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Hans Mathias Kepplinger - Die Mechanismen der Skandalisierung

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Hans Mathias Kepplinger
Die Mechanismen der
Skandalisierung
Warum man den Medien gerade dann nicht vertrauen kann,
wenn es darauf ankommt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-95768-185-0
eISBN 978-3-95768-198-0
4. aktualisierte und erheblich erweiterte Auflage
© 2018 Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek
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Umschlagentwurf: pl / Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek
Umschlagabbildung: © Istockphoto/DSGpro
Satz und Layout: pl / Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek
Inhalt
Vorwort
1. Momente der Gewissheit
2. Was ist ein Skandal?
3. Der Umgang mit Ungewissheit
4. Die Etablierung von Schemata
5. Die Dramatisierung des Geschehens
6. Koorientierung und Konsens
7. Zweck und Mittel
8. Wirkungspotenziale
9. Die Zeit der Empörung
10. Der Umgang mit Nonkonformisten
11. Täter und Opfer
12. Trotz und Panik
13. Gewinner und Verlierer
14. Skandale und publizistische Konflikte
15. Die Illusion der Wahrheit
16. Der Nutzen des Schadens
Literatur
Personenregister
Sachregister
Vorwort
Jeder Skandal ist einzigartig. Trotzdem besitzen alle Skandale gemeinsame
Merkmale. Es geht um einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand,
einen materiellen oder ideellen Schaden, der bereits eingetreten ist oder
eintreten kann. Es gibt einen Täter, der den Missstand tatsächlich oder
angeblich aus niederen Motiven verursacht oder zumindest nicht verhindert
hat und folglich schuldig ist. Dabei kann es sich um eine einzelne Person,
einen Verein, eine Partei, ein Unternehmen usw. handeln. Es gibt eine Welle
von Medienberichten, die den Eindruck vermitteln, dass es sich bei dem
Missstand um ein bedeutendes Problem handelt, und die den Verursacher des
Missstands nahezu einhellig anprangern. Die Medienberichte rufen in der
Bevölkerung eine mehr oder weniger starke Empörung hervor und vermitteln
dem Täter auch dann den Eindruck, er sei Opfer einer Kampagne, wenn er
die Vorwürfe nicht bestreitet.
Skandale kann man unter drei Aspekten betrachten. Man kann den
Verlauf einzelner Skandale rekonstruieren und dabei die Berechtigung der
Vorwürfe untersuchen. Man kann bei einer möglichst großen Zahl von
Skandalen die Rollen einzelner Personen oder Organisationen betrachten –
der Skandalisierer und Skandalisierten, der Medien und ihres Publikums usw.
Und man kann problemorientiert die Mechanismen analysieren, die einen
Missstand zu einem Skandal machen, einen Täter zu einem hilflosen Opfer,
ein desinteressiertes Publikum zu einer empörten Masse und den Skandal zur
Quelle von großen Schäden. Hier geht es um den dritten Aspekt – die
Mechanismen der Skandalisierung. Sie werden anhand zahlreicher Skandale
der jüngeren Vergangenheit analysiert. Im Zentrum steht nicht der Verlauf
einzelner Skandale oder die Frage, wer recht und unrecht hat. Diese
Sachverhalte werden nur angesprochen, um allgemeine Eigenschaften von
Skandalen zu illustrieren – das Verhalten der Protagonisten und der
Journalisten, die charakteristischen Merkmale anprangernder Medienbeiträge;
die Eigendynamik der Berichterstattung, ihren Einfluss auf den Verlauf eines
Skandals; ihre direkten Auswirkungen auf die Protagonisten des Skandals
und das Publikum der Medien sowie ihre indirekten Folgen für die
Gesellschaft. Dazu gehören vor allem die unbeabsichtigten negativen
Nebenfolgen der Skandalisierung von tatsächlichen und vermeintlichen
Missständen.
Die Mechanismen der Skandalisierung werden in 16 Kapiteln dargestellt.
Jedes Kapitel behandelt ein praktisches Problem unter theoretischen
Gesichtspunkten. Dies geschieht anhand von bekannten Fällen aus
verschiedenen Bereichen – angefangen bei der Skandalisierung von BirkelNudeln, Uwe Barschel und der Brent Spar bis zur Skandalisierung von
Christian Wulff, Franz-Peter Tebartz-van Elst und Wolfgang Schäuble, der
Kernenergie, des Sturmgewehrs G36, der Pegida-Demonstrationen, der
Abgasmanipulationen von VW und dem Drogenfund bei Volker Beck. An
zahlreichen
Stellen
werden
Ergebnisse
sozialwissenschaftlicher
Untersuchungen herangezogen – systematische Befragungen von mehreren
hundert Journalisten, Managern und Politikern sowie vergleichende Analysen
von mehreren tausend Skandalberichten in Presse, Hörfunk und Fernsehen.
Sie zeigen die Sichtweisen von Tätern, Opfern und Berichterstattern, die
typischen Unterschiede zwischen neutralen und skandalisierenden Berichten
sowie zwischen publizistischen Konflikten und Skandalen.
Die Vorwürfe gegen die Skandalisierten werden vielfach mit
Erkenntnissen konfrontiert, die sie zweifelhaft erscheinen lassen oder
eindeutig widerlegen. Das geschieht nicht in der Absicht, die Skandalisierer
ex post facto ins Unrecht zu setzen. Vielmehr wird anhand dieser Fälle
deutlich, dass die Wirkung von Skandalisierungen nicht auf der Richtigkeit
der Vorwürfe beruht: Sie wirken auch dann, wenn sie zweifelhaft oder
erkennbar falsch sind, aber überzeugend präsentiert werden. Mit anderen
Worten: Skandale sind keine natürlichen Reaktionen auf Missstände, sondern
die Folge von erkennbaren Mechanismen öffentlicher Kommunikation.
Die Grundlage der Darstellung bildet die Unterscheidung zwischen
Missständen und Skandalen. Sie ist notwendig, weil nicht jeder Missstand
zum Skandal wird und nicht jeder Skandal tatsächlich auf einem Missstand
beruht. Eine weitere Grundlage ist die Unterscheidung zwischen der
Skandalisierung eines Missstands und einem Skandal im engeren Sinn. Sie ist
notwendig, weil die Anprangerung der meisten Missstände keinen Skandal
im engeren Sinn auslöst. Eine dritte Grundlage ist die Unterscheidung
zwischen Skandalen und publizistischen Konflikten. Sie ist notwendig, weil
nur bei Skandalen eine Sichtweise eindeutig dominiert, während bei
publizistischen Konflikten mehrere gegeneinanderstehen.
Was aber ist ein Skandal? Umgangssprachlich bezeichnen wir eine
Fahrpreiserhöhung, eine schlampige Reparatur oder die Ablehnung eines
Antrags als Skandale. Das ist hier nicht gemeint. Ein Skandal im Sinne dieser
Studie liegt nur dann vor, wenn die Mehrheit der interessierten Bevölkerung
mit Empörung auf einen Missstand reagiert und Konsequenzen fordert. Dabei
ist es unerheblich, ob der Missstand tatsächlich besteht oder nicht.
Entscheidend ist die Vorstellung der Mehrheit. Die 16 Kapitel zeigen unter
anderem, weshalb im Skandal alle glauben, sie wüssten genau Bescheid,
obwohl die meisten keine Ahnung haben; weshalb sich alle maßlos empören
und das später kaum noch verstehen; und weshalb sich auch Skandalisierte
als Opfer fühlen, die zugeben, was ihnen vorgeworfen wird. Die einzelnen
Kapitel sind Elemente einer empirisch fundierten Skandaltheorie, die den
Verlauf aktueller Skandale, das Verhalten der Protagonisten und die
Reaktionen des Publikums erklärt sowie ein rationales Urteil über den Nutzen
und Schaden von Skandalen ermöglicht. Ein aufmerksamer Leser wird
deshalb auch in zukünftigen Skandalen gleiche oder ähnliche Elemente und
Verläufe erkennen.
Hans Mathias Kepplinger
Mainz, im Herbst 2017
1. Momente der Gewissheit
Im Skandal kommt die Wahrheit ans Tageslicht – 1985 die Verseuchung von
Birkel-Nudeln durch verdorbenes Flüssigei; 1987 die üblen Machenschaften
des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel gegen den
ahnungslosen Björn Engholm; 1988 die reaktionäre Rede von
Bundestagspräsident Philipp Jenninger über das Dritte Reich; 1991 die Ölpest
im Persischen Golf als Folge des Golfkrieges und die Flugreisen von
Ministerpräsident Lothar Späth auf Kosten der Industrie; 1993 die kaltblütige
Erschießung von Wolfgang Grams auf dem Bahnhof in Bad Kleinen und die
Gefährdung der Bevölkerung durch einen Chemieunfall bei der Hoechst AG;
1995 die ökologische Bedrohung der Nordsee durch die geplante Versenkung
der Brent Spar; 1999 die geheimen Konten der CDU und der
Verfassungsbruch Helmut Kohls durch die nichtdeklarierte Annahme von
anonymen Spenden; 2000 die Vernichtung von Daten im Bundeskanzleramt
vor dem Regierungswechsel, der Kokainkonsum von Christoph Daum und
die BSE-Gefahr durch in Deutschland geborene Rinder; 2001 der Tod von
Patienten nach der Einnahme von Lipobay.
Im Wahljahr 2002 ging es um die private Nutzung von Bonusmeilen
durch Cem Özdemir und Gregor Gysi, die Bezahlung einer
Boutiquenrechnung von Rudolf Scharping durch die PR-Agentur Hunzinger,
eine Privatreise der Hanauer Oberbürgermeisterin Margret Härtel auf Kosten
der Stadt, die Gefährdung der Verbraucher durch Nitrofen belastetes
Futtergetreide; 2003 um die dunklen Finanzquellen von Jürgen W.
Möllemann, die »Opfervolk«-Rede des CDU-Abgeordneten Martin
Hohmann, die Kokainorgien des Fernsehjournalisten Michel Friedman und
die Lungenseuche SARS; 2004 um die Silvesterfeier der Familie von
Bundesbankpräsident Ernst Welteke auf Kosten der Dresdner Bank, den
Autobahnraser Rolf F. wegen des Todes einer jungen Mutter und ihres
Kindes, den Ausbruch der Vogelgrippe und die tödlichen Nebenwirkungen
des Rheumamittels Vioxx.
2005 wurden der massenhafte Missbrauch der neuen Visa-Regelung von
Ludger Volmer und Joschka Fischer skandalisiert, die Lustreisen von VWBetriebsräten auf Kosten des Unternehmens, die Berufung von Altkanzler
Gerhard Schröder in den Aufsichtsrat eines russischen Unternehmens. 2006
wurden der Tod von 15 Menschen durch den Einsturz des Dachs der
Eissporthalle in Bad Reichenhall, die Bespitzelung von Journalisten durch
den BND und die Mitgliedschaft von Günter Grass in der Waffen-SS
skandalisiert; 2007 der Brand eines Transformators im AKW Krümmel, die
Schwangerschaft der Geliebten von Minister Horst Seehofer, die Behauptung
von Günther Oettinger, Hans Filbingers Urteile als Marinerichter hätten
niemanden das Leben gekostet sowie das Bedauern der Fernsehjournalistin
Eva Herman über die Beseitigung des nationalsozialistischen Mutterbildes
durch die 68er-Bewegung.
2008 ging es um den Verdacht der Steuerhinterziehung von Klaus
Zumwinkel und seine Verhaftung vor laufenden Kameras, das illegale
Ausspionieren von Mitarbeitern der Telekom und von Lidl; 2009 um das
Filtern von E-Mails der Mitarbeiter der Deutschen Bahn, die private Nutzung
des Dienstwagens von Ministerin Ulla Schmidt und die Gefahr einer
Pandemie durch die Schweinegrippe; 2010 um den sexuellen Missbrauch von
Schülern durch Lehrer der Odenwaldschule, die Ohrfeigen von Bischof
Walter Mixa während seiner Tätigkeit als Stadtpfarrer, den Tod von 21
Menschen bei der Loveparade in Duisburg, die Anzeige des
Wettermoderators Jörg Kachelmann wegen Vergewaltigung, die Äußerung
von Bundespräsident Horst Köhler über den Einsatz militärischer Mittel zur
Sicherung von Arbeitsplätzen, die Plagiate in der Dissertation von
Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, den Ehec-Tod von 53
Menschen, die geplante Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs (Stuttgart 21)
und dioxinbelastetes Hühnerfutter.
2011 wurden in Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe bei
Fukushima die deutschen Kernkraftwerke skandalisiert, der angebliche
Augenzeugenbericht von René Pfister über eine Szene im Haus von Horst
Seehofer, das Verhältnis des CSU-Vorsitzenden in Schleswig-Holstein,
Christian von Boetticher, mit einer damals 16-Jährigen, die Lustreisen von
Mitarbeitern der Hamburg-Mannheimer und Wüstenrot nach Budapest und
Rio de Janeiro, die Finanzierung des Einfamilienhauses und die
Schnäppchenmentalität von Bundespräsident Christian Wulff. 2012 wurde
die Schleichwerbung in »Wetten dass..?« skandalisiert, der mehrjährige
Zwangsaufenthalt Gustl Mollaths in einer psychiatrischen Anstalt, die
unzureichenden Zitierweisen von Annette Schavan in ihrer Dissertation und
die Vortragshonorare des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück; 2013 eine
anzügliche Bemerkung des FDP-Politikers Rainer Brüderle gegenüber der
Journalistin Laura Himmelreich, der Pädophilie-Verdacht gegen Daniel
Cohn-Bendit, die Steuerhinterziehung von Uli Hoeneß, die Luxusrenovierung
des Bischofssitzes von Franz-Peter Tebartz-van Elst, die Beschäftigung der
Verwandten von CSU-Abgeordneten im Landtag und die Entscheidung von
Susanne Gaschke zu einem kostspieligen Vergleich mit einem
Steuerschuldner.
2014 ging es um die Manipulation des ADAC bei der Kür des
»Lieblingsautos der Deutschen«, Wolfgang Schäubles Vergleich der
drohenden Besetzung der Ost-Ukraine mit dem Anschluss des Sudetenlandes
durch Hitlerdeutschland, Innenminister Hans-Peter Friedrichs Information an
Sigmar Gabriel über Ermittlungen gegen Sebastian Edathy, die Manipulation
von Bestenlisten durch ARD und ZDF, Edathys Kauf der Nacktfotos von
Kindern, den Crystal Meth-Konsum des SPD-Abgeordneten Michael
Hartmann, Sibylle Lewitscharoffs Vergleich der künstlichen Befruchtung von
Leihmüttern mit der Praxis in »Kopulationsheimen« der Nazis, den Handel
von Hubert Haderthauer und seiner Frau mit Modellautos aus der Fertigung
eines Psychiatrie-Insassen, die islam- und fremdenfeindlichen PegidaDemonstrationen sowie um den tödlichen Angriff des »Killers« und
»Komaschlägers« Sanel M. auf Tugce Albayrak. 2015 wurden die
Zusammenarbeit von BND und NSA skandalisiert, die Treffsicherheit des
Sturmgewehrs G36 bei Dauerfeuer, das krebsgefährdende Pestizid Glyphosat,
die geringen Zahlungen an die Hinterbliebenen der GermanwingsKatastrophe, die Identifikation einer Medienquelle im Bundeskanzleramt, der
Vorschlag Wolfgang Schäubles zu einem »Grexit auf Zeit«, die
Einschüchterung von Journalisten durch Ermittlungen gegen Netzpolitik.org,
die Schwarzgeldzahlungen vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die
katholische Kita in Mainz-Weisenau wegen Quälereien von Kita-Kindern
durch Kita-Kinder, die Nominierung von Xavier Naidoo für den Eurovision
Song Contest wegen seiner politische Meinung, der Verzehr von Wurst weil
sie laut WHO das Krebsrisiko um 18 Prozent erhöht, der Schriftsteller Akif
Prinçci wegen seines Bedauerns über die Schließung der KZ bei einer
Pegida-Kundgebung und die Manipulation von Abgasmessungen von VW
mit Hilfe eines Computerprogramms. 2016 begann mit der Skandalisierung
der sexuellen Belästigungen von Frauen durch Migranten in der Kölner
Silvesternacht. Es folgten die Skandalisierungen Franz Beckenbauers wegen
einer verschleierten Zahlung von 6,7 Millionen Euro vor der Fußball WM in
Deutschland und des innen- und religionspolitischen Sprechers der Grünen,
Volker Beck, wegen eines Drogenfundes, der Existenz von 214.000
geheimen Briefkastenfirmen in Panama und der satirischen Schmähkritik des
Türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan von Jan Böhmermann.
Im Skandal werden die Schuldigen bestraft. Der Absatz von BirkelNudeln brach ein, ca. 500 Mitarbeiter mussten entlassen werden, Jenninger
und Späth mussten von ihren Ämtern zurücktreten. Barschel wurde
abgewählt und starb unter ungeklärten Umständen in einem Genfer Hotel.
Innenminister Seiters trat nach dem Einsatz der GSG 9 in Bad Kleinen
zurück, Generalbundesanwalt von Stahl wurde entlassen. Die Hoechst AG
musste Schadensersatz in Millionenhöhe leisten und litt noch Jahre später
unter dem Imageverlust. Die Brent Spar wurde nicht versenkt. Shell ließ sie
nach Norwegen schleppen und musste die erhöhten Kosten für die
Abwrackung an Land tragen. Kohl legte den Ehrenvorsitz der CDU nieder,
die gesamte Führung der CDU wurde abgelöst, die Partei verlor zwei sicher
geglaubte
Landtagswahlen.
Daum
wurde
nicht
Trainer
der
Nationalmannschaft und musste seinen Trainerposten bei Bayer Leverkusen
aufgeben. Özdemir legte sein Bundestagsmandat nieder, Gysi trat als Berliner
Wirtschaftssenator zurück. Hohmann wurde aus der CDU/CSU-Fraktion und
der
hessischen
CDU
ausgeschlossen.
Scharping
wurde
als
Verteidigungsminister entlassen. Härtel wurde von der Hanauer Bürgerschaft
abgewählt. Friedman musste seine Fernsehsendungen abgeben und
verzichtete auf das Amt des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in
Deutschland. Bundesbankpräsident Welteke trat zurück. Wegen der
nitrofenbelasteten Futtermittel wurden 500 landwirtschaftliche Betriebe
gesperrt. Wegen des Lipobay-Skandals stürzte der Kurs der Bayer-Aktien
von fast 40 auf 10 Euro. Zudem musste das Unternehmen mehr als 200
Millionen Euro Schadensersatz leisten. Möllemann sprang in den Tod,
während über 100 Beamte an zahlreichen Orten im In- und Ausland seine
Büros und Privatwohnung durchsuchten.
Volmer legte im Zuge der Visa-Affäre seinen Sitz im Auswärtigen
Ausschuss und seine Funktion als außenpolitischer Sprecher der
Bundestagsfraktion der Grünen nieder. Der VW-Personalvorstand Hartz trat
als Folge des VW-Skandals zurück und wurde wie weitere Mitarbeiter zu
einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Zwei leitende Mitarbeiter der Firma
Vattenfall, die das Kernkraftwerk Krümmel betreibt, wurden entlassen, der
Vorstandsvorsitzende von Vattenfall Europa trat zurück. Der NDR beendete
nach der Äußerung von Herman die Zusammenarbeit mit ihr und Johannes B.
Kerner verwies sie demonstrativ aus seiner Talkshow. Zumwinkel wurde zu
einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren und Geldzahlungen in
Millionenhöhe verurteilt, Lidl zahlte wegen der Bespitzelung seiner
Mitarbeiter ein Bußgeld in Millionenhöhe. Mehdorn musste wegen der
Datenaffäre als Bahnchef zurücktreten, Bischof Mixa wegen der massiven
Kritik an seinen Prügelstrafen. Kachelmann verlor seine Rolle als
Wettermoderator im Fernsehen, seine Firma den Auftrag zur Produktion der
Sendungen. Bundespräsident Köhler trat nach der Kritik an seiner Äußerung
zum
Einsatz
der
Bundeswehr
zurück,
zu
Guttenberg
als
Verteidigungsminister. Dem Hersteller des dioxinbelasteten Tierfutters,
Harles & Jentzsch, drohte die Insolvenz, mehrere Angestellte erhielten
Morddrohungen. Die Jury des Henri-Nannen-Preises erkannte Pfister den
Preis ab. Die Staatsanwaltschaft Duisburg erhob wegen der Durchführung der
Loveparade 2010 Anklage gegen 10 Personen, der Duisburger
Oberbürgermeister Adolf Sauerland wurde aufgrund eines Bürgerentscheids
abgewählt.
Die deutschen Kernkraftwerke wurden nach der Reaktorkatastrophe in
Fukushima mit Verweis auf ungeklärte Sicherheitsfragen vorübergehend
abgeschaltet, der vorgezogene Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen.
Wulff trat vom Amt des Bundespräsidenten zurück und wurde wegen
Vorteilsnahme angeklagt. Das Strafverfahren gegen Mollath wurde wieder
aufgenommen, die fragwürdige Beschäftigung der Verwandten von CSUAbgeordneten beendet. Schavan wurde der Doktortitel aberkannt. Steinbrück
hatte die Wahl schon verloren, bevor der Wahlkampf begann. Brüderle war
so beschädigt, dass er in der Politik keine Rolle mehr spielt. Hoeneß wurde
zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Tebartz-van Elst verlor sein
Bischofsamt. Die Kieler Oberbürgermeisterin Gaschke trat zurück. Der
ADAC verlor eine halbe Million Mitglieder. Innenminister Hans-Peter
Friedrich trat zurück. ARD und ZDF erklärten, die Manipulationen von
Zuschauerabstimmungen seien nicht hinnehmbar. Edathy gab sein
Bundestagsmandat auf und versteckte sich an einem unbekannten Ort.
Hartmann legte sein Amt als innenpolitischer Sprecher der SPD nieder.
Lewitscharoff sah sich nach ihrer Dresdner Rede einem Sturm der Entrüstung
ausgesetzt, bei dem sich auch der Suhrkamp Verlag, in dem ihre Bücher
erscheinen, von ihr distanzierte. Haderthauer trat als Chefin der Bayerischen
Staatskanzlei
zurück.
Pegida-Demonstranten
wurden
von
Gegendemonstranten niedergebrüllt und mit Gegenständen beworfen. Sanel
M. wurde wegen des tödlichen Angriffs auf die Studentin Tugce zu drei
Jahren Jugendstrafe verurteilt. Die Klassifikation von Glyphosat als
»wahrscheinlich krebserregend« durch die WHO machte die 2016 anstehende
Neuzulassung durch die EU-Kommission fraglich.
Der Spiegel stellte wegen der Identifikation eines Informanten durch die
NSA Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft. Der BND schränkte die
Zusammenarbeit mit der NSA ein. Das Sturmgewehr G36 hat laut
Verteidigungsministerin von der Leyen in seiner jetzigen Auslegung in der
Bundeswehr »keine Zukunft mehr«. Schäuble wurde als »Totengräber der
Eurozone« geschmäht, das Brüsseler Verhandlungsergebnis als »Diktat«
geächtet. Generalbundesanwalt Harald Range wurde, nachdem er die
Ermittlungen gegen Netzpolitik.org verteidigt hatte, von Justizminister Heiko
Maas in den Ruhestand versetzt. Wolfgang Niersbach, Vizepräsident des
Organisationskomitees der Fußball-WM 2006, trat vom Amt des DFBPräsidenten zurück. Die Leiterin der katholischen Kita sowie weitere
Angestellte wurden vom Bistum wegen Vernachlässigung ihrer
Aufsichtspflicht fristlos entlassen. Der NDR zog die Nominierung von
Naidoo für den European Song Contest zurück und der Buchhandel stellte
den Vertrieb von Prinçcis Büchern ein. Der VW-Vorstandsvorsitzende,
Martin Winterkorn, trat zurück, die VW-Aktie verlor in wenigen Tagen 20
Prozent ihres Wertes. Nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht
ermittelte die Bundespolizei innerhalb von zwei Wochen 32 Tatverdächtige,
der Innenminister versetzte den Kölner Polizeipräsidenten, Wolfgang Albers,
in den einstweiligen Ruhestand. Franz Beckenbauer beendete seine
Zusammenarbeit mit Sky und verschwand weitgehend aus der Öffentlichkeit.
Volker Beck gab seine Funktionen als innen- und religionspolitischer
Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen auf. Das ZDF nahm die
Schmähkritik aus seiner Mediathek, Böhmermann sagte die folgende
Sendung ab, die Bundesregierung ließ eine Klage nach § 103 des
Strafgesetzbuchs gegen Böhmermann zu.
Angesichts solcher und ähnlicher Vorgänge erscheint es nicht
verwunderlich, dass die Süddeutsche Zeitung (18./19.03.2000) während des
CDU-Spendenskandals den Skandal als »Instrument der Aufklärung«
bezeichnete, in dem die »bürgerliche Öffentlichkeit … in multimedialer
Verwandlung überlebt«. Damit nicht genug. Nach Ansicht des Soziologen
Karl Otto Hondrich kann »die Bedeutung des politischen Skandals für
demokratische Herrschaft … kaum überschätzt werden«. Sie geht jedoch
darüber hinaus: »Der Skandal gewährt Einblick in die Tiefenschichtung der
Moral. Wie ein Taucher mit Scheinwerfer leuchtet er in die Dunkelheit einer
Unterwelt … Unterhalb der politischen Kultur und der Kultur schlechthin
lebt eine Sub-Kultur von moralischen Grundvorgängen, die es eigentlich
nicht mehr geben dürfte … Was sich im Skandal enthüllt, muss, im Lichte
der herrschenden Moral, als Unmoral abqualifiziert werden.«1 Trifft diese
Charakterisierung von Skandalen zu? Daran darf gezweifelt werden.
In einigen Fällen waren die meisten Berichte irreführend oder gänzlich
falsch, obwohl die Fakten erkenn- oder recherchierbar waren. Die Firma
Birkel hatte sofort falsche Behauptungen über ihre Produkte zurückgewiesen.
Sie drang bei der Masse der Medien damit aber nicht durch. Die Feststellung
der Hoechst AG, dass ortho-Nitroanisol »mindergiftig« ist, war sachlich
richtig, wurde jedoch als Verharmlosung der tatsächlichen Gefahren
dargestellt. Die Brent Spar enthielt nicht, wie Greenpeace auf dem
Höhepunkt des Skandals suggeriert hatte, 5.500 Tonnen Ölrückstände,
sondern entsprechend den Angaben von Shell weniger als 200. Zudem wäre
die Versenkung der Brent Spar billiger, ungefährlicher und ökologisch
verträglicher gewesen als ihre Abwrackung in Ufernähe. Das Verfahren
gegen Kohl wegen nicht ordnungsgemäß gemeldeter Spenden wurde von der
Bonner Staatsanwaltschaft 2001 gegen Zahlung einer Geldbuße von 300.000
Euro eingestellt.2 Von einem Verfassungsbruch war nicht mehr die Rede,
weil es sich um einen Verstoß gegen das Parteiengesetz handelte. Mit der
Annahme der Spenden hatte Kohl genauso wenig gegen die Verfassung
verstoßen wie ein Journalist, der das Jugendschutzgesetz verletzt. Die
Ermittlungen wegen des Verdachts der Vernichtung von Akten im
Bundeskanzleramt wurden 2003 eingestellt, weil die Staatsanwaltschaft keine
Belege dafür fand. Die Boutiquenrechnung von Scharping wurde nicht von
der PR-Agentur Hunzinger bezahlt.3 Kachelmann wurde 2011 vom
Landgericht Mannheim nach einem Strafprozess mit höchst fragwürdiger
Medienbegleitung freigesprochen. zu Guttenberg hatte nicht bestritten, dass
er fremde Texte ohne Quellenangabe benutzt hatte, sondern dass er es
bewusst gemacht habe. Das wurde weder bewiesen, noch widerlegt. Köhler
paraphrasierte in seinen Aussagen zur Anwendung militärischer Mittel das
UN-Mandat zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sowie Erklärungen
des Europäischen Rats. Die Krebsbehörde der WHO (IARC) schätzt im
Unterschied zum Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) keine Risiken
ein, sondern Gefahren. Bei der Einschätzung der Gefahren wird festgestellt,
ob ein Stoff unter Laborbedingungen in sehr großen Mengen Krebs auslösen
kann. Das trifft unter anderem auf Alkohol und Nikotin zu. Bei der
Einschätzung der Risiken wird festgestellt, mit welcher Wahrscheinlichkeit
ein Stoff unter realistischen Bedingungen Krebs auslösen kann. Genau darum
geht es bei der Einschätzung der mit Glyphosat verbundenen Risiken. Sie
sind nach Einschätzung des BfR vernachlässigbar. Schäubles Vorschlag eines
»Grexits auf Zeit« war kein Diktat. Vielmehr hatte die griechische Regierung
selbst einen Grexit vorbereitet, aufgrund des von Schäuble erreichten
Verhandlungsergebnisses
aber
nicht
durchgeführt.
