Lernen Jörg Dinkelaker 1 Lernen – um was geht es? Lernen ist eine Sammelbezeichnung für die – zum Teil recht unterschiedlichen – Vorgänge, in denen Personen Wissen erwerben und/oder Fähigkeiten entwickeln. Da es eine Frage der – immer auch sozial konstituierten – Bewertung ist, was als Wissen und was als Fähigkeit gelten kann, ist Lernen (anders als der Begriff der Aneignung, Hartz i. d. B. d.) immer schon auf Veränderungserwartungen bezogen, die Lernende an sich selbst oder Andere an die Lernenden haben. In der Erwachsenenbildung wird dennoch der Begriff des Lernens verwendet, um die Eigenständigkeit des auf den Erwerb von Wissen und Fähigkeiten bezogenen Tuns von Teilnehmenden und Adressaten in den Vordergrund zu rücken. So wie im häufig zitierten Bonmot „Erwachsene sind lernfähig, aber unbelehrbar“ wird mit „Lernen“ betont, dass die Lernaktivitäten der Teilnehmenden keineswegs mit den Vermittlungsaktivitäten der Veranstaltungsleitenden zusammenfallen, und dass es letztlich die Teilnehmenden sind, die die intendierten Wirkungen der Erwachsenenbildung hervorbringen. Wenn deutlich werden soll, dass pädagogisches Handeln versucht, dieser Eigenständigkeit der Lernaktivitäten Rechnung zu tragen, werden daher häufig statt Lehren andere Bezeichnungen wie etwa „Lernvermitteln“, „Lernbegleitung“ oder „Lernberatung“ bevorzugt. Analog wird Erwachsenenbildung auch als „organisiertes Lernen Erwachsener“ bezeichnet. Auch wenn das Lernen, das in der Erwachsenenbildung hervorgebracht werden soll, letztlich als Leistung der Teilnehmenden begriffen wird, so wird doch zugleich erwartet, dass sich die besondere Qualität des Lernens im Rahmen der Teilnahme an Erwachsenen- Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 49 bildung aus der systematischen und zielgerichteten Anregung und Begleitung des Lernens ergibt. Welche Art der Unterstützung und Begleitung dem Lernen als angemessen und als zielführend betrachtet wird, hängt wesentlich davon ab, welches Modell von Lernen dieser Einschätzung zugrunde liegt. In der Erwachsenenbildungswissenschaft werden gleich mehrere, konkurrierende Modelle des Lernens und seiner Förderung diskutiert. Der eigentümliche Umstand, dass Lernen im Zentrum des Erwachsenenbildungsgeschehens steht, die Teilnehmenden zu ihrem Lernen der Erwachsenenbildung aber keineswegs notwendig bedürfen, bedeutet erstaunlicherweise keine Schwäche der Erwachsenenbildung, sondern ist vielmehr ein stetiger Motor ihrer Expansion über den eigenen Wirkungskreis hinaus. Selbst für die Förderung des nicht-organisierten alltäglichen und beiläufigen Lernens Erwachsener kann die Erwachsenenbildung mittlerweile eine Zuständigkeit beanspruchen. Das gegenwärtig die Wahrnehmung des Lernens Erwachsener dominierende Konzept des Lebenslangen Lernens forciert diese Ausdehnung der Erwartung eines zugleich eigenständigen und förderungsbedürftigen Lernens über die Erwachsenenbildung hinaus auf alle Lebensalter und auf alle Lebenssituationen (Hof 2009). Die Unterscheidung von formalem (organisiert und abschlussbezogen), non-formalem (organisiert, aber ohne Abschluss) und informellem Lernen (alle anderen Lernzusammenhänge) bringt diese Breite des gesellschaftlich als relevant erachteten Lernens auf einen Begriff. Indem betont wird, dass Lernen sich im je individuellen Lebenslauf der Lernenden fortsetzt und anreichert, wird die Aufgabe der Herstellung eines Kontinuums zwischen den z. T. sehr unterschiedlich organisierten und strukturierten Formen seiner pädagogischen Begleitung den einzelnen Lernenden zugemutet. 