 190 Millionen Euro gekostet. Das sind ca. 837.000 25 Euro pro Haftplatz.53 In Deutschland kostet der Bau deutlich weniger. Die JVA in Kempten verfügt über 338 Haftplätze und hat insgesamt 49,5 Millionen Euro gekostet. Für jeden Haftplatz wären das ca. 150.000 Euro, also erheblich günstiger als in Norwegen. Ein weiteres Beispiel wäre die JVA in Landshut. Sie hat 72,4 Millionen Euro gekostet und hat Platz für 515 Personen.54 53 https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Gefaengnis_in_Norwegen_eroeffnet_1063665.html 54 https://www.justiz.bayern.de/justizvollzug/anstalten/baumassnahmen/ 21 Der Preisunterschied lässt sich hauptsächlich an der Lage und Ausstattung ausmachen. Die norwegischen Zellen, welche sich in Blockhütten befinden und unvergitterte Fenster haben, verfügen über eigene Küchen und Badezimmer und ähneln eher einem Hotelzimmer als einer Zelle. Was in deutschen Zellen nur ein kleiner Bildschirm auf einem Schreibtisch ist, 5 hängt als Flachbildschirm in Norwegen an der Wand. Außerdem sind norwegische Gefängnisse mit eigenen Fitness-Räumen und Musikstudios ausgestattet. Unteranderem wurden umgerechnet eine Million Euro für die Graffitis eines bekannten Künstlers ausgegeben.55 Zur Lage ist zu sagen, dass der Bereich 27.500m² umfasst und einem ummauerten Dorf äh- 10 nelt. Es gibt viel Freiraum, in welchem die Gefangenen spazieren gehen können. In Deutschland wird kein Wert auf einen Bau im Grünen gesetzt und der Freilauf der Gefangenen findet auf einem Betonplatz statt. Bastøy ist ein weiteres Beispiel. Hier gibt es überhaupt keine Mauern, denn die JVA liegt auf einer Insel auf welcher sogar Besucher erlaubt sind. Es gibt eine Schule, eine Kirche und sogar 15 einen kleinen Einkaufsladen. Die Freizeitangebote belaufen sich auf Angeln, Fußball, eine Indoor-Kletterhalle, Gymnastikkurse, Fahrradfahren und ein Fernsehzimmer. 56 Die Beamten wohnen auch im Vollzug, was den Alltag zu einem entspannten Zusammenleben führt. Das alles hat seine Kosten. Deutsche Gefängnisarchitektur des 20. Jahrhunderts ist bekannt für ihre sparenden Bauwei- 20 sen mit großem Fokus auf die Ausbruchssicherheit. Riesige Mauern, Fenster mit Gittern, Stacheldrahtzäune, Scheinwerfer und etliche Kameras. Nicht zu vergleichen mit der norwegischen Bauweise. Während deutsche Gefängnisse bei ihrem Bau großen Wert auf Ausbruchssicherheit und Kostenminimierung legen, setzt Norwegen auf einen angenehmen Aufenthalt im Grünen, mit vie- 25 len Freizeitangeboten. Fast wie ein Hotelurlaub, nur ohne die Bewegungsfreiheit. Dafür wird auch gerne mehr Geld ausgegeben. Norwegen fährt nach den Statistiken auch besser mit dem Modell, wie die Resozialisierungsrate zeigt. Sie ist nur halb so groß wie die deutsche. 30 55 https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-neue-menschlichkeit-6966709.html 56 https://www.travelbook.de/orte/bastoy-in-norwegen-gefaengnis 22 4. FINANZIERUNG DES STRAFVOLLZUGS Deutsche und norwegische Gefängnisse werden größtenteils durch Steuergelder finanziert. Teilprivatisierte Gefängnisse wie die JVA Hünfeld oder das Gefängnis in Burg (Sachen-Anhalt) sind Ausnahmen, da die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine vollständige Privatisierung 5 nicht gegeben sind.57 In Deutschland ergibt sich ein kleinerer Teil der Finanzierung im Zusammenhang mit der Arbeit von Häftlingen. Wie schon in „Beschreibung der beiden Systeme“ erläutert, gehen nur ein bis zwei Euro pro Stunde an den Häftling. Den Rest nehmen die Gefängnisse ein. In Norwegen wird jährlich 217 % mehr Geld für Gefängnisse ausgegeben als in Deutschland. 10 Das zeigt sich durch modernere Anlagen, mehr Platz, sowie deutlich mehr Personal für die Resozialisierung der Gefangenen. Häufig wird gesagt, dass sich diese Investition langfristig auszahlt, da durch eine niedrigere Rückfälligkeitsrate weitere Justizkosten eingespart werden. Außerdem werden von den ehemaligen Häftlingen, mehr als in Deutschland, wieder in die Gesellschaft integriert, wodurch Steuereinnahmen dazukommen und sich ein positiver Beitrag 15 für das BIP ergibt. Es ist schwer zu sagen, ob das tatsächlich der Fall ist. In einem einfachen Rechenbeispiel lässt sich allerdings eine Tendenz erahnen, welche Gefängnisse auf lange Sicht gesehen kostengünstiger sind. In Deutschland ergibt sich für jeden Inhaftierten eine Jahresbelastung von 39.376€ (Daten aus 2010) für den Steuerzahler.58 Würden 100 Menschen jeweils für 5 Jahre inhaftiert werden, 20 wären das insgesamt 19,7 Millionen Euro. Angenommen, alle 100 Inhaftierten werden nach genau einem Jahr wieder freigelassen. Davon würden, laut einer Langzeitstudie des Bundesjustizministeriums, 48 % wieder straffällig und 21 % erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden.59 In dem Beispiel werden diese 21 Personen erneut für 5 Jahre verurteilt. Diese 5 Jahre kosten 4,1 Millionen Euro. Die Gesamtkosten für die 10 Jahre sind somit bei 24,8 Milli- 25 onen. Gleiches Szenario in Norwegen: Die jährliche Belastung für den Steuerzahler beläuft sich dort auf 85.500€ für jeden Inhaftierten. 