RF Artikel CSR und Finance

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IntegrierteBerichte: Gehört dem Integrated
Reporting die Zukunft
RalfFrank
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Kapitalanleger könnten viel mehr veröffentlichte CSR-Daten nutzen - wenn sie
denn wollten. Dem stehen zum einen „hausgemachte" strukturelle Blockaden bei
Finanzanalysen und Investitionsentscheidungen entgegen. Zum zweiten verursachen
Unternehmen große Hürden: Neben der fehlenden Berichterstattung der meisten Unternehmen sind dies die schiere Datenflut in CSR-Berichten, die überdies nicht an
die konventionelle, überwiegend finanzielle Berichterstattung gekoppelt sind. Diese
Hindernisse wollen Initiativen zugunsten einer integrierten Berichterstattung - eines
Integrated Reporting (IR) - überwinden. Der Beitrag analysiert", ob und inwieweit IR für
Investmentprofis einen Mehrwert bringen kann. Verhaltensökonomische Forschungen
legen den Schluss nahe, dass der Wirkungsgrad von integrierten Berichten begrenzt
sein dürfte. Dennoch ergeben sich für Finanzvorstände wertvolle Empfehlungen, wie
sie eine integrierte Berichterstattung vorantreiben können, die ihrem Unternehmen,
den Investoren und der Gesellschaft nutzen kann. Wenn man Investoren und ihre
Wünsche in Bezug auf Unternehmensberichte einbezieht und ernst nimmt, dann weil
sie als Eigentümer ein Anrecht darauf haben, gehört zu werden. Nicht aber, weil sie
besser als Unternehmen Bescheid wüssten, worauf es bei CSR ankäme.
R. Frank (181)
Frankfurt, Deutschland
E-Mail: ralf.frank@dvfa.de
T. Schulz, S. Bergius (Hrsg.), CSR und Finance,
Management-Reihe Corporate Social Responsibility,
DOI 10.1007/978-3-642-54882-6_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
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Finanzmarkt und Unternehmen verursachen Hürden
der Nutzung von CSR-Daten
Nachhaltigkeit ist auf einem guten Weg, bei vielen Unternehmen als strategisches Ziel
und in interne Prozesse verankert zu werden. Die vergangenen zehn Jahre haben enorme Fortschritte gebracht. Die Ernsthaftigkeit, mit der sich zunächst globale Konzerne
und zunehmend mittelständische Betriebe mit Umweltthemen oder gesellschaftlichen
Anforderungen auseinander setzen, war vor einigen Jahren kaum sichtbar. Ernsthaftes
Vorgehen hat sich auch positiv auf Berichte zur unternehmerischen Verantwortung (Corporate Social Responsibility, CSR) ausgewirkt. Darum sind tendenziell viele Kritikpunkte
an CSR-Berichten von vor vier bis fünf Jahren, etwa dass sie Investoren keine vergleichbaren und sinnvollen Daten lieferten, heute so nicht mehr angebracht. Jedoch sind laut
EU-Kommission die meisten Unternehmen noch „CSR-Verweigerer".
CSR-Aspekte können eine gewichtige Rolle im Investmentprozess spielen: dann, wenn
sie Aufschluss geben über wesentliche - materielle - Faktoren, Treiber, Befunde, die
Einfluss auf den Unternehmenswert haben. Dabei geht es nicht nur um den Unternehmenswert in monetären Einheiten. Wie wichtig der Einfluss der öffentlichen Wahrnehmung
bzw. Reputation eines Unternehmens auf dessen Firmenwert ist, spürt, wer gesehen hat,
wie Kunden die US-Kaffeehaus-Kette Starbucks in Großbritannien boykottierten, nachdem bekannt wurde, dass das Unternehmen so gut wie keine Steuern zahlt. Oder wer
den Kursverlauf von BP nach der „Deepwater Horizon"-Umweltkatastrophe im Golf von
Mexiko betrachtet.
Kapitalanleger könnten weit mehr der jährlich veröffentlichten CSR-Daten heute schon
nutzen - wenn sie denn wollten. Warum trifft man 2013 immer noch Investoren, die allen
Ernstes noch mehr Beweise benötigen, dass nachhaltig geführte Unternehmen wirklich
die profitableren Investments seien? Das ist besonders paradox, weil fast jede namhafte
Bank Finanzprodukte für andere Assetklassen auf zum Teil viel dürftigerer Datenintegrität
entwerfen. Hedge Funds, oftmals zu Unrecht gescholten wegen ihrer Short-selling Praxis
(mithin nur eine von etlichen Hedge Fund-Strategien), suchen systematisch Marktineffizienzen - sie wären prädestiniert dafür, CSR-Berichte auf aggregiertem Niveau daraufhin zu
untersuchen, in welchen Branchen sich inhärent Risiken z.B. im Umweltbereich, bei Menschenrechtsverletzungen oder durch einen Schwerpunkt in korruptionsanfälligen Märkten
ausmachen lassen. Es scheinen nicht so sehr fachliche Vorbehalte zu sein, sondern $olche
ideologischer Natur oder die Ablehnung von (aggressiven) Versuchen,' Finanzmärkte für
normative Ziele zu instrumentalisieren.