9/10/2014 12:48:11 PM I AdressatInnen und Teilnahme 50 Erwachsenenbildung erscheint vor diesem Hintergrund als ein lebensphasenspezifisches Angebot der Unterstützung des letztlich selbst zu verantwortenden individuellen Lernens. Verdeckt wird dabei, dass die Erwachsenenbildung zugleich und in nicht unerheblichem Maße das Lernen Erwachsener prägt, indem sie Lernerwartungen expliziert, Lernbemühungen strukturiert sowie Lernerfolge beobachtet und dokumentiert. Die Attraktivität des Lernbegriffs liegt in der Zukunftsoffenheit, die er den Personen bescheinigt, deren Weltverhältnisse in seinem Lichte betrachtet werden. Nicht-Wissen erscheint mit ihm als eine Chance und Zukunft als ein Potential möglicher Steigerung. Wer lernt, kann seinem Leben eine neue Richtung geben und zum Lernen ist es nie zu spät. Gerade die Durchsetzung des Lebenslangen Lernens lässt allerdings auch die Risiken des Lernens und den Zumutungscharakter von Lernerwartungen deutlicher hervortreten. In dem Maße, in dem sich das lebenslange und alle Lebensbereiche umspannende Lernen zur allgegenwärtigen Erwartung erhebt, wird damit auch Nicht-Lernen zu einer notwendigen und zugleich vom Einzelnen zu verantwortenden Handlungsoption. Im Unterschied zum Lernen von Heranwachsenden ist das Lernen Erwachsener weniger durch Prozesse des Erlernens und mehr durch Formen des Weiterlernens geprägt, was nicht nur Dazulernen, sondern auch immer wieder Umlernen erfordert. Lernen, NichtLernen und Verlernen verweisen insofern im Erwachsenenleben notwendig aufeinander, da immer auch anderes gelernt werden könnte und da das Erlernen einer neuen Sichtweise zugleich auch mit dem Verlernen bisheriger Sichtweisen einhergeht. 2 Historische Dimension Die im 19. Jahrhundert entstandene, bis heute die Wahrnehmung des Lebens und des Lernens prägende Vorstellung eines „Normal- Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 50 lebenslaufs“ (Kohli) lokalisiert den Schwerpunkt der Lernaktivitäten in der ersten von drei Lebensphasen. Auf die Vorbereitungsphase Kindheit und Jugend, in der die Lernenden von der Verpflichtung eines Beitrags zum Lebensunterhalt freigestellt sind, um sich ganz ihren Lernaufgaben zu widmen, folgt die Phase der Anwendung des Gelernten im Erwachsenenalter bei der Realisierung produktiver Aufgaben in Familie, Beruf und Gesellschaft. Im dritten Lebensalter, dem Ruhestand, können dann die Früchte des in der zweiten Lebensphase Erarbeiteten genossen werden. Trotz des mit diesem Lebenslaufmodell verbundenen Schwerpunkts des Lernens in der ersten Lebensphase beschränkt sich die im 18. und 19. Jahrhundert stattfindende Pädagogisierung der Gesellschaft keineswegs auf Heranwachsende. Die im Bürgertum praktizierte gesellige Bildung und die an Handwerker, Arbeiter und Bauern adressierte Volksbildung versteht sich aber nicht lebenslaufbezogen als Vorbereitung auf zukünftige Lebenspraxen, sondern ist vielmehr auf die Höherentwicklung und Aufklärung gesellschaftlicher Praxen hin orientiert (Seitter 2007). Im Rahmen der Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre wird dagegen die Erwachsenenbildung (nun als Weiterbildung bezeichnet) zur vierten Säule des Bildungssystems erklärt und damit in das Paradigma einer öffentlich verantworteten, lebenslaufbezogenen Organisation von Lernen assimiliert. Weiterbildung wird im „Strukturplan für das Bildungswesen“ des Deutschen Bildungsrates definiert als „Fortsetzen oder Wiederaufgreifen organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase“. Anknüpfend an internationale Studien (der UNESCO, „Learning to Be“, und der OECD, „Recurrent Education“), die eine Überwindung des traditionellen Normallebenslaufs unter Einbringung des Begriffs des Lebenslangen Lernens propagieren, wird der bis dahin dominierende Begriff der „Bildung“ zunehmend durch Lernen ersetzt, der sich aufgrund seiner Zieloffenheit als weitaus anschlussfähiger an die Vielzahl von Erwartun- 