100 Inhaftierte würden in 5 Jahren 43,8 Millionen Euro kosten. Nach den 5 Jahren werden laut offiziellen Angaben 20 % erneut straffällig.60 Wie viele davon erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, ist unklar, da es keine Zahlen dazu 57 Wikipedia- Artikel über die Gefängnisindustrie: https://de.wikipedia.org/wiki/Gef%C3%A4ngnisindustrie#:~:text=In%20Deutschland%20stehen%20die%20rechtlichen,%2DAnhalt 58 Anfrage einer Privatperson aus dem Jahr 2010: https://fragdenstaat.de/anfrage/inhaftierungskosten-in-justizvollzugsanstalten/ 59 http://kurt.digital/2022/09/30/vergeltung-gegen-resozialisierung-ist-die-haftstrafe-in-deutschland-noch-zeitgemaess/#:~:text=Doch%20die%20R%C3%BCckfallquote%20ist%20seitdem,wieder%20zu%20einer%20Freiheitsstrafe%20verurteilt 60 https://www.firststepalliance.org/post/norway-prison-system-lessons 23 gibt. Geht man davon aus, dass es wie in Deutschland ist und 42 % von den Rückfälligen erneut inhaftiert werden, wären das ungefähr 8 %. Wenn diese 8 Straftäter erneut für 5 Jahre verurteilt werden, entstehen zusätzliche Kosten von 3,4 Millionen Euro. Die Gesamtkosten für die 10 Jahre liegen damit bei 46,2 Millionen Euro. 5 Es muss beachtet werden, dass sich diese Rechnung auf den einzelnen Häftling bezieht. Durch die niedrige Anzahl an Einwohnern und damit auch Gefangenen ist das norwegische System insgesamt gerechnet natürlich billiger. Näheres zu diesen Zahlen wird in „Anwendbarkeit des norwegischen Systems auf das deutsche“ erläutert. Außerdem gibt es natürlich einige Faktoren, die in diesem Beispiel nicht mitberechnen wurden, 10 wie beispielsweise die Kosten der Prozesse, die Dauer zwischen den beiden Haftstrafen oder die genannten positiven Beiträge wie Steuern und den Einfluss auf das BIP. Diese sind fast unmöglich zu berechnen und machen einen verhältnismäßig kleinen Unterschied. Dennoch sind norwegische Gefängnisse höchst wahrscheinlich auch langfristig gesehen nicht billiger als deutsche. Neben dem Finanziellen muss allerdings auch der moralische Wert be- 15 trachtet werden. 24 5. MORALISCHE VERTRETBARKEIT Wozu dienen Gefängnisse eigentlich und dürfen Mörder so gut behandelt werden? Der norwegische Strafvollzug hat in den letzten Jahren international Aufmerksamkeit erregt. Insbesondere wegen der Betonung auf Rehabilitation von Straftätern anstatt auf deren Bestra5 fung. Die Grundprinzipien des norwegischen Strafvollzugssystems gehen mit einem neuartigen Ansatz heran, wie zum Beispiel mit Respekt, Gleichheit, menschlicher Würde und individueller Verantwortung.61 Die Idee ist, dass jeder Mensch unabhängig von seinen Taten eine Würde hat, die respektiert werden muss. Gleichzeitig ist jeder Mensch für seine Handlungen verantwortlich und muss die Konsequenzen seiner Entscheidungen tragen. 10 Doch wozu dienen Gefängnisse im eigentlichen Sinne? Gefängnisse dienen in erster Linie dazu, Personen, die eine Straftat begangen haben und deshalb verurteilt wurden, zu bestrafen und von der Gesellschaft zu isolieren. „Er soll fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2 Satz 1 StVollzG).“62 15 Durch die Verhängung einer Freiheitsstrafe werden die Freiheitsrechte der verurteilten Person eingeschränkt und sie wird für einen bestimmten Zeitraum inhaftiert. Dies soll nicht nur als Abschreckung für andere potenzielle Straftäter dienen, sondern auch dazu beitragen, die Sicherheit und den Schutz der Gesellschaft vor Personen zu gewährleisten, die als gefährlich erachtet werden. 20 Bezüglich der Abschreckungsfunktion untersuchte die juristische Fakultät der Universität Heidelberg eine „Metaanalyse kriminalistischer Untersuchungen“.63 Die Ergebnisse dieser Analyse zeigen, dass es insgesamt keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Abschreckungswirkung des Strafrechts und der Höhe des Strafmaßes oder der Strafwahrscheinlichkeit gibt. Zwar gibt es einige Studien, die eine signifikante Abschreckungs- 25 wirkung gefunden haben, aber die meisten Studien konnten keinen solchen Zusammenhang nachweisen. Diese Aussage hat eine wichtige Bedeutung für die Kriminalpolitik und die Strafrechtssysteme. Die Vorstellung, dass höhere Strafmaße oder eine höhere Strafwahrscheinlichkeit automatisch zu einer höheren Abschreckungswirkung führen, ist eine der Grundannahmen des Strafrechts und der Strafverfolgung. 