Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 1. Einleitung Was ist eine Nation? Mit dieser Grundsatzfrage beschäftigten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die beiden Philosophen Johann Gottlieb Fichte und Ernest Renan. Der Deutsche Fichte artikulierte seine Gedanken während seiner Vorlesungsreihe Reden an die deutsche Nation (Fichte, 1824). Der Franzose Ernest Renan fragt in der Vorlesung qu'est-ce qu'une nation? danach, was eine Nation eigentlich ist (Renan, 1882). Wie sich diese beiden Schriften hinsichtlich ihrer Inhalte und Auslegungen unterscheiden, soll in dieser Arbeit betrachtet werden. Dabei soll ausserdem analysiert werden, ob sich die Auslegungen in der deutschen Nationalbewegung, welche sich ebenfalls im Laufe des 19. Jahrhunderts formte, wiederfinden lassen. 2. Umstände/Hintergründe zu den Vorlesungen Johann Gottlieb Fichte wurde im Jahre 1762 in Rammenau bei Bischofswerda geboren. Er absolvierte ein Studium der Theologie an den Universitäten der Städte Jena und Leipzig. Dabei wurde er in seinen Arbeiten stark vom deutschen Philosophen Immanuel Kant beeinflusst, was ihm durch gemeinsame Veröffentlichungen auch dabei half, an Aufmerksamkeit zu gelangen. Seine akademische Karriere begann er schliesslich an der Universität Jena, wo er 1794 eine Professur annahm. (Rittner, 2013, S. 79) Fichte fiel dabei vor allem durch seinen Tatendrang auf, eine Eigenschaft, welche sich so auch durch sein Leben ziehen sollte. So ist für ihn einer der drei wichtigsten Punkte nationaler Erziehung die Erziehung zur Tat. Er selbst stellt diesen Tatendrang auch unter Beweis, als er 1813 zur Befreiung der deutschen Nation gegen die französische Besatzung in den Krieg zieht. Als Philosoph jedoch tritt Fichte als Patriot und Verkünder der nationalen Idee des bürgerlichen Nationalstaates auf, die im Kampf gegen Napoleon erreicht werden sollte. Dabei verfolgt er die Zielsetzung, eine einheitliche deutsche Nation zu bilden und das deutsche Volk zum Patriotismus zu erziehen, wobei er in seiner in dieser Arbeit behandelten Vorlesungsreihe Reden an die deutsche Nation zum Kampf gegen die französische Besetzung Deutschland durch Napoleon aufruft. (Bergner, 1962, S. 425) Dabei erarbeitet sich Fichte den Ruf des Philosophen gegen die Besetzung Napoleons (Pauly, 2007, S. 653). Die Schriften von Fichte, welche im Jahr 1808 veröffentlicht wurden, basieren auf 14 Vorlesungen, die dieser von Dezember 1807 bis März 1808 zur Zeit der französischen Besatzung 1 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 abhielt. Die Vorlesungen fanden jeden Sonntag zur Mittagszeit im runden Saal der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin statt und waren frei zugänglich. So sollten möglichst viele Menschen erreicht werden, auch das einfache Volk. Die Vorlesungen waren, wie Fichte es auch in der veröffentlichten Verschriftlichung beschreibt, eine Fortsetzung der Vorlesungsreihe Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, welche er im Winter 1804-05 ebenfalls in Berlin hielt (Fichte, 1824, S. III). Es ist davon auszugehen, dass Fichte sich dabei selbst als einen philosophischen Redner gar Prediger verstand, was den Termin seiner Reden ebenfalls plausibel erscheinen lässt (Rittner, 2013, S. 80). Fichtes Inhalte hinterliessen einen grossen Eindruck auf die Anwesenden, so gross, dass die verschriftlichten Vorlesungen nach dem deutschen Freiheitskrieg von 1813 bis 1815 durch den Deutschen Bund verboten wurden, was die grosse patriotische Bedeutung dieser Reden unterstreicht (Bergner, 1962, S. 425). Ernest Renan, welcher auch als das französische Pendant