Gleichwohl halten in den vergangenen Jahren Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungsaspekte (internationales Kürzel: ESG) mehr und mehr Einzug in die Anlageentscheidungen von institutionellen Anlegern, oft unbemerkt von der NachhaltigkeitsCommunity, da sich dieser Prozess nicht als Revolution, sondern eher als Evolution
gestaltet. Zunächst haben Institutionelle auf Basis einiger weniger Kriterien Branchen
oder Unternehmen aus dem Anlageuniversum ausgeschlossen. Dann gingen manche zu
sogenannten „Best-in-class"-Ansätzen über, die zwar noch die Branchen des Benchmark-
Integrierte Berichte: Gehört dem lntegrated Reporting die Zukunft?
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Index abbilden, aber nur in die nach ESG-Performance besten Unternehmen investieren.
Heutzutage versuchen viele Investoren, ESG-Faktoren in Investmentmodellierung und
-rechnung zu integrieren. Allerdings scheitern Ansätze, ESG-Faktoren zum Beispiel in
ein Discounted-Cash-Flow-Modell zu integrieren, häufig an Marktgegebenheiten. Selbst
Kohlendioxid, die „Killer-Applikation" unter den ESG-Faktoren, kann kaum sinnvoll in
die Investmentrechnung einbezogen werden: Der existierende Marktpreis für C02 ist
aufgrund einer Schwemme von Zertifikaten viel zu niedrig, um einer der wichtigsten
lebensweltlichen Bedrohungen zu einem Ausschlag in der Modellierung zu verhelfen.
Bei anderen Aspekten sieht es nicht viel besser aus: Wer wollte etwa in Frage stellen,
dass Geschäftstätigkeiten in Ländern mit viel Korruption und Bestechung ein hohes Gefahrenpotenzial in sich birgt? Trotzdem ist fraglich, ob sich ein direkter Einfluss auf den
Unternehmenswert überhaupt plausibel darstellen lässt, indem ESG-Faktoren isoliert werden. Klar ist aber, dass es nur einige wenige Faktoren sind, die den Weg in die Kalkulation
eines Analysten oder Investors finden werden. Andererseits werden Ansätze des aktiven
Aktionärstums wie „Corporate Engagement" (aktive Dialoge mit Unternehmen) zukünftig
dazu beitragen, dass sich Investoren tendenziell weniger um die Berechnung von ESG kümmern, sondern eher einzelne und materielle ESG-Aspekte auf die Agenda ihrer Gespräche
mit Vorständen nehmen, um sie zu verantwortlicherem Wirtschaften zu bewegen.
Diese Beispiele zeigen das schwer aufzulösende Dilemma zwischen mathematischer
Tradition und gesundem Menschenverstand. Berufsverbände wie die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVF A), die angehende Investment
Professionals schulen, legen darum sehr großen Wert darauf, dass neben der „Investment
Calculation", also der Berechnung, auch das „Investment Judgment", die Urteilskraft, ausgebildet und systematisch angewendet wird. Es formiert sich in den Kapitalmärkten mehr
und mehr Kritik an einer technokratischen Vorstellung, man könne Investments ungefähr
so rechnen, wie Physiker die Flugbahn eines Teilchens im Beschleuniger oder Mediziner
die Dichte weisser Blutkörperchen im Blut. Die Modellgläubigkeit in Finanzmärkten ist
ein großes Problem, und in Bezug auf CSR-Daten in der Investmentanalyse ein großes
Hindernis.
Hürden bestehen aber auch von Seiten der Unternehmen. Einerseits ist das die fehlende
Berichterstattung der meisten Unternehmen. Andererseits sind für Investoren die größten,
von Unternehmen „produzierten" Hindernisse zum einen die Intransparenz der meisten
Unternehmen bei dem Thema und zum anderen - sofern das nicht der Fall ist - die schiere
Datenflut, die Unternehmen in Nachhaltigkeitsberichten liefern sowie die Nicht-Kopplung
von CSR-Informationen an die konventionelle, überwiegend finanzielle Berichterstattung.
2 Trends zur integrierten Berichterstattung
Diese Hindernisse wollen Initiativen zugunsten einer integrierten Berichterstattung - eines
Integrated Reporting, kurz IR - überwinden. Im Folgenden wird das „Wertversprechen"
(Value Proposition) der integrierten Berichterstattung aus der Perspektive ihrer primären
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Zielgruppe diskutiert: Investment Professionals, d. h. Personen, die professionell Geldund Kapitalanlagen und/oder Kreditrisiken evaluieren oder managen.
Seit die ersten Unternehmen CSR-Berichte veröffentlichten wird diskutiert, ob diese
nicht mit den Finanzberichten veröffentlicht werden sollten, am besten in einem gemeinsamen _ integrierten - Bericht. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass zwei disparate
Berichtswelten streng genommen absurd sind, geht es doch immer um ein und dasselbe unternehmen. Die Konvergenz von Finanzberichterstattung mit CSR-Berichten ist
sinnvoll und sollte dazu führen, dass beide Berichtsregime_sich inhaltlich annähern und
perspektivisch in einem Bericht münden. Hinzu kommt der Aspekt, dass„Unte~nehme~,
die sich mittels eines integrierten Berichts stärker über die Zusammenhange okonomischer, ökologischer und sozialer Daten klar werden, diese auch besser managen können.
Hierbei sind die Führungsebene und die Mitarbeiter von Unternehmen die Zielgruppe.