61 https://books.google.de/books?hl=de&lr=&id=0MzlDAAAQBAJ&oi=fnd&pg=PA93&dq=grundprinzipien+des+norwegischen+strafvollzugs&ots=-n54UqqYE8&sig=eoneVvLqQIMfoXuwIYaiw7SGxzA - v=onepage&q=grundprinzipien des norwegischen strafvollzugs&f=false 62 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1998/07/rs19980701_2bvr044190.html 63 http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/16649/1/Spirgath_Tobias.pdf 25 Diese Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen für die Kriminalpolitik. Es bedeutet nicht, dass Strafen und Strafverfolgung nutzlos sind oder abgeschafft werden sollten. Vielmehr sollten alternative Ansätze wie Prävention in Betracht gezogen werden, um langfristige Verbesserungen in der Kriminalitätsbekämpfung zu erreichen. 5 Gefängnisse können auch als Ort der Rehabilitation und Resozialisierung dienen, wo verurteilte Straftäter die Möglichkeit haben an Bildungs- und Arbeitsprogrammen teilzunehmen, um ihre Fähigkeiten und ihr Wissen zu verbessern. Ziel ist es, den Straftätern dabei zu helfen, ihre Einstellungen und ihr Verhalten zu ändern und sie auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorzubereiten. 10 Es gibt jedoch auch Kritik an der Verwendung von Gefängnissen als Strafe für Verbrechen. Einige argumentieren, dass die Isolation und Bestrafung durch Freiheitsentzug nicht zur Verhinderung von Straftaten beiträgt und dass alternative Maßnahmen, wie zum Beispiel gemeinnützige Arbeit oder elektronische Überwachung, effektiver sein können. Außerdem gibt es Bedenken hinsichtlich der Bedingungen in einigen Gefängnissen und der Behandlung der Insas- 15 sen, insbesondere in Bezug auf den Zugang zu Gesundheitsversorgung und die Vermeidung von Gewalt und Missbrauch.64 Nun stellt sich die Frage, ob es moralisch gesehen gut ist, norwegischen Insassen ein so gutes Programm zur Rehabilitation und Resozialisierung anzubieten. Als moralisches Empfinden wird oft etwas anderes interpretiert. 20 Doch per Definition wird als Moral die Werte und Regeln bezeichnet, die in einer Gesellschaft allgemein anerkannt sind. Wenn man sagt, jemand hat „moralisch“ gehandelt, ist damit gemeint, dass er sich so verhalten hat, wie es die Menschen richtig und gut finden.65 Ein Argument dafür ist, dass es moralisch richtig ist, die Bedingungen im Gefängnis zu verbessern, um die Rehabilitation und Resozialisierung von Straftätern zu fördern. Indem man 25 den Insassen die Möglichkeit gibt, an Bildungs- und Arbeitsprogrammen teilzunehmen, um ihre Fähigkeiten und ihr Wissen zu verbessern, können sie besser auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet werden und sind weniger wahrscheinlich, erneut straffällig zu werden. Darüber hinaus ist es auch wichtig, menschliche Bedingungen im Gefängnis zu gewährleisten, um die Würde und die Rechte der Insassen zu respektieren.66 30 Ein anderes Argument gegen die Behandlung von Insassen in Gefängnissen könnte sein, dass die Bedingungen im Gefängnis zu gut sind und dass dies den Anreiz für Verbrechen erhöhen 64 https://www.theguardian.com/commentisfree/2006/jun/17/comment.prisonsandprobation 65 https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/320812/moral/ 66 https://verfassungsblog.de/menschenwurde-im-gefangnis/ 26 könnte. Es könnte auch argumentiert werden, dass eine bessere Behandlung von Insassen dazu führen könnte, dass das öffentliche Verständnis von Strafe und Gerechtigkeit untergraben wird, insbesondere wenn Straftäter als "verwöhnt" angesehen werden, weil sie während ihrer Haftzeit eine gute Behandlung erhalten. 5 In Oslo durchgeführte Straßenumfragen ergaben, dass die Mehrheit der Befragten die Bedingungen im norwegischen Strafvollzug als angemessen gesehen werden.67 Nicht nur angemessen, sondern gleichzeitig auch die Chance, wieder neu am Leben teilzunehmen. Nur einer von 7 befragten war der Meinung, Menschen sollen in Gefängnissen eine Strafe, die 10 ihrem Tatmotiv entspricht erhalten. Letztendlich hängt die Frage ob es moralisch gesehen gut ist, norwegischen Insassen ein so gutes Programm zur Rehabilitation und Resozialisierung anzubieten, von individuellen Werten und Überzeugungen ab. Es ist wichtig, die verschiedenen Argumente zu berücksichtigen und zu einem ausgewogenen Urteil zu kommen. 