zu Fichte verstanden werden kann, wurde im Februar 1823 in Tréguier im Norden Frankreichs geboren und studierte Theologie im Pariser Kloster Saint-Sulpice. (Duff, 1893, S. 5) Seine Rede qu'est-ce qu'une nation?, welche zugleich auch seine bekannteste Rede ist, hielt er an der Pariser Universität Sorbonne im März 1882, also 74 Jahre nach Fichtes Vorlesungsreihe. Er argumentiert unter anderem gegen die Auffassung der Nation durch die Anhänger der Französischen Revolution, welche auf Blut und Boden beruhte und auch in Deutschland immer mehr an Popularität gewann (Woolf, 1995, S. 48). Dabei analysiert er die Treiber Sprache, Rasse, Religion, Geografie und Interessensgemeinschaft und widerlegt diese als Pfeiler einer Nation nacheinander. Am Ende kommt er zu dem Schluss, dass eine Nation eine Seele, ein geistiges Prinzip ist, welches im Wesentlichen aus zwei Dingen besteht: Der Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen und der Wunsch gemeinsam zu leben und das erhaltene Erbe hochzuhalten. 3. Vergleich Inhalt/Gedankengut der Vorlesungen 3.1. Vorlesungen Fichtes Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei Fichtes Schrift um insgesamt 14 Reden, welche sich alle mit der Vaterlandsliebe zu Deutschland auseinandersetzen. Rittner (2013) unterteilt die Reden in folgende sechs Themenbereiche: Status Quo, Nationale Erziehung, Fichtes Sprachtheorie, Begriff des Volkes und Vaterlandsliebe, Dauer bis zur Einsatzbereitschaft eines Nationalen Volkes und schliesslich einen Appell an die Zuhörer, sich der aktuellen Situation be2 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 wusst zu werden und daraus Konsequenzen zu ziehen (S. 81-82). Als Status Quo beschreibt Fichte den Untergang Preussens, was für ihn eine Chance des Neubeginns ist. Dabei nennt er als Grund für den Untergang Selbstsucht und eine weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber nationalen Angelegenheiten der Preussen. (Bergner, 1962, S. 425-426) In Fichtes Nationaltheorie nimmt die Sprache einen wichtigen Stellenwert ein. Fichte beschreibt die deutsche Sprache als eine Ursprache, während alle anderen Sprachen lediglich tote Sprachen seien. Dies bedeutet für ihn wiederum, dass das deutsche Volk ein Urvolk sei, welches den anderen Völkern überlegen sei und als einziges Volk an die ewige Weiterexistenz glaube und deswegen auch nach Verbesserung und einem Erbe für Nachfahren strebe. Völker, die nach Fichtes Definition eine tote Sprache sprechen, haben laut seiner Sprachtheorie hingegen keinen Glauben an die ewige Weiterexistenz. (Rittner, 2013, S. 89-90) Ein weiterer zentraler Pfeiler in Fichtes Vorlesungen ist die sogenannte Deutschwerdung im Zuge einer Nationalerziehung (Pauly, 2007, S. 654). Mit diesen Plänen möchte er den Patriotismus fördern, was zu einer höheren Kampfbereitschaft führen solle (Bergner, 1962, S. 426). Als Begründung für diesen Effekt nennt er, dass die Wehrhaftigkeit gegen äussere Mächte nur von einem Volke ausgehen könne, das sich seiner historischen Rolle und Eigenarten bewusst sei. Die wichtigsten Inhalte seiner Nationalerziehung sollen die Erziehung zur Sittlichkeit, Erziehung zur Gemeinschaft und Erziehung zur Tat darstellen, wobei er am meisten Wert auf die Erziehung zur Sittlichkeit legt. (Rittner, 2013, S. 114) Interessant ist dabei auch, dass sich hier sein Tatendrang wieder finden lässt. Durch seine Erziehung zur Sittlichkeit möchte Fichte erreichen, dass der Mensch gar nicht erst überlegen muss sittlich zu handeln, es soll kein Entscheidungsprozess stattfinden. (Rittner, 2013, S. 97) Der Aspekt der Vaterlandsliebe ist für Fichte enorm