9/10/2014 12:48:11 PM Lernen gen an Erwachsenenbildung/Weiterbildung erweist und die durchaus widersprüchlichen Anforderungen von Qualifizierung, Teilhabeerweiterung und Demokratisierung zusammenzubinden in der Lage ist. In den 1980er Jahren ist zunächst eine Gegenbewegung gegen die sich durchsetzende Institutionszentrierung des Lernen Erwachsener, verbunden mit der Renaissance eines nun antiinstitutionell ausgerichteten Bildungsbegriffs zu beobachten. Gerade sie bricht paradoxerweise einer Ausdehnung pädagogischer Bezugnahmen über das organisierte Lernen Erwachsener hinaus Bahn. Seit Mitte der 1990er Jahre kommt es zu einer dieses Mal nicht nur international angestoßenen, sondern auch international vollzogenen Neuordnung des gesamten Bildungswesens vor dem Hintergrund eines ausgeweiteten Begriffs des Lebenslangen Lernens. Verbunden mit der Diagnose einer Transformation hin zur Wissensgesellschaft wird eigenständiges und innovatives Lernen als entscheidender Produktivfaktor mit sowohl volks- als auch betriebswirtschaftlicher Bedeutung identifiziert. Jede und jeder ist immer und überall aufgerufen, lernend zur gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen. Lernen wird zu einem Zweck an sich, der unabhängig von den konkreten Gegenständen des Lernens schon allein deshalb bedeutsam wird, weil Lernen in sich die Aussicht birgt, dass es weiteres Lernen nach sich zieht. Da auch jenseits der Erwachsenenbildung/Weiterbildung Lernen als Produktivfaktor erkannt und entsprechende Wissensvermittlung betrieben wird, tendiert die Erwachsenenbildung zunehmend zu einer Spezialisierung auf die Aufgabe der Lernbefähigung (Dinkelaker & Kade 2011). Die Rede von den „neuen Lernkulturen“ weist Pädagogen die Aufgabe der Moderation, der Beratung und der Qualifizierung des Lernens zu, während die Aufgabe der bloßen Wissensvermittlung zunehmend von anderen gesellschaftlichen Akteuren, insbesondere den Medien übernommen wird. Das Bild des Erwachsenen transformiert sich im Zuge dieser Entwicklung. Hatte der Erwachsene aus Sicht des Normallebenslauf des Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 51 51 19. Jahrhunderts noch ausgelernt und war in seiner Entwicklung abgeschlossen, wird er nun im 21. Jahrhundert als unfertig, dynamisch und entwicklungsoffen konzipiert (Seitter 2011, 126). Selbst bis ins hohe Alter hinein werden trotz oder gerade wegen des einsetzenden Abbaus von Fähigkeiten Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Aufbaus neuer, kompensierender Fähigkeiten betont. 3 Theoretische Konzepte Anders als es die wiederholt vorgetragenen Klagen, die Erziehungswissenschaft verfüge über keine eigenen pädagogischen Lerntheorien, vermuten lassen, werden in der Erwachsenenbildungswissenschaft gleich mehrere Varianten pädagogischer Lernkonzepte diskutiert. Wie auch psychologischen Lerntheorien kommt diesen erwachsenenpädagogischen Lerntheorien überwiegend die Funktion zu, pädagogisches Handeln zu orientieren. Wenn das Lehren in der Erwachsenenbildung den Besonderheiten des Lernens Erwachsener gerecht werden soll, so muss Klarheit darin bestehen, worum es sich bei diesem Lernen handelt. Die konkurrierenden erwachsenenpädagogischen Lerntheorien betonen jeweils andere Aspekte des Erwachsenenlernens und leiten daraus entsprechend je unterschiedliche Anforderungen an die Gestaltung von Lernsituationen ab. Allen diesen Konzepten gemein ist eine Betonung der Eigensinnigkeit von Lernaktivitäten, die in der Unverwechselbarkeit der jeweiligen biographischen Situationen der Lernenden begründet liegt: Die aus der kritischen Psychologie Klaus Holzkamps übernommene subjektwissenschaftliche Lerntheorie stellt die Gründe in den Mittelpunkt, die Erwachsene für ihr Lernen haben (Faulstich & Ludwig 2004). Dabei wird konsequent die Perspektive derjeniger eingenommen, die lernen bzw. lernen sollen. Eine subjektive Notwendigkeit des Lernens wird nach dem subjektwissenschaftlichen 9/10/2014 12:48:12 PM 52 I AdressatInnen und Teilnahme Verständnis immer dann wahrgenommen, wenn ich ein Scheitern meiner bisherigen Handlungsroutinen feststelle und in der Erprobung neuer Handlungsweisen das Potential einer Erweiterung meiner Handlungsmöglichkeiten sehe. Die Qualität von Lernprozessen hängt in diesem Modell des Erwachsenenlernens ganz entscheidend davon ab, inwiefern die Lernenden ihr Lernen als einen solchen Prozess der Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen (expansives Lernen), oder ob sie Lernaktivitäten mit der Notwendigkeit einer Abwehr drohender Gefahren oder Einschränkungen begründen (defensives Lernen). Machtvoll durchgesetzte Lernerwartungen Anderer können defensives Lernen und Lernwiderstände hervorrufen. Entsprechend gilt es, expansive Lernbegründungen aufzugreifen und zugleich dabei zu helfen, defensive Lernbegründungen zu überwinden. Im Mittelpunkt konstruktivistischer Lernkonzepte steht die unverwechselbare Individualität der Weltsicht und der Weltzugänge jedes Lernenden (Arnold & Siebert 2006). Lernen ereignet sich als Fortschreibung ggf. auch als Umbau und Differenzierung vorhandener Weltkonstruktionen, aber nicht als Übernahme der Weltsichten Anderer. Lernen kann immer nur an vorangegangen Erlerntes, und damit an sich selbst anschließen (Autopoiese). Kritisiert werden vor diesem Hintergrund Konzepte des pädagogischen Geschehens, in denen von einem festen, für alle gleichen Wissen ausgegangen wird, das beim Lernen vom einen zum anderen übertragen wird. Vielmehr wird eine solchermaßen orientierte systematische Anleitung des Lernens Anderer als sinnlos betrachtet, weil Lehrimpulse von jedem Lernenden in einer je individuellen nicht vorhersehbaren Weise aufgegriffen werden. Versuche, das Lernen Anderer zu steuern, werden sogar als insofern schädlich angesehen, als dass sie die Lernenden an der Entfaltung ihrer je individuellen Weltzugänge hindern. Anstatt einheitliche Internalisierungen anzustreben, soll pädagogisches Handeln entsprechend Möglichkeiten der Weiterentwicklung der je eigenen Weltkonstruktionen bereitstellen. Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 52 Auch biographische Lerntheorien betonen den Konstruktionscharakter des Lernens, fokussieren aber stärker die Prozesse des Werdens und das Geworden-Sein von Weltzugängen in den je konkreten Lebenssituationen der Lernenden (Alheit & Dausien 2005). In jedem biographischen Moment macht der Lernende Erfahrungen vor dem Hintergrund seiner bisherigen Erfahrungen, die wiederum Grundlage seines zukünftigen Lebens und Lernens darstellen. Lernprozesse verlaufen dabei nicht linear. Beim Lernen werden vielmehr Erfahrungen aus unterschiedlichen, zeitlich teilweise weit auseinander liegenden Momenten der Biographie situativ miteinander verknüpft. So kommt es immer wieder auch zu nachträglichen Einsichten und zu Umdeutungen bisheriger Erfahrungen. Was im Rahmen der Erwachsenenbildung gelernt wird, ist damit nur zum einen Teil dadurch geprägt, was dort konkret geschieht, zugleich ist das Lernen immer auch durch die weit über das Erwachsenenbildungsgeschehen hinausreichenden Biographien derer geprägt, die an ihm teilnehmen. In diesem Zusammenhang wird auch von einer biographischen „Zweitprogrammierung“ des Lernens in der Erwachsenenbildung gesprochen. Besonderes Augenmerk wird daher auf die je gegenwärtige Lebenssituation der Lernenden sowie auf die Erzählungen der je eigenen Lebens- und Lerngeschichte gelegt. Der biographischen Strukturiertheit des Lernens kann in der Erwachsenenbildung