15 20 67 https://my.survio.com/I0C2P2P4P1Q2H4Q7F7A0/results/share 27 6. ANWENDBARKEIT DES NORWEGISCHEN SYSTEMS AUF DAS DEUTSCHE Der Vergleich zwischen dem norwegischen und dem deutschen Strafvollzugssystem zeigt, dass beide Systeme einige Gemeinsamkeiten aufweisen, aber auch deutliche Unterschiede 5 bestehen. Die Frage, ob das norwegische Strafvollzugssystem auf das deutsche anwendbar ist, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern hängt von verschiedenen Faktoren ab. Im Folgenden werden die Hindernisse aufgeführt, die einer Übertragung des norwegischen Systems auf Deutschland im Wege stehen, sowie Lösungsansätze für jede dieser Hindernisse (sofern 10 es welche gibt). Aufgeteilt sind diese in politische, juristische, kulturelle und finanzielle Hindernisse. 6.1 POLITIK UND JUSTIZ 15 6.1.1 VIELE GEFANGENE FÜR KLEINE DELIKTE Ein Hauptproblem im deutschen Strafvollzugssystem ist die hohe Zahl von Gefangenen, die wegen vergleichsweiser kleiner Delikte inhaftiert sind. Viele deutsche Gefängnisse haben dadurch ihre maximale Kapazitätsgrenze erreicht. Laut des statistischen Bundesamtes betrug die Anzahl der Inhaftierten in Deutschland im Jahr 2022 etwa 42.000.68 Eine Ursache dafür ist, 20 dass in Deutschland eine Kultur der Bestrafung vorherrscht, die dazu führt, dass viele Straftaten mit Haftstrafen geahndet werden. 48 % dieser Häftlinge wurden wegen Eigentums- und Vermögensdelikten verurteilt, 3 % wegen Straftaten im Straßenverkehr.69 Über 4.000 Menschen kommen jedes Jahr nur ins Gefängnis, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Wird jemand zu 20 Tagessätzen verurteilt, drohen dieser Person 20 Tage im Gefängnis, falls 25 sie ihre Strafe nicht bezahlen kann.70 In ärmeren Bundesländern, wie in Brandenburg, werden etwa 10% aller Gefängniszellen von Menschen belegt, die ursprünglich nur zu einer Geldstrafe verurteilt waren. Im wohlhabenderen Hamburg hingegen sind es nur drei bis vier Prozent. Um welche Delikte es genau geht, wird vom Statistischen Bundesamt nicht dargelegt. Allerdings ergibt eine Studie des kriminologischen Dienstes, dass jeder vierte für das „Erschleichen von 30 Leitungen“ verurteilt wurde. Dabei handelt es sich normalerweise um Schwarzfahren. In dieser Studie hieß es "Diese Inhaftierten sind gemäß Aktenlage zu noch etwas größeren Anteilen bei 68 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/225/umfrage/gefangene-und-verwahrte-seit-dem-jahr-2000/ 69 https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Strafverfolgung-Strafvollzug/strafverfolgung-2100300217004.html 70 https://de.statista.com/infografik/26348/anzahl-der-menschen-die-in-deutschland-wegen-einer-ersatzfreiheitsstrafe-im-gefaengnis-sitzen/ 28 Strafantritt verarmt, krank, sozial ausgeschlossen und nach strafrechtlicher Sicht nicht gefährlich“ Diese Menschen einzusperren kann ein Teufelskreis werden, da sie später oft schwerere Straftaten begehen. Aufgrund ihrer Haftzeit werden sie vom Rest der Gesellschaft entfremdet und werden von der Bevölkerung als kriminell stigmatisiert. Dadurch fällt es ihnen noch 5 schwieriger einen Job zu bekommen, wodurch kriminelle Geschäfte häufig die einfachste Alternative sind71. Durch eine Entkriminalisierung von kleinen Delikten könnten solche Kettenreaktionen unterbrochen werden. Außerdem würde es mehr psychologische Mitarbeiter pro Insassen geben. Aktuelle liegt die Zahl bei einem Psychologen auf 200 Häftlingen.72 Eine intensive Auseinandersetzung mit den Individuen ist dadurch nicht möglich. 10 6.1.2 KEIN POLITISCHES HANDELN Ein Hindernis ist der Unterschied in der Politik beider Länder. Norwegen ist bekannt für seine liberale politische Kultur, die eine starke Betonung von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit hat. Im Gegensatz dazu ist Deutschland eher konservativ. Es wird sich mehr auf die 15 Wahrung der öffentlichen Sicherheit konzentriert. Eine Verlagerung des Gefängnis-Systems in Richtung Resozialisierung und Rehabilitation könnte daher auf Widerstand stoßen, insbesondere von Politikern und Bürgern, die eine harte Linie gegen Kriminalität befürworten. Ein weiteres politisches Hindernis ist die Rolle der Justiz in beiden Ländern. Laut einer von Bill Gates mitfinanzierten Studie hat Deutschland das zweitbeste Justiz-System weltweit, direkt 20 nach Norwegen.73 In Norwegen hat die Justiz eine starke Tradition der Unabhängigkeit und Neutralität, die die Durchsetzung einer Politik der Resozialisierung von Straftätern erleichtert. In Deutschland hingegen hat die Politik oft einen stärkeren Einfluss auf das Justizsystem, was zu einer größeren Fokussierung auf Bestrafung und Abschreckung führt. Eine Umstellung auf das norwegische Modell würde daher einen bedeutenden Wandel im Justizsystem erfordern, 25 der politisch kontrovers sein könnte.74 Änderungen der Gesetzgebung sind meist nur schwer möglich oder mit einem großen bürokratischen Aufwand verbunden. Auch neue Projekte werden nur selten oder in einem sehr kleinen Rahmen genehmigt. Beispielhaft dafür ist das Projekt „Selbsthilfe“ von SET-FREE. SET-FREE ist eine gemeinnützige Organisation, welche sich für ehemalige Häftlinge und eine 30 Bewusstseinserweiterung in der Bevölkerung einsetzt. Bei einem Interview mit uns äußerste sich Gründerin und Kriminologin Angelika Lang zu dieser Thematik. Ziel des Projektes in der 71 https://www.sueddeutsche.de/politik/schwarzfahren-gefaengnisstrafe-justiz-deutschland-1.5582047 72 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-08/resozialisierung-gefaengnis-rueckfall-haftstrafe-rueckfallquote/seite-2?