Darum propagierten schon 2010 Robert G. Eccles und Michael P. Krzus in ihrem Buch
„One Report" (Eccles und Krzus 2010), Unternehmen sollten Berichtsinhalte aus der Finanzberichterstattung durch sogenannte Extra- oder Non-Financials plausibilisieren. Die
Gründung des International Integrated Reporting Council (IIRC) im selben Jahr legte
den Grundstein für einen Standardsetzer angelsächsischen Zuschnitts. Dahinter steht ein
Konsortium von praktisch allen global bedeutenden Organisationen, die die Unternehmensberichterstattung gestalten oder verbessern wollen: unter anderem IASB, FASB, GRI,
ICGN, UN PRI, EFFAS 1 sowie die „Big Four", die global vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, und globale Konzerne wie Microsoft, China Gas & Light.nin.g oder
SAP. Diese illustre Runde erklärt das „Gewicht" des IIRC und warum weltweit viel von
ihm erwartet wird.
Doch im Frühjahr 2014 mehren sich Zweifel, ob das „IR-Rahmenwerk" (IIRC 2013),
das das IIRC im Herbst 2013 verabschiedet hat, der große Wurf ist, den viele Unternehmen und Investoren erwartet hatten. Das IIRC hat sämtliche 359 Stellungnahmen, die es
zuvor zu dem im April 2013 veröffentlichen Entwurf erhielt, auf seiner Homepage veröffentlicht. Viele bemängeln konzeptionelle Schwächen, bezweifeln den Mehrwert des Kern
des Rahmenwerks, die sechs „Capitals", und verlangen konkretere Angaben zu Inhalten
und Formaten von integrierten Berichten. Eine Gruppe führender Investoren und Pensionskassen bezeichnet das Rahmenwerk in einer Stellungnahme gar als nicht umsetzbar
_
(Brookbanks 2013).
Der Mangel an konzeptioneller Strenge dürfte kaum einem Unternehmen ausreichend
Hilfestellung geben, einen standardisieren integrierten Bericht zu veröffentlichen. U nt~r­
dessen experimentieren etliche Unternehmen mit eigenen Ansätzen, die teils wesentlich
mutiger und innovativer sind als die des IIRC.
i International Accounting Standards Board (IASB), Financial Accounting Standards Board
UFASB), Global Reporting Initiative (GRI), International Corporate Governance ~etwork .(CG~~
United Nations Principles for Responsible Investing (UN PRI), European Federation of Fmanci
Analysts Societies (EFFAS).
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·~~~~~~~~~~~-
Einige Unternehmen berichten bereits auf ansprechende Weise ESG-Daten zusammen
mit Finanzdat~n in :rabellenform, so z. B. das niederländische Chemieunternehmen Royal
DSM. In der Ubersicht von DSM werden beispielsweise Energie-, Wasserverbrauch und
Mitarbeiter-Engagement gleichberechtigt neben Netto-Umsatz, Investionen und Dividenden~a~hstum aufgeführt. Zusätzlich veröffentlicht das Unternehmen eine „Materiality
~atnx ' d. h .. es legt offen, welche Performance-Indikatoren es zur Steuerung nutzt.
Uberzeugend ist auch eine Rubrik, die zeigt, wie ernsthaft für DSM die umfassende Berichterstattung an Finanzmärkte ist. Unter dem Titel „What still went wrong" führt das
Unternehmen für einzelne Quartale des abgelaufenen Geschäftsjahres Arbeitsunfälle und
Betriebsun~ille ~it Schädigung der Umwelt auf (DSM 2013). Philips verfolgt eine ähnliche Strategie bei der Zusammenführung von ESG- und Finanzdaten, wenngleich weniger
granular, als dies bei DSM der Fall ist (Philips 2013).
Weitere Beispiele für innovative Ansätze finden sich z.B. bei der SAP AG. Sie verdichtet in ihrem integrierten Bericht die finanzielle und die Nachhaltigkeits-Performance in
nur mehr vier Kennzahlen: Umsatz, operative Marge, Kundenzufriedenheit (Net Promoter
Score) und ~itarbeit.er-Engagement. Über eine interaktive Graphik werden die Wirkungszusammenhange zwischen den einzelnen Faktoren dargestellt, d. h. SAP beschreibt, wie
sich z.B. eine Erhöhung des Mitarbeiter-Engagements auf den Umsatz auswirken kann
(SAP 2013).
Andererseits ist festzustellen: Kaum ein Reporting Standard orientiert sich an Bedürfnissen, Kapazitäten und Rahmenbedingungen der Arbeit von Investoren (auch nicht
Integrated Reporting). Louis Brandeis wird das Zitat zugeschrieben, nach dem „Sonnenlicht das beste Desinfektionsmittel sei und elektrisches Licht der beste Polizist". Diese
Worte nutzte Christopher Cox, der Chef der US-Börsenaufsicht SEC, 2008, als er die Verpflichtung aller in den USA notierten Unternehmen ankündigte, ihre Geschäftsberichte in
einem digitalen Format - XBRL eXtensible Business Reporting Language _zu veröffentlichen. Inzwischen berichten alle betroffenen Untemehmen auf diese Weise. Die Daten sind
ü~er di.e Home~ag~ der SEC frei verfügbar, sie werden von Datenlieferanten aggregiert,
eme Leistung, die diese kostenpflichtig anbieten. Damit scheint das SEC „Interactive Data"Projekt ein frühes Vorzeigeprojekte für mehr Transparenz. Allerdings existiert bislang
kaum brauch~a~e und kostengünstige Software, mit der Investoren und Finanzanalysten
XBRL-Daten m ihre Analyseprogramme wie z. B. Microsoft Excel laden können. Aus dies~m Grund ist die Nutzung von XBRL-Daten durch Investment Professionals bislang eher
die Ausnahme denn die Regel.