in unterschiedlichen Arten und Weisen entsprochen werden. Sie kann als Hintergrund jeder Lehr-Lernsituation schlicht unterstellt werden, Biographien und damit Lerngeschichten können aber selbst auch zum Thema des Erwachsenenbildungsgeschehens gemacht werden. Zudem wird vorgeschlagen, Veranstaltungen der Erwachsenenbildung gezielt auf die Bewältigung biographisch bedeutsamer Übergangsereignisse hin zu konzipieren. Nicht der Orientierung einer Gestaltung von Lernsituationen, sondern der Ermöglichung reflektierender Beobachtungen des sich faktisch ereignenden Erwachsenenbildungsgeschehens dient das anhand empirischer Beobachtungen entwickelte Modell der Kommu- 9/10/2014 12:48:12 PM Lernen nikation von Lernen (Dinkelaker 2008). Betont wird hier, dass immer dann, wenn Lernen zum Gegenstand gemeinsamer Anstrengungen wird, also auch in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung, soziale Zuschreibungen von Lernen (bzw. Nicht-Lernen) stattfinden. Die sich daraus ergebenden sozialen Realitäten des Lernens entstehen im Zusammenwirken der am Geschehen Beteiligten und sind Grundlage der Wahrnehmung bzw. Nicht-Wahrnehmung des je individuellen Lernens der am Geschehen Beteiligten. Lernen wird somit als etwas verstanden, das nicht isoliert im Inneren von Personen geschieht, sondern als etwas, das erst dadurch zu einem Gegenstand des Erwachsenenbildungsgeschehens wird, dass es in einer bestimmten Art und Weise (sozial) beobachtet wird. Die kommunikative Darstellung von Lernen hat eine episodische Struktur, in der drei Momente wechselseitig aufeinander bezogen sind. Am Anfang steht die Zuschreibung eines Wissensbedarfs (Diagnose), dann die Hervorhebung von Ereignissen, die Lernen ermöglichen könnten (Korrektur), am Ende erfolgt die Zuschreibung einer erfolgten oder ausgebliebenen Wissensveränderung (Evaluation). 4 Empirische Befunde Unterschiedliche Verfahren, die zur Beobachtung des Lernens Erwachsener eingesetzt werden, erschließen je andere Aspekte. Experimentelle Studien führen zur Identifikation von Faktoren, die das Lernen Erwachsener beeinflussen. So wird beispielsweise untersucht, wie sich Älterwerden auf Lernfähigkeiten auswirkt. Befragungen werden genutzt, um etwas über die Perspektiven erwachsener Lerner auf ihr eigenes Lernen und das Lernen Anderer zu erfahren. Beobachtungsstudien haben die vielfältigen Formen des Umgangs mit Lernen in unterschiedlichen Kontexten des Lernens Erwachsener zum Gegenstand. Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 53 53 Veränderung von Lernfähigkeiten im Lebensverlauf In experimentellen Studien zu Veränderungen der Lernfähigkeit im Lebenslauf werden zwei Aspekte voneinander unterschieden und aufeinander bezogen. Die organisch bedingten Lernkapazitäten, wie Wahrnehmungsund Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie Gedächtnisfähigkeit steigern sich zunächst bis hin zum frühen Erwachsenenalter (zwischen 25. und 30. Lebensjahr). Danach kommt es zu ihrem allmählichen, aber kontinuierlichen Abbau (Reinmann 2010). Diese Einbußen in der „Mechanik“ des Lernens bzw. der sogenannten „fluiden Intelligenz“ können durch eine bis ins hohe Alter mögliche Steigerung an kulturellen Lernfähigkeiten, wie etwa Vorwissen und Lernstrategien, wettgemacht werden. Diese erworbenen Lernfähigkeiten werden als „Pragmatik“ des Lernens oder auch als „kristalline Intelligenz“ bezeichnet. Die Lernfähigkeit einer Person ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen dem möglichen, allerdings nicht zwingenden Zuwachs an erworbener Lernfähigkeit und dem organisch bedingten stetigen Abbau von kognitiven Verarbeitungskapazitäten. Kritik erfahren diese Studien in zweierlei Hinsicht. Die Befunde sind in Querschnittsuntersuchungen