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Einführung Jugendkulturen in Deutschland bpb.de

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23. 9. 8. 오후 3:32
Einführung | Jugendkulturen in Deutschland | bpb.de
Einführung
Klaus Farin
03.03.2010 / 3 Minuten zu lesen
Sie sind androgyne Wesen, "schwul" oder "weibisch", wie
Goldkettchenträger gerne zu sagen pflegen. Sie hassen Gewalt
jeglicher Art, lösen ihre Konflikte mit Reden und sind ein äußerst
kultur- und bildungsbeflissenes Völkchen – keine andere Jugendkultur
steht so sehr für alles, was Neonazis hassen, wie die "Schwarzen".
Besucher des jährlichen Wave-Gotik-Treffens in Leipzig. (© AP)
Obwohl die Gothicszene erst in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre richtig aufblühte, gehen
ihre Wurzeln bis in die 70er-Jahre zurück. Fragt man Szeneangehörige nach den
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"Erfindern" ihres Stils, fällt vor allem der Name eines Musikers: Robert Smith, Kopf und
Sänger der 1978/79 in Sussex/Großbritannien gegründeten Band The Cure.
Diese war allerdings alles andere als ein "Heilmittel" für die depressive Jugend. Ihre
Konzerte wirkten wie ein "Marathon der Angstzustände", schrieb der Rolling Stone,
"Selbstmord-Rock" assistierte Time Out, "manche Leute machen aus Elend einen Beruf",
spottete der New Musical Express, als Smith wieder einmal von der Bühne herab sein
Publikum mit den aufmunternden Worten empfing: "Du bestehst ja bloß aus drei kranken
Löchern, du bist so 'was von scheißüberflüssig, du bist wie eine schleimige Schnecke am
Boden, du bist zu nichts nutze und abscheulich." Dazu präsentierte sich Robert Smith in
schwarzer Kleidung, mit schwarz gefärbten, hochtoupierten Haaren, die ihm bald nur
noch in wilden Strähnen vom Kopf abstanden, das Gesicht totenblass, die Augen schwarz
umrandet, die Lippen knallrot gefärbt. Ein androgynes, wildes, melancholisches Wesen,
ein Alien von einer fremden Welt, aus einer anderen Zeit, war unter die Menschen gefallen.
Robert Smith, seine visuelle Präsentation, die düstere Atmosphäre seiner frühen Songs,
sein auch in Interviews und diversen Ausrastern hervorbrechender Weltschmerz,
symbolisiert bis heute den idealtypischen Gruftie schlechthin. Allerdings spitzte Robert
Smith nur zu, was bereits im Punk jener Tage angelegt war und auch andere Bands und
manche Straßenpunks ähnlich darboten. So wirbelte die dämonische Punk-Prinzessin
Susan Dallion alias Siouxsie Sioux als Frontfrau der Banshees (Todesfeen) schon 1976 mit
schwarz umränderten Augen im blassen Gesicht durch die Londoner Klubszene - wie viele
Punks der ersten Generation sah sie die Farbe Schwarz als realistisches Abbild der
Gesellschaft. Siouxsie gab mit ihrer Musik und ihren Texten nicht nur dem Punk und New
Wave jener Tage eine deutlich morbidere, introvertiertere Richtung, sie popularisierte auch
die Beschäftigung mit okkulten Symbolen und entsprechenden Themen.
Es waren vor allem Kinder aus den "besseren Familien", die zunächst im Punk die
Möglichkeit sahen, dem gesicherten, aber stinklangweiligen Alltag ihres Lebens und der
Gleichgültigkeit ihrer Eltern zu entfliehen, aber bald merkten, dass sie mit der
Extrovertiertheit der rüden Straßenkinder nicht klarkamen, und sich so nach und nach
zurückzogen und ihre eigene Szene aufbauten; mit Bands, die nicht nur die Schlechtigkeit
der Welt geißelten, sondern auch die schwarzen Seiten in einem selbst anklingen ließen,
Bands, bei denen es sich lohnte, zweimal ins Textheft zu sehen: Siouxsie & the Banshees,
The Cure, Christian Death, Depeche Mode, Bauhaus, Joy Division, Fields of the Nephilim,
Sisters of Mercy.
Die Punks hatten sich seit Ende der 70er-Jahre eine der bis dahin kreativsten und
vielfältigsten Subkulturen aufgebaut - mit eigenen Bands, Kassettenvertrieben und
Plattenlabels, mit Klubs und Jugendzentren, Fanzines und Infoläden - und sich
gleichzeitig vom etablierten Kulturbetrieb radikal abgenabelt. Die bildungsbürgerlich
aufgeschlosseneren Grufties dagegen standen zu keiner Zeit in Fundamentalopposition
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zur Mehrheitskultur. Ihre Rebellion war keine sozial begründete, ihre Provokation keine
politische, sondern eine ästhetische. So suchten und entdeckten sie auch weiterhin in der
etablierten Kultur Parallelen oder gar Vorfahren (zu) ihrer eigenen Kultur. Dabei spielte die
Literatur eine besondere Rolle, bot sie den introvertierten Schwarzen doch als einziges
Medium nicht nur die Möglichkeit des Rückzugs vom Alltagslärm der Gesellschaft,
sondern auch Anlässe und Anregungen für die Beschäftigung mit grundlegenden Fragen
des menschlichen Seins. Autoren wie Hermann Hesse ("Siddharta"), Friedrich Nietzsche
("Also sprach Zarathustra"), H. P. Lovecraft, der misanthrope Schöpfer düsterer
Horrorgeschichten, Feodor Dostojewskij und Nikolai Gogol, die gemütsschweren Russen,
die in ihren Werken immer wieder das menschliche Seelen- und Triebleben untersuchten,
Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus und die schwarzen Romantiker
Novalis ("Ariel") und Charles Baudelaire ("Die Blumen des Bösen") sowie Mary Shelley
("Frankenstein"), Bram Stoker ("Dracula"), Sheridan le Fanu ("Carmilla"), Anne Rice
("Interview mit einem Vampir") und andere Schöpfer von Gothic Novels und
Vampirgestalten bevölkern seitdem die Bücherregale der Schwarzen. Neben Romanen
und Lyrik findet sich auch Sachliteratur, die immer wieder um zentrale Themen kreist: der
Tod und mögliche Welten und Reinkarnationen danach, mittelalterliche und
(kirchenkritische) Religionsgeschichte(n), nordische Mythen, Runenkunde und Esoterik,
Magie und (Neo-)Satanismus (Aleister Crowley, Anton Szandor La Vey).
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