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com 73 https://www.focus.de/politik/deutschland/deutscher-rechtsstaat-im-globalen-vergleich-weit-vorn-justiz_id_2149980.html 74 https://betrifftjustiz.de/wp-content/uploads/texte/BJ%20100%20Hedlund.pdf 29 JVA Straubing war es, Inhaftierten mehr Verantwortung zu übertragen. Alle 14 Tage boten ehrenamtliche Mitarbeiter Kurse zur Neuorientierung an. Außerdem wurde viel in eigenständig geführten Kleingruppen gearbeitet. Nachdem Set-Free Förderanträge für das Projekt beantragte, um Sozialarbeiter anzustellen, wurde die Kooperation mit der JVA Straubing allerdings 5 beendet. 11 Jahre lang wurde das Projekt erfolgreich geführt. Durch die Förderanträge wurde das Ministerium involviert, wodurch auch die Öffentlichkeit mit einbezogen werden würde. „(..) dass wir dann nochmal mehr an die Öffentlichkeit gehen und einen Förderantrag stellen und Sozialpädagogen anstellen. Das war dann nicht gewünscht (…) und dann war das einfach nicht mehr zu halten“. Pedro Holzhey gründete den Verein zusammen mit Frau Lang und war 10 auch bei dem Interview dabei. Er fügte hinzu, dass die Justiz sich, sobald es an die Öffentlichkeit geht, mit dem Projekt identifizieren muss. Es gehe beim Strafvollzug um „law and order“. Projekte wie diese „(…) passen einfach nicht in die politische Linie.“75 Ein weiterer Faktor, welcher berücksichtigt werden sollte, wenn man das norwegische Straf- 15 vollzugssystem auf das deutsche übertragen möchte, ist der Kulturunterschied. Norwegen und Deutschland haben unterschiedliche kulturelle Hintergründe, weswegen eine Übertragung des norwegischen Strafvollzugssystems auf kulturelle und ressourcenabhängige Barrieren stoßen würde. 20 6.2 KULTURELLE ASPEKTE 6.2.1 BEVÖLKERUNGSDICHTE Wenn man sich den Zahlen widmet, hat Norwegen eine sich deutlich unterscheidende Bevölkerungsdichte von 17.176 Einwohnern pro Quadratkilometer, im Vergleich zu 23377 Einwohnern pro Quadratkilometern Deutschland. 25 Laut Stichproben aus dem Jahr 2020 gibt es In Deutschland 59.585 Insassen, während es Norwegen nur 2.932 gibt. Prozentual unterscheiden sich auch beide Länder deutlich. Von der deutschen Bevölkerung sind 0.072% inhaftiert, was sich stark von den 0.055% in Norwegen unterscheidet.78 Die geringe Bevölkerungsdichte in Norwegen hat auch Auswirkungen auf die Größe der Haft- 30 anstalten. In Norwegen sind die Haftanstalten in der Regel kleiner und können daher bes- 75 Informationen über SET-FREE aus unserem Interview sowie der Internetseite: https://www.set-free-ev.de 76 https://www.destatis.de/error_path/400.html?al_req_id=Y_VYARU8v9BLHuecSplUcAAAAEk 77 https://www.destatis.de/error_path/400.html?al_req_id=Y_VYARU8v9BLHuecSplUcAAAAEk 78 https://www.prisonstudies.org/country/germany 30 ser auf die Bedürfnisse der Insassen abgestimmt werden. Das größte Gefängnis in Deutschland, JVA Bielefeld-Senne hat mit 1569 Haftplätzen79 fast mehr als sechsmal so viele Haftplätze wie das größte Gefängnis in Norwegen, Haftanstalt Oslo mit 24380. In Deutschland, wo die Haftanstalten im Durchschnitt deutlich größer sind, wäre es schwerer, ein ähnliches Niveau 5 an individueller Betreuung zu erreichen. 6.2.2 GRÖßERER ANTEIL AN MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND Ein weiterer Faktor, der mit der Bevölkerungsdichte zusammenhängt, ist die Verfügbarkeit von Personal. Norwegen kann es sich leisten, eine höhere Anzahl von Mitarbeitern im Straf10 vollzug einzusetzen, da die Anzahl der Gefangenen pro Mitarbeiter geringer ist. In Deutschland ist es es schwieriger sein, genügend Personal zu finden, um das System angemessen zu betreiben. Der Leiter der JVA Stuttgart, Matthias Nagel, äußerte sich in unserem Interview deutlich darüber, dass Personalmangel existiert, vor allem im medizinischen und therapeutischen Bereich der Mitarbeiter. 