Auch viele Init.iativen der CSR-Berichterstattung setzen - im Namen von Transparenz
- auf mehr Details. Allen voran die Global Reporting Initiative, die 2013 die neueste
Version ihres Berichtsstandards - G4- vorgestellt hat. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich
sehr schnell, dass mehr Nachhaltigkeitsdaten eben genau das und nicht mehr sind: mehr
Daten. Der Gedankengang vieler Verfechter einer vollständigen Offenlegung lautet: wenn
Unter~~hmen ihre :irmendaten vollständig offenlegen, steht einer glasklaren, objektiven
Investitionsentscheidung nichts mehr im Wege. Stimmt das?
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Menschliche und systemische Beschränkungen rationaler
Investitionsentscheidungen
Diese Frage berührt den Kern der Kritik der letzten Jahre an den Wirtschaftswissenschaften. Kritiker haben den Homo Oeconomicus (der Typus Mensch, der sich nur rational
verhält und seinen Nutzen zu steigern sucht) als restlos inadäquat für die Theorie wirtschaftlichen Handelns mit Spott überzogen, aber Ökonomen haben ihn als Idealbild
beibehalten. Folglich hat sich die neoklassische Ökonomie blamiert, als sie im Zusammenhang mit der Finanzkrise von „schwarzen Schwänen", also von ni~ht vorhersehbaren
Ereignissen sprach, aber völlig verkannte, dass große Theorien der Okonomie wie z.B.
Fama's Efficient Markets Hypothesis oder Hicks ,Investment and Savings-liquidity and
money' die Krise erst ermöglichten (Keen 2011).
Dagegen hat die wirtschaftswissenschaftliche Verhaltensforschung (Behavioral Finance) seit den 70er Jahren überwiegend experimentell belegt, dass wirtschaftliche und
finanzielle Entscheidungen an kognitive und psychische Grenzen stoßen und zu Verzerrungen bei der Urteilskraft von Akteuren führen. Selbst Urteile von Investmentprofis
unterliegen sogenannten „Biases" (Verzerrungen) und sie nutzen „Heuristics" (Daumenregeln oder Kniffe), um mit begrenztem Wissen zu ausreichend guten Lösungen zu kommen.
An dieser Stelle seien als einige der wesentlichen Verzerrungen genannt (Gilovich et al.
2002):
• Availability Bias: Nachrichten oder Fakten, die dem Individuum präsenter sind oder an
die es sich leichter erinnern kann, beeinflussen eher die Entscheidungen als Aspekte, die
weniger präsent sind (dazu zählt auch Vertrautheit mit Fakten);
• Anchoring Bias: Eine Nachricht oder ein Fakt verankert sich (vor einer eigentlich wichtigen Tatsache) so stark im Gedächtnis des Individuums, dass nachfolgende Fakten,
selbst bei größerem Gewicht, das Urteil nicht mehr zu verändern vermögen (dies .gilt
auch für irrelevante Anker, die mit dem Sujet der Entscheidung nichts zu tun haben);
• Overconfidence Bias: Bereits früh in einem Entscheidungsprozess mit einer Vielzahl
von Variablen, die das Ergebnis beeinflussen können, setzt bei Individuen eine Zuversicht ein, bereits alle nötigen Fakten für eine sichere Abschätzung des Outcomes einer
Entscheidung zu haben.
Bislang gibt es noch wenig Behavioral-Forschung zu CSR. In einem Experiment haben Arnold et al. (2012) professionelle konventionelle Anleger und Investoren des „Mainstream"
mit Finanz- und ESG-Berichte arbeiten lassen. Diese wurden einer Gruppe nacheinander
vorgelegt, einer anderen Gruppe in einem Zug (integriert). Dabei konnte der AnchoringBias deutlich nachgewiesen werden. Es ist davon auszugehen, dass sich auch andere
Phänomene, die u. a. Thaler (2005) beschreibt, für CSR-Aspekte nachweisen lassen.
Relativ junge Erkenntnisse der überwiegend französischen Wirtschaftssoziologie ermöglichen Rückschlüsse über CSR im Zusammenhang mit Investitionsentscheidunge~.
Eine Strömung um Michel Callon, Fabien Muniesa und Donald McKenzie (vgl. MacKenzie
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2006; Callon et al. 2007) hat aufgedeckt, dass selbst bei anscheinend objektiven mathematischen Rechnungen bereits gesellschaftlich prädisponierte Kategorien im Spiel sind, die
darüber entscheiden, was gerechnet und was hinzugezählt wird - und was nicht. Der
entscheidende, für den soziologisch unerfahrenen Leser gewöhnungsbedürftige Gedankengang ist, dass Berechnungen teils willentlichen, teils kognitiv antrainierten, teils qua
Konvention vorgegebenen willkürlichen Operationen gehorchen, die nicht auf objektiv
oder gar ,wissenschaftlich fundierten Grundlagen basieren (hierzu mehr bei Callon und
Muniesa 2003).