Die
Schadensersatzzahlungen der Lufthansa an die Hinterbliebenen der
Germanwings-Opfer waren alles andere als gering. Das Unternehmen zahlte
50.000 Euro Soforthilfe, dazu 25.000 Euro Schmerzensgeld und 10.000 Euro
an nähere Verwandte. Zudem zahlt die Lufthansa den überlebenden
Ehepartnern von berufstätigen Partnern bis zu deren potenziellem Rentenalter
Verdienstausfälle von bis zu einer Million Euro. Ein Gutachten im Auftrag
des Verteidigungsministeriums stellte fest, dass das Sturmgewehr G36 im
Unterschied zu amerikanischen und britischen Sturmgewehren nicht
störanfällig ist und auch nach mehreren Jahren und über 100.000 Schüssen
noch präzise schießt. Todesfälle und Verletzungen, die auf Mängel der Waffe
zurückgeführt werden können, gibt es nicht. Mehrere Soldaten haben mit
dem G36 Vergleichsschießen mit anders bewaffneten Verbündeten überlegen
gewonnen. Die Beschuldigungen gegen die Mitarbeiterinnen der katholischen
Kita erwiesen sich als falsch, das Bistum musste die Kündigung der
ehemaligen Leiterin der Kita zurücknehmen. Das Risiko von Darmkrebs
steigt nicht wie von der WHO gemeldet von z. B. 5 Prozent um 18 Prozent
auf 23 Prozent, sondern von 5 auf 5,9 Prozent – was dem irreführenden Wert
von 18 Prozent entspricht. Die Verdächtigungen Prinçcis waren falsch. Sein
Bedauern über die Schließung der KZ bezog sich nicht ernsthaft auf die
Flüchtlinge sondern ironisch auf die Kritiker der Flüchtlingspolitik der
Bundesregierung.
In einigen Fällen standen die unbeabsichtigten negativen Nebenfolgen in
keinem Verhältnis zu den Ursachen. Die Skandalisierung Barschels, dessen
Verhalten auch deshalb so empörend erschien, weil die Mitwisserschaft
Engholms nicht bekannt war, endete mit dem Mord oder Selbstmord des
teilweise zu Unrecht Beschuldigten.4 Auch der Tod von Möllemann steht in
keinem Verhältnis zu den Anschuldigungen gegen ihn. Die Absage der
Hoechst AG an eine stadtgängige Chemie und die Aufgabe der meisten
Betriebe in Frankfurt-Höchst waren auch Folgen der Skandalisierung des
Unternehmens wegen der Störfallserie im Frühjahr 1993 – tatsächlich gab es
drei Störfälle sowie zahlreiche Betriebsstörungen minderer Bedeutung, die
normalerweise kaum beachtet werden.5 Als Folge des BSE-Skandals verloren
etwa 10.000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz. Der Rindfleischmarkt brach
zusammen, über 80.000 Rinder wurden notgeschlachtet und auch dann
vernichtet, wenn sie nicht infiziert waren. Die Belastung von Futtermitteln
mit Nitrofen war so gering, dass zu keiner Zeit eine Gefahr für die
Verbraucher bestand. Man hätte 200.000 Eier essen müssen, um den
zulässigen Grenzwert zu erreichen. Trotzdem wurden mehrere hundert
Betriebe stillgelegt, tausende Masthähnchen und Legehennen notgeschlachtet
und verbrannt. An der Schweinegrippe sind in Deutschland 258 Menschen
gestorben, an der saisonalen Grippe sterben jährlich zwischen 10.000 und
20.000 Menschen. An Ehec-Erkrankungen sind in Deutschland 58 Menschen
gestorben, jedes Jahr sterben hier aber etwa 15.000 Menschen an Infektionen,
die sie sich in Krankenhäusern zugezogen haben. Als Folge der EhecBerichterstattung brach der Markt für Gurken und anderes Gemüse aus
Spanien ein, obwohl diese Produkte damit nichts zu tun hatten.
Die Hanauer Oberbürgermeisterin Härtel wurde aufgrund ihrer
Skandalisierung von der Bürgerschaft abgewählt, bevor das Landgericht
Hanau das Strafverfahren gegen sie gegen Zahlung von 4.000 Euro einstellte.
Den Schaden, den sie der Stadtkasse verursacht hatte, bezifferte das Gericht
auf etwa 3.000 Euro. Die Anwaltskosten der Stadt Hanau im Verfahren gegen
Härtel beliefen sich auf über 100.000 Euro. In der richterlichen
Urteilsbegründung hieß es, »wegen einer strafrechtlichen Marginalie« sei die
»Existenz eines Menschen schwer beschädigt worden«. Als der damalige
Pfarrer Mixa sich mit Prügelstrafen durchsetzen wollte, war fast die Hälfte
der Deutschen der Meinung, Schläge gehörten »auch zur Erziehung« und
hätten »noch keinem Kind geschadet«. In Bayern galten derartige
Züchtigungen damals als Gewohnheitsrecht.6 Einige Jahre nach Mixas
Rücktritt lobte Papst Franziskus einen Vater, der seine Kinder gelegentlich
ein »bisschen haut«. Rainer Brüderle hatte seine anzügliche Bemerkung ein
Jahr vor der anprangernden Veröffentlichung des Sterns gemacht, und die
Verfasserin des Berichts, die auch danach seinen Kontakt suchte,
offensichtlich nicht ins Mark getroffen.
Der Unfall im Kernkraftwerk Krümmel besaß keine Relevanz für den
Betrieb der kerntechnischen Anlage und wurde deshalb von zwei
unabhängigen Untersuchungskommissionen auf der 7-stufigen International
Nuclear Event Scale mit dem niedrigsten Wert 0 eingestuft. Nach der
Katastrophe von Fukushima stellte die Reaktor-Sicherheitskommission fest,
dass die Reaktorkatastrophe in Japan keinen Einfluss auf die Einschätzung
der Sicherheit der Kernkraftwerke in Deutschland hat und ihre Stilllegung aus
sicherheitstechnischen Gründen nicht erforderlich ist. Die nach wenigen
Tagen verfügte Stilllegung älterer Kernkraftwerke und der planlose Ausstieg
aus der Kernenergie verursachen Kosten in Milliardenhöhe.7 Die UN stellte
in einem Forschungsbericht über die gesundheitlichen Folgen der
Reaktorkatastrophe in Fukushima für die japanische Bevölkerung fest, dass
es keine Zunahme von Schilddrüsenkrebs, keine Änderungen der pränatalen
Strahlenexposition und nur eine sehr geringe Zunahme von
Brustkrebserkrankungen um 0,3 Prozent gibt.8 Die japanische Regierung
beschloss, dass 2017 70 Prozent der evakuierten Bewohner wieder in ihre
Häuser zurückkehren können.
Die Badewanne von Tebartz-van Elst hat nicht 15.000 Euro gekostet,
sondern laut Rechnung des Architekturbüros 1.795,21 Euro. Die Baukosten
für den Gesamtkomplex des »Hauses der Bischöfe« in Limburg betrugen
nicht – wie man meist lesen konnte – »mindestens« 31, sondern 28,5
Millionen Euro. Davon entfiel ein geringer Anteil – etwa 10 bis 15 Prozent –
auf die Privatwohnung des Bischofs.9 Allerdings ging es, wie der Frankfurter
Stadtdekan Johannes zu Eltz, einer der schärfsten Kritiker des Bischofs
nachträglich feststellte, »nur vordergründig um Geld. Tebartz war kein
Verschwender und kein Protzbischof. Es ging um Macht« (Zeit, 03.04.2014).
Über das Ergebnis der Baumaßnahmen schrieb der Architekturkritiker Rainer
Schulze in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.06.2015): »Wer nach
Spuren von Protz und Verschwendung sucht, der wird sich wundern«.
Oberbürgermeisterin Gaschke hatte mit ihrer Eilentscheidung für einen
Vergleich mit dem Steuerschuldner gegen die Gemeindeordnung verstoßen,
dabei jedoch eine schon von ihrem Vorgänger Albig geplante Lösung
vollzogen. Ein Jahr nach dem Rücktritt von Gaschke trat ein, was sie und
Albig verhindern wollten: der Steuerschuldner stellte einen Insolvenzantrag.
Das Strafverfahren gegen Edathy wurde gegen Zahlung von 5.000 Euro
eingestellt. Das Schiedsgericht des Parteibezirks Hannover sah keine
hinreichende Grundlage für einen Ausschluss aus der SPD. Konkrete Belege
für eine Gefährdung von Soldaten durch das Sturmgewehr G36 gibt es nicht.
Seine voreilig angekündigte Ausmusterung und die Ersatzbeschaffung
werden vermutlich zwischen 200 und 600 Millionen Euro erfordern. Sanel
M. wurde während der Untersuchungshaft von einem Mithäftling aus Wut
über den Tod von Tugce das Nasenbein gebrochen. Sein Antrag auf
Haftverschonung wurde wegen Fluchtgefahr aufgrund der begründeten Angst
vor Racheakten abgelehnt. Weil Justizminister Maas in Zusammenhang mit
Ermittlungen gegen Netzpolitik.org Generalbundesanwalt Range angewiesen
hatte, einen externen Gutachter zu stoppen, der in einer vorläufigen
Stellungnahme den Verdacht des Verrats eines Staatsgeheimnisses bestätigt
hatte, wurde aus einem möglichen Eingriff Ranges in die Pressefreiheit
(Netzpolitik.org) ein faktischer Eingriff von Maas in die Autonomie der Justiz
(Generalbundesanwaltschaft).
In einigen Fällen wurden Unschuldige mit zum Teil gravierenden
Nebenfolgen öffentlich geächtet. Die Vorwürfe gegen das Vorgehen der GSG
9 bei ihrem Einsatz in Bad Kleinen wurden nie bestätigt. Der Erschossene
war, wie sich später herausstellte, an der Ermordung des Treuhandchefs
Carsten Rohwedder beteiligt. Trotzdem wurden weder Seiters noch von Stahl
öffentlich rehabilitiert.10 Als Folge der falschen Behauptung, Rechtsradikale
hätten im Schwimmbad von Sebnitz unter den Augen der Umstehenden einen
Jungen ermordet, wurde die ganze Stadt kriminalisiert. Dem Rufmord durch
die Zurschaustellung von Zumwinkel und Kachelmann folgten ein relativ
mildes Urteil und ein Freispruch. Wulff wurde nach einem
Ermittlungsverfahren von 24 Fahndern unter Leitung von vier
Staatsanwälten, der Vernehmung von 93 Zeugen und Kosten in Höhe von
mehreren Millionen Euro wegen einer Rechnung über 753,90 Euro angeklagt
und freigesprochen.11 Roman Herzog, ehemaliger Bundespräsident und
Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte bereits bei seinem Rücktritt
festgestellt, das Grundgesetz weise einen Konstruktionsfehler auf: Einerseits
könne nur das Bundesverfassungsgericht einen Bundespräsidenten aus dem
Amt entfernen und das nur wegen eines schweren Verbrechens. Andererseits
könne ein Staatsanwalt die Aufhebung seiner Immunität beantragen, was
einer Entfernung aus dem Amt gleichkomme.12 Die Honorare von Peer
Steinbrück waren weder ungewöhnlich hoch noch illegal, die Art ihrer
Präsentation und Diskussion machte aber die geringen Wahlchancen der SPD
völlig zunichte. Die Behauptung eines Juristen, nach der Einstellung des
Verfahrens gegen Edathy gelte weiterhin »die Unschuldsvermutung«, mag
juristisch zutreffen, sachlich ist das Gegenteil richtig. Sie wird für ihn nie
mehr gelten. Bei den meisten der bis zu 25.000 Pegida-Demonstranten 2014
handelte es sich nicht um Rechtsradikale, sondern um Bürger, die das Gefühl
hatten, dass die Politik und die Medien ihre Sorgen nicht ernst nehmen. Die
Gewalt bei Pegida-Kundgebungen ging fast immer von linksradikalen
Gegendemonstranten aus. Trotzdem vermittelten zahlreiche Medienberichte
den gegenteiligen Eindruck. Das Landgericht Duisburg lehnte die Eröffnung
des Hauptverfahrens gegen die Beschuldigten wegen des LoveparadeUnglücks mit der Begründung ab, das Gutachten im Auftrag der
Staatsanwaltschaft enthalte schwerwiegende sachliche Mängel. Die Ursachen
des Unglücks sind folglich nach wie vor ungeklärt, die Abwahl des
skandalisierten Oberbürgermeisters von Duisburg ist aber rechtsgültig. Kann
man angesichts dieser Bilanzen die These vertreten, der Skandal sei ein
Instrument der Aufklärung, in dem die bürgerliche Öffentlichkeit in
multimedialer Verwandlung überlebt? Oder liefert die Skandalisierung von
Missständen Beispiele für die fortdauernde Aktualität der Forderung des
päpstlichen Legaten vor dem Sturm auf die Hochburg der Ketzer im
Albigenserkrieg: »Tötet sie alle! Der Herr wird die Seinen erkennen«?
Blickt man vom Ausland auf Skandale in Deutschland, erscheint das
hiesige Verhalten häufig kurios. Aus britischer Sicht waren die Reaktionen
der Deutschen auf die geplante Versenkung der Brent Spar reine Hysterie. In
Frankreich, England, Spanien und den USA hätten sich Wulffs Kritiker mit
ihren Vorwürfen lächerlich gemacht. In denselben Ländern ist die von Köhler
geforderte Verteidigung von Wirtschaftsinteressen mit militärischen Mitteln
eine historisch gewachsene Selbstverständlichkeit. In den USA rief die
Deutsche Entscheidung nach Fukushima zum Ausstieg aus der Kernenergie
ungläubiges Kopfschütteln hervor, in Großbritannien wurde der Bau neuer
Kernkraftwerke beschlossen. Blickt man von Deutschland auf Skandale im
Ausland, zeigen sich ähnliche Diskrepanzen. So empfanden die meisten
Deutschen den Umgang der amerikanischen Medien mit Bill Clinton in der
Lewinsky-Affäre als absurden Schauprozess. Dagegen wunderten sie sich
über die Nachsicht der dortigen Medien mit George W. Bush, als im Irak
nicht die Massenvernichtungswaffen gefunden wurden, die ein Anlass für
den Krieg gegen Saddam Hussein waren.
Soziologen erklären derartige Diskrepanzen mit kulturellen Unterschieden
– und tatsächlich gibt es »Skandalkulturen«. In Großbritannien und den USA
werden vor allem sexuelle Verhaltensweisen zu Skandalen, in Deutschland
geldwerte Vorteile – Späth, Scharping, Gysi, Özdemir, Schröder, Steinbrück,
Wulff und Tebartz-van Elst sind Beispiele dafür. In Frankreich ließ
Premierminister Manuel Valls seine Kinder auf Kosten des Staates zum
Champions-League-Finale nach Berlin fliegen, entschuldigte sich nach Kritik
der Opposition, zahlte die anteiligen Reisekosten für seine Kinder und blieb
im Amt. In Deutschland mussten Welteke und Wulff, obwohl ihre geldwerten
Vorteile nicht zu Lasten des Staats gingen, ihre Ämter aufgeben. Besonders
deutlich werden die Unterschiede zwischen Deutschland und den
angelsächsischen Ländern beim ersten VW-Skandal 2005. In Deutschland
wurden die geldwerten Vorteile zu Lasten des Unternehmens zum Skandal.
Das hätte in den USA niemanden interessiert. Dort wäre zum Skandal
geworden, dass die VW-Mitarbeiter ihre Ehefrauen und Lebensgefährtinnen
betrogen haben. Davon war aber hierzulande nicht die Rede. Nach wie vor ist
in Deutschland freiwilliger Sex zwischen Erwachsenen nicht skandalfähig,
allerdings haben einige Medien Pädophilie als skandalträchtiges Thema
erschlossen.
Nationale Besonderheiten sind wichtig, sie erklären aber nur einen Teil
der Diskrepanzen zwischen den Ländern. Wer versteht heute noch die Wut
angesichts der geplanten Versenkung der Brent Spar, die Angst vor
radioaktiv belasteter Molke und dioxinbelasteten Eiern, die gewaltbereite
Verzweiflung angesichts der Stationierung der Pershing II und des Vorgehens
der Polizei gegen die Gegner von Stuttgart 21? Wer kann heute noch die
Empörung über die SS-Mitgliedschaft von Grass, über Wullfs Anruf bei
Diekmann, über Lewitscharoffs Polemik gegen Katalogbabys nachvollziehen
oder die Aufregung über die Rednerhonorare von Steinbrück und den
Herrenwitz von Brüderle? Die Ursachen dieser emotionalen Reaktionen sind
nicht nationale Wesenszüge, sondern Besonderheiten der medialen
Darstellung von mehr oder weniger großen Missständen. Zwar ist bei den
meisten Skandalen die Wahrheit erkennbar, sie hat aber keine Chance. Fast
immer gibt es einige Medien, die dem, was man rückblickend als Wahrheit
bezeichnen kann, sehr nahe kommen. Während des Skandals gehen ihre
Berichte aber in einer Welle stark übertriebener oder gänzlich falscher
Darstellungen unter. Die Oberhand gewinnt sie erst, wenn der Skandal zu
Ende und die Flut der anklagenden Berichte verebbt sind. Dann interessiert
sich aber kaum noch jemand dafür, weil sich die Medien und mit ihnen das
Publikum längst anderen Themen zugewandt haben.
1 Hondrich, Karl Otto: Einblicke in die Unterwelt, S. 17 ff.
2 Vgl. Maier, Jürgen: Der CDU-Parteispendenskandal. 16 Jahre nach dem Skandal hat Wolfgang
Schäuble in einer Nebenbemerkung behauptet, es habe keine Spender gegeben und »schwarze
Kassen« als Quelle genannt. Das erscheint plausibel, ist jedoch nicht bewiesen. Vgl. dazu Aust,
Stefan: Der Weg des »Bimbes«. In: Welt am Sonntag, 23.08.2015. Für die vorliegende
Argumentation ist es nicht relevant, weil es an den von Kohl genannten Finanzproblemen der CDU
und seinen Motiven nichts ändert.
3 Hunzinger hatte Berichtigungen und Gegendarstellungen bei mehreren Zeitungen erreicht, darunter
die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau sowie die Financial Times, die jedoch in der
Diskussion um Scharping untergingen. Quelle: schriftliche Mitteilung an den Verfasser.
4 Vgl. Mergen, Armand: Tod in Genf.
5 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Hartung, Uwe: Störfallfieber.
6 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth / Piel, Edgar (Hg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie
1978–1983, S. 94.
7 Die endgültigen Kosten sind noch unbekannt. Im Frühjahr 2016 wurden nur für die Stilllegung der
Kernkraftwerke Schadenersatzforderungen in Höhe von 22 Milliarden Euro genannt. Nicht
eingeschlossen sind darin u.a. die Kosten für den erforderlichen Neubau von Stromtrassen. Vgl.
FAZ, 07.04.2016.
8 United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation: UNSCEAR 2013 Report.
9 Vgl. rls: Kosten der Limburger Bischofsresidenz. Auf Spiegel Online, 10.10.2013. Vgl. auch
Prüfkommission: Abschlussbericht über die externe kirchliche Prüfung der Baumaßnahme auf dem
Domberg in Limburg, S. 101 ff.; Valentin, Joachim (Hg.): Der »Fall« Tebartz-van Elst.
10 Vgl. Mocken, Daniela: Bad Kleinen. Entstehung eines Skandals.
11 Der Vorwurf der »Schnäppchenmentalität« gegen Wulff war zynisch, weil Journalisten als
vermutlich einzige Berufsgruppe Rabatte erhalten, sogenannte »Presserabatte« auf über 1.000
Angebote, darunter Autos, Reisen und Computer.
12 Vgl. Hefty, Georg Paul: Mit dem Auge des Verfassungsrechtlers.
2. Was ist ein Skandal?
In der Umgangssprache bezeichnen wir viele negative Sachverhalte als
»Skandale«: die Erhöhung der Fahrpreise, die Verspätungen der Deutschen
Bahn, die Zustände in öffentlichen Toiletten usw. Jeder nennt das, was ihn
besonders ärgert, einen Skandal. Mit einem derart ungenauen Begriff kann
man
keine
systematischen
Analysen
durchführen.
Im
sozialwissenschaftlichen Sinn weisen Skandale sechs Merkmale auf.1
Erstens: Anlass von Skandalen sind materielle und immaterielle Missstände.
Dabei handelt es sich oft um Tod oder Leid von Menschen und Tieren oder
um die Verletzung gesellschaftlicher Normen und Werte. Die skandalisierten
Missstände unterscheiden sich von Land zu Land – deshalb konnte Gerhard
Schröder 1998 trotz des spektakulären Endes seiner Ehe mit Hillu
Bundeskanzler werden, während Bob Dole 1996 als Präsidentschaftskandidat
in einem Skandal unterging, weil er 24 Jahre vorher eine außereheliche
Affäre hatte. Zweitens: Die Missstände wurden tatsächlich oder vermeintlich
durch Menschen verursacht. Ist der Missstand die Folge eines natürlichen
Ereignisses oder eines Zufalls, wird er nicht zum Skandal. Deshalb wurde der
Reaktorunfall bei Fukushima in Deutschland erfolgreich skandalisiert, nicht
aber der Tsunami, obwohl dieser weit mehr Menschenleben gekostet hat.2
Drittens: Die Verursacher der Schäden haben tatsächlich oder vermeintlich
aus eigennützigen Motiven gehandelt. Deshalb wurden die finanziellen
Gebaren von Bundespräsident Wulff und Bischof Tebartz-van Elst zu
Skandalen, nicht aber das finanziell weitaus schwerwiegendere Versagen von
Aufsichtsrat und Geschäftsführung der Flughafen Berlin Brandenburg
GmbH.
Viertens: Die Verursacher kannten die Folgen ihres Verhaltens und hätten
auch anders handeln können. Sie haben die Missstände nicht nur verursacht,
sondern sind moralisch dafür verantwortlich. Deshalb wurde der Unfall bei
der Hoechst AG 1993 zu einem großen Skandal, der Absturz einer LufthansaMaschine im gleichen Jahr, bei dem zwei Menschen starben, aber nicht. Im
ersten Fall hätte der angetrunkene Mitarbeiter anders handeln können, im
zweiten Fall hatte der Pilot aufgrund der Windverhältnisse keine Chance.
Fünftens: Die Medien stellen das Geschehen sehr intensiv und weitgehend
übereinstimmend dar. Nur dann wird es hinreichend vielen Menschen
bekannt, erscheint ihnen bedeutsam und löst Ärger, Empörung und andere
negative Emotionen aus. Deshalb führte die Anprangerung des Plagiats von
zu Guttenberg zu einem Skandal, die diffuse Kritik an den pädophilen
Selbstbekenntnissen von Cohn-Bendit dagegen nicht. Sechstens: Weil die
Angeprangerten den Missstand nicht nur verursacht haben, sondern auch
moralisch dafür verantwortlich sind, müssen sie zur Rechenschaft gezogen
werden. Sie haben sich schuldig gemacht. Ihre Schuld erfordert Sühne,
schmerzhafte persönliche Konsequenzen – die Schließung von Betrieben, die
Vernichtung von Waren, die Entlassung von Funktionären usw. Besonders
wirksam ist die Kombination der Elemente zu einem hierarchischen TäterOpfer-Schema: Der Täter ist oben und skrupellos, das Opfer ist unten und
skrupulös.
Zwischen Missständen und Skandalen besteht ein kategorialer
Unterschied. Die größten Umweltskandale gibt es in Staaten, in denen die
Umwelt am wenigsten geschädigt ist – in den westlichen Industrienationen.
Die größten Umweltschäden gibt es in Staaten, in denen es keine oder fast
keine Umweltskandale gibt – in Ländern der Dritten Welt, Indien und China.
Dies trifft in ähnlicher Weise auf politische Skandale zu. Auch sie häufen
sich nicht in den Staaten mit den größten politischen Missständen, sondern in
den Ländern mit effektiven und transparenten politischen Institutionen. Zu
dem gleichen Befund führt eine chronologische Betrachtung: Die größten
Umweltschäden gab es in Deutschland in den 1950er- und 1960er-Jahren.
Die meisten und größten Umweltskandale gab es dagegen ab den 1980erJahren, als die Belastung des Wassers, der Luft und der Böden als Folge der
Umweltgesetzgebung der 1970er-Jahre längst deutlich geringer war. Eine
wichtige Ursache des paradoxen Verhältnisses von realen Schäden und
Skandalen ist die Asymmetrie unserer Risikobereitschaft: Zur Minimierung
eines Schadens akzeptieren wir große Risiken, zur Maximierung eines
Nutzens lehnen wir große Risiken ab.3 Deshalb ist in armen Ländern die
Risikobereitschaft groß: Dort geht es um die Überwindung eines negativen
Zustands. In reichen Ländern ist sie klein: Hier geht es um die Verbesserung
eines positiven Zustands. Mit steigendem Lebensstandard wachsen die
Schadensaversion der Bevölkerung, ihre Offenheit für Kritik an tatsächlichen
und möglichen Schäden und die Glaubwürdigkeit der Skandalisierung von
Missständen. Das gilt analog auch für die Tolerierung von Regelverstößen in
Politik, Wirtschaft und Wissenschaft: Sie schwindet in dem Maße, in dem die
Funktionsfähigkeit der erwähnten Bereiche zunimmt und zur Verbesserung
der Lebensbedingungen der Bevölkerung beiträgt.4
Die skizzierte Paradoxie ist eine notwendige, aber keine hinreichende
Bedingung für die erfolgreiche Skandalisierung von Missständen. Zum
Skandal wird ein Missstand erst durch die Perspektive, aus der man ihn
betrachtet. Die Missstände selbst sind oft nicht neu, meist beweisbar und
sachlich fast immer unstrittig. Dies alles trifft auf die skandalträchtige
Perspektive nicht zu. Sie ist neu, im engeren Sinn nicht beweisbar und im
Unterschied zum Missstand wirkmächtig. Es gibt viele Missstände, die nie
zum Skandal werden, obwohl sie bekannt sind, und es gibt einige Skandale,
ohne dass ein Missstand vorliegt. Deshalb kann man weder von der Größe
und Häufigkeit der Skandale auf die Größe und Häufigkeit der Missstände
schließen noch umgekehrt. Der wohlwollende Kommentar Werner Höfers im
Berliner 12 Uhr Blatt (20.09.1943) zur Hinrichtung des Konzertpianisten
Karlrobert Kreiten, der seine journalistische Karriere beendete, war seit 1962
bekannt. Mehrere Blätter, darunter Bild am Sonntag, hatten seit 1978 darüber
berichtet, Musikhistoriker hatten den Vorgang analysiert und ihre Ergebnisse
in Buchform publiziert, ein Schriftsteller hatte den Vorgang dramatisiert und
in Koblenz auf die Bühne gebracht. Zum Skandal wurde der Kommentar
jedoch erst Ende 1987 durch einen Artikel des Spiegels. Innerhalb weniger
Tage musste Höfer unter entwürdigenden Umständen die Leitung des
»Internationalen Frühschoppens« aufgeben.5 Über die Flugreisen von
Ministerpräsident Späth hatte die Südwest Presse Ulm bereits 1980 berichtet.
Sieben Jahre später beschrieben mehrere Autoren in einem biografischen
Sammelband die ungewöhnlichen Reisen des Ministerpräsidenten. Zum
Skandal wurden sie jedoch erst, als der Südwestfunk Ende 1990 im
Zusammenspiel mit dem Spiegel den Sachverhalt erneut aufgriff.6 Über
angeblich verdorbene Rohstoffe in Eiernudeln hatten lokale Medien im Raum
Stuttgart bereits ein Jahr vor dem »Flüssigei-Skandal« berichtet. Einen
bundesweiten Skandal haben die kaum variierten und ergänzten
Behauptungen jedoch erst ein Jahr später ausgelöst.7 Über schwarze Konten
der CDU hatte der Spiegel bereits 1995 berichtet. Einen Aufschrei der
Empörung gab es damals weder in der Politik noch in den Medien.
