Uploaded by Jan Joppek

Dinkelaker 2015

advertisement
Lernen
Jörg Dinkelaker
1
Lernen – um was geht es?
Lernen ist eine Sammelbezeichnung für die –
zum Teil recht unterschiedlichen – Vorgänge,
in denen Personen Wissen erwerben und/oder
Fähigkeiten entwickeln. Da es eine Frage der –
immer auch sozial konstituierten – Bewertung
ist, was als Wissen und was als Fähigkeit gelten
kann, ist Lernen (anders als der Begriff der Aneignung, Hartz i. d. B. d.) immer schon auf Veränderungserwartungen bezogen, die Lernende an sich selbst oder Andere an die Lernenden haben.
In der Erwachsenenbildung wird dennoch der Begriff des Lernens verwendet, um
die Eigenständigkeit des auf den Erwerb von
Wissen und Fähigkeiten bezogenen Tuns von
Teilnehmenden und Adressaten in den Vordergrund zu rücken. So wie im häufig zitierten Bonmot „Erwachsene sind lernfähig, aber
unbelehrbar“ wird mit „Lernen“ betont, dass
die Lernaktivitäten der Teilnehmenden keineswegs mit den Vermittlungsaktivitäten der
Veranstaltungsleitenden zusammenfallen, und
dass es letztlich die Teilnehmenden sind, die
die intendierten Wirkungen der Erwachsenenbildung hervorbringen.
Wenn deutlich werden soll, dass pädagogisches Handeln versucht, dieser Eigenständigkeit der Lernaktivitäten Rechnung zu tragen,
werden daher häufig statt Lehren andere Bezeichnungen wie etwa „Lernvermitteln“, „Lernbegleitung“ oder „Lernberatung“ bevorzugt.
Analog wird Erwachsenenbildung auch als „organisiertes Lernen Erwachsener“ bezeichnet.
Auch wenn das Lernen, das in der Erwachsenenbildung hervorgebracht werden soll,
letztlich als Leistung der Teilnehmenden begriffen wird, so wird doch zugleich erwartet,
dass sich die besondere Qualität des Lernens
im Rahmen der Teilnahme an Erwachsenen-
Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 49
bildung aus der systematischen und zielgerichteten Anregung und Begleitung des Lernens
ergibt. Welche Art der Unterstützung und Begleitung dem Lernen als angemessen und als
zielführend betrachtet wird, hängt wesentlich
davon ab, welches Modell von Lernen dieser
Einschätzung zugrunde liegt. In der Erwachsenenbildungswissenschaft werden gleich mehrere, konkurrierende Modelle des Lernens und
seiner Förderung diskutiert.
Der eigentümliche Umstand, dass Lernen
im Zentrum des Erwachsenenbildungsgeschehens steht, die Teilnehmenden zu ihrem Lernen
der Erwachsenenbildung aber keineswegs notwendig bedürfen, bedeutet erstaunlicherweise
keine Schwäche der Erwachsenenbildung, sondern ist vielmehr ein stetiger Motor ihrer Expansion über den eigenen Wirkungskreis hinaus. Selbst für die Förderung des nicht-organisierten alltäglichen und beiläufigen Lernens
Erwachsener kann die Erwachsenenbildung
mittlerweile eine Zuständigkeit beanspruchen. Das gegenwärtig die Wahrnehmung des
Lernens Erwachsener dominierende Konzept
des Lebenslangen Lernens forciert diese Ausdehnung der Erwartung eines zugleich eigenständigen und förderungsbedürftigen Lernens
über die Erwachsenenbildung hinaus auf alle Lebensalter und auf alle Lebenssituationen
(Hof 2009). Die Unterscheidung von formalem
(organisiert und abschlussbezogen), non-formalem (organisiert, aber ohne Abschluss) und
informellem Lernen (alle anderen Lernzusammenhänge) bringt diese Breite des gesellschaftlich als relevant erachteten Lernens auf einen
Begriff. Indem betont wird, dass Lernen sich im
je individuellen Lebenslauf der Lernenden fortsetzt und anreichert, wird die Aufgabe der Herstellung eines Kontinuums zwischen den z. T.
sehr unterschiedlich organisierten und strukturierten Formen seiner pädagogischen Begleitung den einzelnen Lernenden zugemutet.