Manche, insbesondere komplexe Berechnungen z.B. über Algorithmen, sind „performativ" (s. Young 2012a, b). Das bedeutet, dass sie praktisch nur durch den Umstand
ihrer Nutzung bereits als legitimiert angesehen oder behandelt werden, ohne dass sie
sich notwendigerweise in einer externen - objektiven - Realität beweisen lassen oder lassen müssen. Bekanntes Beispiel ist im Finanzmarkt das Downgrading einer Staatsanleihe
durch eine Ratingagentur, welches die Finanzierungskosten des Staates in die Höhe treibt,
und den Staat dadurch in seiner Bonität schlechter werden lässt (Deutschmann 2012). Die
offensichtlichste Form von·Performativität ist die self-fulfilling prophecy.
Zwar hat sich das Investitionsinstrumentarium in den vergangenen Jahren in Anlehnung an die Physik verwissenschaftlich (Mirowski 1991); Das aber führt dazu, dass
systematisch gewisse Aspekte ausgeblendet werden. So können COi-Emissionen von Unternehmen kaum sinnvoll in Diskontierungmodelle wie dem Discounted Cashflow-Model
(DCF) abgebildet werden (s. o.), da die Preisbildung im Markt durch ein Überangebot
von Emissionszertifikaten versagt. Doch selbst wenn es einen adäquaten Marktpreis gäbe, würde ein DCF-Modell keinen objektiven Unternehmenswert errechnen: Der Analyst
setzt viele Parameter wenn nicht willkürlich, so doch nach eigenem Dafürhalten und teils
solche mit selbstreferentieller Natur. So wird z.B. ein Beta, der zentrale Faktor, der das
Risiko im Modell spiegelt, per Regressionsanalysen aus Marktdaten errechnet, um ·dann
quasi wie eine objektive Grösse ins Modell eingespeist zu werden. Die Ergebnisse der Berechnung werden wieder als Datenpunkte in den Markt geliefert, um bei der nächsten
Regressionsanalyse wiederum in die Berechnung einzugehen.
Dabei ist den Finanzmarktakteuren durchaus bewußt, dass ihre Modelle und Berechnungen skeptisch beurteilt werden, insbesondere dass sie Prämissen ausblenden, um
Aspekte in eine Zahl oder ein Kennzeichen zu verdichten (z. B. AA +als Ratingurteil),
also die Abbildung der Realität „konstruieren". Das bedeutet: Finanzkennzahlen, Berechnungen und verdichtete Werturteile beziehen ihre Legitimität nicht dadurch, dass sie die
Wirklichkeit abbilden, sondern dass sie von Investment-Professionals verwendet werden
(Vormbusch 2012).
Eine andere französische Strömung, die „Economie des Conventions" um Luc Boltanski und Laurent Thevenot (Boltanski und Thevenot 2007; Salais 2001), weist nach, dass
sich Akteure in ihrem Tun begrenzen, wenn sie sich zu rechtfertigen genötigt fühlen: Dann
nutzen sie W ertigkeitsordnungen (Konventionen) als Referenzrahmen. Beispielsweise verstehen Finanzanalysten ihre Kernaufgabe darin, den aktuellen Unternehmenswert (Net
Present Value) aus einer Extrapolation der zukünftigen Cashflows zu errechnen (Beunza
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und Garud 2007) und ihre zugrunde liegende ,stille' Prämisse ist, dass sich aus der vergangenen Performance eines Unternehmens seine zukünftige Performance extrapolieren läßt,
die dann wieder in einen Net Present Value zurückgeführt werden kann.
Wie rational ein „bedrängter" Akteur in Finanzmärkten wahrgenommen wird, hängt
entscheidend davon ab, ob er sich zum Beispiel im Fall, dass die Rendite eines Portfolios
hinter einer Benchmark zurückbleibt, mit diesem gemeinsam geteilten Rahmen rechtfertigt
oder mit der Konvention bricht, indem er wie der Ökonom Keynes (1997) die Möglichkeit anzweifelt, Eintrittswahrscheinlichkeiten zu berechnen. Dann riskiert er, als weniger
ernsthaft wahrgenommen zu werden.
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CSR-Blockade bei Investmententscheidungen aus vier Gründen
Die Einsichten der französischen „Socio-economics" und der „Economie des Conventions"
(Diaz-Bone 2007, 2011; Salais 2001; Boltanski und Thevenot 2007) bieten erste Hinweise
auf ein besseres, im Vergleich zur der orthodoxen Ökonomie radikal anderes Verständnis
für die bei Investitionsentscheidungen bestimmenden und limitierenden Faktoren. Als ein
Fazit lassen sich vier Begründungen finden, warum CSR-Aspekte bislang nur wenig in
Investitionsanalyse und -entscheidungen einfließen:
1. Aus der Behavioral Theory bekannte Phänomene dürften auch für den Umgang von
Investoren mit CSR gelten. So kann man davon ausgehen, dass ein vom Vorstand verbal
vorgetragener Bericht mehr Wirkung erzielt als ein schriftlicher Bericht (Availability
Bias).
2. CSR-Berichte spiegeln häufig Aspekte und Ereignisse, die zwar wichtig sind, die man
aber nicht rechnen kann. Führt die „Verwissenschaftlichung" dazu, dass die Berechnung
eines Faktors als professioneller angesehen wird als die bloße Beurteilung, bewirkt dies
eine Benachteiligung insbesondere von CSR-Aspekten, deren Berechnung gar nicht
sinnvoll ist (z. B. Social Compliance, Beachtung von Menschenrechten, Korruption).