Über den sexuellen Missbrauch von Schülern durch Lehrer der
Odenwaldschule hatte, nachdem sich zwei der Opfer an einen Journalisten
gewandt hatten, Jörg Schindler Jahre vor dem Skandal in der Frankfurter
Rundschau (17.11.1999) berichtet.8 Der Beschuldigte Gerold Becker,
ehemaliger Leiter der Schule, gab danach die Mitarbeit in mehreren Gremien
auf, einen Skandal löste der Bericht aber nicht aus. Becker wurde drei Jahre
danach Mitherausgeber der Zeitschrift Neue Sammlung. Ein Lehrer der
Odenwaldschule, Dr. Salman Ansari, informierte zu dieser Zeit die
Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer brieflich über Missbrauchsvorwürfe
gegen Becker. Als Antwort erhielt er ein ausweichendes Schreiben. Einen
Skandal löste keiner dieser Anlässe aus. In allen genannten Fällen war der
Missstand, der den Kern des späteren Skandals ausmachte, bekannt. Insofern
musste nichts aufgedeckt werden – die bereits bekannten Missstände hätten
allemal für einen Skandal ausgereicht. Was fehlte, war der Aufhänger, die
moralische Aufladung des Missstands sowie die Bereitschaft anderer Medien,
die skandalträchtigen Vorwürfe aufzugreifen und die Beschuldigten
anzuprangern.
Fast alle Skandale beruhen auf Missständen, aber nicht alle Missstände
führen zu Skandalen. Die Erschießung von fast 1.000 DDR-Flüchtlingen
wurde in der BRD gewissenhaft registriert, die Verhaftung von
Ausreisewilligen sorgsam verzeichnet. Zum Skandal wurde das im Gegensatz
zum Terror des Schah-Regimes und der chilenischen Junta aber nicht. Kurz
vor dem Ende der DDR gab es sogar energische Versuche, die zentrale
Registrierung von DDR-Unrecht abzuschaffen. Anfang der 1980er-Jahre
wies die SPD im Bundesanzeiger eine anonyme Sammelspende in Höhe von
6,3 Millionen DM aus.9 Das Geld hatte ihr verstorbener Schatzmeister Alfred
Nau gesammelt und seinem Nachfolger Friedrich Halstenberg mit der
ausdrücklichen Verpflichtung übergeben, die Namen der Spender zu
verschweigen. Damals fragten weder die politischen Gegner noch die Presse
nach der Herkunft des Geldes, obwohl der Sachverhalt 1984 im FlickUntersuchungsausschuss zur Sprache kam. Zu einem Skandal wurden die
anonymen Spenden an die SPD deshalb nicht.
Als im Winter 2002/2003 die Dramatisierung der Gefahr durch SARS die
deutsche Bevölkerung in Atem hielt und Tausende ihre Flugreisen nach
Asien stornierten, starben in Deutschland zwischen 12.000 und 20.000
Menschen an der saisonalen Grippe. Das waren 20-bis 30-mal mehr
Menschen, als in China (einschließlich Hongkong) SARS zum Opfer fielen
(633). In Deutschland gab es keinen einzigen SARS-Toten, aber aus Angst
vor SARS wollten viele Deutschland nicht verlassen und verzichteten auf
einen Urlaub. Als von Ende Mai bis Ende Juli 2011 die Erkrankung von
4.320 Menschen an Ehec-Infektionen und am Ende 50 Todesfälle die Medien
alarmierten und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten, starben
in Deutschland zwischen 1.600 und 2.500 Menschen an Infektionen, die sie
sich in Krankenhäusern zugezogen hatten. Das wird zwar gelegentlich in
Medienbeiträgen behandelt, einen Skandal hat jedoch keiner dieser Berichte
ausgelöst.
Skandalträchtige Perspektiven entstehen gelegentlich durch die Betonung
von bekannten, aber bisher vernachlässigten Aspekten. Während z. B. bei
allen früheren Versuchen zur Skandalisierung von Höfer der tatsächliche oder
vermeintliche Schreibtischtäter im Mittelpunkt stand, konzentrierte sich der
Spiegel auf das Opfer, den Pianisten Kreiten – sein Leben, seine Freunde,
seine Zukunftserwartungen. Das Mitleid mit dem Opfer ließ Höfers
Kommentar wesentlich verwerflicher erscheinen als den Opportunismus des
Autors. Was Höfer zu seiner Verteidigung vorbrachte, war deshalb
bedeutungslos. Skandalträchtige Perspektiven sind zuweilen auch eine Folge
von Umständen, die bekannte Fakten in einem anderen Licht erscheinen
lassen – etwa die private Beziehung des Ministerpräsidenten Späth zu dem
Vorstandsvorsitzenden der SEL Lohr, der wegen Untreue, Betrugs und
Steuerhinterziehung vor Gericht stand. Als bekannt wurde, dass die Töchter
von Späth und Lohr auf Kosten der SEL gemeinsame Ferien auf einem
Reiterhof verbracht hatten, schien jeder Verdacht gegen Späth gerechtfertigt,
obwohl dieser kaum wissen konnte, dass Lohr die Reiterferien der beiden
Mädchen geschäftlich abgerechnet hatte.10 Ein ähnlicher Perspektivwechsel
führte zum VW-Abgasskandal und seinen Ausweitungen. Die Unterschiede
zwischen den Herstellerangaben zum Verbrauch ihrer Autos und deren
tatsächlichen Verbrauch im Straßenverkehr waren seit Jahren bekannt,
wurden von den Verfassern der Testberichte in Zeitungen und Zeitschriften
immer wieder beklagt aber vom Publikum hingenommen, weil es
Eigenwerbungen generell misstraut. Einen Skandal lösten die kritischen
Testberichte nicht aus. Zum Skandal wurden sie erst, als bekannt wurde, dass
VW mit einer speziellen Software den Verbrauch auf Testständen manipuliert
hatte. Nun ging es nicht mehr primär um die Sache – die Unterschiede
zwischen Verbrauchsangaben und Verbrauch – sondern um ihre moralische
Aufladung, den Eigennutz von VW zu Lasten der Kunden durch einen
Verstoß gegen geltende Regeln.
Häufig beruhen skandalträchtige Perspektiven auf der Reduzierung
mehrerer Alternativen auf eine einzige Handlungsmöglichkeit, deren Wahl
verwerflich erscheint, weil die Nebenfolgen anderer Handlungsmöglichkeiten
nicht thematisiert werden. Beispiele hierfür liefert die Skandalisierung der
Nebenfolgen der Versenkung der Brent Spar, der Castortransporte11, der
Kernenergie12, von Medikamenten13 und von Geheimdiensttätigkeiten. Die
unbestreitbaren Nebenfolgen des Handelns der skandalisierten Personen und
Sachverhalte erscheinen nur deshalb unerträglich, weil die Nebenfolgen der
Alternativen – die Gefahren durch das Abwracken der Brent Spar an Land,
die Risiken einer Zwischenlagerung von radioaktiven Gegenständen am Ort,
die Risiken anderer Energien und die Risiken der Behinderung von
Geheimdiensttätigkeiten – ausgeblendet werden. Ein immer wieder
aktualisierter Fall ist die naheliegende aber trotzdem problematische
Skandalisierung der Zusammenarbeit des BND mit der NSA. Die erwähnte
Problematik ist auch für die Skandalisierung von Medikamenten typisch, bei
der in der Regel zwei Aspekte ausgeklammert werden – zum einen die
Tatsache, dass auch andere Medikamente tödliche Nebenwirkungen haben
können und zum anderen die Frage, ob sie bei vergleichbar wirksamen
Alternativpräparaten seltener oder häufiger vorkommen.
Die Medien machen Missstände zu Skandalen, indem sie sie als
schwerwiegend und als Folge schuldhaften Verhaltens darstellen: Die
Handelnden waren in ihrer Entscheidung frei und hätten, wenn sie gewollt
hätten, auch anders handeln können; sie haben aus niederen Motiven
gehandelt und waren sich der negativen Folgen ihres Handelns bewusst. Sie
haben nicht nur aufgrund von besonderen Umständen einen Fehler gemacht,
sondern sich aus Eigennutz bewusst über bestehende Regeln hinweggesetzt.
Journalisten übernehmen die skandalträchtigen Perspektiven vielfach von
Skandalisierern im vormedialen Raum – von einzelnen Personen wie Heiner
Geißler bei der Skandalisierung von Helmut Kohl, dem Rektor des CanisiusKollegs, Pater Mertes SJ, bei der Skandalisierung des sexuellen Missbrauchs
von Kindern in kirchlichen Organisationen, dem Jura-Professor FischerLescano bei der Skandalisierung von zu Guttenberg, den Pfarrern Hubertus
Janssen und Albert Dexelmann bei der Skandalisierung von Bischof Tebartzvan Elst,14 dem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden bei
der Skandalisierung der NSA, dem ehemaligen DFG-Präsidenten Theo
Zwanziger bei der Skandalisierung der Akquirierung der Fußball-WM 2006.
Die bedeutendsten Skandalisierer dürften inzwischen NGOs sein, die vom
Spendenaufkommen leben, das sie durch die professionelle Skandalisierung
von Missständen generieren.15 Beispiele lieferten und liefern Greenpeace bei
der
Skandalisierung
der
Versenkung
der
Brent
Spar,
die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei der Skandalisierung der
Schweinegrippe, Foodwatch bei der Skandalisierung von zahlreichen
Lebensmitteln, der BUND bei der Skandalisierung von Glyphosat, der
International Council on Clean Transportation (ICCT) bei der
Skandalisierung der Abgasmessungen von VW sowie die Deutsche
Umwelthilfe (DUH) und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) bei der
Skandalisierung von BMW, Daimler und Opel in Zusammenhang mit dem
VW-Abgasskandal. Hinzu kommen neuerdings professionelle KampagnenPlattformen wie Compact, die über riesige Mengen von E-Mail-Adressen
verfügen und unter anderem die Proteste gegen TTIP und Fracking
organisieren. Das geschieht gelegentlich auch mit bezahlten Schauspielern,
die geschminkt und kostümiert medienwirksam Emotionen schüren.
Häufig entstehen skandalträchtige Sichtweisen in den Medien, wie im
Falle der Skandalisierung von Höfer und Herman. Gelegentlich kooperieren
Akteure im vormedialen Raum und Journalisten so eng, dass sich kaum
entscheiden lässt, von wem die skandalträchtige Perspektive stammt.
Beispiele hierfür sind die Skandalisierung der Molkerei Alois Müller
(»Müller-Milch«) durch den Abgeordneten der Grünen im Bayerischen
Landtag Raimund Kamm und den Journalisten Klaus Wittmann16 und die
Zusammenarbeit zwischen anonymen Rechercheuren und Redakteuren bei
der Skandalisierung von mehreren Politikern – darunter zu Guttenberg,
Koch-Mehrin, Chatzimarkakis – sowie zwischen Staatsanwälten und
Journalisten bei der Skandalisierung von Zumwinkel, Wulff17 und Edathy.
Die Genese eines Skandals besitzt vermutlich einen Einfluss auf die Chancen
der Skandalisierten, die Angriffe zu überstehen. So verloren von 1949 bis
1993 Politiker, deren Skandalisierung auf Recherchen von Journalisten oder
einzelnen Informanten beruhte, deutlich häufiger ihr Amt als Politiker, die
aufgrund der Aktivitäten von internen und externen Kontrollorganen, z. B.
Staatsanwaltschaften und Finanzbehörden, skandalisiert wurden.18 Oft kann
man den Anteil der verschiedenen Akteure an einer Skandalisierung kaum
bestimmen. Das ist für ihren Erfolg aber sekundär, weil die Erfolgschance
einer Skandalisierung letztlich von Journalisten abhängt. Wenn sie sich, egal
aus welchen Gründen, die Vorwürfe nicht zu Eigen machen, bleibt jeder
Skandalisierungsversuch aus dem vormedialen Raum erfolglos.
Nicht jeder Skandalisierungsversuch führt zu einem Skandal. Die meisten
versickern bevor sie richtig wahrgenommen werden. Beispiele waren 2012
die gescheiterten Skandalisierungen der Schleichwerbung in »Wetten
dass..?«, der manipulierten Zuteilung von Spenderlebern, des angeblichen
Sozialbetrugs von Günter Wallraff und des Buchs von Thilo Sarrazin
»Europa braucht den Euro nicht«; 2013 die gescheiterten Skandalisierungen
der israelkritischen Kommentare von Jakob Augstein, der fragwürdigen
Promotion des nordrhein-westfälischen Staatssekretärs Marc Jan Eumann,
der Mängel des Sturmgewehrs G36 und des Helikopters NH 90 sowie der
Aktivitäten der NSA; 2014 die gescheiterten Skandalisierungen der Rolle
Franz Beckenbauers bei der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft an Katar,
des Honorars von Carsten Maschmeyer für die Autobiografie Gerhard
Schröders und der Rolle der Hessischen Landesregierung beim
Atomausstieg; 2015 die gescheiterten Skandalisierungen des internationalen
Freihandelsabkommens TTIP, der Kooperation zwischen BND und NSA
sowie der fragwürdigen Verbindungen von Horst Köhler, Gerhard Schröder
und Otto Schily zu Nursultan Nasarbajew, Präsident von Kasachstan, der
angeblichen »schwarzen Kassen« von Kurienkardinal Gerhard Ludwig
Müller im Schreibtisch eines Mitarbeiters; 2016 die gescheiterte
Skandalisierung des Drogenmissbrauchs von Beck.
In fast allen Fällen griffen die meisten Medien die Vorlagen der Kollegen
nicht auf. Damit fehlte eine Voraussetzung für die Entstehung einer
allgemeinen Empörung. Die Abhörpraktiken der NSA wurden zwar durch
hinreichend viele Artikel skandalisiert. Hier gab es jedoch zum einen keine
klare personale Verantwortung, gegen die sich die Empörung hätte richten
können. Zum anderen waren nur jene beunruhigt, die durch die
Abhörpraktiken unmittelbare Nachteile befürchteten, und das war in der
Bevölkerung – im Unterschied zum Journalismus – nur eine kleine
Minderheit von 11 Prozent.19 Dies traf aus ähnlichen Gründen auch auf die
Skandalisierung von Generalbundesanwalt Range zu, die zwar im
Journalismus und in der Politik Wirkung zeigte, weil es um die Identifikation
anonymer Informanten der Medien ging, die Masse der Bevölkerung jedoch
kaum erregte. Im Fall des Drogenmissbrauchs von Beck erschienen trotz der
Kritik aus der eigenen Partei zahlreiche Artikel, die sein Verhalten durch
Verdienste in der Vergangenheit oder Verweise auf den Missbrauch legaler
Drogen relativierten, so dass die Skandalisierung in einen publizistischen
Konflikt mündete, der schnell versickerte. Im Fall der Schmähkritik von
Böhmermann an Erdogan entwickelte sich nach anfänglichem Kopfschütteln
über die Qualität des Textes ein publizistischer Konflikt zwischen zwei etwa
gleich großen Lagern, die sein Verhalten kritisierten bzw. rechtfertigten. Das
trifft aus anderen Gründen in ähnlicher Weise auch auf die Panama Papers
zu, deren Präsentation zwar groß inszeniert wurde, die jedoch in den Medien
wegen des Mangels an konkreten Belegen für Verfehlungen eine allenfalls
zwiespältige Resonanz auslösten.
Systematischen Aufschluss über das Verhältnis von Missständen und
Skandalen gibt eine repräsentative Analyse von über 2.000 konkreten
Fällen.20 Ihre wichtigsten Ergebnisse kann man folgendermaßen
zusammenfassen: Eine Voraussetzung dafür, dass ein Missstand zum Skandal
wird, ist, dass ein Sachverhalt als Missstand erkannt wird und zumindest
einem kleinen Kreis von Personen bekannt ist. Das traf 1998 auf 2.015
verschiedene Missstände zu. Identifiziert wurden sie mit einer repräsentativen
Befragung von 492 Vertretern verschiedener Organisationen –
Gewerkschaften, Umweltverbänden, Industrie- und Handelskammern,
Handwerkskammern und Kirchen – sowie von 122 Journalisten, die in den
gleichen Regionen tätig waren. Die nächste Voraussetzung besteht darin, dass
ein Sachverhalt tatsächlich als Missstand eingestuft wird. Journalisten sahen
das vielfach anders als die Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen. Sie
nannten häufig Missstände, die nach ihrer Einschätzung die Folgen von
Eigennutz waren (20 %). Die anderen Befragten erwähnten solche
Missstände nur selten (5 %). Das deutet darauf hin, dass für Journalisten ein
Sachverhalt vor allem dann ein Missstand ist, wenn er durch eigennütziges
Verhalten verursacht wird. Andererseits verwiesen die Journalisten nur selten
auf Missstände, die nach ihrer Überzeugung eine Folge von
Fehlentwicklungen und Mangelzuständen waren (19 %). Die anderen
Befragten erwähnten solche Missstände deutlich häufiger (30 %). Was den
einen als Missstand erschien, nahmen die anderen oft nicht so wahr – und
umgekehrt.
Eine weitere Voraussetzung für einen Skandal sind Medienberichte über
die Missstände. Solche Berichte gab es nach Aussage der Befragten über 80
Prozent der 2.015 Missstände.21 Besonders häufig haben die Medien über
Missstände in den Kirchen (90 %), der Infrastruktur (87 %) und der Umwelt
(86 %) berichtet, besonders selten über Missstände in den Medien (38 %).
Das spricht – wenn man von den Medien absieht – gegen die generelle These
von der »Schere im Kopf«. Sie existiert in bemerkenswerter Weise nur bei
der Berichterstattung über Missstände im Journalismus. Eine letzte und
entscheidende Voraussetzung für die Entstehung eines Skandals ist eine
intensive und weitgehend konsonante Berichterstattung. Das traf nur auf 39
Prozent der 1.576 von Interessenvertretern genannten Missstände zu.22 Im
engeren Sinne angeprangert wurden 20 Prozent der Missstände. Zu
Skandalen im hier thematisierten Sinn wurden aber – je nach
Abgrenzungskriterium – nur 5 bis 10 Prozent. Die Skandalisierung von
Missständen folgte demnach oft dem Prinzip von Versuch und Irrtum: Es gibt
von verschiedenen Personen und aus unterschiedlichen Motiven unzählige
Skandalisierungen, von denen aber nur wenige erfolgreich sind.
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Vgl. hierzu auch Hartung, Uwe: Publizistische Bedingungen politischer Skandale.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Lemke, Richard: Instrumentalizing Fukushima.
Vgl. hierzu Tversky, Amos / Kahneman, Daniel: Rational Choice and the Framing of Decisions.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft, S. 56–
79.
Vgl. Eps, Peter / Hartung, Uwe / Dahlem, Stefan: Von der Anprangerung zum Skandal.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Am Pranger. Der Fall Späth und Stolpe.
Vgl. Lerz, Michael: Skandalberichterstattung.
Vgl. zum Folgenden: Zastrow, Volker: Eine unabhängige Autorität?
Vgl. Bannas, Günter: In Gelddingen ist nicht nur Kohl zugeknöpft.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Am Pranger. Der Fall Späth und Stolpe.
Vgl. Schulz, Winfried / Berens, Harald / Zeh, Reimar: Der Kampf um Castor in den Medien.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Lemke, Richard: Framing Fukushima.
Vgl. Linde, Otfried K. / Kepplinger, Hans Mathias / Ehmig Simone C.: Mehr Akzeptanz durch
mehr Fachinformation?
Zu den treibenden Kräften der Skandalisierung von Tebartz-van Elst wird man auch den
Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz rechnen müssen. Vgl. dazu Lückemeier, Peter: Im
Gespräch: Johannes zu Eltz nach dem Rücktritt von Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst, über
Freund-Feind-Denken, Vertraulichkeit und Zukunftswünsche. In: FAZ, 28.03.2014; zu Eltz,
Johannes: Eben langt’s! – Der Fall Tebartz-van Elst aus Frankfurter Sicht. In: Valentin, Joachim
(Hg.): Der »Fall« Tebartz-van Elst. Kirchenkrise unter dem Brennglas, S. 193–203.
Vgl. Buchner, Michael / Friedrich, Fabian / Kunkel, Dino (Hg.): Zielkampagnen für NGO.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Hartung, Uwe: Am Pranger.
Vgl. Götschenberg, Michael: Der Böse Wulff?, S. 257–262. Siehe hierzu auch Preuß, Roland /
Schultz, Tanjev: Guttenbergs Fall.
Vgl. Geiger, Thomas / Steinebach, Alexander: Auswirkungen politischer Skandale, S. 130.
Vgl. Köcher, Renate: Deutsche Fragen – Deutsche Antworten. In: dieselbe: Wirkungslose
Aufregung.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Ehmig, Simone C. / Hartung, Uwe: Alltägliche Skandale, S. 46.
Vgl. ebenda, S. 68.
Vgl. ebenda, S. 84.
3. Der Umgang mit Ungewissheit
Der Sozialpsychologe Muzafer Sherif machte in den 1930er-Jahren
Experimente zur Urteilsbildung auf der Grundlage unzureichender
Informationen. Sherif nutzte dazu den sogenannten »autokinetischen Effekt«:
Vor den Augen eines Beobachters in einem dunklen Raum scheint sich ein
fester Lichtpunkt – vermutlich wegen der Eigenbewegung des Augapfels – zu
bewegen. Falls man nah genug an den Lichtpunkt herangeht, erkennt man das
als Illusion: Der Punkt ist regungslos. Die Versuchspersonen sahen den
Lichtpunkt jedoch aus mehreren Metern Entfernung und urteilten
notgedrungen auf der Grundlage unzureichender Informationen.
Verschiedene Beobachter gewinnen in dieser Situation unterschiedliche
Eindrücke – einige nehmen kleine Kreisbewegungen wahr, andere ein starkes
Zittern usw. Beschreiben mehrere Personen in einer Gruppe nacheinander
ihre Beobachtungen, gleichen sich ihre Urteile schnell an. Es entsteht eine
allgemein akzeptierte Sichtweise, eine sogenannte Gruppennorm. Indem sich
die Urteile der Einzelnen annähern, trägt jeder zur Bildung der Gruppennorm
bei. Je eindeutiger sie wird, desto stärker beeinflusst sie die Einzelnen: Sie
fühlen sich immer sicherer, weil die Urteile der anderen ihrer eigene
Sichtweise bestätigen. Trotzdem behaupten fast alle später, sie hätten
eigenständig geurteilt. So legen sie z. B. großen Wert auf die Feststellung, sie
hätten ihr Urteil schon gebildet, bevor sich die anderen Gruppenmitglieder
äußerten.1
Die Gruppennormen unterscheiden sich von Gruppe zu Gruppe. Sie sind
Folgen der Urteile der jeweils dominierenden Mitglieder, denen sich die
anderen bewusst oder unbewusst anschließen. Lässt man die bereits
getesteten Personen nach einiger Zeit allein urteilen, beschreiben sie die
»Bewegung« des Lichtpunkts wie zuvor in der Gruppe, weil die ehemaligen
Gruppenmitglieder ihre Urteile scheinbar logisch aus der verinnerlichten
Norm ableiten. Das gibt ihnen auch dann noch das Gefühl der
Urteilssicherheit, wenn der ursprünglich vorhandene Gruppendruck keine
Rolle mehr spielt. Indem Gruppennormen die Sichtweisen steuern, definieren
sie, was die aktuellen und ehemaligen Mitglieder der Gruppen für wahr
halten. Deshalb kann man Gruppennormen im Sinne von Sherif als Schemata
betrachten, die die Wahrnehmung der Realität prägen.
Die Urteilsbildung in einem Skandal folgt den gleichen Prinzipien. Auch
hier geht es um objektive Tatsachen wie die Existenz von Schadstoffen in der
Brent Spar, die kerntechnische Relevanz des Brands im AKW Krümmel, die
Kosten der Renovierung des Bischofssitzes in Limburg, die Strafbarkeit des
Erwerbs der Nacktbilder von Kindern durch Edathy, die Einstellungen und
Ziele der Pegida-Anhänger, die Art der sexuellen Übergriffe in der Kölner
Silvesternacht usw. Die Richtigkeit solcher Informationen ist von den
Meisten in der Regel nicht prüfbar, weil ihnen die dafür erforderlichen
Informationen oder Fachkenntnisse fehlen. So war einige Tage lang unklar,
wie viele Schadstoffe tatsächlich in der Brent Spar lagerten, wie der
sechsjährige Junge in Sebnitz wirklich gestorben ist, welche Bilder sich
Edathy tatsächlich beschafft hat, was die Mehrheit der Pegida-Anhänger
antreibt usw. Das trifft in ähnlicher Weise auch auf die zunächst kaum
abschätzbare Gefährdung durch SARS, Nitrofen, Dioxin, Ehec, Glyphosat
und andere Gefahrenquellen zu. Schließlich gilt das auch für die serielle
Skandalisierung von Missständen, etwa die im Wochen- und
Monatsrhythmus wechselnden Vorwürfe gegen Bundespräsident Wulff,
Bischof Tebartz-van Elst, den ADAC und VW, deren sachlicher Gehalt in der
verfügbaren Zeit kaum prüfbar war. Aufgrund solcher Unsicherheiten bilden
sich im Zusammenspiel zahlreicher Quellen landestypischer Normen bzw.
Schemata, die die Wahrnehmung der Missstände steuern.
Am Beginn eines Skandals beurteilen verschiedene Personen den
fraglichen Sachverhalt meist unterschiedlich. Einige halten ihn für einen
Missstand, andere nicht. Einige sind von der Schuld eines Akteurs überzeugt,
andere bestreiten sie. Einige halten den Missstand für einen Skandal, andere
sehen das anders. Je überzeugender die Deutungsmuster derjenigen sind, die
den Sachverhalt für einen Skandal halten, und je mehr die Fakten ihre
Sichtweise zu bestätigen scheinen, desto mehr nähern sich ihr die
Sichtweisen anderer Menschen an. Die Sichtweise der Wortführer wird zur
allgemein verbindlichen Norm, zu einem Schema für die Wahrnehmung von
Realität. Ist ein solches Schema einmal etabliert, erscheinen alle Fakten und
Interpretationen, die ihm widersprechen, als falsch oder irreführend, als
Übertreibung oder Untertreibung. Dagegen wird alles, was das Schema zu
bestätigen scheint, bereitwillig akzeptiert und notfalls stimmig gemacht.
Geglaubt wird nur noch, was in das Schema passt. Die eigene Sichtweise
erscheint nicht als subjektive Meinung, sondern als objektive Einsicht in die
Natur der Sache. Andersdenkende haben folglich nicht nur eine abwegige
Meinung, sondern können oder wollen die Wirklichkeit nicht erkennen. Sie
sind realitätsblind oder verweigern sich der Realität.
Nach der Empörung über einen angeblich rechtsradikalen Anschlag auf
die jüdische Synagoge in Düsseldorf, der tatsächlich von Nationalisten
arabischer Herkunft begangen worden war, nach einer Serie schwerer
Straftaten von Rechtsradikalen in den neuen Bundesländern sowie nach einer
monatelangen Kampagne führender Politiker gegen Rechtsradikale, die den
Eindruck erweckte, das ganze Land stehe vor einem Abgrund, erschien vielen
Beobachtern nichts mehr unmöglich – auch nicht die öffentliche Ermordung
eines Kindes. Folgerichtig besuchte Ministerpräsident Kurt Biedenkopf einen
Gedenkgottesdienst in Sebnitz und Bundeskanzler Gerhard Schröder empfing
die Eltern des vermeintlichen Mordopfers im Willy-Brandt-Haus in Berlin.
Nicht alle kollektiven Schemata gehen so eklatant an der Realität vorbei wie
im Fall Sebnitz. Bei zahlreichen Skandalen entsprechen sie weitgehend dem,
was man nachträglich auch in Kenntnis aller Fakten als Wahrheit erkennt.