9/10/2014 12:48:11 PM
I AdressatInnen und Teilnahme
50
Erwachsenenbildung erscheint vor diesem
Hintergrund als ein lebensphasenspezifisches
Angebot der Unterstützung des letztlich selbst
zu verantwortenden individuellen Lernens.
Verdeckt wird dabei, dass die Erwachsenenbildung zugleich und in nicht unerheblichem
Maße das Lernen Erwachsener prägt, indem sie
Lernerwartungen expliziert, Lernbemühungen
strukturiert sowie Lernerfolge beobachtet und
dokumentiert.
Die Attraktivität des Lernbegriffs liegt in der
Zukunftsoffenheit, die er den Personen bescheinigt, deren Weltverhältnisse in seinem Lichte
betrachtet werden. Nicht-Wissen erscheint mit
ihm als eine Chance und Zukunft als ein Potential möglicher Steigerung. Wer lernt, kann seinem Leben eine neue Richtung geben und zum
Lernen ist es nie zu spät. Gerade die Durchsetzung des Lebenslangen Lernens lässt allerdings
auch die Risiken des Lernens und den Zumutungscharakter von Lernerwartungen deutlicher hervortreten. In dem Maße, in dem sich
das lebenslange und alle Lebensbereiche umspannende Lernen zur allgegenwärtigen Erwartung erhebt, wird damit auch Nicht-Lernen
zu einer notwendigen und zugleich vom Einzelnen zu verantwortenden Handlungsoption.
Im Unterschied zum Lernen von Heranwachsenden ist das Lernen Erwachsener weniger durch Prozesse des Erlernens und mehr
durch Formen des Weiterlernens geprägt, was
nicht nur Dazulernen, sondern auch immer
wieder Umlernen erfordert. Lernen, NichtLernen und Verlernen verweisen insofern im
Erwachsenenleben notwendig aufeinander,
da immer auch anderes gelernt werden könnte und da das Erlernen einer neuen Sichtweise zugleich auch mit dem Verlernen bisheriger
Sichtweisen einhergeht.
2
Historische Dimension
Die im 19. Jahrhundert entstandene, bis heute die Wahrnehmung des Lebens und des Lernens prägende Vorstellung eines „Normal-
Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 50
lebenslaufs“ (Kohli) lokalisiert den Schwerpunkt der Lernaktivitäten in der ersten von
drei Lebensphasen. Auf die Vorbereitungsphase Kindheit und Jugend, in der die Lernenden
von der Verpflichtung eines Beitrags zum Lebensunterhalt freigestellt sind, um sich ganz
ihren Lernaufgaben zu widmen, folgt die Phase der Anwendung des Gelernten im Erwachsenenalter bei der Realisierung produktiver
Aufgaben in Familie, Beruf und Gesellschaft.
Im dritten Lebensalter, dem Ruhestand, können dann die Früchte des in der zweiten Lebensphase Erarbeiteten genossen werden.
Trotz des mit diesem Lebenslaufmodell verbundenen Schwerpunkts des Lernens in der
ersten Lebensphase beschränkt sich die im 18.
und 19. Jahrhundert stattfindende Pädagogisierung der Gesellschaft keineswegs auf Heranwachsende. Die im Bürgertum praktizierte gesellige Bildung und die an Handwerker,
Arbeiter und Bauern adressierte Volksbildung
versteht sich aber nicht lebenslaufbezogen als
Vorbereitung auf zukünftige Lebenspraxen,
sondern ist vielmehr auf die Höherentwicklung und Aufklärung gesellschaftlicher Praxen
hin orientiert (Seitter 2007).
Im Rahmen der Bildungsreform der 1960er
und 1970er Jahre wird dagegen die Erwachsenenbildung (nun als Weiterbildung bezeichnet) zur vierten Säule des Bildungssystems erklärt und damit in das Paradigma einer öffentlich verantworteten, lebenslaufbezogenen
Organisation von Lernen assimiliert. Weiterbildung wird im „Strukturplan für das Bildungswesen“ des Deutschen Bildungsrates definiert als „Fortsetzen oder Wiederaufgreifen organisierten Lernens nach Abschluss
einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase“. Anknüpfend an internationale
Studien (der UNESCO, „Learning to Be“, und
der OECD, „Recurrent Education“), die eine
Überwindung des traditionellen Normallebenslaufs unter Einbringung des Begriffs des
Lebenslangen Lernens propagieren, wird der
bis dahin dominierende Begriff der „Bildung“
zunehmend durch Lernen ersetzt, der sich
aufgrund seiner Zieloffenheit als weitaus anschlussfähiger an die Vielzahl von Erwartun-
9/10/2014 12:48:11 PM
Lernen
gen an Erwachsenenbildung/Weiterbildung
erweist und die durchaus widersprüchlichen
Anforderungen von Qualifizierung, Teilhabeerweiterung und Demokratisierung zusammenzubinden in der Lage ist.