entstanden, weshalb vermutet wird, dass der Befund eines Abbaus von Verarbeitungskapazitäten auch auf Kohorteneffekte zurückgeführt werden könnte. Zudem bleibt die Bedeutsamkeit der in Laborexperimenten realisierten Befunde für die konkreten Lernsituationen, in denen sich Erwachsene befinden, ungeklärt. Bedeutung des Lernens für die Lernenden So zeigen Befragungen von Lernenden, dass das Lernen Erwachsener mit sehr unterschiedlichen kognitiven Anforderungen verbunden sein kann, je nachdem, was unter Lernen verstanden wird und welche Formen des Lernens als relevant erachtet werden. 9/10/2014 12:48:12 PM 54 I AdressatInnen und Teilnahme Josef Schrader (1994) identifiziert bspw. auf der Grundlage schriftlicher Befragungen vier Lerntypen. ‚Theoretiker‘ wollen „Zusammenhänge [. . .] verstehen“, ‚Anwendungsorientierte‘ wollen „herauszufinden, wie man etwas macht“, ‚Musterschüler‘ und ‚Unsichere‘ versuchen, „sich Wissen anzueignen, das andere in Stoffplänen zusammengestellt haben“, und ‚Gleichgültige‘ erfahren Lernen als notwendige Pflicht, die „leicht auch zu einer Zumutung werden kann“. Auch Interiew-Studien vor dem Hintergrund der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie identifizierten Typen allerdings nicht bezogen auf Lernverständnisse, sondern bezogen auf Lernbegründungen. Von elementarer Bedeutung erweisen sich in diesem Zusammenhang die jeweiligen Kontexte des Lernens. So sind bspw. die Lernbegründungen Teilnehmender an Kursen zur Alphabetisierung im Erwachsenenalter eng verknüpft mit ihrer Wahrnehmung gegenwärtiger und zukünftiger Teilhabe in Familie, Gemeinschaft und Beruf. Die fünf Begründungstypen (teilhabesichernd-resignierend, teilhabesichernd-ambivalent, teilhabeorientiert-ambivalent, teilhabezurückgewinnend-funktional und teilhabeerweiterndvielschichtig) gehen mit unterschiedlichen Graden der Reflexivität, unterschiedlichen Lernerfolgserwartungen und mit der Anwendung unterschiedlicher Lernstrategien einher (Ludwig 2012). Vor dem Hintergrund biographisch-narrativer Interwiews wird beobachtet, wie die je individuelle Lebensgeschichte Lernender ihren Umgang mit Bildung und Lernen prägen. Neben solchen individuellen Bildungsbezügen werden auch kollektive lernbezogene Erfahrungsmuster in spezifischen Berufen, Milieus und Generationen herausgearbeitet. Institutionalisierungsformen des Lernens Erwachsener Auf der Grundlage von (ggf. tonband- und videogestützten) Beobachtungen werden die Formen des Umgangs mit Lernen untersucht, Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 54 die in unterschiedlichen Kontexten des Erwachsenenlebens etabliert sind, und es wird danach gefragt, welche Dynamiken des Umgangs mit Lernen sich in ihnen entwickeln. Studien zum Geschehen in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung zeigen eine Vielfalt unterschiedlicher Formen des Umgangs mit Lernen auf. Während die Ende der 1970er Jahre durchgeführte Begleitstudie zum Bildungsurlaubs-Versuchs-Programm (BUVEP) anhand teilnehmender Beobachtungen über unterschiedliche Typen der didaktischen Organisation hinweg das Problem betont, dass die je individuellen Perspektiven der Teilnehmenden im Veranstaltungsgeschehen unzureichend berücksichtigt werden, kommt eine auf Befragungen von Teilnehmenden basierende Studie zu „Erwachsenenbildung und Identität“ (Kade 1991) zu der Beobachtung, dass ein und dieselbe Veranstaltung in den unterschiedlichen Erzählungen jedes der Teilnehmenden gänzlich anders – nämlich je biographisch perspektiviert – wahrgenommen wird. In neueren videobasierten Untersuchungen zeigen sich vielfältige Mischungsverhältnisse zwischen kursleiterdominierten, austauschorientierten und selbstgesteuerten Formen des Umgangs mit Lernen, in denen jeweils sowohl