Solche Fälle eignen sich jedoch nicht für die Analyse der Urteilsbildung in
Skandalen, weil man hier den Einfluss kollektiver Schemata auf die Urteile
nicht von der Orientierung an der Natur der Sache unterscheiden kann. Man
schreibt die richtigen Urteile irrtümlicherweise einer Einsicht in die Art der
Urteilsobjekte zu. Tatsächlich folgt die Urteilsbildung jedoch auch in diesen
Fällen den skizzierten Prinzipien, weil auch hier die Wahrheit am Anfang
nicht erkennbar ist – mit dem einzigen Unterschied, dass die kollektiven
Schemata der später feststellbaren Wahrheit sehr nahekommen. Wissen
können das während des Skandals jedoch nur wenige. Deshalb repräsentieren
auch in solchen Fällen die selbstgewissen Urteile nichts anderes als den
starken Glauben an die scheinbar eigene Einsicht.
Befördert wird die beschriebene Urteilsbildung durch eine Eigenart der
Berichterstattung über extrem negative Ereignisse – die nahezu vollständige
Vernachlässigung ihrer relativen Häufigkeit. Ein Beispiel ist der Umgang mit
BSE-Erkrankungen von Rindern.2 In Deutschland wurden von Dezember
2000 bis Ende 2001 von 2,8 Millionen Rindern 131 Rinder positiv getestet.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Rind an BSE litt, betrug folglich 1:22.400.
Wie haben die deutschen Medien darüber berichtet? Die Frankfurter
Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, Bild, Spiegel, Stern und Focus
veröffentlichten von Anfang Dezember 2000 bis Anfang April 2001
insgesamt 487 Beiträge zum Thema BSE, CJK/vCJK und den damit
verbundenen menschlichen Erkrankungen. Angaben über den Anteil der
positiv getesteten Rinder fanden sich in einem Prozent der Beiträge.
Informationen über die Zahl der in Deutschland registrierten Fälle von vCJK
enthielten ebenfalls ein Prozent der Beiträge. Angaben über die
Wahrscheinlichkeit der Erkrankung an vCJK durch den Verzehr von
Rindfleisch in Deutschland fanden sich in drei Prozent der Beiträge.
Angesichts der wenigen Beiträge, die überhaupt Risikoinformationen
enthielten, kann man die Frage vernachlässigen, ob sie dem damaligen Stand
der Kenntnisse entsprachen. Zu einem rationalen Urteil und überlegten
Handlungskonsequenzen war die Bevölkerung jedenfalls kaum in der Lage.
Ihr blieb nur die Orientierung an der angstgetriebenen und angsttreibenden
sozialen und medialen Umwelt. Neuere Beispiele liefert die Skandalisierung
des Pestizids Glyphosat. Hierzu zählen Berichte der Art: »Ärzte fordern
Glyphosat-Verbot«. Anlass war ein Appell an die EU-Kommission zum
Verbot von Glyphosat, den angeblich 5.000 Ärzte unterschieben haben.
Angaben über die Zahl der in Deutschland tätigen Ärzte fehlten. Zum
Zeitpunkt der Publikationen im Jahr 2013 waren es 357.252 – ohne weitere
113.000, die nicht als Ärzte tätig waren. Nimmt man an, dass alle 5.000
Unterzeichner tatsächlich Ärzte waren, haben 1,39 Prozent der in
Deutschland tätigen Ärzte die Forderung nach einem Verbot von Glyphosat
unterschrieben. Von allen Ärzten waren es sogar nur 1,06 Prozent.
Im Experiment wie im Skandal erliegen die Urteilenden ähnlichen
Irrtümern. In beiden Situationen erleben die Einzelnen die Annäherung ihrer
Urteile als Beleg für die Richtigkeit ihre Ansichten. Zur Gewissheit wird
diese Einschätzung, wenn sich die Gruppennorm bzw. das Schema so
verfestigt hat, dass alle zu dem gleichen Urteil kommen. Trotzdem glaubt
auch bei Skandalen jeder, er urteile unabhängig von den anderen – sozusagen
aus eigener Einsicht. Jeder betrachtet sich fälschlicherweise als autonome
Person. Tatsächlich sind die Einzelnen Opfer der Illusion der autonomen
Urteilsbildung: Was sie für ein individuelles Urteil halten, ist Ausdruck einer
sich selbst bestärkenden Glaubensgemeinschaft. Diese Illusion ist eine
Ursache der Entschiedenheit, mit der sie ihre Sichtweisen in einem Skandal
verteidigen. Der Zweifel anderer erscheint als Zweifel an der eigenen
Urteilsfähigkeit und damit als persönlicher Angriff. Das ist auch ein Grund
dafür, dass nach dem Abklingen eines Skandals die meisten Menschen kein
Interesse an der Berichtigung falscher Behauptungen haben. Sie würde ihr
Urteil als das entlarven, was es ist – als Nachvollzug medialer Vorgaben.
Während eines Skandals werden die verfestigten Sichtweisen nur durch
Beweise erschüttert, die man unter keinen Umständen leugnen kann.
Im Experiment wie im Skandal sind die Urteilenden auch davon
überzeugt, dass sie mit ihren Aussagen den Sachverhalt beschreiben – die
»Bewegung« des Lichtpunkts im Experiment, die »Größe« eines
Umweltschadens oder das »Ausmaß« einer politischen Verfehlung.
Tatsächlich erliegen sie auch hier einer Selbsttäuschung – einem
essentialistischen Trugschluss: Was sie für ein Urteil über die Natur der
Sache halten, ist in Wirklichkeit Ausdruck einer gruppen- oder
länderspezifischen Sichtweise. Ihre Aussagen charakterisieren weniger die
Eigenschaften der Objekte als die erlernten Schemata der urteilenden
Subjekte: Wer eine Überschwemmung mit zehn Toten als Katastrophe
bezeichnet, sagt wenig über das Geschehen aus, aber viel über seine eigenen
Maßstäbe. Das ist den Urteilenden allerdings selten bewusst. So glaubten die
Redakteure des Sterns (13.11.1986), die den Brand bei Sandoz in Basel auf
der Titelseite ihres Blattes als »Tschernobyl am Rhein« bezeichneten,
vermutlich wirklich, dass es sich um einen Unfall mit ähnlichen Dimensionen
handelte. Tatsächlich gaben sie einer apokalyptischen Sichtweise Ausdruck,
die sich vor dem Hintergrund des Reaktorunfalls in der Ukraine entwickelt
hatte und durch die dramatischen Aufnahmen vom Unfallort in Basel
scheinbar bestätigt wurde. Ein neueres Beispiel sind die empörten Reaktionen
auf die Kinderpornografie-Vorwürfe gegen Edathy. Man kann sie als Folge
der Natur der Sache, der Art seines Verhaltens, betrachten. Das wäre, wie ein
Vergleich mit den Reaktionen auf die Vorwürfe gegen Cohn-Bendit belegt,
ein Beispiel für die Illusion der autonomen Urteilsbildung verbunden mit
einem essentialistischen Trugschluss. Bei Edathy ging es um Fotos von
Kindern, bei Cohn-Bendit um Kontakte zu Kindern.3 Kann man sich
vorstellen, dass Edathy nach der Einstellung des Strafverfahrens wegen
seiner
Foto-Nutzung
aufgrund
seiner
Verdienste
im
NSUUntersuchungsausschuss mit dem Theodor-Heuss-Preiss geehrt wurde? Wohl
kaum. Cohn-Bendit ist der Preis trotz einiger Proteste verliehen worden. Der
Unterschied liegt hier wie in anderen Fällen nicht in der Natur der Sache,
sondern in der Art und Weise, wie die Sachverhalte dargestellt und
wahrgenommen wurden.
Die Macht etablierter Sichtweisen erklärt auch, weshalb hiesige Skandale
vom Ausland her betrachtet häufig eher kurios als empörend erscheinen: Dort
haben sich die relevanten Normen bzw. Schemata nicht etabliert, weil die
entsprechenden Missstände keine herausragenden Themen waren. Folglich ist
aus der Distanz betrachtet kaum nachvollziehbar, warum man hierzulande so
empört auf einen Missstand reagiert. Nicht der Missstand macht den Skandal
aus, sondern die kollektive Sichtweise. Dagegen könnte man einwenden, dass
der Missstand die Bevölkerung in dem Land, in dem er besteht, stärker
bedroht, weshalb sie auch intensiver reagiert. Das trifft zwar meist zu, geht
jedoch am Kern der Problematik vorbei. Das zeigen die Reaktionen auf die
geplante Versenkung der Brent Spar. Sie hätte die britischen Gewässer und
Küsten aufgrund der räumlichen Nähe ökologisch viel eher belastet als die
deutschen, führte dort aber nicht zu einem Skandal – nicht weil die
objektiven Fakten dagegensprachen, sondern weil das »richtige Bewusstsein«
fehlte. Ein besonders folgenreiches Beispiel ist die Skandalisierung der
deutschen Kernenergie nach der Reaktorkatastrophe bei Fukushima.4
Tatsächlich war die Gefahr durch Kernkraftwerke in Deutschland aufgrund
ihres sehr hohen Sicherheitsstandards geringer als durch Kernkraftwerke in
Frankreich, England und zahlreichen anderen Staaten. Dort wurde die
heimische Kernenergie im Unterschied zu Deutschland nach Fukushima nicht
skandalisiert. Ursache der Skandalisierung der Kernenergie in Deutschland
waren nicht die kernkraftrelevanten Fakten, sondern das hier im Laufe von
Jahrzehnten etablierte Angst-Schema.
1 Vgl. Lilli, Waldemar: Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung.
2 Vgl. zum Folgenden Kepplinger, Hans Mathias: Realitätskonstruktionen, S. 99–115. Zur Wirkung
der Konzentration auf Einzelfälle siehe Daschmann, Gregor: Der Einfluss von Fallbeispielen auf
Leserurteile.
3 Vgl. Füller, Christian: Danys Phantasien und Träume. Derselbe: Das falsche Schauspiel der
Grünen.
4 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Lemke, Richard: Framing Fukushima.
4. Die Etablierung von Schemata
Die Leser, Hörer und Zuschauer folgern die Botschaften von
Medienbeiträgen nicht aus den einzelnen Informationen, sondern orientieren
sich an Schlüsselinformationen, die den Gesamtsinn vorgeben, und
interpretieren die anderen Informationen entsprechend dem vorgegebenen
Schema. Bei diesem Schema kann es sich um einen Interpretationsrahmen
handeln, den sie bereits verinnerlicht haben, und um eine Sichtweise, die ein
aktueller Medienbeitrag neu etabliert. Allerdings sind auch die bereits
verinnerlichten Schemata häufig schon Folgen früherer Medienberichte.1
Rezipienten behalten schemakonsistente Informationen besser als
schemainkonsistente, deuten neutrale Informationen schemagerecht und
glauben, dass sie schemagerechte Informationen gelesen, gesehen oder gehört
haben, die in den Beiträgen nicht enthalten waren.2 Das trifft nicht nur auf die
Mediennutzung zu, sondern auch auf die Alltagskommunikation. Ein Beispiel
für unsere schemageleitete Informationsverarbeitung ist das Verständnis
folgender Situationsbeschreibung: »Peter ging in ein Restaurant und setzte
sich an einen Tisch. Nachdem der Keller gekommen war, bestellte er ein
Bier«. Jeder wird annehmen, dass Peter das Bier bestellt hat. Das ist aber
nicht zwingend. Theoretisch könnte der Kellner das Bier bestellt haben.
Unsere Interpretation der Beschreibung, der Sinn der Aussagen und unser
Verständnis
des
beschriebenen
Geschehens,
folgt
aus
einer
Schlüsselinformation – dem Wort »Kellner« – und unserem
schemagesättigten Hintergrundwissen über die Tätigkeit eines Kellners.
Aufgrund der schemageleiteten Rezeption gehen das Verständnis der
Informationen und ihre Wirkung über ihren manifesten Gehalt hinaus. Das
geschieht nicht individuell oder willkürlich, sondern wird vom
Informationsangebot auf subtile Weise gesteuert. Die Grundlage können
sprachliche Mittel, Bilder und Grafiken sein.3 Ein gut untersuchter Fall ist die
Berichterstattung von Time und Newsweek über den Abschuss eines
koreanischen Verkehrsflugzeugs am 1. September 1983 durch einen
sowjetischen Kampfjet sowie über den Abschuss eines iranischen
Verkehrsflugzeugs am 3. Juli 1988 durch eine Rakete eines amerikanischen
Kriegsschiffs.4 In beiden Fällen wurden fast 300 Menschen getötet. Die
humanitären Folgen beider Abschüsse, sozusagen die Größe des Missstands,
waren folglich etwa gleich, nicht aber ihre Darstellungen und die
Folgerungen, die sie nahegelegt haben.
Time und Newsweek vermittelten nach dem Abschuss des koreanischen
Verkehrsflugzeugs durch realistische Zeichnungen den Eindruck, das
sowjetische Kampfflugzeug sei dem koreanischen Verkehrsflugzeug so nahe
gewesen, dass der Pilot das Verkehrsflugzeug genau erkennen konnte. Beide
Blätter verstärkten diesen Eindruck durch grafische Rekonstruktionen. In
ihren Textbeiträgen charakterisierten sie den Abschuss als Angriff und
gingen umfangreich auf seine Opfer ein. Nach dem Abschuss des iranischen
Verkehrsflugzeugs vermittelte Newsweek dagegen auf der Titelseite durch
das Foto einer startenden Rakete den Eindruck, sie sei zu einem unbekannten
Ziel geflogen. Time erwähnte den Abschuss auf der Titelseite nur am Rande.
Beide Blätter zeigten in ihren Innenteilen Fotos von amerikanischen Soldaten
vor technischen Geräten und charakterisierten in ihren Texten den Abschuss
als tragische Fehlentscheidung als Folge der komplexen Technik. Auf die
Opfer gingen sie kaum ein.
In ihren Berichten über den Abschuss des koreanischen
Verkehrsflugzeugs gaben sie ein Täter-Schema vor und steuerten damit eine
entsprechende Interpretationen des Geschehens durch ihre Leser: Der
Kampfpilot wusste, was er tat und ist deshalb für seine Tat voll
verantwortlich. Dieser Eindruck wurde durch Mitleid verstärkt,
hervorgerufen
durch
Spekulationen
über
die
Opfer
seines
verantwortungslosen Verhaltens. In ihren Berichten über den Abschuss des
iranischen Verkehrsflugzeugs gaben sie dagegen ein Opfer-Schema vor und
steuerten eine dementsprechende Interpretation: Die Marinesoldaten wussten
nicht, welches Flugzeug sie vor sich hatten, sondern wurden selbst Opfer
komplexer technischer Zusammenhänge. Dieser Eindruck wurde durch
Mitleid mit den Opfern kaum gestört, weil sie nur nebenbei erwähnt wurden.
Die beiden Magazine skandalisierten folglich durch ihre verbale und visuelle
Darstellung auf subtile Weise den Abschuss des koreanischen
Verkehrsflugzeugs, nicht jedoch den Abschuss des iranischen
Verkehrsflugzeugs, obwohl es sich in beiden Fällen um ähnliche Vorfälle
handelte.
Schemata bzw. Frames besitzen vor allem dann einen erheblichen
Einfluss, wenn sie am Beginn der Berichterstattung präsentiert werden, klare
Deutungsmuster vorgeben und unwidersprochen bleiben. Deshalb kommt es
für Skandalisierer darauf an, ihre Sichtweisen so schnell wie möglich
öffentlich durchzusetzen – am besten, bevor der Missstand selbst allgemein
bekannt wird. Ein Beispiel ist die Kommunikationsstrategie der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor Beginn der Berichterstattung über
die Schweinegrippe. Ursprünglich handelte es sich bei einer infektiösen
Krankheit per definitionem nur dann um eine Pandemie, wenn ein großer Teil
der Erkrankten stirbt. Demnach wäre die Schweinegrippe keine Pandemie
gewesen. Da die WHO jedoch im Mai 2009 den Hinweis auf die
Sterblichkeitsrate aus der Definition gestrichen hatte,5 wurde die
Schweinegrippe aufgrund anderer Eigenschaften per definitionem zu einer
Pandemie, was weitreichende Warnungen und Vorbereitungen ermöglichte
sowie entsprechende Sorgen, Ängste und negative Nebenfolgen auslöste –
etwa bei der Planung von Urlaubsreisen nach Mexiko.
Ein Beispiel für die erfolgreiche Schemabildung im Vorfeld des
Geschehens ist auch Frank Schirrmachers offener Brief in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung (29.05.2002) an Martin Walser, in dem er dessen neuen
Roman »Tod eines Kritikers« als ein »Dokument des Hasses« bezeichnete,
als antisemitisches Machwerk charakterisierte und einen Vorabdruck des
Buchs ablehnte. Damit hatte Schirrmacher, bevor die Leser eine Chance
hatten, sich selbst ein Urteil zu bilden, ein Interpretations- und
Diskussionsschema vorgegeben, das die Rezeption des Buchs durch
Rezensenten und andere Leser präformierte, zumal weitere Autoren im selben
Blatt Schirrmachers Schema bekräftigten und ausmalten. Die gleiche Taktik
prägte die Skandalisierung von Wulff. Schon in der Nacht bevor Bild mit
einem Frontalangriff auf Wulffs Hausfinanzierung an den Verkaufsstellen
auslag präsentierte Thorsten Denkler auf Sueddeutsche.de (13.12.2012) eine
schlüssig erscheinende Verbindung zwischen Geld, Moral, Charakter und
Amt: »Mit der Kreditaffäre hat Bundespräsident Wulff das Recht verwirkt,
als moralische Instanz zu gelten. Er verliert damit die stärkste
Legitimationskraft in diesem Amt. Wer Wulff kennt, weiß, dass es so
kommen musste«.6 Er wusste es also schon vorher. Einen Tag später schlug
Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.12.2011) unter der
Überschrift »Der Kredit des Präsidenten« in dieselbe Kerbe: »Kreditfragen
(…) sind moralische Fragen. Es geht um Glauben und Vertrauen. Damit sind
sie das Äquivalent zum höchsten Staatsamt. Es geht um moralischen Kredit«.
Denkler und Schirrmacher haben damit ein Schema etabliert, das die
folgenden Recherchen und Interpretation der Befunde geprägt hat. Das
begann bei angeblich fragwürdigen Vergünstigungen (Urlaubsreisen,
Flugreisen, Hotelaufenthalten, Buchwerbung, Handynutzung, Autokauf,
Leihkleidung), Kontakten zu angeblich fragwürdigen Personen (Geerkens,
Maschmeyer,
Glaeseker,
Schmidt,
Groenewold),
ungebetenen
Telefonanrufen bei Springer-Verlagsangehörigen (Diekmann, Döpfner,
Springer) und endete bei exotischen Themen (Tätigkeit als Anwalt, Rolle im
VW-Aufsichtsrat, Ernst Jünger-Zitat, Bobby-Car usw.). Selbstverständlich
wären auch andere Schemata möglich gewesen. Unter der Überschrift
»Christian Wulff musste Uhr versetzen« hätte stehen können: »Wulff zahlt
seiner geschiedenen Frau und seiner Tochter 4.200 Euro Unterhalt im Monat.
Deshalb hat er Schulden gehabt. Allerdings haben ihm gute Freunde aus der
Klemme geholfen, darunter sein langjähriger Mentor Egon Geerkens. Er hat
ihm 90.000 Euro geliehen und ihm einen günstigen Kredit für sein Haus
vermittelt. Wulff hat Geerkens dafür seine Rolex und wertvolle Bücher als
Sicherheit überlassen müssen«. Darauf hätten die Leser vermutlich ganz
anders reagiert, als 2011 – vielleicht mit Häme, Spott, Anteilnahme oder
Respekt, aber kaum mit Ärger und Wut.7
Die Etablierung skandalträchtiger Schemata geschieht in den Medien
wegen der starken Orientierung von Journalisten an ihren Kollegen oft sehr
schnell – auch im Fall Wulff. Drei Tage nach Beginn der Skandalisierung
von Wulff trafen sich mehrere Journalisten in der Kanzlei seines Anwalts
Gernot Lehr. Dort konnten sie die Unterlagen zur Finanzierung des Hauses
von Wulff einsehen. Nach Darstellung von Martin Heidemann und Nikolaus
Harbusch war »von Jagdfieber … nichts zu spüren« – aber nicht, weil die
Journalisten den Vorwürfen keine große Bedeutung beimaßen. Nach ihrer
Darstellung ging es »in den Gesprächen, die einige Journalisten miteinander
(führten,) weniger darum, ob der Bundespräsident zurücktritt. Vielmehr (war)
die Frage, wann er den entscheidenden Schritt tut«.8 Drei Tage nach der
Erstveröffentlichung von Bild und mehr als ein Jahr vor Abschluss der
Vorermittlungen durch die Staatsanwaltschaft war demnach für wichtige
Schlüsselfiguren vor Ort die Sache schon gelaufen.
Analysiert man die wertenden Aussagen der Medien im Verlauf
erfolgreicher Schemabildungen und trägt die Ergebnisse auf einer Zeitachse
ab, bewegen sie sich innerhalb weniger Tage aufeinander zu. Bei der
erfolgreichen Skandalisierung der Flugreisen von Ministerpräsident Späth
stand das Urteil in den Medien nach etwa zwölf Tagen fest: Er hatte schwer
gefehlt und musste zurücktreten.9 In Einzelfällen wie bei der Skandalisierung
von Höfer wegen seines Kommentars im Dritten Reich10 und der
Skandalisierung der Hoechst AG wegen des Austritts von ortho-Nitroanisol11
verlief der Prozess noch schneller. Hier genügten drei bis sieben Tage: Höfer
erschien als Leiter des »Internationalen Frühschoppens« untragbar und
musste gehen; ortho-Nitroanisol war als gefährliches Gift ausgemacht, und
die Hoechst AG führte einschneidende Sanierungsmaßnahmen durch. Noch
schneller verläuft die Schemabildung bei Missständen, die als akute
Bedrohung erscheinen. So wurde der Nematodenbefall von Fischen an einem
Tag erfolgreich skandalisiert. Dann stand das Urteil innerhalb und außerhalb
der Medien fest und der Absatz von Fischen aus der Nordsee brach ein.
Ähnlich schnell verlief die Skandalisierung des dioxinbelasteten Hühner- und
Schweinefutters, der Ehec-verdächtigen Gurken, von Medikamenten wie
Lipobay und Vioxx. Zwar ist die extrem schnelle Schemabildung typisch für
aktuelle Bedrohungen, jedoch gibt es solche Fälle auch in der politischen
Kommunikation. Beispiele sind die geradezu blitzartigen Schemabildungen
bei der Skandalisierung der Gedenkrede von Jenninger und der Vorlieben
von Edathy für Fotos von nackten Knaben.12
Viele Skandalisierungsversuche führen allerdings erst nach mehreren
Anläufen zum Ziel. Ein Beispiel ist die Skandalisierung von Bischof Tebartzvan Elst. Den ersten Versuch gab es bereits ein halbes Jahr nachdem er die
Nachfolge von Franz Kamphaus angetreten hatte. Dieser hatte sich 1999 im
Konflikt um die Beratung von Schwangeren gegen den Papst gestellt und
wurde 2002 von Johannes Paul II. auf Roms Linie gezwungen. Unter der
Überschrift »Der Statthalter Roms« und einem großflächigen Foto, das
Tebartz-van Elst mit aufgerissenem Mund und theatralisch gespreizten
Armen zeigte, hieß es in der Nassauischen Neue Presse (NNP) am 6.
September 2008, der Bischof sei »ein Missionar, aber keiner im Auftrag des
Bistums, sondern im Auftrag Roms«. Ein namentlich nicht genannter
Mitarbeiter der Kirche wurde mit den Worten zitiert, das Handeln des
Bischofs erzeuge ein »Klima der Angst und Einschüchterung«. Der zweite
Versuch erfolgte ein Jahr später an derselben Stelle in zwei Artikeln mit
teilweise den gleichen Vorwürfen (NNP 30.06.2009, 21.09.2009), die von
zahlreichen Leserbriefen orchestriert wurden. Darin hieß es, Tebartz-van Elst
wolle die von seinem Vorgänger eingeführte Laienseelsorge abschaffen und
somit die Pfarrer stärker belasten. Er verteidige das Zölibat und lehne das
Frauenpriestertum ab.
Beide
Skandalisierungsversuche
waren
Fehlschläge,
weil
bistumsspezifische Kontroversen nur einen kleinen Personenkreis berühren
und keine nennenswerte mediale Resonanz auslösen. Das änderte sich, als ein
weiteres Jahr später der Spiegel den dritten Versuch machte (15.11.2010).
Zwar griffen die Autoren die bekannten Argumente auf, präsentierten
Tebartz-van Elst nun aber als »jugendlichen Charismatiker« und potenziellen
Anführer eines neokonservativen Fundamentalismus. Seine Kritiker
charakterisierten die Autoren als besorgte Sprecher einer breiten
Basisbewegung, und verliehen damit den Kontroversen eine über das Bistum
hinausreichende Bedeutung. Neu war auch die ausbaufähige
Nebenbemerkung, Tebartz-van Elst habe sich im Unterschied zu seinem
Vorgänger, der »mit einem alten Golf durch die Stadt« fuhr, »einen
schwarzen BMW mit abgedunkelten Scheiben« zugelegt. Zwar war der
BMW schon während der Amtszeit von Bischof Kamphausen geleast
worden. Mit dem Hinweis auf einen geldwerten Vorteil für Tebartz-van Elst
hatten die Autoren aber ein in Deutschland skandalträchtiges Thema
gefunden. Auch dieser Spiegel-Artikel löste jedoch keinen Skandal aus,
obwohl einige regionale Medien die bistumsinternen Konflikte aufgriffen.
Nach einem vierten Skandalisierungsversuch Anfang 2012 mit
Plagiatsvorwürfen gegen Tebartz-van Elst, der wegen des Mangels an
Substanz schnell verpuffte, schafften Martin U. Müller und Peter Wensierski
im Spiegel (20.08.2012) im fünften Versuch den Durchbruch.13 Mit der
Überschrift »First Class in die Slums« und einem großen Foto das Tebartzvan Elst offensichtlich begeistert beim Aussteigen aus einem luxuriösen
Oldtimer-Cabriolet zeigte, griffen die Autoren ein Nebenthema des
vorangegangenen Versuchs auf und bauten es zu einem Killerthema aus – die
aufwendige Renovierung des Bischofssitzes in Limburg. Flankiert wurde das
Luxus-Schema von einem ähnlich vernichtenden Lügen-Schema. Tebartz-van
Elst hatte entsprechend den Reisekonditionen der Deutschen
Bischofskonferenz einen Business Class-Flug nach Indien gebucht, aber
durch den Einsatz von Bonusmeilen und eine private Zuzahlung in der ersten
Klasse gesessen. Das war dem Spiegel aus der Antwort des Bistums auf seine
Anfrage seit dem 5. April 2012, also seit mehreren Monaten, bekannt.14 Bei
einem überfallartigen Interview mit Tebartz-van Elst am 11. August 2012 vor
dem Limburger Dom, das heimlich gefilmt und auszugsweise veröffentlicht
wurde, sagte der Bischof korrekt, er sei gemäß den »Reisekonditionen der
Deutschen Bischofskonferenz und auch unseres Bistums« geflogen.15 Auf die
Behauptung des Reporters: »Aber erster Klasse sind sie geflogen!«
antwortete er spontan: »Business Class sind wir geflogen!« Damit saß
Tebartz-van Elst, der im Unterschied zu Wensierski vermutlich nicht den
Sitzplatz, sondern die Bezahlung meinte, in der Falle. In den Augen der
Öffentlichkeit war er als Lügner überführt, und er verschlimmerte seine Lage
noch durch fragwürdige juristische Schritte, darunter ein Antrag auf eine
einstweilige Verfügung gegen den Spiegel mit einer verworrenen
eidesstattlichen
Erklärung,
die
eine
Strafanzeige
und
ein
Ermittlungsverfahren nach sich zog, das am 2. Dezember 2013 gegen
Zahlung von 20.000 Euro eingestellt wurde.