In den 1980er Jahren ist zunächst eine
Gegenbewegung gegen die sich durchsetzende
Institutionszentrierung des Lernen Erwachsener, verbunden mit der Renaissance eines nun
antiinstitutionell ausgerichteten Bildungsbegriffs zu beobachten. Gerade sie bricht paradoxerweise einer Ausdehnung pädagogischer Bezugnahmen über das organisierte Lernen Erwachsener hinaus Bahn.
Seit Mitte der 1990er Jahre kommt es zu
einer dieses Mal nicht nur international angestoßenen, sondern auch international vollzogenen Neuordnung des gesamten Bildungswesens vor dem Hintergrund eines ausgeweiteten
Begriffs des Lebenslangen Lernens. Verbunden
mit der Diagnose einer Transformation hin zur
Wissensgesellschaft wird eigenständiges und
innovatives Lernen als entscheidender Produktivfaktor mit sowohl volks- als auch betriebswirtschaftlicher Bedeutung identifiziert. Jede
und jeder ist immer und überall aufgerufen,
lernend zur gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen. Lernen wird zu einem Zweck an sich,
der unabhängig von den konkreten Gegenständen des Lernens schon allein deshalb bedeutsam wird, weil Lernen in sich die Aussicht birgt,
dass es weiteres Lernen nach sich zieht. Da auch
jenseits der Erwachsenenbildung/Weiterbildung Lernen als Produktivfaktor erkannt und
entsprechende Wissensvermittlung betrieben
wird, tendiert die Erwachsenenbildung zunehmend zu einer Spezialisierung auf die Aufgabe
der Lernbefähigung (Dinkelaker & Kade 2011).
Die Rede von den „neuen Lernkulturen“ weist
Pädagogen die Aufgabe der Moderation, der
Beratung und der Qualifizierung des Lernens
zu, während die Aufgabe der bloßen Wissensvermittlung zunehmend von anderen gesellschaftlichen Akteuren, insbesondere den Medien übernommen wird.
Das Bild des Erwachsenen transformiert
sich im Zuge dieser Entwicklung. Hatte der Erwachsene aus Sicht des Normallebenslauf des
Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 51
51
19. Jahrhunderts noch ausgelernt und war in
seiner Entwicklung abgeschlossen, wird er
nun im 21. Jahrhundert als unfertig, dynamisch und entwicklungsoffen konzipiert (Seitter 2011, 126). Selbst bis ins hohe Alter hinein
werden trotz oder gerade wegen des einsetzenden Abbaus von Fähigkeiten Möglichkeiten
und Notwendigkeiten des Aufbaus neuer,
kompensierender Fähigkeiten betont.
3
Theoretische Konzepte
Anders als es die wiederholt vorgetragenen
Klagen, die Erziehungswissenschaft verfüge
über keine eigenen pädagogischen Lerntheorien, vermuten lassen, werden in der Erwachsenenbildungswissenschaft gleich mehrere Varianten pädagogischer Lernkonzepte diskutiert. Wie auch psychologischen Lerntheorien
kommt diesen erwachsenenpädagogischen
Lerntheorien überwiegend die Funktion zu,
pädagogisches Handeln zu orientieren. Wenn
das Lehren in der Erwachsenenbildung den
Besonderheiten des Lernens Erwachsener gerecht werden soll, so muss Klarheit darin bestehen, worum es sich bei diesem Lernen handelt. Die konkurrierenden erwachsenenpädagogischen Lerntheorien betonen jeweils andere Aspekte des Erwachsenenlernens und leiten
daraus entsprechend je unterschiedliche Anforderungen an die Gestaltung von Lernsituationen ab. Allen diesen Konzepten gemein ist
eine Betonung der Eigensinnigkeit von Lernaktivitäten, die in der Unverwechselbarkeit der
jeweiligen biographischen Situationen der Lernenden begründet liegt:
Die aus der kritischen Psychologie Klaus
Holzkamps übernommene subjektwissenschaftliche Lerntheorie stellt die Gründe in
den Mittelpunkt, die Erwachsene für ihr Lernen haben (Faulstich & Ludwig 2004). Dabei wird konsequent die Perspektive derjeniger eingenommen, die lernen bzw. lernen sollen. Eine subjektive Notwendigkeit des Lernens wird nach dem subjektwissenschaftlichen
9/10/2014 12:48:12 PM
52
I AdressatInnen und Teilnahme
Verständnis immer dann wahrgenommen,
wenn ich ein Scheitern meiner bisherigen
Handlungsroutinen feststelle und in der Erprobung neuer Handlungsweisen das Potential einer Erweiterung meiner Handlungsmöglichkeiten sehe. Die Qualität von Lernprozessen hängt in diesem Modell des Erwachsenenlernens ganz entscheidend davon ab, inwiefern
die Lernenden ihr Lernen als einen solchen
Prozess der Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen (expansives Lernen),
oder ob sie Lernaktivitäten mit der Notwendigkeit einer Abwehr drohender Gefahren
oder Einschränkungen begründen (defensives
Lernen). Machtvoll durchgesetzte Lernerwartungen Anderer können defensives Lernen
und Lernwiderstände hervorrufen. Entsprechend gilt es, expansive Lernbegründungen
aufzugreifen und zugleich dabei zu helfen, defensive Lernbegründungen zu überwinden.