kursleiterseitige als auch teilnehmerseitige Aktivitäten der Gestaltung von Lernen wirksam werden (Kade, Nolda, Herrle & Dinkelaker 2014). Vor dem Hintergrund der These einer zunehmenden Ausweitung des institutionalisierten Lernens Erwachsener über die Erwachsenenbildung hinaus werden seit Beginn der 1990er Jahre verstärkt auch Medien und unterschiedliche soziale Kontexte, insbesondere Betriebe und Vereine daraufhin untersucht, wie Lernen in ihnen aufgegriffen und gestaltet wird. Eine ethnographisch angelegte, komparative Studie zum Umgang mit Wissen und Lernen in sozialen Welten weist auf der Grundlage von Tonbandmitschnitten, teilnehmenden Beobachtungen und Interviews drei über unterschiedliche Felder hinweg wiederkehrend auftretende Muster des Umgangs mit Lernen in informellen Kontexten auf (Kade & Seitter 2007). 9/10/2014 12:48:12 PM Lernen In explizit-intensiven Settings steht der Umgang mit Lernen im Zentrum des Geschehens. Lehrenden- und Lernendenrollen sind klar verteilt. Als Problem tritt die Differenz zwischen Lernwartungen Lehrender und Lernbereitschaften der Lernenden in den Vordergrund. In hybrid-uneindeutigen Settings vermischt sich der Umgang mit Lernen mit anderen Tätigkeiten. Gerade dieses Zugleich von Lernen und Anwendung macht die Stabilität dieser Settings aus. Das Problem der Etablierung und Aufrechterhaltung solcher Settings besteht in der situativen Balancierung der Erfordernisse des Erwerbs und der gleichzeitigen Anwendung von Wissen. Medial-extensive Settings sind dadurch gekennzeichnet, dass die Lehr- bzw. Lernaktivitäten der Beteiligten räumlich und zeitliche voneinander entkoppelt sind. Dadurch wird die Erreichbarkeit potentieller Lerner durch Wissensvermittlungsangebote einerseits erhöht, andererseits kann auf die Art und Weise des Umgangs Lernender mit Vermittlungsangeboten nicht mehr unmittelbar Einfluss genommen werden, was für die Lernenden mit einer erhöhten Freiheit in der Ausgestaltung ihrer Lernanstrengungen verbunden ist. 5 Internationale Bedeutung Analog zur deutschsprachigen Verwendung, dient der Lernbegriff auch in der internationalen englischsprachigen Diskussion der Betonung der Aktivitäten der Teilnehmenden, hebt diese mit seiner Verwendung ins Zentrum des Erwachsenenbildungsgeschehens. Der in den 1970er Jahren entwickelte, bis heute die USamerikanische Diskussion prägende und auch in Deutschland breit rezipierte Ansatz der Andragogy (Knowles 2007) macht die Besonderheiten des Lernens Erwachsener („adult learning“) zum Ausgangspunkt einer Theorie der Erwachsenenbildung. Auch neuere englischsprachige erwachsenenpädagogische Model- Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 55 55 le, etwa transformative learning (Mezirow), informal learning (Watkins/Marsick) und experiential learning (Kolb), bevorzugen den Lernbegriff gegenüber seinem Gegenbegriff „education“ („adult education“, „informal education“ etc.). Unter Rückgriff auf den bereits in den 1920er Jahren in den USA geprägten Begriff „lifelong learning“ betreiben internationale Akteure, insbesondere EU, UNESCO und OECD, eine globale Bildungsreform, die nicht nur wie oben bereits dargestellt in Deutschland, sondern auch in anderen Industrie- und Entwicklungsländern zu je lokal spezifischen Transformationen des gesellschaftlichen Umgangs mit Lernen führen. 