Einige Schemata sind das Ergebnis jahrelanger Anstrengungen von
Aktivisten, die durch Schlüsselereignisse bekräftigt werden und – einmal
etabliert – für lange Zeit wirksam bleiben. Ein Beispiel ist das in Deutschland
wirkmächtige Anti-Atom-Schema, dessen Anfänge bis in die 1950er-Jahre
zurückreichen.16 Der prägende Kern der Wahrnehmung der Kernenergie ist
ihre Beziehung zu Atomwaffen. Das war und ist in Frankreich und England
nicht anders, allerdings dort positiv und hier negativ besetzt, weil hier die
atomare Aufrüstung verhindert werden sollte, wogegen dort die atomare
Rüstung den Weltmachtanspruch der beiden Länder dokumentiert.17
Anfänglich war in Deutschland die Anti-Atombewegung eine belächelte
Randerscheinung. Das änderte sich Mitte der 1970er-Jahre mit den massiven
und medial viel beachteten Protesten gegen den Bau des Kernkraftwerks
Wyhl. Schon einige Zeit vorher war die ursprünglich sehr positive
Berichterstattung über Kernenergie skeptischer geworden; nun wurde sie
wesentlich intensiver und durchgängig negativ. Aufgrund der Umwertung der
Kernenergie berichteten die deutschen Medien extrem intensiv und negativ
über den Reaktorunfall in Harrisburg 1979, der die Fundamentalkritik der
Kernenergiegegner zu bestätigen schien. Endgültig verfestigt wurde das
Negativ-Schema – die Risiken der Kernenergie sind generell nicht
beherrschbar und ihre Nutzung ist folglich verantwortungslos – durch die
Reaktorkatastrophe bei Tschernobyl 1986. Abgesehen von einem kleinen
Gebiet in Bayern waren die radioaktiven Niederschläge in Deutschland
ähnlich gering wie in Frankreich. Die objektiven Folgen waren in beiden
Ländern nahezu gleich. In Frankreich wurde die Katastrophe als ein Problem
der sowjetischen Kernenergie dargestellt, in Deutschland als ein generelles
Problem der Kernenergie, das folglich auch die deutsche Kernenergie betrifft.
Bei der finalen Skandalisierung der Kernenergie in Deutschland 25 Jahre
später entfaltete das eindrucksvoll bestätigte Anti-Atom-Schema seine
prägende Kraft.
Nach der Reaktorkatastrophe bei Fukushima als Folge eines Tsunamis
und unzureichender Sicherheitsmaßnahmen vermittelten die deutschen
Zeitungen innerhalb von drei Tagen den schemabildenden Eindruck, sie
beweise das generelle Risiko von Kernkraftwerken, folglich auch der
deutschen Kernkraftwerke.18 In der Berichterstattung vergleichbarer
Zeitungen in Frankreich und England spielte dagegen die Bedeutung der
Vorgänge in Japan für die heimische Kernenergie kaum eine Rolle. Die
Zeitungen der deutschsprachigen Schweiz folgten den deutschen moderater
im Abstand von wenigen Tagen. Die unterschiedliche Darstellung der
Relevanz der Vorgänge in Japan für die heimische Kernenergie schlug sich in
der Thematisierung von Folgerungen nieder: Die deutschen Blätter
veröffentlichten im Unterschied zu vergleichbaren Blättern in England und
Frankreich zahlreiche Forderungen nach dem Ausstieg aus der Kernenergie.
In allen Ländern erschien deshalb die Darstellung der notwendigen
Konsequenzen für die heimische Kernenergie als quasi-logische Folge der
schemabildenden Darstellung der Relevanz des Geschehens in Japan.
Entsprechend waren die Reaktionen der Bevölkerung und der Regierung.
Besonders deutlich wird das beim Vergleich Deutschland-Großbritannien:
Die deutsche Regierung beschloss den Ausstieg aus der Kernenergie, die
britische ihren Ausbau.
In den meisten Fällen sieht man nur die Journalisten, die berechtigte,
überzogene oder verfehlte Vorwürfe gegen Personen oder Organisationen in
die Öffentlichkeit tragen. Das war bei der Skandalisierung der Versenkung
der Brent Spar anders. In der ersten Phase konnte Greenpeace weitgehend
ungestört seine Sichtweise verbreiten, in der zweiten Phase wirkte sich das
dadurch etablierte Schema auf die Berichterstattung über die Informationen
der Deutschen Shell AG aus. Die erste Phase begann am 30. April 1995 mit
einer Presseerklärung von Greenpeace. Dort hieß es unter der Überschrift
»Greenpeace besetzt Shell-Ölplattform in der Nordsee«: »Im Tank und in den
Rohrleitungen der ›Brent Spar‹ lagern über 100 Tonnen Giftschlamm aus
einem Cocktail von Öl, chlorhaltigen Substanzen wie PVC und PCB sowie
Schwermetallen wie Arsen, Cadmium und Blei. Darunter sind auch 30
Tonnen radioaktiver Abfall.« Am Ende der Presseerklärung bot Greenpeace
an: »Weitere Fragen beantworten Ihnen: Greenpeace-Experte Roland Hipp
und Pressesprecher Fouad Hamdan (…) Achtung TV- und RadioRedaktionen: Rufen Sie uns an, wenn Sie mit Jörg Naumann … reden
wollen.« Damit hatte sich Greenpeace als kundige, auskunftswillige und, wie
sich bald herausstellte, für lange Zeit konkurrenzlose Quelle etabliert.19 In
den folgenden elf Wochen gab Greenpeace 23 Presseerklärungen heraus. Sie
lieferten Deutungsmuster, die die Vorstellungen der Journalisten, ihre
Darstellung des Geschehens und dessen Wahrnehmung durch die
Bevölkerung prägten. Ein Beispiel ist der Vergleich der erlaubten
Versenkung der Brent Spar mit der verbotenen Versenkung eines
Schrottautos. Das angebotene Schema lautete: »Wir da unten, die da oben.«
Einige Presseerklärungen dienten vor allem der Dramatisierung des
Geschehens. Das geschah durch Foto- und Fernsehaufnahmen sowie u. a.
durch die Behauptungen, bei der Versenkung der Brent Spar handle es sich
um einen Präzedenzfall für die Versenkung einer anderen Plattform, des
»Giganten Troll«, sowie um den korrekten Hinweises auf »radioaktiven
Abfall« in der Brent Spar, dessen geringes Gefahrenpotenzial aber gezielt im
Dunkeln blieb.
Die zweite Phase begann am 16. Juni 1995 – sieben Wochen nach der
ersten Presseerklärung von Greenpeace. Die Deutsche Shell AG reagierte
zum ersten Mal mit einer eigenen Presseerklärung und beschrieb den
Sachverhalt anders. Laut Shell bestanden erhebliche »Sicherheitsrisiken (bei)
einer Landentsorgung«: »Die Belastung des Meeresbodens (durch die
Versenkung) wurde von unabhängigen Meeresbiologen als vernachlässigbar
gering eingestuft (…) Die im Höchstfall verbleibenden 100 Tonnen feste
Rückstände (sic!) bestehen zu 90 % aus Sand und zu 10 % aus
bitumenähnlichen Rohölrückständen … Die Intensität der (radioaktiven)
Strahlung entspricht … derjenigen von Häuserfassaden oder Gehwegplatten
aus Granit.« Die publizistische Resonanz der Presseerklärung war aus Sicht
des Unternehmens verheerend: Die Darstellung wurde entweder gar nicht
oder auf abwertende Weise wiedergegeben. Das zeigen zwei Berichte der
Kieler Nachrichten zum gleichen Thema. Das Blatt hatte am 10. Mai die
Angaben von Greenpeace mit Quellenhinweis und ohne sprachliche
Relativierungen als Tatsachen gebracht: »Nach Angaben von Greenpeace
lagern in Tanks und Rohrleitungen des Shell-Wracks noch etwa 100 Tonnen
Giftschlamm (sic!) und mehrere Tausend Kubikmeter verseuchtes Wasser.«
Am 16. Juni berichtete das Blatt über die Stellungnahme der Deutschen Shell
AG dagegen distanzierend: Nach Aussage von Shell »seien (nicht: »sind«)
von den angeblich 100 Tonnen giftigen Schlamms (sic!), die nach Angaben
von Greenpeace durch die Versenkung der Brent Spar ins Meer gelangen, der
größte Teil Sand. Der Rest bestehe (nicht: »besteht«) aus Ölrückständen, wie
sie auch im Straßenbelag enthalten seien (nicht: »sind«). Und die
radioaktiven Rückstände? Die gleiche Menge könne (nicht: »kann«) man
auch im Granit der Häuser … finden.« Vor dem Hintergrund der im Indikativ
berichteten Sichtweise von Greenpeace erschien die in der indirekten Rede
präsentierte Stellungnahme von Shell als fragwürdige Meinung.
Der Grund für den Misserfolg der Presseerklärung von Shell lag nicht
darin, dass die Informationen falsch waren. Sie waren richtig, widersprachen
aber dem etablierten Schema und zudem den Überzeugungen der meisten
deutschen Journalisten. Bereits Ende der 1980er-Jahre waren die meisten von
ihnen der Überzeugung, dass »der Umweltschutz … Vorrang vor
wirtschaftlichen Interessen haben« sollte. Von den Journalisten, die sich
politisch »rechts« einstuften, sahen 72 Prozent das so, von jenen, die sich als
»links« bezeichneten, 86 Prozent.20 Dieser weitverbreiteten Sichtweise gaben
die Presseerklärungen von Greenpeace vorzüglich Ausdruck. In der alles
entscheidenden Phase des Konflikts vom 17. bis zum 22. Juni 1995
entsprachen 93 Prozent aller relevanten Aussagen den von Greenpeace
etablierten Sichtweisen. Shell hatte folglich keine Chance, die eigene
Sichtweise erfolgreich zu verbreiten. Erst nachdem der Konflikt entschieden
war, konnte das Unternehmen sie besser zur Geltung bringen: In der
Nachhallphase vom 23. Juni bis zum 9. September 1995 reflektierten nur
noch 53 Prozent aller Beiträge die von Greenpeace etablierten Sichtweisen.
Allerdings fiel die Berichterstattung nun wesentlich geringer aus und das
Thema interessierte die Bevölkerung weitaus weniger.21
Ist ein Schema erst einmal etabliert, prägt es weitgehend unabhängig von
der Ereignislage die nachfolgende Berichterstattung. Informationen und
Meinungen, die dem etablierten Schema widersprechen, werden allenfalls am
Rande erwähnt, relativiert oder überhaupt nicht aufgegriffen. Ein Beispiel ist
der bereits erwähnte UNSCEAR-Bericht der Vereinten Nationen über die
geringen gesundheitlichen Auswirkungen der Reaktorkatastrophe bei
Fukushima. Er wurde von fast allen deutschen Medien totgeschwiegen: In 65
deutschen Zeitungen erschienen dazu insgesamt sieben Beiträge, von denen
nur drei sachliche Informationen enthielten.22 Informationen und Meinungen,
die das etablierte Schema bestätigen, werden dagegen umfangreich berichtet
und verfestigen dadurch das bereits etablierte Schema. Gelegentlich werden
auch fragwürdige oder eindeutig falsche Informationen gezielt hochgespielt,
wenn sie das etablierte Schema zu bestätigen scheinen. So wurden die
Kirchenaustritte im Bistum Limburg vielfach zur Skandalisierung von
Bischof Tebartz-van Elst genutzt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
(12.10.2013) berichtete z. B., die »Zahl der Kirchenaustritte« sei »offenbar
… wegen der Affäre um den Bischof in den vergangenen Tagen … deutlich
gestiegen«. Nach dem zunächst vorläufigen Amtsverzicht von Tebartz-van
Elst konstatierte die Rhein Main Presse (31.10.2013) sogar eine
»Austrittswelle«. Im Sommer des darauf folgenden Jahres erklärte der
Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx, die große Zahl der
Kirchenaustritte im vergangenen Jahr mit dem »Vertrauens- und
Glaubwürdigkeitsverlust« der katholischen Kirche und spielte damit nach
Darstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.07.2014) »auf die
Amtsführung des mittlerweile emeritierten Limburger Bischofs Franz-Peter
Tebartz-van Elst an«.
Tatsächlich sind im Jahr 2013 in Deutschland erheblich mehr Katholiken
aus der Kirche ausgetreten als 2012. Insgesamt waren es 178.805 Personen,
was einem Anteil von 0,7 Prozent aller Katholiken entsprach. Der Anteil der
Kirchenaustritte im Bistum Limburg betrug 0,5 Prozent. Er lag damit unter
dem Gesamtwert und war erheblich niedriger als im Erzbistum München und
Freising, das mit 0,9 Prozent einen Spitzenplatz einnahm. Der Logik der
erwähnten Quellen entsprechend müsste man folgern, dass sich das Schalten
und Walten von Bischof Tebartz-van Elst stabilisierend auf die
Kirchenmitgliedschaft im Bistum Limburg ausgewirkt hat, während die große
Zahl der Kirchenaustritte im Bistum München und Freising eine Folge des
Verzichts von Erzbischof Kardinal Reinhard Marx auf ähnliche Aktivitäten
war. Naheliegender ist jedoch folgende Interpretation: Als die genauen
Zahlen noch nicht bekannt waren, wurden einige vorläufige Daten
schemagerecht gegen Tebartz-van Elst interpretiert und anklagend
veröffentlicht. Nachdem die genauen Zahlen vorlagen, wurden auch sie
schemagerecht gegen Tebartz-van Elst fehlinterpretiert und erneut anklagend
publiziert. Mit der Sache selbst – der behaupteten Kausalität – hatten die
Behauptungen nichts zu tun.
1 Vgl. Scheufele, Dietram A.: Framing as a Theory of Media Effects; Kepplinger, Hans Mathias /
Daschmann, Gregor: Today’s News – Tomorrow’s Context; Kepplinger / Lemke: Framing
Fukushima.
2 Vgl. Brosius, Hans-Bernd: Alltagsrationalität und Nachrichtenrezeption.
3 Zur visuellen Schemabildung vgl. von Sikorski, Christian / Ludwig, Mark: Visual Framing in der
4
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22
Berichterstattung.
Vgl. zum Folgenden Entmann, Robert M.: Framing U.S. Coverage of International News.
Vgl. chs/dpa: Experte warnt vor Viren-Hysterie. Auf Spiegel Online, 18.02.2009.
Zitiert nach Heidemanns, Martin / Harbusch, Nikolaus: Affäre Wulff, S. 78.
Einige Medien haben später über die finanzielle Lage Wulffs ausführlich berichtet und die
erwähnten Fakten genannt, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung (07.10.2012) und der
Spiegel (49/2012). Das war allerdings ein Jahr später und zu diesem Zeitpunkt hatte die
Skandalisierung von Wulff längst ihr Ziel erreicht.
Heidemanns, Martin / Harbusch, Nikolaus. Affäre Wulff, S. 100.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Am Pranger. Der Fall Späth und der Fall Stolpe.
Vgl. Eps, Peter / Hartung, Uwe / Dahlem, Stefan: Von der Anprangerung zum Skandal.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Hartung, Uwe: Störfallfieber.
Vgl. auch: Holbach, Thomas / Maurer, Marcus: Agenda-Setting-Effekte.
Ein ähnlicher Beitrag war am 19. August 2012 auf Spiegel Online erschienen.
In der Antwort auf eine Anfrage des Spiegels hatte das Bistum Limburg am 5. April 2012
geschrieben: »Bei allen Flügen reisten beide Herren (der Bischof und sein Generalvikar)
nachweislich in der Economy-Class. Wegen des Langstreckenflugs und wegen vorausgegangener
und sofort anschließender Terminverpflichtungen war für die Indienreise Business-Class zu einem
Sondertarif gebucht worden. Aufgrund des Einsatzes von aufgesammelten Bonus-Meilen und einer
Zuzahlung aus eigener Tasche konnte im konkreten Fall ein Upgrade erfolgen. Dritten sind
dadurch keinerlei Kostenentstanden.« Quelle: Spiegel-Rechtsabteilung: Der Bischof und das 8.
Gebot. http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelblog/bischof-von-limburg-ein-drama-in-fuenf-aktena-879255.html [Zugriff: 18.03.2015].
Die relevante Passage lautet verschriftlicht: Wensierski: »…mit dem [Generalvikar Kaspar) sind
Sie ja Erster Klasse nach Indien geflogen, hin und zurück!« Tebartz-van Elst: »Nein, wir sind zu
diesen Projekten hingeflogen, und zwar so wie es die Reisekonditionen der Deutschen
Bischofskonferenz und auch unseres Bistums sind!« Wensierski: »Aber Erster Klasse sind Sie
geflogen!« Tebartz-van Elst: »Business Class sind wir geflogen!« Vgl. Schäfers, Alfons:
Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Bischof von Limburg.
Andere Beispiele sind das Dioxin-Schema, das nach dem katastrophalen Chemieunfall 1976 bei
Seveso etabliert wurde oder das Pädophilie-Schema, das Mitte der 1990er-Jahre in Zusammenhang
mit den 1993 beginnenden »Wormser Kinderschänder«-Prozessen geprägt und 2004 durch den
spektakulären Prozess gegen den bereits einmal verurteilten und begnadigten Wiederholungstäter
Marc Dutroux etabliert wurde.
Vgl. zum Folgenden Kepplinger, Hans Mathias / Lemke, Richard: Framing Fukushima.
Vgl. zum Folgenden Kepplinger, Hans Mathias / Lemke, Richard: Instrumentalizing Fukushima.
Vgl. Mikalsen, Yngve: Der Einfluss von Schemata; Mantow, Wolfgang: Die Ereignisse um Brent
Spar.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Journalismus als Beruf, S. 129–148.
Vgl. Berens, Harald: Prozesse der Thematisierung in publizistischen Konflikten.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Grenzwertiger Journalismus.
5. Die Dramatisierung des Geschehens
Fast alle Skandale beruhen auf Dramatisierungen. Da meist viele Fakten
unklar sind, charakterisierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.04.2015)
das Verfahren treffend als »Dramatisierung des Unbewiesenen«. Sie ist eine
Spezialität der Boulevardmedien, findet sich jedoch auch in anderen Medien,
die mit Verweis auf die Boulevardpresse gerne von ihren eigenen Praktiken
ablenken. Als erste Hinweise auf Ehec-Erkrankungen vorlagen,
veröffentlichte z. B. die Rhein Main Presse die alarmierende Kurzmeldung:
»Lebensgefährlicher Darmkeim entdeckt« (23.05.2011). Zwei Tage darauf
titelte das Blatt: »Ehec – die ersten Toten«. Einen Tag später meldete eine
Überschrift auf Seite 1: »Immer mehr schwere Ehec-Fälle«, weitere zwei
Tage später lautete die Schlagzeile: »Ehec breitet sich rasant aus«. In der
Unterzeile war zu lesen, dass es »jetzt schon sechs Tote« gab. Dieser relativ
einfache Fall illustriert die Dramaturgie einer erfolgreichen Dramatisierung –
die schrittweise Steigerung des Gefahrenpotentials. Typisch für die
Skandalisierung von Risiken durch Dramatisierung sind zwei Merkmale, die
die erwähnten Meldungen aufweisen – die verbale Aufblähung der Größe
von Schäden und das Verschweigen ihrer geringen Wahrscheinlichkeit.1
Diese Rhetorik zeigen zahlreiche Beispiele.
Bei der Skandalisierung des Militäreinsatzes gegen Saddam Hussein
spekulierte der Spiegel (04.03.1991) in seiner Titelgeschichte »Schwarzen
Regen« über mehrere Untergangszenarien: »Wird in Indien der Monsun
ausbleiben? Wird das Weltklima gestört, der Treibhauseffekt weiter
angeheizt?« Bereits im Vorspann hieß es: »Bis die Ölbrände gelöscht sind,
können Jahre vergehen.« Zweifel von Experten an den Vorhersagen wurden
als Beschwichtigungsversuche von Personen charakterisiert, »die auch den
Atomkrieg noch für führbar halten wollten«. Der Spiegel, der normalerweise
nicht durch Bibelgläubigkeit auffällt, unterfütterte seine Horrorszenarien mit
einem Zitat aus Kapitel 9 der »Offenbarung«, in dem der Prophet den
Untergang der Welt als Folge eines Kriegs um Babylon schildert: »Und er tat
den Brunnen des Abgrunds auf, und es ging auf ein Rauch aus dem Brunnen
wie der Rauch eines großen Ofens, und es ward verfinstert die Sonne und die
Luft von dem Rauch des Brunnens.« Nach dem Austritt von orthoNitroanisol bei der Hoechst AG schrieb die Frankfurter Rundschau
(23.02.1993): »Gelber Giftregen verseucht Frankfurts westliche Stadtteile«.
Einen Tag späterer entdeckte Bild eine Langzeitbedrohung: »Frankfurter
Gift-Explosion. Schwanheim ein Jahr verseucht«. Eine Woche nach dem
Unfall verstieg sich der Toxikologe Otmar Wassermann im Hessischen
Fernsehen zu der Forderung, Kinder müssten »jetzt in der akuten Phase«
evakuiert werden. »Nach 14 Tagen (…) oder nach einer Woche« könnten sie
dann wieder zurückkehren. Am folgenden Tag legte Bild nach: »HoechstSkandal. Mütter flehen: Holt unsere Kinder aus dem Gift«. Anfang März
präsentierte die ARD Mitarbeiter der Hoechst AG, deren Stimmen technisch
verzerrt und deshalb unverständlich waren. Dazu hieß es:
»Wissenschaftlicher Werte-Wirrwarr und Inflation von sogenannter
Information, aber nichts, was die Angst nehmen könnte in Sachen Gift und
Langzeitwirkung.« »Die Giftbelastung soll«, so der Reporter, »abnehmen,
doch die Angst nimmt zu«. Belegt wurde das durch Zeitlupenaufnahmen von
Reinigungsarbeiten, windverwehten Plastikteilen und einem einsamen Kind
auf weiter Flur. Ihm stellte der Reporter die verschlagene Frage: »Und wie ist
es mit dir, hast du Angst vor dem Gift für dich?«
Den Einsatz der GSG 9 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen, bei dem der
mutmaßliche RAF-Terrorist Wolfgang Grams erschossen wurde,
skandalisierte Bild (29.06.1993) mit der Behauptung, auf dem Bahnhof habe
eine »wilde Schießerei« stattgefunden, die zu einem »Blutbad« geführt habe.
Monitor (01.06.1993) und der Spiegel (05.06.1993) stellten die Erschießung
von Grams als Hinrichtung bzw. Exekution dar. Den Einsatz bezeichnete er
als »blutigen Shootout« und »Wildwest-Ballerei«. Die Zeit (23.06.1993)
charakterisierte ihn als »Katastrophe« und »Desaster«. Fehler beim Einsatz
der GSG 9 wurden als Folge von Unfähigkeit gebrandmarkt. Für die Zeit
(20.08.1993) waren sie das Ergebnis »gedankenloser Versäumnisse«, der
Spiegel (27.09.1993) sprach von »Schlampereien« und »Schludereien«. Für
die Süddeutsche Zeitung (08.11.1993) war der Einsatz der GSG 9 in Bad
Kleinen, bei dem mit der Verhaftung von Birgit Hogefeld die erste
Festnahme seit Jahren gelungen war, »das größte Desaster der
Sicherheitskräfte im Kampf gegen den linken Terrorismus«.
Bei der Skandalisierung der BSE-Infektionen deutscher Rinder wurden
2000/2001 wochenlang erschreckende und ekelerregende Bilder von kranken,
sterbenden und toten Tieren in Nachrichten, Magazinen und
Sondersendungen des Fernsehens präsentiert, die das Elend der Tiere zeigten
und entsprechende Emotionen weckten, mit BSE aber nichts zu tun hatten.
Ausgiebig wurde das grauenhafte Schicksal von Menschen dokumentiert, die
an der mit BSE verwandten Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (vCJK)
leiden. Die meisten Medien berichteten wie bei einem Preisschießen über
jeden neuen Treffer. Positiv getestet wurden bis Ende 2001 131 Rinder. Die
entscheidende Zahl, die man benötigt hätte, um sich ein Urteil über die
Risiken zu bilden, brachten die meisten Medien allerdings nicht – die Zahl
der getesteten Rinder. Auf dem Höhepunkt der Krise im Jahr 2001 waren es
über 2.860.000. Folglich betrug der Anteil der positiv getesteten Rinder 0,004
Prozent. Wie wahrscheinlich war es demnach, dass man durch den Genuss
von deutschem Rindfleisch an vCJK erkrankte? Die genaue Antwort ist bis
heute unbekannt. Eine sachlich richtige Antwort hätte aber lauten können: Es
ist gefährlicher zu heiraten als Rindfleisch zu essen, weil mehr Menschen von
ihrem Partner ermordet werden, als durch den Verzehr von Rindfleisch ums
Leben kommen. Trotzdem wurde BSE zum Anlass des größten
Nahrungsmittelskandals der Nachkriegszeit.
Ein sehr erfolgreicher Beitrag zur Skandalisierung der deutschen
Kernenergie war die publizistische Dramatisierung des Brandes eines
Transformators im AKW Krümmel am 28. Juni 2007. Die Entschlossenheit
zur Dramatisierung zeigte sich besonders deutlich, als längst klar war, dass er
kerntechnisch irrelevant war. Fünf Tage nach dem Brand behauptete n-tv,
aufgrund des Brandes sei »es zu wesentlich weitgehenderen Störungen
gekommen als bisher bekannt« wurde. Einen Tag darauf suggerierte der
Sender mit der Behauptung, die Störungen hätten »Auswirkungen auch auf
das ›Herz‹ des Atommeilers« gehabt, das Gegenteil dessen, was inzwischen
bekannt war. Sueddeutsche.de legte am Morgen desselben Tages mit der
falschen Behauptung nach, »auch (das) Reaktorgebäude (sei) vom Feuer
betroffen«. Am späten Nachmittag schob Sueddeutsche.de die Behauptung
nach, der Brand habe »sich auch auf den Reaktor ausgewirkt«, was den
falschen Eindruck vermittelte, dass der Reaktor in irgendeiner Weise
beschädigt worden sei. Zugleich bekannte Sueddeutsche.de, was das Ziel der
Skandalisierung
des
Transformatorbrands
war:
eine
generelle
»Sicherheitsdebatte um die Kernkraft«. Als sich die Behauptungen über die
Auswirkungen des Brandes auf die kerntechnischen Anlagen nicht mehr
aufrechterhalten
ließen,
machten
viele
Medien
aus
den
Kommunikationsmängeln des Unternehmens ersatzweise ein für die Zukunft
der Kernenergie ebenso relevantes Drama.
Die Skandalisierung von Missständen führt oft zu einer Häufung
rhetorischer Mittel. Ein Beispiel ist die Skandalisierung der Frankfurter
Kulturdezernentin Linda Reisch in der sogenannten »Intendantenaffäre«.2
Anlass war eine rechtlich fragwürdige Entscheidung Reischs, wegen der die
Stadt Frankfurt am Main Anwaltskosten übernehmen musste, die in
Zusammenhang mit der geplanten Umstrukturierung der städtischen Bühnen
entstanden waren. Die Berichte, die das Verhalten von Reisch
skandalisierten, enthielten signifikant mehr rhetorische Sprachfiguren als die
Beiträge, die es nüchtern als Fehlentscheidung präsentierten. Je mehr
rhetorische Mittel die Artikel enthielten, desto stärker vermittelten sie den
Eindruck, dass es sich bei dem Vorgang um einen Skandal handelte. Einige
rhetorische Figuren fanden sich besonders häufig. Dazu gehörten Metaphern
(»ihre Fähigkeit, Hornhaut zu bilden«, »klebt an ihrem Stuhl«, »geht in
Deckung«), Antonomasien (»Zoo- und Freizeitdezernentin«), Neologismen
(»Reischs-Absäge-Versuche«) und rhetorische Fragen (»Sollte das wirklich
alles gewesen sein?«). Einige Medien ließen das Geschehen mithilfe
rhetorischer Figuren besonders verwerflich erscheinen, obwohl sie keine
wesentlich andere Sachinformationen lieferten als andere. Während
beispielsweise die Frankfurter Rundschau neutral einen materiellen Schaden
meldete (»Der Stadt entstanden Kosten von 143.000«), behauptete die
Frankfurter Neue Presse, »durch die Eigenmächtigkeit von Linda Reisch
(wurden) fast 250.000 Steuergelder verplempert«. Letztlich setzte sich die
Sicht- und Darstellungsweise der Skandalisierer durch und Reisch musste
gehen.