Im Mittelpunkt konstruktivistischer Lernkonzepte steht die unverwechselbare Individualität der Weltsicht und der Weltzugänge jedes Lernenden (Arnold & Siebert 2006). Lernen ereignet sich als Fortschreibung ggf. auch
als Umbau und Differenzierung vorhandener Weltkonstruktionen, aber nicht als Übernahme der Weltsichten Anderer. Lernen kann
immer nur an vorangegangen Erlerntes, und
damit an sich selbst anschließen (Autopoiese). Kritisiert werden vor diesem Hintergrund
Konzepte des pädagogischen Geschehens, in
denen von einem festen, für alle gleichen Wissen ausgegangen wird, das beim Lernen vom
einen zum anderen übertragen wird. Vielmehr
wird eine solchermaßen orientierte systematische Anleitung des Lernens Anderer als sinnlos betrachtet, weil Lehrimpulse von jedem
Lernenden in einer je individuellen nicht vorhersehbaren Weise aufgegriffen werden. Versuche, das Lernen Anderer zu steuern, werden
sogar als insofern schädlich angesehen, als dass
sie die Lernenden an der Entfaltung ihrer je individuellen Weltzugänge hindern. Anstatt einheitliche Internalisierungen anzustreben, soll
pädagogisches Handeln entsprechend Möglichkeiten der Weiterentwicklung der je eigenen Weltkonstruktionen bereitstellen.
Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 52
Auch biographische Lerntheorien betonen den
Konstruktionscharakter des Lernens, fokussieren aber stärker die Prozesse des Werdens und
das Geworden-Sein von Weltzugängen in den
je konkreten Lebenssituationen der Lernenden (Alheit & Dausien 2005). In jedem biographischen Moment macht der Lernende Erfahrungen vor dem Hintergrund seiner bisherigen Erfahrungen, die wiederum Grundlage
seines zukünftigen Lebens und Lernens darstellen. Lernprozesse verlaufen dabei nicht linear.
Beim Lernen werden vielmehr Erfahrungen
aus unterschiedlichen, zeitlich teilweise weit
auseinander liegenden Momenten der Biographie situativ miteinander verknüpft. So kommt
es immer wieder auch zu nachträglichen Einsichten und zu Umdeutungen bisheriger Erfahrungen. Was im Rahmen der Erwachsenenbildung gelernt wird, ist damit nur zum einen Teil
dadurch geprägt, was dort konkret geschieht,
zugleich ist das Lernen immer auch durch die
weit über das Erwachsenenbildungsgeschehen
hinausreichenden Biographien derer geprägt,
die an ihm teilnehmen. In diesem Zusammenhang wird auch von einer biographischen
„Zweitprogrammierung“ des Lernens in der
Erwachsenenbildung gesprochen. Besonderes
Augenmerk wird daher auf die je gegenwärtige Lebenssituation der Lernenden sowie auf die
Erzählungen der je eigenen Lebens- und Lerngeschichte gelegt. Der biographischen Strukturiertheit des Lernens kann in der Erwachsenenbildung in unterschiedlichen Arten und Weisen entsprochen werden. Sie kann als Hintergrund jeder Lehr-Lernsituation schlicht unterstellt werden, Biographien und damit Lerngeschichten können aber selbst auch zum Thema
des Erwachsenenbildungsgeschehens gemacht
werden. Zudem wird vorgeschlagen, Veranstaltungen der Erwachsenenbildung gezielt auf die
Bewältigung biographisch bedeutsamer Übergangsereignisse hin zu konzipieren.