wichtig für die Autonomie eines Volkes, sie steht über allen anderen vom Menschen erschaffenen Institutionen (Rittner, 2013, S. 85-86). Zu diesem Thema fügt er ausserdem hinzu, dass man zu einem Volk gehören kann oder nicht. Man kann sich allerdings nicht zu einem Volk benennen. (Rittner, 2013, S. 112) 3.2. Vorlesung von Renan Im Gegensatz zu Fichte bezieht sich Renan in seiner Vorlesung nicht auf eine spezifische Nation. Viel eher analysiert er, ob verschiedene Gemeinsamkeiten, wie Ethnie, Interessen, Sprache, Geografie und Religion zur Bildung einer Nation führen können. Ethnische Gemeinsamkeiten schliesst Renan dabei aus, da Nationen wie Frankreich, Italien oder Deutschland allesamt aus verschiedenen Ethnographien bestehen, aber trotzdem einen Staat bilden. 3 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 (Renan, 1882, S. 6-7) Gemeinsame Interessen schliesst Renan ebenfalls aus, diese bilden in seinen Augen lediglich Handelsverträge, in welchen jedoch keine Gefühlsseiten widergespiegelt werden (Renan, 1882, S. 10). Auch sprachliche Gemeinsamkeiten bedeuten keine gemeinsame Nation. Als Beispiel nennt er hierfür Nordamerika und England, Länder, die zwar dieselbe Sprache sprechen, jedoch keine Nation bilden, wohingegen die Schweiz trotz vier verschiedenen Sprachen eine sehr gelungene Nation darstellt (Renan, 1882, S. 8). Die Religion, ein Aspekt, welcher beispielsweise im antiken Athen einen Staat gebildet hat, ist für Renan ebenfalls kein Grund mehr für die Bildung einer Nation, da es heutzutage keine Masse mehr gebe, die auf einförmige Weise glaube und stattdessen jeder seinen Glauben für sich selbst auslege (Renan, 1882, S. 10). Dies gelte auch für geographische Gemeinsamkeiten, welche in seinen Augen zwar einen Anteil an der Einteilung von Nationen hätten, jedoch nicht, wie die Nation, ein geistiges Prinzip darstellten (Renan, 1882, S. 11). Stattdessen definiert Renan eine Nation wie folgt: Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. (Renan, 1882, S. 11) Renan beschreibt die Nation also als ein geistiges Prinzip, welches im Wesentlichen aus den beiden Aspekten Vergangenheit und Gegenwart besteht. Im puncto Vergangenheit legt er ähnlich wie Fichte grossen Wert auf das historische Bewusstsein, welches aber auch in der Gegenwart präsent sein muss. So ist ein weiterer wichtiger Aspekt das tägliche Plebiszit, eine tägliche Bekennung welches die Angehörigen einer Nation vereinen soll. 3.3. Vergleich der Vorlesungen Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die beiden Vorlesungen, welche später verschriftlicht wurden, einige Gemeinsamkeiten haben. Jedoch haben sie jeweils eine anderen Betrachtungsebene. So sind Fichtes Vorlesungen, welche fast ausschliesslich das deutsche Volk behandeln, mehr ein Appell, bei welchem er die Gemeinsamkeiten der deutschen Nation auf4 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 zeigt, während die Vorlesung Renans die Aspekte einer Nation von aussen betrachtet und dafür verschiedene Beispiele heranzieht. Fichte agiert dabei ebenfalls deutlich emotionaler im Gegensatz zu Renan, welcher die Aspekte einer Nation sehr sachlich und nüchtern behandelt. Inhaltlich haben die beiden Vorlesungen aber durchaus einige Gemeinsamkeiten, so ist für beide die Bewusstheit zur Vergangenheit ein sehr zentraler Aspekt. Im Falle Fichtes ist sie ein Teil der Nationalerziehung und wird zudem als Grundlage für die Wehrhaftigkeit einer Nation angeführt. Bei Renan, welcher die Nation als Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart beschreibt, ist sie eine der beiden Kernpunkte für die Bildung einer Nation. Jedoch