Eine besondere Form der Übertreibung ist die Aneinanderreihung
tatsächlicher oder scheinbar ähnlicher Fehler und Verfehlungen, die einzeln
betrachtet kaum Beachtung fänden, aber entsprechend zubereitet ein
skandalträchtiges Schema bestätigen. Ein Beispiel ist die Skandalisierung von
Wulff. In chronologischer Reihenfolge kann man 15 Hauptthemen seiner
Skandalisierung unterscheiden: Hausfinanzierung, Geschäftsbeziehungen,
Urlaubsaufenthalte, Buchfinanzierung, Reaktionen auf Vorwürfe, DiekmannAnruf,
Nord-Süd-Dialog,
Autos,
Upgrades,
Finanzierung
Mitgliederzeitschrift,
Anwaltstätigkeit,
Glaeseker,
Kleidung,
Firmenförderung und kostenloses Handy. Die meisten dieser
themenspezifisch zusammengefassten Vorwürfe bestanden ihrerseits aus
Serien von Einzelvorwürfen – beim Hauptthema Hausfinanzierung ging es
um einen Privatkredit von Edith Geerkens, ein Geldmarktdarlehen der BWBank, einen Privatkredit Egon Geerkens und ein Hypothekendarlehen der
BW-Bank. Beim Hauptthema Urlaubsreisen ging es um Urlaube auf Mallorca
2010, in Florida 2009/2010, in Italien 2008, in Spanien 2003 und 2004, auf
Norderney 2008 und 2009 sowie auf Sylt 2007 und 2008. Beim Hauptthema
Autos ging es um einen Skoda, einen Audi Q3 und ein Bobby-Car.3
Vermutlich kann sich kaum noch jemand an alle Vorwürfe erinnern, die
damals mosaikartig zum Bild eines Mannes zusammengefügt wurden, der
charakterlich für sein Amt ungeeignet war. Vermutlich werden noch weniger
wissen, welche Vorwürfe sich als substanziell erwiesen haben und welche
nicht – falls sie das überhaupt erfahren haben.
Eine effektive, weil suggestive Form der Dramatisierung sind
schemagerechte Fotos und Filme. Ein Beispiel ist die stereotype Darstellung
von Bischof Tebartz-van Elst aus der Froschperspektive möglichst im vollen
Ornat mit segnenden Händen, geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen.4
Zuweilen wird die suggestive Wirkung von Bildern durch Zeitlupen und
Vergrößerungen gesteigert, so in einem Fernsehbericht über den orthoNitroanisol-Unfall bei der Hoechst AG. Mitunter werden tage- und
wochenlang Angst bzw. Mitleid erregende Aufnahmen ohne Neuigkeitswert
wiederholt, so bei der Berichterstattung der meisten deutschen Medien über
Explosionen im Kernraftwerk bei Fukushima und bei der Berichterstattung
von ARD und ZDF über Migranten, die zusammengedrängt in
Schlauchbooten saßen oder vor Zäunen standen.
Überblickt man die Dramatisierung zur Skandalisierung von Missständen,
kann man sieben Typen erkennen:
1. Horror-Etiketten: Missstände oder Schäden werden mit extremen
Begriffen bezeichnet (»Waldsterben«, »Giftregen«, »Schwarzer Regen«,
»Killerbakterien«, »Katastrophe«, »Desaster«, »Super-GAU«,
»Pandemie«, »dänische Killer-Wurst«). Dazu gehört zunehmend auch die
irrführende, weil das reale Risiko ausklammernde, Verwendung des
Begriffs »krebserregend«.
2. Verbrechens-Assoziationen: Normverletzungen werden als schwere
Kriminalität oder als schwerere Verstöße gegen allgemeine ethische
Grundsätze charakterisiert (»Lauschangriff«, »Verfassungsbruch«,
»Wasserdiebstahl«, »Blutbad«, »Blutordensträger«, »Killer«,
»Komaschläger«).
3. Schmähungen: Sie bilden bei politischen und kirchlichen Skandalen das
Pendant zu den Horror-Etiketten und bei Industrie- und Umweltskandalen
das Pendant zu den Verbrechensassoziationen (»Amigo«, »SalmonellenPate«, »Ekel-Bäcker«, »Protzbischof«, »wulffen«).
4. Katastrophen-Suggestionen: Mögliche Maximalschäden werden als
aktuelle Gefahr präsentiert, ihre tatsächliche Unwahrscheinlichkeit
ausgeblendet (BSE, Vogelgrippe, Schweinegrippe, Tschernobyl,
Fukushima).
5. Katastrophen-Collagen: Missstände und Schäden werden in eine Reihe
mit Extremfällen gestellt: »Nach dem unheimlichen Angriff der
Aidsviren, des Rinderwahnsinns und der Schweinepest formieren sich
nun die Killerbakterien zum finalen Schlag gegen die Menschheit«
(Spiegel-TV, 29.05.1994).5
6. Serielle Skandalisierungen: Kleinere Normverletzungen, die kaum
Beachtung finden würden, werden als Teil einer Serie von ähnlichen
Fällen dargestellt, die den Eindruck eines großen Missstands hervorrufen,
dessen Ursache im Charakter des Akteurs liegt (Krause: Raststätten-,
Grundstücks-, Putzfrauen-, Umzugs-, Kneipen-Affäre; Biedenkopf:
Gästehaus-, Koch-, Gärtner-, Putzfrauen-, Yacht-Affäre; Scharping: Pool-
, Flugbereitschafts-, PR-Affäre).6
7. Optische Übertreibungen: Missstände, Schäden und Normverletzungen
werden durch Fotos oder Filme als besonders schwerwiegend, gefährlich
oder beängstigend dargestellt: die exzessive Darstellung von
Schlachthofszenen bei der Skandalisierung von BSE. Gelegentlich
werden Aufnahmen von Sachverhalten veröffentlicht, die ein Laie nicht
interpretieren kann, jedoch Angst erregen: Bilder von Chinesen mit
Mundschutz, dessen Effektivität höchst fragwürdig ist, bei der
Skandalisierung von SARS.
Die praktische Bedeutung skandalisierender Übertreibungen erkennt man gut
anhand der Risikowahrnehmung: Die meisten Menschen überschätzen die
tödliche Gefahr, die von selten auftretenden Risikofällen ausgeht. Der
Grenzwert hierfür liegt etwa bei 1.000 Toten pro Jahr. Todesfälle, die seltener
auftreten, werden überschätzt, Todesfälle, die häufiger auftreten,
unterschätzt.7 So überschätzten in einem Experiment Studenten anhand eines
neutralen Berichtes über angeblich neue BSE-Fälle in den USA und Kanada
die Häufigkeit der BSE-infizierten Rinder in Deutschland um den Faktor
2.000. Diese generelle Fehlwahrnehmung wurde durch Übertreibungen noch
erheblich vergrößert: Ein dramatisierender Bericht über neue Fälle in den
USA und Kanada, der eine generelle Gefahr durch BSE suggerierte, steigerte
die Fehlwahrnehmung auf mehr als das Doppelte.8 Ähnliche
Fehlwahrnehmungen werden durch Darstellung atypischer Einzelfälle
verursacht. Ein Beispiel ist die in einem Experiment getestete Wirkung von
Berichten über Überfälle auf Autos (»carjacking«).9 In der Regel gehen diese
Überfälle glimpflich aus, Todesfälle sind extrem selten. Enthielten Berichte
über solche Überfälle aber Schilderungen von konkreten Fällen,
überschätzten die Leser die Häufigkeit tödlicher Überfälle umso mehr, je
brutaler die geschilderten Fälle waren – und zwar auch dann, wenn der Text
korrekte Angaben zur tatsächlichen Häufigkeit tödlicher Fälle enthielt.
Zudem hielten die Leser Extremfälle besonders häufig für typisch und
betrachten Auto-Überfälle insgesamt häufiger als ein nationales Problem.
Dadurch gewannen die individuellen Fehlurteile politische Relevanz. Die
Dramatisierung von Risiken führte auch hier dazu, dass die
Fehleinschätzungen noch größer wurden, als sie es ohnehin sind. Es handelt
sich folglich bei den geschilderten Praktiken um grobe Irreführungen des
Publikums.
Was ist die Ursache von medialen Übertreibungen? Liegt es an einer
allgemeinen Vorliebe von Journalisten für Übertreibungen? Das trifft, wie
eine Befragung von Redakteuren bei Tageszeitungen im Winter 1998/1999
zeigt, nur bedingt zu.10 Basis ist folgende Sachdarstellung: »Journalisten
stellen Probleme gelegentlich überspitzter dar, als sie nüchtern betrachtet
sind. Halten Sie eine solche Darstellung für vertretbar oder nicht?« Ein
Viertel der Redakteure (26 %) hielt überspitzte Darstellungen generell für
akzeptabel. Dies ist eine bemerkenswerte Minderheit. Eine gewisse
Bereitschaft zur Dramatisierung ist offensichtlich vorhanden; eine generelle
Neigung zur Dramatisierung von Missständen lässt sich daraus jedoch nicht
ableiten, zumal dieser Gruppe eine ähnlich große Minderheit (20 %)
gegenüberstand, die Übertreibungen generell ablehnte. Für die meisten
Redakteure (52 %) waren überspitzte Darstellungen nur »in Ausnahmefällen
(…) vertretbar«. Welche »Ausnahmefälle« rechtfertigen Übertreibungen?
Ihre Verwendung »als Stilmittel, zum Beispiel in Glossen« akzeptierte kaum
ein Redakteur (2 %) als Grund. Ähnlich wenige waren der Meinung, die
Möglichkeit zur »Diskussionsanregung« rechtfertige einen Verstoß gegen die
Forderung nach objektiver Berichterstattung (5 %). »Die Zwänge des
Wettbewerbs um Leser« nannten einige mehr. Allerdings war es nicht einmal
ein Fünftel (18 %). Auch den »Reiz einer starken Geschichte«, den man
durch eine Zuspitzung erreichen kann, ließ nur eine Minderheit (26 %)
gelten. Ganz anders sieht es aus, wenn es um »die Beseitigung eines
Missstandes« geht – und genau darum geht es bei einem Skandal. Das
rechtfertigte nach Ansicht fast aller Journalisten (88 %), die nur in
Ausnahmefällen Überspitzungen akzeptieren, übertriebene Darstellungen.
Bei der Skandalisierung von Missständen hielt demnach nicht nur das Viertel
der Redakteure Übertreibungen für vertretbar, das sie generell akzeptierte.
Hinzu kamen jene, die Übertreibungen nur in Ausnahmefällen wie der
Beseitigung eines Missstandes akzeptierten. Betrachtet man alle zusammen,
hielten rund 70 Prozent der Redakteure bei Abonnementzeitungen
Übertreibungen zur Beseitigung eines Missstandes für vertretbar. Der Anteil
dieser Journalisten dürfte heute eher noch größer als kleiner sein.
Aus der offensichtlich weitverbreiteten Billigung von Übertreibungen zur
Beseitigung – und vermutlich auch der Vermeidung – von Missständen
lassen sich drei Folgerungen ableiten: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein
Journalist einen Missstand übertreibt, ist generell groß, wenn er der Meinung
ist, dass er ihn damit verhindern, vermindern oder beseitigen kann. Das
Wissen eines Journalisten, dass die meisten seiner Kollegen eine übertriebene
Darstellung billigen, fördert seine ohnehin vorhandene Bereitschaft zur
Übertreibung zusätzlich. Der Journalist muss, falls sich seine übertriebene
Darstellung als falsch erweist, nicht mit Kritik seiner Kollegen rechnen.
Verschärft wird die Problematik durch einen weiteren Faktor – das Ausmaß
der Missstände: Je schwerwiegender ein existierender oder drohender
Missstand erscheint, desto eher erscheinen Übertreibungen im Interesse
seiner Beseitigung oder Verhinderung akzeptabel. Deshalb geschehen die
absurdesten Übertreibungen bei der Skandalisierung der vermeintlich größten
Missstände – bei der Darstellung der Gefährdung der Bevölkerung im
Umkreis der Hoechst-Werke durch ortho-Nitroanisol, der Bewohner im
Nahen Osten durch brennende Ölquellen, der Patienten durch
»Killerbakterien«, der deutschen Bevölkerung durch die Kernenergie usw.
Die Akzeptanz von Übertreibungen im Journalismus hängt folglich auch
davon ab, ob es den Wortführern eines Skandals gelingt, den Schaden
möglichst groß erscheinen zu lassen. Je besser ihnen das gelingt, desto eher
brechen die Dämme von ansonsten intakten Berufsnormen.
Der Glaube an die Zulässigkeit von Übertreibungen hat eine manifeste
und eine latente Ursache. Die manifeste Ursache ist der mit Übertreibungen
verbundene moralische Anspruch: Es geht um die Bewahrung der
Gesellschaft und einzelner Menschen vor Schäden aller Art. Die meisten
Journalisten sind davon überzeugt, dass sie ein moralisches Verdienst daran
haben, wenn ihre Berichte Missstände verhindern oder mindern. Die latente
Ursache von Übertreibungen ist Eigennutz: Es geht um die Profilierung von
Journalisten und um die Reichweite ihrer Medien. Beide Motive sind legitim,
sofern die Übertreibungen nicht zulasten Dritter gehen. Genau das ist aber
fragwürdig. Die Bereitschaft zur übertriebenen Darstellung und damit zur
Skandalisierung von Missständen beruht nämlich auf einer Kette von
impliziten Annahmen, über die sich die meisten Journalisten vermutlich nicht
im Klaren sind.
Der Missstand muss tatsächlich so groß sein, dass er eine übertriebene
Darstellung rechtfertigt. Das ist oft nicht der Fall. Seine publizistische
Übertreibung muss tatsächlich die beabsichtigten Folgen auslösen. Das ist oft
nicht vorhersehbar. Die Folgen müssen allgemein als positiv gelten. Das trifft
oft nicht zu, weil unterschiedliche Menschen unterschiedliche Interessen
haben. Zudem darf die Übertreibung keine unbeabsichtigten negativen
Nebenfolgen besitzen. Das ist aber häufig der Fall. Skandalisierende
Übertreibungen verursachen ein breites Spektrum von negativen
Nebenwirkungen. Dazu gehören die Irreführung des Publikums durch
übertriebene Darstellung von Risiken – vor allem bei Arzneimittel- und
Lebensmittelskandalen; die Verhaltenskonsequenzen solcher Irreführungen –
darunter der Boykott von Lebensmitteln und die Nichteinnahme
verschreibungspflich-tiger
Medikamente
(Non-Compliance);
die
gesundheitlichen
Folgen
und
materiellen
Kosten
dieser
Verhaltenskonsequenzen sowie fragwürdige politische und rechtliche
Entscheidungen als Reaktionen auf übertriebene Hoffnungen, Ängste und
Erwartungen des irregeführten Publikums.
Zu den Nebenfolgen der Skandalisierung von Missständen gehören auch
ihre problematischen Auswirkungen auf den Journalismus. Zwei Drittel der
deutschen Journalisten äußerten 1989 auf die Frage, was »das
Selbstverständnis und die Arbeitsweise von Journalisten … in der BRD in
den letzten zwanzig oder dreißig Jahren geändert« habe: »die Aufdeckung
von Skandalen« wie die Flick-Affäre und die Affäre um die Neue Heimat. Je
jünger die Journalisten waren, desto häufiger waren sie dieser Meinung.11
Eine Schlüsselstellung hatte die »Spiegel-Affäre«: Von den Journalisten, die
die Verhaftung von Rudolf Augstein miterlebt und den Rücktritt von Franz
Josef Strauß verfolgt hatten, war ein gutes Drittel der Ansicht, dass diese
Auseinandersetzung das Selbstverständnis und die Arbeitsweise der
deutschen Journalisten geprägt hat. Von ihren jüngeren Kollegen, die schon
aufgrund ihres Alters den aktuellen Bericht des Spiegels über das NATOManöver »Fallex 62« nicht lesen konnten und die das Geschehen nur aus den
Berichten anderer kannten, waren es mehr als die Hälfte: Die Schilderungen
vor allem von Kollegen haben aus einem bedeutenden Ereignis einen
journalistischen Mythos gemacht, der ein Eigenleben führt. Der Einfluss der
Skandalisierung des Spiegels durch die Bundesregierung und der
Skandalisierung der Bundesregierung durch den Spiegel, der Einfluss dieser
wechselseitigen Skandalisierungen also, auf die nachwachsende
Journalistengeneration dürfte ein Sonderfall, jedoch kein Einzelfall sein. Geht
man von der plausiblen Vermutung aus, dass auch spätere Skandale – der
Flick-Skandal, der Neue Heimat-Skandal usw. – das Selbstverständnis der
aktuellen und zukünftigen Kollegen geprägt haben, kann man folgern, dass
vergangene Skandale die Zukunft des Journalismus prägten und prägen. Eine
Folge ist die zunehmende Skandalisierung von Missständen, die viele
Journalisten als Erfolg und Fortschritt betrachten.
Diese skizzierte Entwicklung hat Konsequenzen, die weit über den
Journalismus hinausreichen: Wenn die Chancen steigen, durch die
Skandalisierung anderer die eigenen Ziele zu erreichen, erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit derartiger Versuche. Seit den späten 1960er-Jahren
wächst infolge der zunehmenden Skandalisierung von Politikern durch die
Medien die Neigung von Politikern zur Skandalisierung von Konkurrenten.
Einen Vorgeschmack lieferte 1973 die öffentliche Demontage Willy Brandts
durch Herbert Wehner, die den Weg für die Skandalisierung seiner
Frauenaffären bahnte. Einen ersten Höhepunkt bildete 1987 die
Skandalisierung von Barschel, die mit seinem Tod endete.12 Es folgte
1999/2000 die Skandalisierung von Kohl wegen der Annahme und NichtDeklarierung von Spenden, die von CDU-Politikern wie Geißler und Merkel
angeheizt wurde. Die vorläufigen Höhepunkte bildeten 2011/12 und 2012/13
die Skandalisierungen von Wulff, eine Eigenleistung der Medien, sowie von
Tebartz-van Elst, eine Kollektivleistung innerkirchlicher Kritiker und
gleichgesinnter Medien. Die erwähnten Fälle sind allerdings nur die Spitze
eines Eisbergs, weil die Skandalisierung der Gegner in vielen Bereichen,
darunter die Landes- und Regionalpolitik sowie die Wirtschaft und
Wissenschaft, inzwischen zu den erfolgversprechenden Mitteln des
Konkurrenz- und Machtkampfs gehört.
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10
11
12
Vgl. dazu Berger, Charles R.: Making it worse than it is.
Vgl. Schraewer, Claudia: Rhetorische Mittel bei der Skandalisierung von Linda Reisch.
Vgl. Smajlovic, Mina: Die Skandalisierung bei Christian Wulff, S. 54–62.
Vgl. Kettmann, Otto: Limburg 2013, S. 85-90. Siehe dazu auch von Sikorsky, Christian / Ludwig,
Mark: Zur Relevanz und Wirkung visueller Skandalberichterstattung.
Vgl. Kalt, Gero / Hanfeld, Michael (Hg.): Schlecht informiert. Wie Medien die Wirklichkeit
verzerren.
Aktuelle Beispiele sind die Skandalisierungen von Wulff, Tebartz-van Elst oder Steinbrück.
Vgl. Lichtenstein, Sarah / Slovic, Paul / Fischhoff, Baruch / Layman, Mark / Combs, Barbara:
Judged Frequency of Lethal Events.
Vgl. Effgen, Thorsten: Der Einfluss von Frames auf die Einschätzung von BSE-Risiken.
Vgl. Gibson, Rhonda / Zillmann, Dolf: Exaggerated Versus Representative Exemplification in
News Reports; siehe hierzu auch von Sikorski, Christian / Ludwig, Mark: Visual Framing in der
Skandalberichterstattung.
Vgl. zum Folgenden Kepplinger, Hans Mathias: Journalismus als Beruf, S. 163–176.
Vgl. Ehmig, Simone C.: Generationswechsel im deutschen Journalismus, S. 205–216.
Vgl. Zons, Achim: Das Denkmal.
6. Koorientierung und Konsens
Die Angehörigen aller Berufe orientieren sich in beruflichen Angelegenheiten
vor allem an ihren Kollegen. Das machen Apotheker, Ärzte, Architekten und
natürlich auch Journalisten. In keinem Beruf ist aber die
Kollegenorientierung ein derart wichtiger Teil der Berufsroutine wie im
Journalismus. Hörfunkmitarbeiter lesen am frühen Morgen Zeitungen, um
passende Beiträge für Wort- und Musiksendungen zu finden;
Zeitungsredakteure verfolgen von morgens bis abends Hörfunknachrichten;
Fernsehjournalisten orientieren sich an der Einordnung des Geschehens durch
die Leitartikel von Tageszeitungen – und alle verfolgen nahezu permanent,
welche aktuellen Meldungen gerade im Internet aufkommen: Über ein Drittel
(35 %) der oft in leitenden Positionen tätigen Journalisten erklärte 2014 bei
einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, die sozialen Medien
würden bei der Diskussion über die Themenwahl eine große oder sehr große
Rolle spielen. Allerdings deuten erste Untersuchungen darauf hin, dass die
Online-Portale der traditionellen Medien, darunter Spiegel Online, ZDF.de,
Sueddeutsche.de usw. – die mit Abstand größte Meinungsrelevanz besitzen.1
Die intensive Koorientierung der Journalisten dient mehreren Zwecken – der
Suche nach Themen, der eigenen Recherche, der Bewertung eigener Beiträge
durch den Vergleich mit Publikationen anderer Medien usw.2 Besonders
wichtig ist bei der Bewertung der eigenen Berichterstattung der Blick auf
ähnliche Medien: Redakteure überregionaler Zeitungen orientieren sich vor
allem an der überregionalen Presse, Redakteure regionaler Zeitungen an der
Regionalpresse, Radiojournalisten an Radiosendungen, Fernsehjournalisten
an Fernsehsendungen. Ursachen und Folgen sind gattungsspezifische
Eigenarten.
Trotz der Orientierung der meisten Journalisten an der eigenen
Mediengattung
existieren
gattungsübergreifende
Hierarchien
mit
Schlüsselmedien und Schlüsselfiguren. An der Spitze stehen die
überregionalen Abonnementzeitungen, wobei die Frankfurter Allgemeine
Zeitung vor allem bei den gemäßigt rechten und die Süddeutsche Zeitung vor
allem bei den gemäßigt linken Journalisten als Leitmedien fungieren. Zudem
spielen Spiegel und Zeit bei den eher linken Journalisten eine große Rolle.
Für die Hörfunk- und Fernsehjournalisten sind Boulevardmedien wichtige
Bezugsgrößen. Diese Schlüsselmedien sind bei Skandalen besonders dann
einflussreich, wenn sie – wie Spiegel, Bild und Frankfurter Allgemeine
Zeitung im Fall von Wulff und im Fall von Tebartz-van Elst – an einem
Strang ziehen: Ihr gemeinsamer Tenor verleiht ihnen zusätzliche
Glaubwürdigkeit und fördert in unterschiedlichen Teilen der Medien und der
Gesellschaft ähnliche Sichtweisen.
Aus der Skandalisierung eines Missstands durch fast alle Medien lässt
sich nicht folgern, dass alle Journalisten und Medien ihn in gleicher Weise
skandalisieren. Bei jedem Skandal gibt es im Journalismus wenige
Wortführer, einige Mitläufer, viele Chronisten und kaum Skeptiker. Die
Wortführer recherchieren meist intensiv, bevor sie einen Fall publik machen.
Sie
haben
gute
Kontakte
zu
Informanten,
verfügen
über
Hintergrundinformationen und ausgezeichnete Detailkenntnisse. Ab einem
bestimmten Punkt sind sie von der Wahrheit ihrer Sichtweise fest überzeugt.
Sie glauben an die Schuld des Skandalisierten, interpretieren ihre
Informationen dementsprechend, betrachten Zweifel an ihrer Darstellung als
Vertuschungsversuch und revidieren ihre Sichtweise meist auch dann nicht,
wenn sie sich als falsch erweist. Im Zweifelsfall haben sich die Gutachter
geirrt, die Zeugen gelogen, die Gerichte falsch entschieden, oder die
Skandalisierten sind selbst schuld, weil sie sich falsch verteidigt haben. Nach
dieser Logik haben bei der Treibjagd nicht die Jäger den Hasen
abgeschossen, sondern der Hase hat sich selbst umgebracht, weil er
dummerweise in die falsche Richtung gesprungen ist.
Bei den Wortführern der Skandalisierung von Missständen handelt es sich
meist nur um drei bis fünf Journalisten. Die Skandalisierung von MüllerMilch im Jahr 1991 wurde von zwei Journalisten vorangetrieben: Klaus
Wittmann, der für mehrere Blätter schrieb, und Andreas Roß von der
Süddeutschen Zeitung. Die Wortführer der Skandalisierung von Lothar Späth
waren drei Journalisten: Benno Bertsch und Martin Born vom Südwestfunk
sowie Hans Leyendecker, der damals beim Spiegel tätig war und jetzt für die
Süddeutsche Zeitung schreibt.3 Die Wortführer der Skandalisierung von Peter
Gauweiler im Münchner Oberbürgermeister-Wahlkampf (»Kanzlei-Affäre«)
waren ebenfalls drei Journalisten: Ulrike Heidenreich von der Abendzeitung
sowie Michael Stiller und Sven Loerzer von der Süddeutschen Zeitung.4 Bei
sehr großen Skandalen wie dem CDU-Spendenskandal oder der
Skandalisierung von Wulff treiben mehr Wortführer den Fall voran, aber
auch dann sind es allenfalls fünf bis zehn Journalisten.
Der Erfolg oder Misserfolg der journalistischen Wortführer hängt von den
Mitläufern und Chronisten ab. »Wir sind darauf angewiesen«, so Georg
Mascolo, der wesentlichen Anteil an der Skandalisierung der CDU-Finanzen
hatte, »dass sich Kollegen unterhaken, dass auch andere sagen: Da müssen
wir weitermachen«.5 Nur wenn hinreichend viele Kollegen die Vorgaben der
Wortführer aufgreifen, wird aus einem Skandalisierungsversuch ein Skandal.
Diese Erfahrung hatte Mascolo im CDU-Spendenskandal selbst gemacht: Er
hatte am 19. Juli 1999 – dreieinhalb Monate bevor die Berichte über die
»Koffer-Million« an Walter Leisler Kiep Empörung über das Finanzgebaren
der CDU auslösten – im Spiegel ohne erkennbare Resonanz über den
gleichen Sachverhalt berichtet. Dort hieß es bereits damals, Leisler Kiep habe
von Karlheinz Schreiber »eine Million Mark … bekommen«. Einige Wochen
später schrieb er an gleicher Stelle, Leisler Kiep habe von Schreiber »eine
Million Mark kassiert«. Einen Skandal entfachte beides nicht, weil andere
Medien das Thema nicht aufgriffen. Was fehlte, war nicht das Wissen über
den Sachverhalt, sondern der mafiöse Aufhänger – der Koffer, der Parkplatz,
die Million in bar und der Haftbefehl gegen Leisler Kiep.
Bei den Mitläufern handelt es sich um Journalisten, die meist keine
eigenständigen Recherchen vor Ort betreiben. Sie stützen sich auf ihre
kundigen Kollegen und reichern bekannte Tatsachen mit marginalen Details
oder passenden Spekulationen an. Das trifft sogar auf sensationelle Fälle wie
den vermeintlichen Mord in Sebnitz zu. Als am 23. November 2000
zahlreiche Zeitungs-, Radio- und Fernsehreporter in die sächsische Kleinstadt
strömten, wurde die dortige Lokalredaktion der Sächsischen Zeitung
innerhalb von zwei Tagen von mehr als 50 »Ersuchen nach Interviews,
Informationsgesprächen,
Fotos
oder
Kopien
früherer
Artikel«
überschwemmt. Ein weiteres Ziel war das Dresdner Archiv der Zeitung.
Allerdings kamen »von den vielen Dutzend Journalisten, die die Sebnitzer
Redaktion um Hilfe baten, lediglich drei in die Landeshauptstadt …, um
selbst zu recherchieren. Neun ließen sich Informationen zufaxen«.6 Eine
Variante der Mitläufer sind Trittbrettfahrer, die sich selbst und ihre Anliegen
ins Gespräch bringen wollen. Beispiele sind Alice Schwarzer und Heiner
Geißler, die im Januar 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und auf
n-tv versuchten, die Skandalisierung von Brüderle wegen einer anzüglichen
Bemerkung zu einer Journalistin in eine allgemeine Gender-Debatte
umzumünzen. Damit hatten sie zwar keinen Erfolg, trugen aber zur
Rufschädigung Brüderles bei. Neuere Beispiele sind die Deutsche
Umwelthilfe und der Verkehrsclub Deutschland, die den VW-Abgasskandal
für ihre Zwecke nutzten und mit mäßigem Erfolg mehrere andere
Autohersteller verdächtigten.