Nicht der Orientierung einer Gestaltung
von Lernsituationen, sondern der Ermöglichung reflektierender Beobachtungen des sich
faktisch ereignenden Erwachsenenbildungsgeschehens dient das anhand empirischer Beobachtungen entwickelte Modell der Kommu-
9/10/2014 12:48:12 PM
Lernen
nikation von Lernen (Dinkelaker 2008). Betont wird hier, dass immer dann, wenn Lernen
zum Gegenstand gemeinsamer Anstrengungen
wird, also auch in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung, soziale Zuschreibungen von Lernen (bzw. Nicht-Lernen) stattfinden. Die sich
daraus ergebenden sozialen Realitäten des Lernens entstehen im Zusammenwirken der am
Geschehen Beteiligten und sind Grundlage der
Wahrnehmung bzw. Nicht-Wahrnehmung des
je individuellen Lernens der am Geschehen Beteiligten. Lernen wird somit als etwas verstanden, das nicht isoliert im Inneren von Personen geschieht, sondern als etwas, das erst dadurch zu einem Gegenstand des Erwachsenenbildungsgeschehens wird, dass es in einer
bestimmten Art und Weise (sozial) beobachtet
wird. Die kommunikative Darstellung von Lernen hat eine episodische Struktur, in der drei
Momente wechselseitig aufeinander bezogen
sind. Am Anfang steht die Zuschreibung eines
Wissensbedarfs (Diagnose), dann die Hervorhebung von Ereignissen, die Lernen ermöglichen könnten (Korrektur), am Ende erfolgt die
Zuschreibung einer erfolgten oder ausgebliebenen Wissensveränderung (Evaluation).
4
Empirische Befunde
Unterschiedliche Verfahren, die zur Beobachtung des Lernens Erwachsener eingesetzt werden, erschließen je andere Aspekte.
Experimentelle Studien führen zur Identifikation von Faktoren, die das Lernen Erwachsener beeinflussen. So wird beispielsweise untersucht, wie sich Älterwerden auf Lernfähigkeiten auswirkt.
Befragungen werden genutzt, um etwas
über die Perspektiven erwachsener Lerner auf
ihr eigenes Lernen und das Lernen Anderer zu
erfahren.
Beobachtungsstudien haben die vielfältigen
Formen des Umgangs mit Lernen in unterschiedlichen Kontexten des Lernens Erwachsener zum Gegenstand.
Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 53
53
Veränderung von Lernfähigkeiten
im Lebensverlauf
In experimentellen Studien zu Veränderungen der Lernfähigkeit im Lebenslauf werden
zwei Aspekte voneinander unterschieden und
aufeinander bezogen. Die organisch bedingten Lernkapazitäten, wie Wahrnehmungsund Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie Gedächtnisfähigkeit steigern sich zunächst bis
hin zum frühen Erwachsenenalter (zwischen
25. und 30. Lebensjahr). Danach kommt es zu
ihrem allmählichen, aber kontinuierlichen Abbau (Reinmann 2010). Diese Einbußen in der
„Mechanik“ des Lernens bzw. der sogenannten
„fluiden Intelligenz“ können durch eine bis ins
hohe Alter mögliche Steigerung an kulturellen
Lernfähigkeiten, wie etwa Vorwissen und Lernstrategien, wettgemacht werden. Diese erworbenen Lernfähigkeiten werden als „Pragmatik“
des Lernens oder auch als „kristalline Intelligenz“ bezeichnet. Die Lernfähigkeit einer Person ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen dem möglichen, allerdings nicht zwingenden Zuwachs an erworbener Lernfähigkeit
und dem organisch bedingten stetigen Abbau
von kognitiven Verarbeitungskapazitäten.
Kritik erfahren diese Studien in zweierlei
Hinsicht. Die Befunde sind in Querschnittsuntersuchungen entstanden, weshalb vermutet wird, dass der Befund eines Abbaus von
Verarbeitungskapazitäten auch auf Kohorteneffekte zurückgeführt werden könnte. Zudem
bleibt die Bedeutsamkeit der in Laborexperimenten realisierten Befunde für die konkreten
Lernsituationen, in denen sich Erwachsene befinden, ungeklärt.