widersprechen sich die beiden Philosophen auch in einigen Aspekten, so ordnen sie beispielsweise der Rolle der Sprache eine grundlegend andere Bedeutung zu. Für Renan ist sie maximal ein Teil einer Nation, wobei dieser sehr wenig auf diesen Aspekt eingeht. Für Fichte ist die Sprache hingegen eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten einer Nation. Er sieht in der deutschen Sprache den Grund für die Überlegenheit des deutschen Volkes, welche die Grundlage der Weiterexistenz des deutschen Volkes bilde. Die Sprachen anderer Völker bezeichnet Fichte hingegen als tote Sprachen ohne reale Zukunftsperspektive. Abschliessend lässt sich sagen, dass Fichtes Vorlesungen mehr als ein Aufruf zum Widerstand gegen Napoleon verstanden werden können, bei dem er die Gemeinsamkeiten des deutschen Volkes benennt und Deutschland als überlegene Nation bezeichnet. Hingegen versucht Renan in seiner Rede herauszufinden, auf welchen Pfeilern eine Nation aufbaut, dabei wirft er verschiedene Gedanken in den Raum, welche er anhand von Beispielen widerlegt. Renan betrachtet die Bildung einer Nation also eher von aussen, während sich Fichte inmitten des deutschen Nationalbildungsprozess befindet und dabei den Grundstein für das ideelle Gedankengut legt. 4. Bedeutung der Inhalte anhand der deutschen Nationalbewegung im frühen 19. Jhd. 4.1. Einführung in die deutsche Nationalbewegung Nach den Freiheitskriegen Deutschlands von 1813 bis 1815, bei welchen sich Deutschland aus dem Einfluss Napoleons befreite, bildete sich 1815 beim Wiener Kongress der deutsche 5 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 Bund als loses Staatenbündnis, bestehend aus 37 Fürstentümern und vier freien Städten dargestellt in Abbildung 1 (Deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung (1800 - 1848), 2010). Abbildung 1: Deutscher Bund 1815 (abgerufen von https://diercke.westermann.de/content/deutschland-deutscher-bund-1815-978-3-14100870-8-66-1-1) Als Reaktion darauf bildete sich die deutsche bürgerliche Nationalbewegung, welche aus hauptsächlich Studenten bestand, die enttäuscht waren, da der Deutsche Bund für sie alles andere als einen Nationalstaat darstellte (Müller, 1989, S. 51). Die Studenten formten sich darüber hinaus zu Burschenschaften, welche eine wichtige Rolle in der Nationalbewegung einnahmen. In den Burschenschaften versammelten sich vor allem jene Studenten, welche bereits in den Freiheitskriegen für einen deutschen Nationalstaat gekämpft hatten. Den Zweck der Burschenschaften stellte die Einübung von Vaterländischem Bewusstsein und Förderung der Bereitschaft zum Kampf für Freiheit und Ehre dar (Hardtwig, 1994, S. 111). So lautete beispielsweise der in der Konstitution festgehaltene Zweck der Leipziger Burschenschaft: Volksthümliche Ausbildung für den Dienst des Vaterlandes, Aufrechterhaltung und Beförderung der Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Ruhe und Ordnung (Hardtwig, 1994, S. 114). Als wichtigste Burschenschaft lässt sich die Jenaer Urburschenschaft sehen, welche sich 1815 an der Universität Jena bildete und unter anderem die Farben der heutigen deutschen Fahne trug (Kurth & Weidinger, 2017). 