15 Im Weiteren muss darauf hingewiesen werden, dass in Deutschland ein viel größerer Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund lebt, 22.6 Millionen Menschen81, die 27% der Bevölkerung ausmachen. Im Vergleich leben 867.800 Menschen mit Migrationshintergrund in Norwegen, welche nur 16.1% der Bevölkerung ausmachen.82 Der Ausländeranteil von Justizvollzügen ist im letzten Jahrzehnt stark gestiegen. Als extre- 20 mes Beispiel gilt Baden-Württemberg, in dem der Anteil der Gesamtbelegung von Ausländern im Jahr 2022 bei 47.2%83 aller Insassen liegt. Matthias Nagel äußerte sich auch über die Bedenken dieser steigenden Zahlen. Da in Deutschland mehr Migranten leben, existieren prozentual auch mehr Strafverbrecher. 25 Die konservative Stellung der deutschen Bevölkerung würde eine Änderung am Strafvollzugssystem behindern. Matthias Nagel erläuterte: “Als Gefangener wird man nicht als Deutscher Staatsbürger angesehen, man ist kein Teil der Gesellschaft”. Die Ausgrenzung der Bevölkerungsgruppe mit einem Strafregister sei extrem. Die meisten Gefangenen in Deutschland schaffen es nicht nach ihrer Haft, ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu werden und 79 https://www.jva-bielefeld-senne.nrw.de/behoerde/behoerdenvorstellung/zahlen_fakten/index.php 80 https://www.oslofengsel.no 81 https://www.destatis.de/error_path/400.html?al_req_id=Y_VYARU8v9BLHuecSplUcAAAAEk 82 https://www.thieme-connect.de/products/ebooks/lookinside/10.1055/b-0034-31606# 83 https://www.thieme-connect.de/products/ebooks/lookinside/10.1055/b-0034-31606# 31 zum BIP beitragen. Dabei muss auch beachtet werden, dass mehr als doppelt so viele Insassen in Deutschland keine Ausbildung oder Abschluss haben als in Norwegen. Dies belegt die Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus dem Jahr 2017.84 5 Des Weiteren können Insassen in Norwegen während ihrer Haftstrafe studieren oder eine Ausbildung durchlaufen, welches sie viel besser auf die Resozialisierung vorbereitet, was ein Mitarbeiter der norwegischen Strafvollzugsbehörde in einem Interview erklärte. Per Sigurd Våge arbeitete als Leiter des norwegischen Gefängnisses Bergen von 2001-2019, Staatsanwalt, Richter und Polizeileiter. 10 15 20 84 https://www.justiz.nrw/Gerichte_Behoerden/landesjustizvollzugsdirektion/statistik_und_forschung/projekte_des_krimd_/2_61-20180202-EvalJS-Bund--Bericht-Schulische-und-berufliche-Bildung-im-___.pdf 32 6.3 FINANZIERUNG 6.3.1 ZU GERINGE INVESTITION 5 Aus einer privaten Anfrage aus 2011 über das Portal „Frag-den-Staat“ geht hervor, dass im Jahr 2010 über 2,8 Milliarden für den Justizvollzug ausgeben wurden. Das sind 109 Euro pro Tag für jeden Gefangenen.85 In Norwegen hingegen sind es für jeden Häftling 234 Euro pro Tag86. Bei 2.949 Insassen (stand 1.1.2023)87 sind das auf das Jahr gerechnet 252 Millionen Euro. Die Gesamtkosten, die Norwegen für den Justizvollzug zahlt, ist durch die geringere 10 Einwohneranzahl deutlich niedriger. Entscheidend für den Vergleich sind im Enddefekt trotzdem die Kosten pro Häftling. Würde Deutschland für jeden Häftling genau so viel ausgeben wie Norwegen, wären die Gesamtkosten jährlich bei über 6 Milliarden. Wie schon in im Punkt „Finanzierung im Strafvollzug“ beschrieben, ist auch langfristig gesehen das norwegische Strafvollzugssystem höchstwahrscheinlich teurer. Da Norwegen zu den reichsten Ländern der 15 Welt zählt, kann es sich jedoch auch eine größere Investition als Deutschland leisten.88 Neben den Kosten muss jedoch auch betrachtet werden, wie das Geld eingesetzt wird. Da im Internet nur wenig offizielle Daten dazu zu finden sind, fragten wir den ehemaligen Gefängnisleiter Sigmund Vage aus Norwegen sowie den Gefängnisleiter der JVA Stuttgart Matthias Nagel. Beide erklärten, dass von dem Anfang noch großen Budget nach den Fixkosten, wie Per- 20 sonalkosten (67 % der Gesamtkosten in Deutschland und 80 % der Gesamtkosten in Norwegen) oder Bau- und Renovierungskosten, nicht mehr viel übrigbliebe. Auch Justizvollzugsbeamte Andreas Sülzer, welcher in der JVA Stuttgart für Freizeitaktivitäten zuständig ist, klagt über ein knappes Budget. Für das Fitnessstudio, den Gemeinschaftsraum mit Billardtisch sowie andere Sportangebote bleibe nur ein niedriger vierstelliger Betrag. Laut offiziellen Statisti- 25 ken wurde auch in Norwegen in den letzten Jahren weniger für Resozialisierungsprogramme ausgegeben.89 Auch die in 1.1 beschriebene Kriminalisierung von Kleindelikten, erhöht die Kosten des deutschen Strafvollzuges enorm. Etwa 450.000 Euro werden bundesweit pro Hafttag für Häftlinge mit solchen Straftaten ausgeben. Dieses Geld sollte laut Linkspartei-Abgeordnete Clara Bün- 30 ger sinnvoller eingesetzt werden. In einem Interview mit der Süddeutschen