Bedeutung des Lernens
für die Lernenden
So zeigen Befragungen von Lernenden, dass
das Lernen Erwachsener mit sehr unterschiedlichen kognitiven Anforderungen verbunden
sein kann, je nachdem, was unter Lernen verstanden wird und welche Formen des Lernens
als relevant erachtet werden.
9/10/2014 12:48:12 PM
54
I AdressatInnen und Teilnahme
Josef Schrader (1994) identifiziert bspw. auf
der Grundlage schriftlicher Befragungen vier
Lerntypen. ‚Theoretiker‘ wollen „Zusammenhänge [. . .] verstehen“, ‚Anwendungsorientierte‘ wollen „herauszufinden, wie man etwas
macht“, ‚Musterschüler‘ und ‚Unsichere‘ versuchen, „sich Wissen anzueignen, das andere
in Stoffplänen zusammengestellt haben“, und
‚Gleichgültige‘ erfahren Lernen als notwendige Pflicht, die „leicht auch zu einer Zumutung
werden kann“.
Auch Interiew-Studien vor dem Hintergrund der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie identifizierten Typen allerdings nicht
bezogen auf Lernverständnisse, sondern bezogen auf Lernbegründungen. Von elementarer Bedeutung erweisen sich in diesem Zusammenhang die jeweiligen Kontexte des Lernens.
So sind bspw. die Lernbegründungen Teilnehmender an Kursen zur Alphabetisierung im Erwachsenenalter eng verknüpft mit ihrer Wahrnehmung gegenwärtiger und zukünftiger Teilhabe in Familie, Gemeinschaft und Beruf. Die
fünf Begründungstypen (teilhabesichernd-resignierend, teilhabesichernd-ambivalent, teilhabeorientiert-ambivalent, teilhabezurückgewinnend-funktional und teilhabeerweiterndvielschichtig) gehen mit unterschiedlichen
Graden der Reflexivität, unterschiedlichen
Lernerfolgserwartungen und mit der Anwendung unterschiedlicher Lernstrategien einher
(Ludwig 2012).
Vor dem Hintergrund biographisch-narrativer Interwiews wird beobachtet, wie die
je individuelle Lebensgeschichte Lernender
ihren Umgang mit Bildung und Lernen prägen. Neben solchen individuellen Bildungsbezügen werden auch kollektive lernbezogene Erfahrungsmuster in spezifischen Berufen,
Milieus und Generationen herausgearbeitet.
Institutionalisierungsformen
des Lernens Erwachsener
Auf der Grundlage von (ggf. tonband- und videogestützten) Beobachtungen werden die
Formen des Umgangs mit Lernen untersucht,
Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 54
die in unterschiedlichen Kontexten des Erwachsenenlebens etabliert sind, und es wird
danach gefragt, welche Dynamiken des Umgangs mit Lernen sich in ihnen entwickeln.
Studien zum Geschehen in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung zeigen eine Vielfalt unterschiedlicher Formen des Umgangs
mit Lernen auf. Während die Ende der 1970er
Jahre durchgeführte Begleitstudie zum Bildungsurlaubs-Versuchs-Programm (BUVEP)
anhand teilnehmender Beobachtungen über
unterschiedliche Typen der didaktischen Organisation hinweg das Problem betont, dass
die je individuellen Perspektiven der Teilnehmenden im Veranstaltungsgeschehen unzureichend berücksichtigt werden, kommt eine auf
Befragungen von Teilnehmenden basierende
Studie zu „Erwachsenenbildung und Identität“
(Kade 1991) zu der Beobachtung, dass ein und
dieselbe Veranstaltung in den unterschiedlichen Erzählungen jedes der Teilnehmenden
gänzlich anders – nämlich je biographisch perspektiviert – wahrgenommen wird. In neueren
videobasierten Untersuchungen zeigen sich
vielfältige Mischungsverhältnisse zwischen
kursleiterdominierten, austauschorientierten
und selbstgesteuerten Formen des Umgangs
mit Lernen, in denen jeweils sowohl kursleiterseitige als auch teilnehmerseitige Aktivitäten der Gestaltung von Lernen wirksam werden (Kade, Nolda, Herrle & Dinkelaker 2014).