Weil der Erfolg der Wortführer vom Engagement der Kollegen abhängt,
gibt es bei vielen Skandalen Absprachen zwischen den Wortführern
untereinander sowie zwischen ihnen und Mitläufern. So spielten sich z. B. bei
der Skandalisierung von Späth die Mitarbeiter des Spiegels und des
Südwestfunks gegenseitig die Bälle zu. »Den längsten Kontakt gab es«, wie
der SWF-Redakteur Born später berichtete, »in der letzten Woche vor dem
Rücktritt. Am Samstag vor dem Rücktritt haben wir einen großen Beitrag
gemacht, worin nicht nur unsere zusätzlichen Recherchen, sondern auch die
Recherchen des Spiegels, die dann am Montag erscheinen sollten, mit
verarbeitet waren. Wir hatten Freitagnacht noch lange mit den SpiegelKollegen gesprochen und denen unsere Beiträge geliefert«.7 Solche
Absprachen funktionieren jedoch nicht immer. Wie die Frankfurter
Rundschau später berichtete, hatte der Verfasser des ersten Spiegel-Artikels
über die geheimen Konten der CDU »Kollegen anderer Druckerzeugnisse
(beschworen), sich mit in die heikle Geschichte einzuklinken«.8 Er hatte
damit keinen Erfolg und folglich scheiterte der damalige
Skandalisierungsversuch. Absprachen sind normalerweise nur dann
zielführend, wenn sie nicht bekannt werden. Deshalb dürften sie wesentlich
häufiger sein als die Öffentlichkeit vermutet. Eine bedeutende Ausnahme und
möglicherweise der Auftakt für eine neue Skandalisierungspraxis war am 3.
April die sorgfältige geplante, gleichzeitige Berichterstattung zahlreicher
Medien über die Panama Papers mit Informationen über angeblich 214.488
Briefkastenfirmen. In Deutschland waren daran die ARD und die Süddeutsche
Zeitung beteiligt, die ARD mit mehreren Sendungen, darunter die Tagesschau
und Anne Will. Auch in diesem Fall war, wie Anne Will am Beginn ihrer
Sendung stolz bemerkte, strengste Geheimhaltung angesagt, aber nur bis zum
spektakulären Start. Die Aktion ist auch deshalb bemerkenswert, weil die
angesprochenen Medien im Unterschied zu den üblichen SkandalisierungsOuvertüren keine konkreten Verfehlungen anprangerten, sondern nur
generelle Verdächtigungen gegen überwiegend unbekannte Personen und
Organisationen verbreiteten. Es handelte sich folglich um eine bislang
einzigartige PR-Aktion, die Interesse für das wecken sollte, was noch
kommen würde.
Neben den Mitläufern finden sich zahlreiche Chronisten, die selbst keine
Wertungen einbringen, aber durch ihre Berichte über die Vorwürfe anderer
der Skandalisierung Glaubwürdigkeit und Gewicht verleihen. Dabei
engagieren sich meist einige Journalisten besonders eifrig. So stammte bei
der Skandalisierung der bereits erwähnten Störfälle und Betriebsstörungen
der Hoechst AG mehr als die Hälfte von 656 namentlich gekennzeichneten
Beiträgen von 14 Journalisten. Der aktivste Autor hatte 75 Beiträge verfasst;
zwei weitere 40 bzw. 34.9 Bei der Skandalisierung von Müller-Milch
stammte die Hälfte von 116 namentlich gekennzeichneten Beiträgen von
sechs Journalisten – den beiden Wortführern und vier Kollegen.10 Bei der
Skandalisierung von Gauweiler während des Münchner OberbürgermeisterWahlkampfs stammte die Hälfte der 56 Artikel zur Kanzlei-Affäre von vier
Journalisten, darunter die drei Wortführer.11
Bei nahezu allen Skandalen gibt es im Journalismus Skeptiker, die den
allgemein verbreiteten Sichtweisen misstrauen, diese mit Argumenten und
Fakten infrage stellen und nicht konforme Informationen neutral präsentieren.
Deshalb kann man sich, eine breit gestreute Medienauswahl vorausgesetzt,
fast immer dem Meinungsduck der Masse der Medien entziehen und eine
relativ eigenständige Meinung bilden. Das trifft vor allem auf die
Berichterstattung von Qualitätszeitungen zu, darunter die Frankfurter
Allgemeine Zeitung, die Neue Züricher Zeitung und die Süddeutsche Zeitung.
Beispiele finden sich jedoch auch in der Regionalpresse. So veröffentlichte
das Flensburger Tageblatt (15.06.1995) auf dem Höhepunkt der Erregung
über die geplante Versenkung der Brent Spar einen nüchternen und
informativen Beitrag über die Vor- und Nachteile der verschiedenen
Optionen. Und als ein Großteil der Medien eine Spiegel-Meldung über die
angeblich falschen Angaben von Kohl auch noch zusätzlich dramatisierte,
veröffentlichte der Trierische Volksfreund (07.06.2000) eine distanzierte
Darstellung, die verschiedene Deutungen zuließ. Bei den Skeptikern handelt
es sich allerdings nur um eine verschwindend kleine Minderheit, die
innerhalb und außerhalb des Journalismus kaum Gehör findet. In seltenen
Fällen werden auch ursprüngliche Wortführer zu Skeptikern, so bei der
Skandalisierung von Wulff mehrere Redakteure der Süddeutschen Zeitung.
Die Ausbreitung einer skandalisierenden Sichtweise gleicht formal der
Etablierung von Schemata, besitzt aber andere Ursachen. Gruppenspezifische
Schemata entstehen in Situationen ohne sachliche Urteilsgrundlage durch die
wechselseitige Orientierung von Gruppenmitgliedern an dominanten Figuren,
deren Realitätssicht sie mehr oder weniger bewusst und freiwillig
übernehmen. Auch bei der Skandalisierung von Missständen fehlen oft
wichtige Informationen, und deshalb folgt die Etablierung von Schemata den
gleichen Mechanismen. Bei der Verbreitung der Skandalschemata in den
Medien spielt jedoch ein weiterer Faktor eine wichtige Rolle – der
Gruppendruck durch die schnell wachsende Zahl der Mitläufer und
Chronisten. Hier geht es nicht nur um die Übernahme einer bestimmten
Realitätssicht aus Mangel an Informationen, sondern auch um die
Vermeidung der eigenen Isolation in einer bedeutsam erscheinenden
Kontroverse. Dieses Bedürfnis besteht sogar dann, wenn hinreichende
Informationen für die eigene Urteilsbildung vorliegen. Sie werden aber im
Zweifelsfall nicht genutzt oder umgedeutet. Eine wesentliche Ursache der
Ausbreitung skandalträchtiger Sichtweisen ist deshalb nicht kognitiver,
sondern sozialer Art. Den Einfluss dieser Faktoren hat der Sozialpsychologe
Solomon Asch mit einer Serie von Experimenten nachgewiesen.12
Asch ließ mehrere Personen in einer Gruppe nacheinander die Länge
einer Linie mit der Länge mehrerer anderer Linien vergleichen. Eine der
Linien entsprach unverkennbar der Vergleichslinie, die restlichen
unterschieden sich davon deutlich. Die Betrachter teilten ihre Urteile
nacheinander laut mit. Die eigentliche Testperson urteilte als Letzte; alle
anderen waren Mitarbeiter von Asch, die übereinstimmend eine
offensichtlich falsche Linie nannten. Dadurch sah sich die Testperson einer
homogenen Mehrheit ausgesetzt, deren Urteil der eigenen Wahrnehmung
widersprach. Obwohl das Urteil der Mehrheit offensichtlich falsch war,
schlossen sich ihm drei Viertel der Testpersonen zumindest gelegentlich an.
Ein Drittel folgte ihm in mehr als der Hälfte der Urteile. Derselbe
Mechanismus liegt, wie Elisabeth Noelle-Neumann mit repräsentativen
Umfragen gezeigt hat, der Entstehung der öffentlichen Meinung zugrunde:
Bei öffentlichen Kontroversen über moralisch geladene Themen verfällt die
Minderheit in Schweigen oder passt sich der Mehrheitsmeinung an, weil sie
die Isolation durch die Mehrheit fürchtet.13
Die Etablierung und Ausbreitung von skandalträchtigen Schemata in den
Medien ist in spätestens zwei oder drei Wochen abgeschlossen, oft jedoch
schon früher. Das betrifft, wie die Skandalisierungen von zu Guttenberg und
Wulff anschaulich belegen, sowohl die Gewichtung der Themen als auch die
Bewertung des Geschehens. Beide Skandale zeigen darüber hinaus, dass die
Geschwindigkeit der Schemabildung und ihr Wirkungspotenzial von der
Evidenz der Vorwürfe weitgehend unabhängig sind: Im Fall zu Guttenberg
waren die Fakten nach wenigen Tagen eindeutig, strittig war allenfalls ihre
Interpretation. Im Fall Wulff war dagegen die Faktenlage auch nach seinem
Rücktritt noch höchst fragwürdig. Eine wichtige Ursache des schnellen
Konsens in der wertenden Berichterstattung bei Skandalen ist die ohnehin
starke Koorientierung im Journalismus: Die zu Beginn noch
unterschiedlichen Urteile verschiedener Journalisten und Medien gleichen
sich innerhalb weniger Tage einander an und treffen sich im negativen
Bereich.14 Sobald dieser Zustand eingetreten ist, ist die Skandalisierung
gelungen. Dann kann der Protagonist nur noch hoffen, dass seine
Skandalisierung von wichtigeren Themen verdrängt wird oder den treibenden
Medien der Stoff ausgeht. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die
Berichterstattung über die Reaktorkatastrophe bei Tschernobyl, die den
gerade angelaufenen Skandal über das »Celler Loch« – den fingierten
Ausbruch eines auf die RAF angesetzten V-Mannes aus dem Gefängnis in
Celle – aus den Medien verdrängte. Beispiele für den zweiten Fall sind die
skandalisierenden Berichte über tödliche Nebenwirkungen von Vioxx und
Pradaxa, die sich aus Mangel an zusätzlichen Angriffspunkten innerhalb
weniger Tage totliefen.
Eine Folge der Kollegenorientierung und der Absprachen zwischen
Journalisten ist ein hohes Maß an Selbstreferenzialität der Medien: sie
berichten, was andere Medien berichten. Deshalb schaukeln sich die
Darstellungen schnell wechselseitig hoch, wobei auch jene Teile des
Journalismus mitspielen, die nicht zu den Wortführern gehören. Ein
komplexes aber anschauliches Beispiel ist die Geschichte einer Nachricht zu
Beginn des CDU-Spendenskandals. Am 4. Dezember 1999 berichtete das
ZDF in der Sendung heute über die Entlassung von Hans Terlinden, Leiter
der CDU-Hauptabteilung 1, der das Protokoll der staatsanwaltschaftlichen
Vernehmung des Steuerprüfers der CDU, Weyrauch, an Kohl statt an den
Parteivorsitzenden Schäuble gegeben hatte. In diesem Zusammenhang
zoomte der Kameramann auf eine Zeitung mit der Schlagzeile »Politiker
ruinieren ihren Ruf« und kommentierte dadurch die eigene Nachricht. Am 6.
Dezember 1999 berichtete heute über eine Strafanzeige gegen Kohl und
präsentierte die Schlagzeile der aktuellen Ausgabe von Bild: »Die schwarzen
Kassen der CDU. Kohl: Das Geheimpapier«. Gemeint war das erwähnte
Protokoll, das Bild – neben einer umfangreichen Rechtfertigung – nahezu
vollständig abgedruckt hatte. Erneut lieferte eine andere Quelle den
Kommentar zu einer Nachricht in einer Sendung, die keine Kommentare
enthält.
Die an sich schon bemerkenswerte Vernetzung hatte einen ebenso
bemerkenswerten Hintergrund.15 Hans Leyendecker von der Süddeutschen
Zeitung, der das Protokoll ebenfalls besaß, hatte Bild den Vortritt gelassen,
weil sein Blatt den Text nicht gedruckt hätte, er Bild aber zitieren konnte. Am
nächsten Tag brachte Bild ein freundliches Porträt Leyendeckers. Einen
weiteren Tag später verteidigte Leyendecker Bild gegen den Vorwurf, »mit
der Veröffentlichung des Protokolls gesetzwidrig gehandelt zu haben«. Im
Hintergrund der aktuellen Berichterstattung existierte demnach ein Netzwerk
aus Redakteuren von Bild, Süddeutscher Zeitung und heute, die sich
gegenseitig in Stellung brachten. Das alles erfuhren die Zuschauer von heute
nicht. Dafür wurden sie über ein Vernehmungsprotokoll informiert, das die
heute-Redaktion vermutlich genauso wenig veröffentlicht hätte wie die
Süddeutsche Zeitung. Zudem bekamen die Zuschauer der Fernsehnachrichten
die kommentierenden Schlagzeilen eines Blattes geliefert, das viele von ihnen
vermutlich nicht lasen und nicht schätzten.
Die Experimente von Asch zeigen, dass die Konfrontation von
Außenseitern mit einer homogenen Mehrheit nicht nur eine Ursache ihrer
Selbstzweifel und ihrer Anpassungsbereitschaft ist, sondern auch eine Quelle
des Macht- und Überlegenheitsgefühls der Mehrheit. Falls eine Mehrheit von
echten Testpersonen mit einem Mitarbeiter Aschs zusammen war, der
offensichtlich falsch urteilte, amüsierte sich die Mehrheit über den
Außenseiter – den instruierten Mitarbeiter Aschs – und behandelte ihn mit
Geringschätzung. Meist reagierte sie angesichts des drolligen Einzelgängers
mit ansteckendem Gelächter. Offensichtlich waren sich die Mitglieder der
Mehrheit nicht im Klaren darüber, dass sie das erheiternde Gefühl der
Überlegenheit ihrer homogenen Mehrheit und nicht ihrer Einsicht
verdankten, und dass sie sich als isolierte Einzelne auch dann anders
verhalten würden, wenn sie recht hätten. So wich die spöttische
Überlegenheit der Mehrheit schon dann einer respektvollen Distanz, wenn sie
sich einer kleinen Minderheit von drei Andersdenkenden gegenübersah.16
Der skizzierte Machtmechanismus lag im Mai 2001 dem Verlauf einer
Pressekonferenz des sächsischen Finanzministers Thomas de Maizière
anlässlich der Skandalisierung von Kurt Biedenkopf zugrunde. Nach
wochenlangen Berichten über die private Nutzung von Personal des
Freistaats Sachsen und über den geringen Mietpreis für eine Villa des Landes
legte de Maizière eine detaillierte Gegenrechnung vor. Sie führte nicht, wie
man von Journalisten erwarten könnte, zu einer Diskussion der sachlichen
Grundlagen der Anschuldigungen, sondern sorgte »in der Pressekonferenz für
ungläubiges Staunen und Gelächter«, das Biedenkopf stigmatisierte und –
wie es in einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
(31.05.2000) hieß – seinen Finanzminister »beschämte und beschädigte«.
Auch hier lag die Ursache des höhnischen Überlegenheitsgefühls nicht in der
Sachkenntnis, an deren Vertiefung offensichtlich niemand Interesse hatte,
sondern in der Selbstgewissheit der Mehrheit, die die Pfennigfuchserei de
Maizières lächerlich fand.
Bei Skandalen ist das ein wiederkehrendes Verhaltensmuster. So
veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.10.2013) auf dem
Höhepunkt der Skandalisierung von Tebartz-van Elst eine Karikatur, die
unter
dem
»Domberg
zu
Limburg«
eine
»Weihwasserwiederaufbereitungsanlage« in Form eines Schwimmbeckens,
eine »Falschgeldwerkstatt zur Finanzierung des Ganzen« sowie einen
»Durchstich zur Hölle« zeigte. Die Nassauische Neue Presse dokumentierte
auf der dafür eigens eingerichteten Internetseite »Bischof als Witzfigur«
zahlreiche Geistesblitze. So erfuhr der geneigte Nutzer z. B., dass der
Radiosender 1 Live Tebartz-van Elst in Anspielung auf den Spitznamen von
Nicolas Sarkozy als »Bling-Bling-Bischof« bezeichnet hatte.17 Bei der
Skandalisierung von Wulff fanden es einige Moderatoren von
Radiosendungen lustig, anrüchige Verhaltensweisen Dritter mit kennerhaftem
Unterton als »wulffen« zu bezeichnen. In der Welt am Sonntag (18.12.2011)
schrieb Hans Zippert in einer Satire auf Wulffs bevorstehende
Weihnachtsansprache in der Ich-Form, er sei im Urlaub auf Mallorca mit
seiner Gattin »schutzlos der Sonne ausgeliefert (…) auf der Suche nach
einem einfachen Quartier für eine Nacht (umhergeirrt)«. Er fuhr fort: »Ich
war damals ein einfacher Bundespräsident aus kreditbelastetem Hause, mein
Weib aber war frisch tätowiert. Wir aber gaben die Hoffnung nicht auf, und
es war eben der Engel des Herrn und nicht der von Engels & Völkers, der uns
schließlich zu der bescheidenen Protzvilla von Carsten Maschmeyer führte,
in der dieser auch den Geringsten unter seinen Freunden gerne Obdach
bietet.«
An dem Tag, an dem Bild (08.02.2012) den Sylt-Urlaub des Ehepaars
Wulff mit Groenewold skandalisierte und damit das Ende von Wulffs
Amtszeit einläutete, veröffentlichte Kohler in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung in Anspielung auf die fiktive Insel Lummerland im Kinderbuch von
Michael Ende ein gleichnamiges Spottgedicht, das mit den folgenden Zeilen
endet: »Eine Insel mit zwei Freunden gab es auch noch anderswo, / nirgends
blieb man sich was schuldig, gell, das regeln wir dann so. / Unter Freunden
tut’s auch Bares, wer braucht da denn viel Tamtam, / besser noch man weiß
erst gar nichts, denn dann bleibt man / Unschuldslamm.« Knapp eine Woche
darauf erließ das Landgericht Köln eine einstweilige Verfügung, die der Axel
Springer AG die Verbreitung von acht zentralen Behauptungen in dem
erwähnten Bild-Artikel über Wulffs Sylt-Urlaub untersagte.18 Der Artikel war
eine Grundlage des Anfangsverdachts einer Vorteilsannahme und des
Antrags zur Aufhebung der Immunität Wulffs. Die Deutsche Presseagentur
erhielt eine Kopie der einstweiligen Verfügung, verbreitete sie aber mit einer
fragwürdigen Begründung nicht. Vier Monate später, Wulff war längst nicht
mehr im Amt, erkannte die Axel Springer AG die einstweilige Verfügung als
rechtskräftig an.
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Vgl. Gennis, Martin /Gundlach, Hardy: Wer sind die Gatekeeper der Konvergenzmedien?
Vgl. Reinemann, Carsten: Medienmacher als Mediennutzer, S. 141–247.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Am Pranger. Der Fall Späth und Stolpe.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Eps, Peter / Augustin, Dirk: Skandal im Wahlbezirk, S. 305–326.
Vgl. Ruß-Mohl, Stephan: Scheinheilige Aufklärer.
Vgl. Mükke, Lutz: Eine Welle der Entrüstung.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Am Pranger.
Zitiert nach Spiegel, 06.03.2000.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Hartung, Uwe: Störfallfieber.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Hartung, Uwe: Am Pranger.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Eps, Peter / Augustin, Dirk: Skandal im Wahlbezirk, S. 11.
Vgl. Asch, Solomon: Änderung und Verzerrung von Urteilen durch Gruppendruck.
Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung.
Vgl. Eps, Peter / Hartung, Uwe / Dahlem, Stefan: Von der Anprangerung zum Skandal.
Vgl. Berliner Zeitung, 21.12.1999.
Vgl. Asch, Solomon: Änderung und Verzerrung von Urteilen durch Gruppendruck.
Vgl. http://www.nnp.de/lokales/limburg_und_umgebung/Bischof-als-Witzfigur;art680,659371
[Zugriff: 28.05.2015].
18 Vgl. Wulff, Christian: Ganz oben. Ganz unten, S. 218.
7. Zweck und Mittel
Das Verhältnis von Ereignissen, Medienberichten und Medienwirkungen
betrachten wir üblicherweise als Kausalkette: Ereignisse sind die Ursachen
von Berichten und Berichte sind die Ursachen von Wirkungen. Dazu gehören
Einstellungen, Meinungen, Emotionen und Verhaltensweisen. So einfach ist
es nicht, weil dabei noch andere Faktoren eine Rolle spielen, aber im Kern
trifft es auf die Masse der Routinemeldungen zu. Bei der Berichterstattung
über moralisch geladene Themen – Krisen, Konflikte, Skandale usw. – liegen
die Dinge aber anders. Hier sind die Ereignisse oft keine Ursachen, und die
Berichte sind keine Folgen. Die Berichte sind vielmehr Mittel zum Zweck –
zur Illustration und Untermauerung einer bestimmten Sichtweise, zur
Stärkung oder Schwächung eines Akteurs, zur Beeinflussung der
Bevölkerungsmeinung usw. Die Berichterstattung beruht in solchen Fällen
auf einer instrumentellen Aktualisierung: Ereignisse werden gezielt hochoder heruntergespielt, um Wirkungen zu erzielen bzw. zu vermeiden.1 Durch
die instrumentelle Aktualisierung ändern sich – von den Lesern, Hörern und
Zuschauern unbemerkt – die Beziehung zwischen Bericht und
Berichtsgegenstand sowie die Funktion der Journalisten: Aus einer UrsacheWirkungs-Beziehung wird eine Zweck-Mittel-Beziehung und aus Chronisten
werden Akteure, die gezielt in das Geschehen eingreifen, um seinen weiteren
Verlauf mitzugestalten.
Die instrumentelle Aktualisierung von Informationen erscheint
zahlreichen Journalisten legitim. So billigte 1984 fast die Hälfte der befragten
Journalisten (45 %) bei der Berichterstattung über Konflikte mehr oder
weniger entschieden das bewusste Hochspielen von Informationen, die die
Sichtweise der Berichterstatter stützen. Mit dieser Meinung stehen
Journalisten nicht alleine: drei Jahre später billigte über ein Drittel der
Rundfunk- und Fernsehräte (37 %), mehr oder weniger entschieden das
bewusste Hochspielen von Informationen durch Journalisten. Die Rundfunkund Fernsehräte sollen bekanntlich eine neutrale Berichterstattung sichern.
Da ein Drittel von ihnen Verstöße dagegen mehr oder weniger billigt, ist die
Sicherung einer neutralen Berichterstattung für die Räte eine vermutlich
schwierige Aufgabe. Eine Variante der instrumentellen Aktualisierung ist die
bewusste Übertreibung von Missständen mit dem Ziel, bestimmte Wirkungen
zu erzielen. Mehr als zwei Drittel der Redakteure von Abonnementzeitungen
fanden es – wie bereits gezeigt wurde – 1998/1999 akzeptabel, wenn
Kollegen Missstände übertreiben, um sie dadurch zu beseitigen.
Die praktische Bedeutung der instrumentellen Aktualisierung als Mittel
zur Skandalisierung wird durch mehrere quantitative Inhaltsanalysen der
Berichterstattung deutlich. In Deutschland publizierten seit den 1970erJahren Zeitungen, deren Journalisten sich in Meinungsbeiträgen überwiegend
für die Kernenergie aussprachen, vor allem positive Expertenurteile, während
Zeitungen, deren Journalisten sich überwiegend dagegen aussprachen, genau
umgekehrt verfuhren. In dem Maße, indem sich negative Urteile der
Journalisten im Laufe der Zeit häuften, wurde die Berichterstattung über die
Kernenergie negativer. Diesem Trend folgend skandalisierten sie im
Gegensatz zu französischen Journalisten die Kernenergie anlässlich der
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, indem sie die Katastrophe in
Nachrichten und Berichten als typisch für die Risiken der Kernenergie
darstellten. Das geschah umso intensiver, je negativer die Journalisten in
Meinungsbeiträgen die Kernenergie beurteilten.2 Das gleiche Muster zeigte
sich in der Berichterstattung über die Reaktorkatastrophe bei Fukushima in
deutschen, schweizerischen, französischen und britischen Zeitungen. In allen
vier Ländern bestand ein klarer Zusammenhang zwischen den in
Kommentaren geäußerten Meinungen der Journalisten zur Kernenergie und
den Meinungen der Experten und Politiker, die sie in Nachrichten und
Berichten zitierten: Je negativer sich die Journalisten in Kommentaren
äußerten, desto eher ließen sie Experten und Politiker zu Wort kommen, die
negative Meinungen vertraten.3 Weil in Deutschland im Unterschied zu
Frankreich und England die weit überwiegende Mehrheit der Journalisten die
Kernenergie entschieden ablehnte,4 war in Deutschland die Berichterstattung
in Nachrichten und Berichten auch deshalb besonders negativ, weil die
deutschen Journalisten dort vor allem ablehnende Politiker und
Wissenschaftler zu Wort kommen ließen.
Die im Vergleich zu Frankreich und England starke instrumentelle
Aktualisierung der Risiken der Kernenergie in Deutschland und – mit
Abstrichen – in der Schweiz schlug sich in politischen Entscheidungen
nieder: Ausstiegsbeschlüsse in Deutschland und der Schweiz,
Kontinuitätsbeschlüsse in Frankreich, Neubaubeschlüsse in England. Auch
wenn die Dramatisierung der Folgen der Reaktorkatastrophe in den deutschen
Medien nicht die einzige Ursache der politischen Entscheidungen war –
monokausale Erklärungen sind in den Sozialwissenschaften immer falsch –
war sie eine conditio sine qua non des überhasteten Atomausstiegs. Das trifft
– mit umgekehrten Vorzeichen – auch auf Frankreich und England zu: Dort
war die Konzentration der Berichterstattung auf die Folgen des Tsunamis und
auf die spezifischen Ursachen der Reaktorkatastrophe in Japan eine conditio
sine qua non für das Festhalten an bzw. für den Ausbau der Kernenergie.
Ähnliche Zusammenhänge zwischen den Meinungen von Journalisten und
der Zitierung von Experten bestanden bei der Skandalisierung von zu
Guttenberg: Je negativer die Journalisten urteilten, desto negativer waren die
Meinungen der Experten, die sie zu Wort kommen ließen. Die Herkunft der
Experten aus verschiedenen Tätigkeitsbereichen spielte dagegen keine
nennenswerte Rolle. Entscheidend für die Auswahl der Experten war der
Grad der Übereinstimmung mit den Meinungen der Journalisten.5 Die
instrumentelle Aktualisierung von Personen und Informationen ist entgegen
einer weit verbreiteten Meinung keine spezifisch deutsche oder europäische
Art der Berichterstattung. Sie findet sich auch im amerikanischen
Journalismus. Amerikanische Zeitungen, die den Demokraten nahestehen,
berichteten von 1997 bis 2007 umfangreicher über Skandale, in die
Republikaner involviert waren; Zeitungen, die den Republikanern
nahestehen, berichteten umfangreicher über Skandale, in die Demokraten
verwickelt waren. Das traf sowohl auf die meinungsbezogenen Beiträge als
auch auf Nachrichten und Berichte zu. Die Parteineigung der Leser spielte
dabei – abgesehen von lokalen Skandalen im Verbreitungsgebiet – keine
Rolle.6
Die instrumentelle Aktualisierung von Informationen kann auch dazu
dienen, Skandale zum richtigen Zeitpunkt zu entfachen und bereits etablierte
Skandale am Leben zu erhalten. Günstige Perioden sind Wahlkämpfe, deren
Ausgang durch die Skandalisierung eines Kandidaten oder einer Partei
beeinflusst werden kann. Beispiele sind die Skandalisierung von Uwe
Barschel vor der Schleswig-Holsteinischen Landtagswahl 1987 durch den
Spiegel, die Björn Engholm den Weg in die Staatskanzlei ebnete, sowie die
Skandalisierung von Peter Gauweiler 1993 durch die Süddeutsche Zeitung
(»Kanzlei-Affäre«), der dadurch, nachdem er in Umfragen lange geführt
hatte, die Wahl zum Münchner Oberbürgermeister verlor.7 Neuere Beispiele
sind die Skandalisierungen von Rainer Brüderle wegen der mehrere Monate
zurückliegenden Bemerkung zu einer Reporterin: »Sie können ein Dirndl
auch ausfüllen« sowie des Kanzlerkandidaten der SPD, Peer Steinbrück,
wegen seiner seit langem bekannten Vortragshonorare.