äußert sie, dass 85 https://fragdenstaat.de/anfrage/inhaftierungskosten-in-justizvollzugsanstalten/763/anhang/2011_12_22_antwort_bmj.pdf 86 https://www.firststepalliance.org/post/norway-prison-system-lessons 87 https://www.prisonstudies.org/country/norway 88 https://www.handelsblatt.com/politik/international/ranking-2022-ein-ueberblick-der-zehn-reichsten-laender-derwelt/24424110.html 89 https://www.kriminalomsorgen.no/statistikk-og-publikasjoner.518716.no.html 33 es beispielsweise für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, sowie eine Bereitstellung von kostenlosen Bus- und Bahntickets für Bedürftige genutzt werden könnte.90 6.4 Lösungsansätze: Viele Gefangene für kleine Delikte: 5 Ein möglicher Lösungsansatz im Hinblick auf die hohe Gefangenenzahl in deutschen Gefängnissen ist die Entkriminalisierung. Als Negativbeispiel kann hier Ronald Reagans Politik angesehen werden. Der republikanische Präsident wollte in den Achtzigerjahren durch strengere Gesetze und härtere Strafen die Drogenkriminalität eindämmen. Später kam hinzu, dass auch für Ordnungswidrigkeiten wie Falschparken immer höhere Strafen verhängt wurden. Wurde 10 eine Strafe nicht bezahlt, kam man sofort ins Gefängnis. Die private Gefängnisindustrie erzielte Millionen gewinne und investierte diese in Lobbyarbeit, um noch strengere Gesetze zu bewirken. Das führte zu einer maximalen Überlastung des Justizsystems und der Gefängnisse. Erst zu Obamas Amtszeit wurden die Gesetze allmählich wieder gelockert und die Gefängnisse entlastest91. Das lässt sich am folgenden Grafen deutlich ablesen. 15 20 25 https://www.statista.com/chart/24289/federal-inmates-in-custody/ 90 https://www.sueddeutsche.de/politik/schwarzfahren-gefaengnisstrafe-justiz-deutschland-1.5582047 91 https://www.wiwo.de/politik/ausland/gefaengnisse-als-geldanlage-justizwesen-kostet-55-milliarden-dollar-imjahr/13332162-2.html 34 Von der Drogenpolitik bis zum Straßenverkehr dieses Beispiel zeigt, dass eine Entkriminalisierung von kleinen Delikten das gesamte Justizsystem entlasten würde. Auch Pedro Holzhey sagte in unserem Interview, dass eine Haftstrafe die Ultima Ratio sein sollte. 5 Jedoch können natürlich nicht alle Straftaten entkriminalisiert werden. Ein weiterer Lösungsansatz sind daher alternative Strafen. In Deutschland wird zwischen Haupt- und Nebenstrafen unterschieden. Die beiden Hauptstrafen sind Freiheits- und Geldstrafen. Geldstrafen werden in sogenannten Tagessätzen verhängt.92 In Norwegen wird zum Beispiel die elektronische Fußfessel angewendet. Dadurch besteht die 10 Möglichkeit, die Bewegungsfreiheit eines Straftäters ohne physische Barrieren einzuschränken. Dies könnte im Rahmen einer verkürzten Haftstrafe, oder als Ersatz einer Freiheitsstrafe verwendet werden. Als sogenannter „elektronisch überwachter Hausarrest“ könnte es auch als vollwertige Alternative zur Geld- und Freiheitsstrafe genutzt werden. In Deutschland wird diese Technik bisher kaum angewandt.93 Nur als besonders gefährlich eingestufte Straftäter 15 werden in Einzelfällen nach ihrer Haftstrafe mithilfe einer elektronischen Fußfessel geortet. Seit 2011 ist diese Technik im Einsatz, da die ständige Überwachung der Polizei mit viel Aufwand verbunden war.94 Auch Sozialstunden werden in Deutschland nicht als Strafe verwendet. Stattdessen gehören sie häufig zu den Bewährungsauflagen dazu.95 Niedersachsen praktiziert laut Justizministerium erfolgreich das Programm „Schwitzen statt Sitzen“. Menschen, die zu 20 einer Geldstrafe verurteilt wurden, diese aber nicht zahlen können, haben die Möglichkeit die drohende Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit abwenden. Seit 2008 seien so Haftkosten von mehr als 75 Millionen Euro gespart worden. Mittlerweile wurde das Projekt auch in vielen anderen Bundesländern umgesetzt.96 Auch kürzere Haftstrafen würde zu einer niedrigeren Anzahl an Häftlingen beitragen. Das hätte 25 zusätzlich den Vorteil, dass die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit ehemaliger Häftlinge sinkt. Denn je länger Personen in Haft sitzen, desto eher werden sie wieder rückfällig, was wiederum eine höhere Anzahl an Häftlingen bedeutet.97 92 https://ht-strafrecht.de/strafverteidigung/strafverfahren/strafen/ 93 https://rsf.uni-greifswald.de/storages/uni-greifswald/fakultaet/rsf/lehrstuehle/ls-harrendorf/Bd63_9783942865784.pdf 94 https://www.koerperverletzung.com/elektronische-fussfessel/ 95 https://www.koerperverletzung.com/bewaehrungsauflagen/ 96 https://www.mj.niedersachsen.de/startseite/themen/strafrecht_und_soziale_dienste/schwitzen_statt_sitzen/schwitzen-statt-sitzen-10362.html 97 