6 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 Zur ersten grossen Demonstration der Bewegung kam es schliesslich am 18. Oktober 1817 an der Wartburg, wo sich über 500 Studenten versammelten, um für einen deutschen Nationalstaat zu demonstrieren. In Folge gipfelte dieser Konflikt zwischen dem Deutschen Bund und der deutschen Nationalbewegung in der Ermordung Kotzebues, welcher den Inbegriff der deutschen Fürstenherrschaft darstellte, durch den Urburschenschaftler Karl Ludwig Sand. Als Konsequenz daraus kam es zu einer starken Repression der deutschen Nationalbewegung durch den Deutschen Bund, wodurch diese sich fast vollständig zurückziehen musste. Dieser Rückzug erfolgte unter anderem in Turn- und Gesangsvereine, welche in Folge der Repression politisiert wurden und ebenfalls nationales Gedankengut vermittelten (Düding, 2020, S. 418). Vollständig überwunden wurde die Repression jedoch erst beim Hambacher Fest, wo sich im Frühling 1832 etwa 30.000 Menschen versammelten. In Reden von Teilnehmern wurde den Gedanken der nationalen Einheit und der Beseitigung der Fürstenherrschaft Raum gegeben und es wurde erstmals die schwarz-rot-goldene Flagge geschwenkt. Heute gilt das Hambacher Fest als die Geburtsstunde der deutschen Demokratie. (Blume, 2014) 4.2. Anwendung der Vorlesungen von Fichte und Renan In der deutschen Nationalbewegung lassen sich durchaus Aspekte einer Nation nach der Auslegung von Fichte und Renan finden. Gerade bei Renan lassen sich die beiden Kernpunkte gemeinsame Vergangenheit und Gegenwart wiederfinden. So zogen die Burschenschaftler, welche die Grundlage für die deutsche Nationalbewegung bildeten, in den deutschen Befreiungskämpfen für ihr Land in den Krieg, waren dann aber nicht zufrieden mit dem Ergebnis des Deutschen Bundes. Dies erweckte eine gemeinsame Enttäuschung. Unter dem Aspekt der Gegenwart lässt sich die Repression durch den Deutschen Bund identifizieren, welche auf alle Nationalisten in Deutschland anwendbar war. So wurde eine Art tägliches Plebiszit geschaffen, die tägliche Entscheidung gegen die Repression anzukämpfen. Im puncto Sprache lässt sich die Auslegung von Renan anwenden, nach welcher die Sprache dazu einlädt sich zu vereinigen, allerdings keinen Zwang dazu darstellt (Renan, 1882, S. 8). Die Auslegung von Fichte ist in diesem Fall wohl etwas zu radikal ausgedrückt, schliesslich gibt es keinen sachlichen Grund, warum die deutsche Sprache und damit nach seiner Auslegung auch das deutsche Volk überlegen sein soll. Spannend ist bei der Auslegung der Sprache durch Fichte noch, dass sich diese in gewisser Weise durch die deutsche Geschichte 7 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 zieht. So sieht auch der Nationalsozialismus das deutsche Volk nicht zuletzt wegen seiner Sprache als überlegen an. Seine Auslegung der Bewusstheit der Vergangenheit findet ebenfalls Anwendung. So lässt sich das Konzept der Nationalerziehung in Burschenschaften wiederfinden, welche dieses teilweise sogar als Zweck in ihren Statuten trugen. Dabei lässt sich sogar ein direkter Einfluss von Fichte vermuten, seine einzelnen Unterpunkte wie beispielsweise die Erziehung zur Sittlichkeit lassen sich teilweise wortwörtlich in den Statuten der Burschenschaften wiederfinden. Zu beachten ist bei den beiden Auslegungen, dass diese jeweils zu einer anderen Zeit als auch in einer anderen Situation verfasst wurden und sich mit teilweise sehr unterschiedlichen Inhalten beschäftigen. So hielt Fichte seine Vorlesung während der französischen Besatzung in Deutschland und beschäftigte sich fast ausschliesslich mit Deutschland. Er hatte ausserdem ein anderes Ziel, welches der Appell an das deutsche Volk zum Widerstand war. Renan hingegen beschäftigte sich erst nach der Bildung eines deutschen Nationalstaates mit dem Thema und setzt sich dann auch deutlich sachlicher damit auseinander. 