3. Die Kategorien, die Investmentprofis für Berechnungen heranziehen, beruhen auf einer
kognitiven, gesellschaftlich determinierten (nicht naturwissenschaftlich-objektiven)
Rahmung. Was zur Kalkulation herangezogen wird, ist vorab durch den Filter einer
kollektiven Deutung gelaufen (Callon und Muniesa 2003). Wenn sich der Filter (kognitiv; intuitiv, unbewusst) auf konventionelle Verfahren stützt oder auf Instrumente wie
z. B. Spreadsheets, die CSR-Daten nicht verarbeiten können, dann werden CSR-Aspekte
als nicht zugehörig ausgesondert.
4. Berechnungen, Spreadsheets, Modelle und Signifikate (Börsenticker, Ratingskalen etc.)
legitimieren sich performativ, d. h. allein dass sie Anwendung finden, legitimiert sie und das schließt zugleich von der Legitimation das aus, was nicht angewendet wird,
z.B. CSR-Berichte (zur Theorie der Performativität: MacKenzie 2006; Callon et al.
2007). Dies dürfte ein selbstverstärkender Prozess sein, d. h. je beharrlicher Investoren
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bei herkömmlichen Verfahren und Modellen bleiben, desto größer wird der Legitimierungsdruck für solche Investoren, die sich neuen Erkenntnissen gegenüber offen zeigen,
die also gegen den Strom schwimmen.
Angesichts dieser Hindernisse wird klar, dass der Wirkungsgrad von integrierten Berichten
eher gering sein dürfte.
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Empfehlungen für eine wirksame Integrierte Berichterstattung
Dennoch lassen sich daraus für Unternehmen Erkenntnisse zugunsten einer wirksamen
integrierten Berichterstattung gewinnen.
Erste These: Für einen integrierten Bericht bedarf es keines CSR-Berichts - die
Integration verläuft über die Investitionsbilanzierung.
Diese These mag verwundern. Welche Berichtselemente sollen denn dann mit den
Financials zu einem Konvolut vereint werden? Man kann sogar noch weitergehen
und in Frage stellen, ob die Darstellung und Kommunikation von unternehmerischer
Nachhaltigkeit überhaupt eines CSR-Berichts bedarf. Warum?
Führt ein Unternehmen Nachhaltigkeit als strategischem Ziel ein (und nicht nur als
„Corporate PR"), muss es unweigerlich investieren: in Managementstrukturen, Personal,
Projekte, Produkte, Prozesse. Stellt es seine Produktion auf ressourcenschonendere Prozesse um, um Energie einzusparen oder Produktionsabfall zu recyden, wird es in Maschinen,
Anlagen oder Knowhow investieren. Und versucht ein Konsumgüterhersteller eine Sparte
mit Ökoprodukten in den Markt einzuführen, dann wird er unweigerlich in Forschung
und Entwicklung investieren oder z.B. über den Zukauf eines anderen Unternehmens
anorganisch in den Markt eintreten. Beide Investitionen schlagen sich in den Finanzkennzahlen des Unternehmens nieder, denn Investitionen werden in der konventionellen
Finanzberichterstattung ausgewiesen.
Um für die Analyse des nachhaltigen Wirtschaftens aussagefähig zu sein, müssten nun
nur noch die entsprechenden Berichtsposten in den Finanzberichten granular ausgewiesen werden. So müsste z. B. der Forschungs- und Entwicklungsaufwand entsprechend
disaggregiert werden: Es müsste etwa für die Ökoproduktlinie der spezifische Aufwand
aufgezeigt werden.Wenngleich dies vom Unternehmen erfordert, ökonomische Vorgänge
entsprechend abzugrenzen (eine nicht unbedingt triviale Aufgabe), so wäre dies bei den
meisten Unternehmen, die im Vergleich zur CSR-Abteilung in der Rechnungslegung über
eine gute Ressourcenausstattung verfügen, durchaus zu leisten.
Natürlich Hesse sich einwenden, der Ausweis der Nachhaltigkeit via Disaggregation
von Posten in Finanzberichten reflektiere nur jene Nachhaltigkeitsaspekte, die einen Niederschlag in ökonomischen Ereignissen hätten. Die schrecklichen Vorkommnisse mit
Hunderten von Toten in Textilfabriken in Bangladesh oder das biologisches Artensterben
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würden kaum sinnvoll über Finanzberichte abgebildet werden können. Wo also kein Preis
existiere, könne die Rechnungslegung auch nicht rechnen! Der Einwand ist legitim.
Trotzdem ergibt die hier vertretene These Sinn, wenn man zwei taktische und für die
Verbreitung des Nachhaltigkeitsgedankens gar strategische Aspekte in den Fokus rückt.
Erstens bietet sich über die Disaggregation ein niederschwelliger Einstieg für viele Unternehmen, sich mit CSR auseinander zu setzen und ihre Aktivitäten und Bemühungen zu
kommunizieren, sei es beim Umweltmanagement oder bei der angemessenen Reaktion auf
gesellschaftliche Forderungen und Trends. Viele kontinentaleuropäische Unternehmen
vergeben hier veritable Chancen, ihre CSR-Leistungen in einem ökonomischen Kontext
entsprechend gewürdigt zu sehen.