Vor dem Hintergrund der These einer zunehmenden Ausweitung des institutionalisierten Lernens Erwachsener über die Erwachsenenbildung hinaus werden seit Beginn der
1990er Jahre verstärkt auch Medien und unterschiedliche soziale Kontexte, insbesondere Betriebe und Vereine daraufhin untersucht, wie
Lernen in ihnen aufgegriffen und gestaltet
wird.
Eine ethnographisch angelegte, komparative Studie zum Umgang mit Wissen und Lernen in sozialen Welten weist auf der Grundlage
von Tonbandmitschnitten, teilnehmenden Beobachtungen und Interviews drei über unterschiedliche Felder hinweg wiederkehrend auftretende Muster des Umgangs mit Lernen in informellen Kontexten auf (Kade & Seitter 2007).
9/10/2014 12:48:12 PM
Lernen
In explizit-intensiven Settings steht der Umgang mit Lernen im Zentrum des Geschehens.
Lehrenden- und Lernendenrollen sind klar
verteilt. Als Problem tritt die Differenz zwischen Lernwartungen Lehrender und Lernbereitschaften der Lernenden in den Vordergrund.
In hybrid-uneindeutigen Settings vermischt
sich der Umgang mit Lernen mit anderen Tätigkeiten. Gerade dieses Zugleich von Lernen
und Anwendung macht die Stabilität dieser
Settings aus. Das Problem der Etablierung und
Aufrechterhaltung solcher Settings besteht in
der situativen Balancierung der Erfordernisse des Erwerbs und der gleichzeitigen Anwendung von Wissen.
Medial-extensive Settings sind dadurch gekennzeichnet, dass die Lehr- bzw. Lernaktivitäten der Beteiligten räumlich und zeitliche voneinander entkoppelt sind. Dadurch wird die
Erreichbarkeit potentieller Lerner durch Wissensvermittlungsangebote einerseits erhöht,
andererseits kann auf die Art und Weise des
Umgangs Lernender mit Vermittlungsangeboten nicht mehr unmittelbar Einfluss genommen werden, was für die Lernenden mit einer
erhöhten Freiheit in der Ausgestaltung ihrer
Lernanstrengungen verbunden ist.
5
Internationale Bedeutung
Analog zur deutschsprachigen Verwendung,
dient der Lernbegriff auch in der internationalen englischsprachigen Diskussion der Betonung der Aktivitäten der Teilnehmenden, hebt
diese mit seiner Verwendung ins Zentrum des
Erwachsenenbildungsgeschehens. Der in den
1970er Jahren entwickelte, bis heute die USamerikanische Diskussion prägende und auch
in Deutschland breit rezipierte Ansatz der Andragogy (Knowles 2007) macht die Besonderheiten des Lernens Erwachsener („adult learning“) zum Ausgangspunkt einer Theorie der
Erwachsenenbildung. Auch neuere englischsprachige erwachsenenpädagogische Model-
Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 55
55
le, etwa transformative learning (Mezirow),
informal learning (Watkins/Marsick) und experiential learning (Kolb), bevorzugen den
Lernbegriff gegenüber seinem Gegenbegriff
„education“ („adult education“, „informal
education“ etc.).
Unter Rückgriff auf den bereits in den
1920er Jahren in den USA geprägten Begriff
„lifelong learning“ betreiben internationale Akteure, insbesondere EU, UNESCO und
OECD, eine globale Bildungsreform, die nicht
nur wie oben bereits dargestellt in Deutschland, sondern auch in anderen Industrie- und
Entwicklungsländern zu je lokal spezifischen
Transformationen des gesellschaftlichen Umgangs mit Lernen führen.
6
Aktuelle Problemlagen und
Ausblick in die Zukunft
Gerade weil der Lernbegriff die Aktivitäten der
Lernenden in den Mittelpunkt stellt, birgt seine Verwendung in bildungspolitischen und
pädagogischen Zusammenhängen nicht nur
die Chance einer Hinwendung zu den je individuellen Perspektiven der einzelnen Lernenden, sondern auch die Gefahr ihrer Vereinnahmung. Mitunter dient er weniger der Betonung, sondern vielmehr der Verschleierung
der unaufhebbaren Differenzen zwischen den
Perspektiven Lehrender und Lernender, was
insbesondere deswegen problematisch ist, weil
diese Differenzen durch Machtverhältnisse geprägt sind (Klingovsky 2009).