5. Zusammenfassung und Diskussion der Resultate Die Analyse der beiden Vorlesungen beziehungsweise Vorlesungsreihen zeigt, dass beide Philosophen teilweise sehr ähnliche Ansätze verfolgen, ihnen jedoch unterschiedliche Stellenwerte in der Bildung einer Nation zurechnen. Dies ist vor allem deswegen beachtlich, da die beiden Konzepte aus sehr unterschiedlichen Umständen entstanden und teilweise sogar unterschiedliche Motivationen verfolgten. Bezüglich der deutschen Nationalbewegung konnte gezeigt werden, dass sich viele Ansätze der Philosophen wiederfinden lassen. Hauptsächlich sind dies die Grundsätze Fichtes, welcher mit seiner Vorlesungsreihe einen Grundstein für die Bildung einer nationalen Bewegung in Deutschland gelegt hat. So berufen sich beispielsweise viele Burschenschaften auf seine Schriften. Die Gültigkeit der eher grundsätzlichen Ansätze Renans lassen sich bei der deutschen Nationalbewegung ebenfalls nachweisen, vor allem das Zusammenspiel aus Vergangenheit und Gegenwart. 8 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 Literaturverzeichnis Bergner, D. (1962). Die Deutsche Demokratische Republik würdigt Johann Gottlieb Fichte: Zu seinem 200. Geburtstag am 19. Mai 1962. Deutsche Zeitschrift Für Philosophie, 10(4), 417–428. https://doi.org/10.1524/dzph.1962.10.4.417 Blume, D. (2014, Oktober 10). Das Hambacher Fest 1832. Deutsches Historisches Museum, Berlin. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/vormaerz-und-revolution/der-deutsche- bund/das-hambacher-fest-1832.html Deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung (1800 - 1848). (2010, Oktober 18). Deutscher Bundestag. https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/parlamentarismus/anfaenge Düding, D. (2020). Organisierter Gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (18081847). 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Taylor & Francis Group. 10 Friedrich Noske I Die Geschichte des Nationalismus in Europa seit 1750 I 2022 Eigenständigkeitserklärung und Angabe der Seitenzahl «Ich erkläre hiermit, - dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig, ohne fremde Hilfe und ohne Verwendung anderer als der angegebenen Hilfsmittel verfasst habe; - dass ich sämtliche verwendeten Quellen erwähnt und gemäss gängigen wissenschaftlichen Zitierregeln korrekt zitiert habe; - dass ich sämtliche immateriellen Rechte an von mir allfällig verwendeten Materialien wie Bilder oder Grafiken erworben habe oder dass diese Materialien von mir selbst erstellt wurden; - dass das Thema, die Arbeit oder Teile davon nicht bereits Gegenstand eines Leistungsnachweises einer anderen Veranstaltung oder Kurses waren, sofern dies nicht ausdrücklich mit dem Referenten /der Referentin im Voraus vereinbart wurde und in der Arbeit ausgewiesen wird; - dass ich ohne schriftliche Zustimmung der Universität keine Kopien dieser Arbeit an Dritte aushändigen oder veröffentlichen werde, wenn ein direkter Bezug zur Universität St.Gallen oder ihrer Dozierenden hergestellt werden kann; - dass ich mir bewusst bin, dass meine Arbeit elektronisch auf Plagiate überprüft werden kann und ich hiermit der Universität St.Gallen laut Prüfungsordnung das Urheberrecht soweit einräume, wie es für die Verwaltungshandlungen notwendig ist; - dass ich mir bewusst bin, dass die Universität einen Verstoss gegen diese Eigenständigkeitserklärung sowie insbesondere die Inanspruchnahme eines GhostwriterService verfolgt und dass daraus disziplinarische wie auch strafrechtliche Folgen resultieren können, welche zum Ausschluss von der Universität resp. zur Titelaberkennung führen können.» «Mit Hochladen der schriftlichen Arbeit stimme ich mit konkludentem Handeln zu, die Eigenständigkeitserklärung abzugeben, diese gelesen sowie verstanden zu haben und, dass sie der Wahrheit entspricht.» (19.502 Zeichen) 11