Zweitens bleiben sie mit einem Ausweis von CSR-Aspekten in der konventionellen
Finanzberichterstattung in einer Rahmung, in der rechenbare, konventionelle Berichtsposten durch den Filter des Detachments (siehe oben) laufen, während CSR im Gewande des
CSR-Berichts möglicherweise „aussortiert" wird.
Zweite These: Es wird im CSR-Bereich und bei integrierten Berichten zu wenig über geeignete Berichtsformate nachgedacht - Daten müssen vergleichbar und
aussagekräftig sein
Wer Augen im Kopf hat und wach ist, kann schon aus dem heutigen CSR-Berichtswerk
der meisten Unternehmen viel Informationen gewinnen. Nach wie vor sind CSRInformationen zwar noch nicht gut genug vergleichbar und häufig schwer zu modellieren.
Das ist aber auch bei vielen Finanzindikatoren der Fall - und hält Finanzanalysten und
Investoren nicht davon ab, mit Finanzdaten ihre Modelle zu befüllen oder befüllen zu
lassen!
Entgegen einer irrigen, aber weit verbreiteten Annahme liest das Gros der InvestmentProfessionals Geschäftsberichte eher kursorisch oder selektiv, wenn überhaupt. Globale
Datendienstleister wie Bloomberg, ThomsonReuters, FactSet oder Compustat erledigen
die Arbeit für Investmentprofis, die sich Unternehmensdaten synchron (innerhalb eines
Sektors) und diachron (von einem Unternehmen über mehrere Perioden) in ihre Modelle
laden können. Im CSR-Bereich übernehmen diese Aufgabe Nachhhaltigkeitsratingagenturen. Auch hier gibt es bereits CSR-Rohdaten für weite Universen zu kaufen, wenngleich
sie bei diesen Anbietern häufig zu Ratings verdichtet werden.
Berichtsformate aber haben einen Einfluss auf die Anlageentscheidung von Investoren, wie „Behavioral Accounting", eine Disziplin der Behavioral Economics, schon seit
Jahrzehnten nachgewiesen hat. Die ökonomische Vernunft (Economic Rationality) - eine
wesentliche Konventionen der Ökonomie - postuliert, dass ökonomische Akteure rationale Entscheidungen treffen, für die es unerheblich ist, ob Unternehmensdaten in Fließtexten,
Fussnoten oder Tabellen enthalten sind. Die Verhaltensökonomie indessen hat das aber
widerlegt: Anlageentscheidung von Investoren unterscheiden sind, wenn Daten tabellarisch dargeboten werden oder wenn Erläuterungen an einer anderen Stelle im Bericht
enthalten sind, als dort, wo die Berichtsposten stehen, auf die sie sich beziehen.
Bei den verhaltensökonomischen Versuchen von Arnold et al. (2012) wurden den
Teilnehmern keine kompletten Unternehmens- und CSR-Berichte an die Hand gegeben,
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sondern Auszüge, die sich an den im Kapitalmarkt omnipräsenten Analystenpräsentationen orientieren (einer verkürzten Version der in Geschäfts- und CSR-Berichten
enthaltenen Finanz- bzw. CSR-Daten). Das Format für Finanzberichte - eine konventionelle Gewinn- und Verlustrechnung, einige Bilanz- und Kapitalflussrechnungsposten,
annualiserte Veränderungsraten - wurde bewußt auf CSR-Daten übertragen. Sie sahen
tabularisiert und mit Wachstumsraten und Intensitätsgrößen (z. B. C0 2 -Ausstoss per
produzierter Einheit) dem Finanzbericht in punkto graphischer Darstellung sehr ähnlich.
Ein wesentliches, nicht zu erwartendes Ergebnis der Experimente, nämlich dass konventionelle Investment-Professionals die CSR-Daten für ihr Investmentrating nutzten, kann
massgeblich auf das benutzte Format der CSR-Daten zurück geführt werden.
Wie wirksam integrierte Berichte sein können, zeigt ansatzweise ein weiteres Ergebnis
der Experimente: Investoren und Finanzanalysten, die Finanz- und CSR-Bericht sequentiell vorgelegt bekamen, gelangten zu einer anderen Einschätzung, als die Testgruppe, die
beide Berichte gebündelt erhielt: Schlechte CSR-Daten setzten einen Dämpfer auf die gute
finanzielle Performance. Bei Unternehmen, deren Wachstum sich am Rande der Inflationsgrenze bewegte, konnte der einmal verankerte schlechte Eindruck aus der ökonomischen
Performance durch verstärkte Anstrengungen im CSR-Bereich nicht mehr ausgeglichen
werden.
Dritte These: Freiwilliges Integrated Reporting springt zu kurz, um Iebensbedrohliche Themen in ökonomische Entscheidungsprozesse zu verankern - Regulatoren sind
gefordert
Die vielen lebensbedrohlichen Mega-Trends - etwa Klimawandel, Globalisierung, enormes Bevölkerungswachstum in den Schwellenländern - müssen sich in ökonomischen
Systemwelten niederschlagen, um für den global dominanten Kapitalismus ,,ankopplungsfähig" zu sein und von ihm beachtet werden zu können. Märkte können diese Leistung
nicht erbringen, weil sie sich daran orientieren, ob Phänomene einen Preis haben oder
nicht (Willke 1995, S. 181 ff.). Darum muss der ordnungspolitische Rahmen diese ,,Koppelung" zur globalen ökonomischen Handelssphäre herstellen. Das wird immer häufiger
durch das Setzen transnationaler Standards zu erreichen versucht (Willke 2006, 2007). Dies
ist jedoch ein gegenüber nationalen Gesetzgebungsverfahren vergleich~eise langwieriges
und für schlechte Kompromisse (im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners) anfälliges
Verfahren.