http://kurt.digital/2022/09/30/vergeltung-gegen-resozialisierung-ist-die-haftstrafe-in-deutschland-noch-zeitgemaess/ 35 All diese Maßnahmen würden dazu beitragen, das deutsche Gefängnissystem zu entlasten. Außerdem könnte das zusätzliche Geld für weitere Resozialisierungsprogramme ausgegeben werden. Kein politisches Handeln: 5 Der Punkt „Kein politisches Handeln“ kann vor allem durch Aufklärung und eine Verstärkte Aufmerksamkeit auf das Thema gelöst werden. Beispielhaft zu nennen, wäre hier die Arbeit von SET-FREE. Neben dem schon erwähnten Projekt „Selbsthilfe“ gibt es unter anderem auch das Projekt „APAC“. Die APAC ist eine brasilianische Gefangenenhilfsorganisation, die von einer christlichen Bürgerinitiative ins Leben gerufen wurde. Sie betreibt soziale Reintegrations- 10 zentren für Inhaftierte als alternative Vollzugsform. APAC zeichnet sich durch einen partizipativen Charakter und die Einbindung der Gesellschaft durch ehrenamtliches Engagement aus. Um auf die Unterstützung durch die Rechtsprechung zählen zu können, wurde APAC als Institution der Justiz angegliedert. APAC versteht sich nicht als privatisierte Gefängniseinrichtung und wurde offiziell als alternative Strafvollzugsform anerkannt und im Gesetz verankert. 15 Inzwischen haben drei weitere brasilianische Bundesstaaten alternative Strafvollzugseinrichtungen zugelassen. SET-FREE will diese Reintegrationsmethode in Deutschland bekannt machen um Projekte wie dieses auch in Deutschland und ganz Europa anzustoßen und somit zum politischen Handeln zu motivieren.98 Menschen mit Migrationshintergrund: 20 Der hohe Anteil von Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund und der dadurch prozentual höheren Verbrecherzahlen ist sehr schwer lösbar. Zuvor muss man jedoch unterstreichen, dass es keinesfalls bewiesen ist, dass Ausländer häufiger oder schwerer straffällig werden. Lösungsversuche könnten eine strengere Hintergrunduntersuchung von Migranten und bes- 25 sere Integration sein, durch Sprachschulen, Ausbildungsmöglichkeiten, Abschlussmöglichkeiten und der daraus resultierenden Arbeit. Die Gesellschaft muss sich auch besser um Migranten bilden. Es sollten mehr Organisationen wie “Set Free” existieren, um die konservative geprägte deutsche Gesellschaft zu belehren und zu informieren. Eine aufgeklärte Gesellschaft ist ein 30 Schlüsselpunkt, um das Strafvollzugssystem zu ändern. Finanzierung: 98 https://www.set-free-ev.de/projekt-apac/ 36 Da die Finanzierung auch ein politisches Problem ist, lässt sich nicht mehr viel zu dem Lösungsansatz hinzufügen. Zum politischen Handeln gehört eine höhere Investition in das Strafvollzugsystem dazu. Außerdem sollte genau überdacht werden, an welchen Stellen Geld gespart und an welchen Stellen mehr Geld ausgegeben wird. 5 7. FAZIT Matthias Nagel, der Leiter der JVA Stuttgart, sagte im Gespräch mit uns: „Die Kriminalität ist der Kitt der Gesellschaft“. Diese Aussage hat sich im Laufe unserer Projektarbeit bewahrheitet. Denn es stimmt, in der Kriminalität findet jede Schicht zusammen und irgendwie stellt sie auch ein Bindungsmittel zwischen uns allen dar. Durch diese Arbeit, wird einem bewusst, was für 10 einen relevante Teil Kriminalität in unserer Gesellschaft überhaupt darstellt, wie sehr sie sich auf jeden einzelnen von uns auswirken und abfärben kann. Vor allem auf die Leute, die selber straffällig werden. Denn oftmals ist das Leben in einem Gefängnis nicht so gut strukturiert, wie einige es sich vorstellen. Dennoch sieht man Anhand des Vorreiters Norwegen, dass ein Strafvollzugssystem selbst für die Inhaftierten angenehm, 15 ja nicht nur fordernd, sondern auch fördernd sein kann. Und doch, obwohl dieses einem auf den ersten Blick gerne als perfekt erscheint, hat jede Struktur seine Mängel und Fehler. Egal wo sich eine Lücke schließt, eröffnet sich eine neue. Gut zu erkennen war dies z. B. im Teil der Anwendbarkeit des norwegischen Systems auf das deutsche. Im Endeffekt lässt sich also nicht wirklich feststellen was und warum eines der beiden das 20 Richtige ist, denn das liegt schließlich immer noch im Auge des Betrachters. Vielleicht ist also tatsächlich die entscheidende Frage, die man sich stellen sollte, um auf seine eigene richtige Antwort zu kommen, wirklich, welche Art von Nachbarn man sich wünscht. Einen, der trotz Fehlschritten in seinem Leben, die Möglichkeit bekommen hat, sich wieder aufzuraffen und dazuzulernen, oder einen, der die letzten Jahre seines Lebens keinen Bezug 25 zur Realität hatte und wohlmöglich noch tiefer in die Abgründe der Kriminalität abgerutscht ist? Denn das ist schließlich die soziale Wirklichkeit. 37