6 Aktuelle Problemlagen und Ausblick in die Zukunft Gerade weil der Lernbegriff die Aktivitäten der Lernenden in den Mittelpunkt stellt, birgt seine Verwendung in bildungspolitischen und pädagogischen Zusammenhängen nicht nur die Chance einer Hinwendung zu den je individuellen Perspektiven der einzelnen Lernenden, sondern auch die Gefahr ihrer Vereinnahmung. Mitunter dient er weniger der Betonung, sondern vielmehr der Verschleierung der unaufhebbaren Differenzen zwischen den Perspektiven Lehrender und Lernender, was insbesondere deswegen problematisch ist, weil diese Differenzen durch Machtverhältnisse geprägt sind (Klingovsky 2009). Lebenslanges Lernen erweist sich vor diesem Hintergrund zugleich als Verheißung einer nie endenden Möglichkeit, seinem Lebenslauf eine neue Richtung zu geben, und als Imperativ, jederzeit und überall sich selbst zu übertreffen. Die geforderte Selbststeuerung des Lernens ist zugleich Eröffnung von Gestaltungs- und Entfaltungsräumen und birgt die Gefahr einer Instrumentalisierung des Selbst für die Verfolgung von durch andere gewählten Zwecken des Lernens. 9/10/2014 12:48:12 PM 56 I AdressatInnen und Teilnahme Will die Erwachsenenbildung angesichts der Ubiquität der Erwartung Lebenslangen Lernens an dem in ihr entwickelten, biographisch orientierten Lernbegriff und der mit ihm verbundenen Annahme einer Eigensinnigkeit des Lernens festhalten, so wird sie auch und zunehmend Nicht-Lernen und Verlernen als notwendige Gegenbegriffe zum Lernen systematisch zu entwickeln haben. Literatur Alheit, P. & Dausien, B. (2005): Biographieorientierung und Didaktik. Überlegungen zur Begleitung biographischen Lernens in der Erwachsenenbildung. In: REPORT – Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung 28, 3, 27–36 Arnold, R. & Siebert, H. (2006): Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Von der Deutung zur Konstruktion von Wirklichkeit. Baltmannsweiler Dinkelaker, J. (2008): Kommunikation von (Nicht-) Wissen. Eine Fallstudie zum Lernen Erwachsener in hybriden Settings. Wiesbaden Dinkelaker, J. & Kade, J. (2011): Wissensvermittlung und Aneignungsorientierung. Antworten der Erwachsenenbildung/Weiterbildung auf den gesellschaftlichen Wandel des Umgangs mit Wissen und Nicht-Wissen. In: REPORT. Literatur- und Forschungsreport Erwachsenenbildung 34, 2, 24–34 Faulstich, P. & Ludwig, J. (2004): Lernen und Lehren – aus subjektwissenschaftlicher Perspektive. In: (dies.) (Hrsg.): Expansives Lernen. Baltmannsweiler, 10–27 Hof, C. (2009): Lebenslanges Lernen. Eine Einführung. Stuttgart Dinkelaker_Erwachsenenbildung_Indesign_Part 1.indd 56 Kade, J. (1992): Erwachsenenbildung und Identität. Eine empirische Studie zur Aneignung von Bildungsangeboten. 2. Aufl. Weinheim Kade, J., Nolda, S., Herrle, M. & Dinkelaker, J. (2014): Videographische Kursforschung. Empirie des Lehrens und Lernens Erwachsener. Stuttgart Kade, J. & Seitter, W. (2007) (Hrsg.): Umgang mit Wissen. Recherchen zur Empirie des Pädagogischen. 2 Bände. Opladen Kejcz, Y., Monshausen, K.-H., Nuissl, E., Paatsch, H.-U. & Schenk, P. (1979): Bildungsurlaubs-Versuchsund Entwicklungsprogramm der Bundesregierung. Endbericht. 8 Bände. Heidelberg Klingovsky, U. (2009): Schöne neue Lernkultur. Transformationen der Macht in der Weiterbildung. Bielefeld Knowles, M. S. (2007): Lebenslanges Lernen. Andragogik und Erwachsenenbildung. München Ludwig, J. (2012): Lernen und Lernberatung. Alphabetisierung als Herausforderung für die Erwachsenendidaktik. Bielefeld Reinmann, G. (2010): Bildungspsychologie des mittleren Erwachsenenalters. In: Spiel, C., Schober, B., Wagner, P. & Reimann, R. (Hrsg.): Bildungspsychologie. Göttingen, 163–192 Schrader, J. (1994): Lerntypen bei Erwachsenen. Empirische Analyse zum Lernen und Lehren in der beruflichen Weiterbildung. Weinheim Seitter, W. (2007): Geschichte der Erwachsenenbildung. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Bielefeld Seitter, W. (2011): Wandel des Professionellen im Feld der Weiterbildung. In: Helsper, Werner & Tippelt, Rudolf (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. (Zeitschrift für Pädagogik, 57. Beiheft). Weinheim, 122–137 9/10/2014 12:48:13 PM