Lebenslanges Lernen erweist sich vor diesem Hintergrund zugleich als Verheißung
einer nie endenden Möglichkeit, seinem Lebenslauf eine neue Richtung zu geben, und
als Imperativ, jederzeit und überall sich selbst
zu übertreffen. Die geforderte Selbststeuerung
des Lernens ist zugleich Eröffnung von Gestaltungs- und Entfaltungsräumen und birgt die
Gefahr einer Instrumentalisierung des Selbst
für die Verfolgung von durch andere gewählten
Zwecken des Lernens.
9/10/2014 12:48:12 PM
56
I AdressatInnen und Teilnahme
Will die Erwachsenenbildung angesichts der
Ubiquität der Erwartung Lebenslangen Lernens an dem in ihr entwickelten, biographisch
orientierten Lernbegriff und der mit ihm verbundenen Annahme einer Eigensinnigkeit des
Lernens festhalten, so wird sie auch und zunehmend Nicht-Lernen und Verlernen als notwendige Gegenbegriffe zum Lernen systematisch zu entwickeln haben.
Literatur
Alheit, P. & Dausien, B. (2005): Biographieorientierung
und Didaktik. Überlegungen zur Begleitung biographischen Lernens in der Erwachsenenbildung.
In: REPORT – Literatur- und Forschungsreport
Weiterbildung 28, 3, 27–36
Arnold, R. & Siebert, H. (2006): Konstruktivistische
Erwachsenenbildung. Von der Deutung zur Konstruktion von Wirklichkeit. Baltmannsweiler
Dinkelaker, J. (2008): Kommunikation von (Nicht-)
Wissen. Eine Fallstudie zum Lernen Erwachsener in
hybriden Settings. Wiesbaden
Dinkelaker, J. & Kade, J. (2011): Wissensvermittlung
und Aneignungsorientierung. Antworten der Erwachsenenbildung/Weiterbildung auf den gesellschaftlichen Wandel des Umgangs mit Wissen und
Nicht-Wissen. In: REPORT. Literatur- und Forschungsreport Erwachsenenbildung 34, 2, 24–34
Faulstich, P. & Ludwig, J. (2004): Lernen und Lehren –
aus subjektwissenschaftlicher Perspektive. In: (dies.)
(Hrsg.): Expansives Lernen. Baltmannsweiler, 10–27
Hof, C. (2009): Lebenslanges Lernen. Eine Einführung.
Stuttgart
Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 56
Kade, J. (1992): Erwachsenenbildung und Identität.
Eine empirische Studie zur Aneignung von Bildungsangeboten. 2. Aufl. Weinheim
Kade, J., Nolda, S., Herrle, M. & Dinkelaker, J. (2014):
Videographische Kursforschung. Empirie des Lehrens und Lernens Erwachsener. Stuttgart
Kade, J. & Seitter, W. (2007) (Hrsg.): Umgang mit Wissen. Recherchen zur Empirie des Pädagogischen. 2
Bände. Opladen
Kejcz, Y., Monshausen, K.-H., Nuissl, E., Paatsch, H.-U.
& Schenk, P. (1979): Bildungsurlaubs-Versuchsund Entwicklungsprogramm der Bundesregierung.
Endbericht. 8 Bände. Heidelberg
Klingovsky, U. (2009): Schöne neue Lernkultur. Transformationen der Macht in der Weiterbildung. Bielefeld
Knowles, M. S. (2007): Lebenslanges Lernen. Andragogik und Erwachsenenbildung. München
Ludwig, J. (2012): Lernen und Lernberatung. Alphabetisierung als Herausforderung für die Erwachsenendidaktik. Bielefeld
Reinmann, G. (2010): Bildungspsychologie des mittleren Erwachsenenalters. In: Spiel, C., Schober, B.,
Wagner, P. & Reimann, R. (Hrsg.): Bildungspsychologie. Göttingen, 163–192
Schrader, J. (1994): Lerntypen bei Erwachsenen. Empirische Analyse zum Lernen und Lehren in der beruflichen Weiterbildung. Weinheim
Seitter, W. (2007): Geschichte der Erwachsenenbildung. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Bielefeld
Seitter, W. (2011): Wandel des Professionellen im Feld
der Weiterbildung. In: Helsper, Werner & Tippelt,
Rudolf (Hrsg.): Pädagogische Professionalität.
(Zeitschrift für Pädagogik, 57. Beiheft). Weinheim,
122–137
9/10/2014 12:48:13 PM
Download