Diese Beobachtung lässt sich auch im Zusammenhang mit dem Integrated Reporting
machen. So ging das IIRC u. a. hervor aus Accounting for Sustainability (A4S), einem
britischen Projekt auf Initiative seiner königlichen Hoheit, dem Prince of Wales. Ursprünglich standen beim IIRC - von seiner königlichen Hoheit vehement propagiert - die
gesellschaftlichen Folgen eines ungehemmten „Bedienens" an Umwelt und Gesellschaft
im Vordergrund, ohne das Unternehmen für die Folgen aufkommen müssen. Es ging
massgeblich darum, eine „Rechnungslegung" (Accounting) zuwege zu bringen, die die
Folgen unternehmerischen Handelns für Umwelt und Gesellschaft aufzeigt und damit die
Verantwortlichen Rechenschaft ablegen.
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Doch das IIRC wird von konventionellen Accounting-Experten dominiert. Und das
im Herbst verabschiedete Rahmenwerk zum Integrated Reporting ist sehr steril, ideenund mutlos. Anscheinend sind weder der Wille noch ausreichend Kreativität beim IIRC
vorhanden, um die ursprüngliche Motivation umzusetzen, den Umweltthemen und der
gesellschaftlichen Verantwortung eine Stimme in der Unternehmensberichterstattung zu
verleihen. Das Rahmenwerk meidet rigoros fast jeden Bezug zu Nachhaltigkeit und CSR
und könnte als Versuch (miss- )verstanden werden, hier habe sich das konventionelle
Corporate Reporting auf dem Weg zu einer sehr keuschen Modernisierung gemacht.
Ein ungehemmter Investmentbanker-Kapitalismus hat zu einer über Jahre schwelenden, seit 2008 offen zu Tage getretenen Finanzkrise ungeahnten Ausmasses und per dato
nicht abzusehendem Ende geführt. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren mehr und
mehr Widerstand in der Bevölkerung gerührt, die hilflos zuschauen musste, wie als systemrelevant deklarierte Banken („too big to fail") mit Steuergeldern gerettet wurden. Und
empört zuhören mussten, dass ein staatliches Eingreifen nicht opportun sei, um ,,die Märkte nicht zu beunruhigen". Diese Gunst haben insbesondere neoliberale Kräfte genutzt, um
sich, wie der renommierte Historiker und Politologe Mirowski (2013) konstatiert, aktiv
um eine Neugestaltung von Märkten zu kümmern und dann den Gesetzgebern und Regulatoren mit Hinweis auf das neoliberale Credo, der Markt reguliere sich selbst, die Tür
zu weisen. Auch ohne einen Glauben an finstere Mächte und ihren V ersuch, die Welt zu
usurpieren, läßt sich der Ansatz des IIRC als Vereinnahmung und Domestizierung des
Themas Nachhaltigkeit in konventionelle Marktstrukturen verstehen.
Systemisch gesprochen ist es fraglich, ob Unternehmen in heutigen Marktstrukturen
und -konventionen überhaupt in der Lage sind, Themen wie Ressourcenverknappung,
C0 2 - Reduzierung oder demographische Verwerfungen aus sich heraus adäquat anzugehen. Denn sie haben kaum die Möglichkeit, Spielregeln des Marktes zu verändern, ohne
sich dem Vorwurf auszusetzen, irrational zu verhalten. Wer von Unternehmen verlangt,
ökonomische Prinzipien zu Gunsten von lebensweltlichen Themen zu vernachlässigen,
wer von Anlegern die Einbeziehung von CSR-Aspekten in Investments einfordert, muss
das Spannungsfeld von normativen und wirtschaftlichen Sachzwängen beachten. Selbst
die so genannten Socially Responsible Investors (SRI), die ihre Anlageentscheidungen fast
ausschließlich nach ESG-Kriterien treffen, müssen für ihre Anspruchsberechtigten (z. B.
Versicherten) eine Rendite erzielen - nicht um jeden Preis, aber oberhalb der Inflationsrate.
Unternehmen und Investoren, die Steuern zahlen und als Arbeitgebervolkswirtschaftlichen Nutzen stiften, haben ein Anrecht auf einen ordnungspolitischen Rahmen, an
dem sich alle Akteure verbindlich orientieren müssen. Wer N achhaltigkeit verpflichtend
für Unternehmen und Investoren verankert sehen will, sollte die Politik auffordern, die
erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.
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Integrierte Berichte: Gehört dem lntegrated Reporting die Zukunft?
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Fazit
Finanzvorstände haben es in der Hand, integrierte Berichte zu schaffen, die ihren Namen
verdienen, also Kapitalgebern und Gesellschaft von Nutzen sind. Damit Investoren diese
Berichte ernst nehmen, sind geeignete Berichtsformate unerlässlich. Um Nachhaltigkeit
strategisch in Unternehmen zu verankern, können Finanzvorstände und Institutionelle gemeinsam passende Rahmenbedingungen von Regulatoren einfordern. Dann kann
Integrated Reporting echte Wirkung entfalten.
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Teil V
Unternehmensfinanzierung
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