Viele große Skandale müssen, damit sie sich voll entfalten können, immer
wieder neu angeheizt werden. Erfolgreiche Skandalisierer publizieren ihre
Verdächtigungen deshalb nicht auf einmal, sondern verteilen sie auf mehrere
Tage und Wochen. Sie »portionieren« ihre Informationen, wie es der
erfahrene Skandalisierer Leyendecker nennt (BZ, 21.12.1999). Ein von ihm
erwähntes Beispiel ist der sukzessive Aufbau des CDU-Spendenskandals. Er
habe, so Leyendecker, vor Journalistik-Studenten der Universität Dortmund,
den Skandal mit mehreren Beiträgen langsam entwickelt, bis eine Sonderseite
gemacht wurde, auf der aber »bei weitem nicht so viel gesagt worden« sei,
wie damals bekannt war. Das Ganze wäre nach seiner Einschätzung
»versandet, wenn man es auf einen Schlag gemacht hätte, ohne es zu
filetieren«8. Oft ergibt sich eine solche Portionierung als Folge schrittweiser
Fortschritte bei Recherchen von selbst. Besonders deutlich war das bei der
Skandalisierung von zu Guttenberg wegen der nicht belegten Zitate in seiner
Dissertation. Nachdem Fischer-Lescano Anfang Februar 2011 acht Plagiate
entdeckt und die Süddeutsche Zeitung (15.02.2011) die Funde bekannt
gemacht hatte, suchten zahlreiche anonyme Plagiatsjäger mithilfe von
Computerprogrammen nach weiteren Beweisen und dokumentierten ihre
Funde sukzessive auf der Internetplattform GuttenPlag Wiki.9 Die Relevanz
der Textstellen für die Dissertation wurde nicht diskutiert. Darauf kam es aus
Sicht der Plagiatsjäger aber auch nicht an, weil jede Erfolgsmeldung das
Interesse und die Empörung auch dann noch befeuerte, als zu Guttenberg
bereits auf den Doktortitel verzichtet hatte. Am 1. März 2011 trat er von allen
politischen Ämtern zurück.
Bei der Skandalisierung von Wulff lieferten die Rechercheure von Bild
mit ihren schemagerecht interpretierten Erkenntnissen hinreichend viel
Nachschub für andere Medien. Trotzdem erlahmte der Schwung der Angriffe
nach zwei bis drei Wochen. Das ist normal.10 Deshalb hätte Wulff, weil er
nicht entlassen oder abgewählt werden konnte, gute Chancen gehabt, die
Angriffe im Amt zu überstehen. Allerdings hatten sich seine Gegner ein
Killerthema aufgespart – Wulffs Anruf bei Diekmann. Angesichts der
späteren Darstellung des Anrufs als Angriff auf die Pressefreiheit hätte man
vermuten können, dass Bild in einer Exklusivmeldung sofort über die
drohende Gefahr berichten würde. Das war aber nicht der Fall. Nach
Darstellung des Axel Springer Verlags hat die Redaktion von Bild anhand
einer Abschrift des Anrufs über seine Veröffentlichung diskutiert und sich
dagegen entschieden. Diekmann habe seinerzeit »persönlich mit zwei
externen Journalisten über den Anruf gesprochen und ihnen in diesem
Zusammenhang auch den Text zukommen lassen«. Einer der beiden habe
sich für, einer gegen die Veröffentlichung des Textes ausgesprochen.11 Auf
unbekannten Wegen landete die Information über Wulffs Anruf bei mehreren
Journalisten. Ihre Berichte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
(01.01.2012) und Süddeutschen Zeitung (02.01.2012) sowie ein darauf
aufbauender Fundamentalangriff von Nils Minkmar in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung (03.01.2012) änderten die Situation schlagartig.
Innerhalb weniger Tage mutierte der Mailboxanruf zum »Drohanruf« und
zum Angriff auf die Pressefreiheit. Die schemabildenden Schlüsselwörter
hatte Wulff selbst geliefert: »Rubikon« und »Krieg führen«. Der Anteil der
negativen Aussagen über Wulff in Presse, Hörfunk und Fernsehen schnellte
von Ende Dezember 2011 bis Ende Januar 2012 um fast 20 Prozentpunkte
auf über 50 Prozent hoch. Auch danach lag er bis zu seinem Rücktritt
deutlich über den Werten der ersten Wochen seiner Skandalisierung.12 Ihre
größte Wucht erreichte die Skandalisierung von Wulff folglich nicht durch
die Kritik an seinem Hauskredit, seinen Reisen und ähnlichen Themen,
sondern durch die Kritik an seinem Umgang mit Bild, stellvertretend für die
Medien.
Die Welle der weitgehend gleichartigen Berichte und Kommentare
vermittelte den Eindruck, Wulffs Anruf sei eine einzigartige Entgleisung
gewesen. Einzigartig war er deshalb, weil Wulff auf der Mailbox Diekmanns
einen Beweis hinterlassen hatte. Keineswegs einzigartig war aber Wulffs
Ansinnen: Laut einer Befragung von 230 Mitgliedern der
Bundespressekonferenz im Jahr 2006, hat fast die Hälfte der Journalisten (44
%) schon die Erfahrung gemacht, dass Politiker ihre Berichterstattung über
ihre Redaktionsleiter beeinflussen wollten. Jeder Zehnte (9 %) berichtete,
dass Politiker schon einmal ihre Berichterstattung über ein bestimmtes
Thema verhindern wollten.13 Hierbei handelt es sich um eine kritikwürdige,
aber nicht unübliche Praxis, und das Verhalten Wulffs war deshalb
keineswegs so einzigartig, wie es dargestellt wurde und erscheinen musste.
Das wussten auch die beteiligten Journalisten. So erklärte Michael Hanfeld
einige Monate nach der Skandalisierung von Wulffs Anruf aus einem
anderen Anlass in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (03.11.2012):
»Anrufe (…) von Politikern (…), freundliche oder unfreundliche, berechtigte
Kritik, Beschwichtigungen oder Drohungen sind für Journalisten
Tagesgeschäft. Wollte man derlei an die große Glocke hängen, käme man zu
nichts anderem mehr.«14 Da war Wulff allerdings nicht mehr im Amt.
Die Zurückhaltung und subkutane Verbreitung des Anrufs waren aus
mehreren Gründen ein beispielloser journalistischer Coup von Diekmann:
Erstens konnten er und seine Mitstreiter mit einer großen Medienresonanz
rechnen, weil sich Journalisten bei tatsächlichen oder vermeintlichen
Angriffen auf die Pressefreiheit generell mit ihren Kollegen solidarisieren.
Zweitens war ein Großteil der Journalisten indirekt betroffen, weil es solche
Versuche der Einflussnahme nicht nur in Berlin gibt. Sie konnten endlich
einmal ihre Empörung risikolos artikulieren. Drittens wusste die Bevölkerung
nicht, dass derartige Versuche der Einflussnahme häufig vorkommen und
musste annehmen, dass es sich bei Wulffs Anruf um eine empörende
Entgleisung gehandelt hat. Viertens überließ Bild die problematische
Veröffentlichung eines Anrufs, dessen Inhalt erkennbar nicht für die
Öffentlichkeit bestimmt war, zwei Qualitätszeitungen. Dadurch vermied Bild
den Verdacht, aus Eigeninteresse journalistischen Berufsregeln zu verletzen.
Und fünftens gefährdete Bild mit seiner diskreten Zurückhaltung nicht seine
neue Rolle als uneigennütziger Anwalt der Pressefreiheit.
Im Unterschied zu anderen Politikern befand sich Wulff in der
komfortablen Lage, dass er weder abgewählt noch entlassen werden konnte.
Deshalb wären, nachdem er die Empörung über seinen Anruf bei Diekmann
überstanden hatte, weitere Attacken auf ihn vergeblich gewesen. Aus dem
gleichen Grund wären auch Attacken auf sein politisches Umfeld, das ihn aus
Angst vor dem eigenen Niedergang fallen lassen könnte, wirkungslos
gewesen. Es blieb nur eine Möglichkeit, um Wulff zum Rücktritt zu bewegen
– die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und die dafür erforderliche
Aufhebung seiner Immunität. Die Folge war die instrumentelle
Aktualisierung der Kritik von Juristen an der angeblich zögerlichen
Behandlung des Falls Wulff durch die Justiz. Am 14. Januar 2012 zitierte
Dietmar Hipp auf Spiegel Online in der Überschrift seines Beitrags »Grenze
der Strafbarkeit eindeutig überschritten« den Speyerer Staatsrechtslehrer
Hans Herbert von Arnim, der in einem Gutachten die Ansicht vertrat, Wulff
habe sich mit der Annahme des Hauskredits strafbar gemacht. Am 7. Februar
behauptete er an gleicher Stelle unter der Überschrift »Juristen kritisieren
Zurückhaltung in der Wulff-Affäre«, »immer mehr renommierte
Strafrechtler« würden den Ermittlern vorwerfen, »den Bundespräsidenten zu
sanft zu behandeln« und belegte das mit Äußerungen mehrerer
Strafrechtsprofessoren. Am 9. Februar berichtete Bild, die Hannoveraner
Staatsanwaltschaft zeige sich durch einen Bericht des Blatts über einen
Hotelaufenthalt Wulffs auf Sylt »alarmiert«. Am 10. Februar nannten Severin
Weiland und Philipp Wittrock auf Spiegel Online die Tätigkeit der
»Ermittler« als eine der »drei größten Gefahren für Wulff«, weil »der Druck«
auf die Staatsanwälte, ihre Ermittlungen über Olaf Glaeseker und Manfred
Schmidt auf Wulff auszuweiten, gestiegen sei. »Sollte die Staatsanwaltschaft
tatsächlich einen Anfangsverdacht erkennen, müsste sie beim Bundestag
beantragen, die strafrechtliche Immunität des Präsidenten aufzuheben.«
Am gleichen Tag ließ die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter der
erkenntnisleitenden Überschrift »Öffentlicher Dienst. Es tun nicht alle …«
Menschen, die sich »beruflich für den Dienst an der Allgemeinheit«
entschieden haben, auf einer ganzen Seite Zeugnis ablegen vom lauteren
Umgang mit »Geschenken, Zuwendungen und Einladungen«. Zu Wort
kamen u. a. Soldaten, Lehrer, Müllmänner und Krankenschwestern, jedoch
keine Journalisten. Am 14. Februar griffen Weiland und Wittrock auf Spiegel
Online die Vorlage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf und erhöhen den
Druck, über den sie zuvor berichtet hatten. Unter der Überschrift
»Staatsdiener gegen Staatschef« behaupteten sie, »mit wachsender
Empörung« würden viele beobachten, »wie die Justiz bislang mit dem Fall
Wulff umgeht. Bis jetzt ist es nicht zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen
gegen den Bundespräsidenten gekommen (…). Das wundert etliche
Staatsdiener.« Als Beleg zitierten sie Gewerkschaftsfunktionäre, darunter
Rainer Wendt, Vorstandsmitglied im Deutschen Beamtenbund: »Da brechen
für den einen oder anderen ganze Welten zusammen.« Am 15. Februar
bekräftigte Anna Reimann auf Spiegel Online das Zwei-Klassen-JustizSchema mit weiteren Beispielen strafrechtsbewehrter Vorteilsannahmen und
mit dem juristisch fundierten Verhaltenskatalog des Münchner
Oberbürgermeisters. Am selben Tag erhöhten Mirko Voltmer und Axel
Sturm auf Bild.de unter der Überschrift »Noch immer keine Ermittlungen
gegen Wulff! Top-Juristen empört über Staatsanwaltschaft Hannover.
›Präsidenten-Bonus schützt Wulff‹« noch einmal den Druck auf die Justiz.
Zum Beweis ihrer Behauptung zitierten sie die Meinungen mehrerer »TopJuristen«. Gemeint waren Rechtsanwälte. Am 16. Februar war es dann so
weit: Der Hannoveraner Oberstaatsanwalt Clemens Eimterbäumer, der nach
einem Bericht des Tagesspiegel (18.02.2013) wenige Tage vorher einen
enormen inneren wie äußeren Druck eingeräumt hatte, beantragte die
Aufhebung der Immunität Wulffs. Das Ziel war erreicht. Am 17. Februar
erklärte Wulff seinen Rücktritt.
Eine neue Grundlage für die instrumentelle Aktualisierung von
skandalisierenden Informationen, ihrer termingerechten Veröffentlichung vor
wichtigen Entscheidungen, liefert die ungeheure Masse der Daten der
Panama Papers. Man muss damit rechnen, dass diese Daten in absehbarer
Zukunft in mehreren Ländern genutzt werden, um durch gezielte
Publikationen in innenpolitische und in internationale Konflikte einzugreifen.
Denkbar ist allerdings auch die entgegengesetzte Vorgehensweise – der
Verzicht auf skandalisierende Publikationen, um bestimmten Personen und
Organisationen nicht zu schaden oder um im Gegenzug materielle oder
ideelle Gegenleistungen zu erhalten. Die exklusive Verfügung einiger
Medien über Millionen E-Mails, Urkunden, Kontoauszüge usw. von
vermutlich überwiegend nicht kriminellen Akteuren ist auch deshalb
bemerkenswert,
weil
viele
Medien
eine
vergleichbare
Vorratsdatenspeicherung durch staatliche Einrichtungen bisher mit dem
Argument entschieden abgelehnt haben, dadurch würden vor allem Daten
von Personen erfasst, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen.
Dazu gehört auch zur Terrorbekämpfung die Speicherung von TelefonKontaktdaten und die Daten von Flugreisenden.
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Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Instrumentelle Aktualisierung.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Lemke, Richard: Framing Fukushima.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Lemke, Richard: Instrumentalizing Fukushima.
Im Sommer 2010 hatten sich 85 % der deutschen Journalisten gegen eine Laufzeitverlängerung der
deutschen Kernkraftwerke ausgesprochen. Vgl. Mothes, Cornelia: Objektivität als professionelles
Abgrenzungskriterium im Journalismus, S. 186–198.
Vgl. Bachl, Marko / Vögele, Catharina: Guttenbergs Zeugen?
Vgl. Puglisi, Riccardo / Snyder, Jr., James M.: Newspaper Coverage of Political Scandals.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Eps, Peter / Augustin, Dirk: Skandal im Wahlbezirk.
Vgl. WamS, 05.08.2001.
Vgl. Kaube, Jürgen. In: FAZ, 12.02.2011. Vgl. auch zu Guttenberg, Vorerst gescheitert. Siehe auch
Kremp, Matthias: GuttenPlag Wiki.
Vgl. Holbach, Thomas / Maurer, Marcus: Wissenswerte Nachrichten.
Vgl. Bild antwortet auf taz-Fragen. Unter http://taz.de/Bild-antwortet-auftaz-Fragen/!85761
[Zugriff: 17.01.2012]. Bild hat den transkribierten Text am 26.02.2014 veröffentlicht.
Vgl. Media Tenor: Keine Erholung für Wulff. Berichterstattung über Bundespräsident Wulff
01.01.–14.02.2012. Basis: 26.752 Aussagen über Politiker in 24 deutschen Medien.
Kepplinger, Hans Mathias / Maurer, Marcus / Kreuter, Marcus: Erfahrungen der Berliner
Journalisten mit Politikern.
Eine Reihe vergleichbarer Anrufe erwähnt Axel Bojanowski: CSU-Anruf bei Spiegel Online.
»Andere Journalisten stellen sich nicht so an« In: Spiegel Online, 27.10.2012. In einem Interview
mit Hans Hoff und Matthias Daniel: »Die Schutzmechanismen haben versagt« sagte Friedrich
Küppersbusch: »Es ärgert mich, dass alle sagen: Oh, Herr Diekmann hat einen erbosten Anruf
entgegennehmen müssen. Amnesty! Anstatt zu sagen: Na klar, wir alle bekommen ständig diese
Anrufe. Das ist unser Job. Wir kriegen das bezahlt«. In: journalist, 2/2012, S. 23 f. Siehe auch die
Ergebnisse einer Umfrage von mehreren Journalisten von Anke Vehmeier: Muss Druck sein? In:
journalist, 2/2012, S. 12 f.
8. Wirkungspotenziale
Anfang der 1990er-Jahre mussten Günther Krause, Bundesminister für
Verkehr, und Heide Pfarr, hessische Staatsministerin für Frauen, Arbeit und
Sozialordnung, nach skandalisierenden Medienberichten von ihren Ämtern
zurücktreten. Krause hatte seine Putzfrau legal, aber auf seinen Vorteil
bedacht, vom Arbeitsamt bezahlen lassen. Daneben wurde ihm eine Reihe
weiterer Selbstbegünstigungen vorgeworfen, die hier aber nicht relevant sind.
Pfarr hatte ihre Dienstwohnung auf Kosten der Steuerzahler renovieren
lassen. Auch das geschah im Rahmen des rechtlich Zulässigen, erweckte
jedoch ebenfalls den Eindruck der Selbstbegünstigung. Beide verschwanden
nach ihren Rücktritten von der politischen Bühne. Die Bevölkerung reagierte
auf die Vorwürfe allerdings sehr unterschiedlich. Einige Zeit nach den
Rücktritten von Krause und Pfarr, im Juni 1993, hielten es mehr als zwei
Drittel der Deutschen (72 %) für einen Skandal, dass Krause seine Putzfrau
vom Arbeitsamt hatte bezahlen lassen. Dagegen betrachteten es weniger als
die Hälfte (42 %) als einen Skandal, dass sich Pfarr ihre Wohnung auf Kosten
der Steuerzahler hatte renovieren lassen.1
Was war die Ursache der unterschiedlichen Reaktionen? Die Art des
Verhaltens konnte es nicht sein. In beiden Fällen ging es um materielle
Vorteile. Das Ausmaß der materiellen Vorteile kommt als Ursache ebenfalls
nicht infrage – die Renovierung der Wohnung war wahrscheinlich teurer als
die Arbeit der Putzfrau. Die Schwere der Rechtsverletzungen scheidet
ebenfalls aus – beide handelten im Rahmen des rechtlich Zulässigen. Die
»Natur der Sache« war folglich nicht die Ursache der unterschiedlichen
Reaktionen. Was war es dann? Betrachtet man nicht alle Deutschen, sondern
nur jene, die die Vorwürfe gegen Krause bzw. Pfarr kannten, zeigt sich, dass
sie das Verhalten beider Politiker gleichermaßen verurteilten: 82 Prozent aller
Deutschen, die davon gehört hatten, dass Verkehrsminister Krause seine
Putzfrau vom Arbeitsamt bezahlen ließ, hielten das für einen Skandal. Im Fall
Pfarr war die Empörung noch etwas größer: 88 Prozent derer, die davon
gehört hatten, dass sie ihre Wohnung mit Steuergeldern hatte renovieren
lassen, hielten das für einen Skandal. Die Ursache der bundesweit großen
Empörung über Krause war also nicht der Charakter oder das Ausmaß seiner
Verfehlungen, sondern ihre Bekanntheit. Sie war wiederum eine Folge der
bundesweiten Berichterstattung über den Fall Krause und der überwiegend
regionalen Berichterstattung über den Fall Pfarr, d. h. der unterschiedlichen
Reichweite der skandalisierenden Berichte und Kommentare.
Eine
realistische
Vorstellung
vom
Wirkungspotenzial
der
Skandalberichterstattung der Medien geben theoretische Überlegungen und
quantitative Analysen. Je öfter die Leser, Hörer und Zuschauer mit einem
Sachverhalt konfrontiert werden, desto eher halten sie ihn für wichtig und die
Darstellung für richtig. Diese Medienwirkung wird als »Wahrheitseffekt«
(truth-effect) bezeichnet. Der Wahrheitseffekt ist vor allem dann stark, wenn
die Informationen aus verschiedenen Quellen stammen und sich dadurch
gegenseitig bestätigen. Genau das ist typisch für Skandale: Alle oder fast alle
Medien berichten intensiv, und sie berichten ähnlich. Sie prangern
Sachverhalte an und halten mit neutralen Beiträgen die Erinnerung an
bekannte Vorwürfe wach. Weil die Leser, Hörer und Zuschauer überall auf
ähnliche Darstellungen treffen, folgern sie, dass sie wahr im Sinne von
realitätsgerecht sind. Welches Wirkungspotenzial besitzen demnach
bedeutende Skandalisierungen – lange Kampagnen zahlreicher Medien, die
sehr viele Menschen erreichen und bei ihnen Empörung auslösen können?
Beispiele hierfür sind die Angriffe auf Tebartz-van Elst wegen des Um- und
Neubaus des Limburger Bischofssitzes2 und vor allem auf Wulff wegen der
Finanzierung seines Hauskaufs und anderer Anlässe. Zur Skandalisierung
von Wulff einige Daten.
Während der über neun Wochen dauernden Skandalisierung von Wulff
haben ARD (Tagesschau, Tagesthemen), ZDF (heute, heute journal) und RTL
(RTL aktuell) insgesamt 503 Beiträge veröffentlicht, das waren im
Durchschnitt 100 Beiträge. Davon besaßen 77 Prozent eine negative
Tendenz.3 Hinzu kamen die ähnlich gelagerten Beiträge in Zeitungen und
Hörfunkprogrammen. So haben, um zwei besonders engagierte Zeitungen
herauszugreifen, die Frankfurter Allgemeine Zeitung 255 und Bild 201
überwiegend skandalisierende Beiträge zum Fall Wulff veröffentlicht.4
Unterteilt man den Zeitraum seiner Skandalisierung in künstliche Wochen
von sieben Tagen, erkennt man anhand des Fernsehens drei große Wellen:
Die erste Welle dauerte drei künstliche Wochen: In der ersten Woche (13.–
19.12.2011) erschienen 75 Beiträge, in der zweiten (20.–26.12.2011) 60, in
der dritten (27.12.2011–02.01.2012) nur noch 24. Das Thema schien sich am
Jahresende totzulaufen und Wulff hätte gute Chancen gehabt, den Skandal im
Amt zu überstehen. So kam es aber nicht wegen der zeitverzögerten
Veröffentlichung des Anrufs von Wulff bei Diekmann, die die zweite
Skandalisierungswelle auslöste. Sie begann mit einem fulminanten Auftakt:
In der vierten künstlichen Woche (03.–09.01.2012) schnellte die Zahl der
Berichte auf 106 hoch. In den folgenden Wochen ging die Intensität der
Berichterstattung jedoch wieder kontinuierlich auf 16 Beiträge zurück, so
dass die Berichterstattung in der neunten künstlichen Woche (07.–
13.02.2012) erneut vor dem Aus stand. Allerdings hatte Bild noch einen
vergifteten Pfeil im Köcher, einen Bericht über einen angeblich skandalösen
Sylt-Urlaub von Wulff mit seinem Freund Groenewold. Der fand zwar keine
herausragende publizistische Resonanz, führte aber auf einem Umweg – die
Staatsanwaltschaft in Hannover – zum Rücktritt von Wulff. In den
verbliebenen vier Tagen (14.–17.02.2012) erschienen 67 Beiträge, davon
allein 50 am Tag des Rücktritts.5
Welches Wirkungspotenzial besaßen diese Berichte? Dazu einige
Basiszahlen. Alle Zeitungen in Deutschland erreichen zusammen täglich 44,6
Millionen Leser ab 14 Jahren – die regionalen Abonnementzeitungen allein
36,1 Millionen, die Kaufzeitungen 12,7 Millionen und die überregionalen
Abonnementzeitungen 3,3 Millionen.6 Weil viele Menschen mehr als eine
Zeitung lesen, ist die Summe der Einzelreichweiten größer als die oben
erwähnte Gesamtreichweite. Die Nachrichten der Fernsehsender erreichen
zusammen täglich mehr als 10 Millionen Zuschauer – RTL aktuell
beispielsweise 3,25 Millionen, die Tagesschau 4,94 Millionen.7 Die
Hörfunksender erreichen zusammen täglich 55,8 Millionen Hörer. Nimmt
man an, dass jeder Fernsehzuschauer an den relevanten Berichtstagen zwei
der fünf Nachrichtensendungen gesehen hat, haben rund 10 Millionen
Menschen rund 200 überwiegend negative Beiträge über Wulf gesehen. Die
meisten der angesprochenen 10 Millionen Fernsehzuschauer hören mehrfach
am Tag Radionachrichten. Nimmt man an, dass die Radiosender in ihren
zahlreichen aktuellen Programmen ebenfalls jeweils 100 überwiegend
negative Beiträge gebracht haben, und dass die 10 Millionen
Fernsehzuschauer mindestens drei Nachrichtensendungen gehört haben, dann
wurden sie 200 plus 300 = 500-mal mit den Vorwürfen gegen Wulff
konfrontiert. Nimmt man ferner an, dass die angesprochene Personengruppe
täglich eine Zeitung liest, und dass diese Blätter auch jeweils 100
überwiegend negative Beiträge gebracht haben, dann wurde die gedachte
Zielgruppe insgesamt 500 plus 100 = 600-mal mit Beiträgen konfrontiert, die
Wulff mehr oder weniger entschieden skandalisierten. Weil viele Menschen
mehr als zwei Fernsehnachrichten sehen und mehr als zwei Radionachrichten
hören, wurden die am aktuellen Geschehen besonders interessierten Teile der
Bevölkerung vermutlich mit etwa 1.000 Beiträgen konfrontiert. Die
skizzierten Impulse blieben natürlich nicht auf die hier angedachte
Modellgruppe von 10 Millionen Menschen beschränkt. Sie reichten aufgrund
der individuell unterschiedlichen Mediennutzung von Menschen mit
verschiedenen Beitrags-Dosierungen weit über die 10 Millionen hinaus.
Die zugegebener Maßen groben Schätzungen vermitteln auch einen
ungefähren Eindruck von dem gewaltigen Meinungsdruck auf die
Journalisten und die Skandalisierten, die aufgrund ihres Berufes bzw.
aufgrund ihrer persönlichen Betroffenheit noch weit höheren Wirkungsdosen
ausgesetzt sind, als die Masse der unbeteiligten Beobachter. Nicht alle
Skandalisierungen dauern so lange und sind so medienpräsent wie die
Skandalisierungen von Wulff, Tebartz-van Elst und einigen anderen Personen
und Organisationen. Aber auch in weniger gravierenden Fällen können sich
vermutlich nur sehr wenige Journalisten und Protagonisten dem
Meinungsdruck entziehen. Für die meisten Journalisten dürften sich die
Masse der gleichgerichteten Berichte zu einem Realitätsbild verdichten, das
man aus ihrer Sicht nicht ernsthaft in Frage stellen kann. Bei den meisten
Protagonisten dürften die Masse der Berichte die Überzeugung hervorrufen,
dass sie feindseligen Medien ausgesetzt sind, die sie um jeden Preis ruinieren
wollen. Beides ist vermutlich meistens falsch, aber trotzdem wirkmächtig.
Welchen Einfluss besaß die Masse der meist skandalisierenden Beiträge
auf die Meinungen der Bevölkerung? Eine Vorstellung davon geben
Umfragedaten. Der Anteil der Personen, die an der Ehrlichkeit von Wulff
zweifelten, stieg vom 19. Dezember 2011 bis zum 2. Januar 2012 von 47 auf
69 Prozent, der Anteil derjenigen, die ihn nicht für glaubwürdig hielten,
wuchs von 44 auf 61 Prozent.8 Allerdings wirkte sich das nur schwach auf
die Forderung nach seinem Rücktritt aus. Der Anteil derer, die der Meinung
waren, Wulff solle zurücktreten, stieg im selben Zeitraum von 26 auf 34
Prozent. Das änderte sich Anfang Januar, als die zweite Welle
skandalisierender Berichte die Bevölkerung erreichte. Zunächst standen sich
noch zwei gleich große Lager gegenüber, die seinen Rücktritt ablehnten bzw.
forderten (jeweils 46 %), allerdings folgte die Mehrheit (54 %) im Laufe der
Zeit dem negativen Medientenor. Die Skandalisierung von Wulff wirkte sich
demnach stark aber mit einer deutlicher Zeitverzögerung auf die Vorstellung
der Bevölkerung von Wulffs Charakter und ihre damit zusammenhängende
Meinung aus, er solle zurücktreten.9 Zahlreiche Medien haben die
entsprechenden Umfrageergebnisse mit spürbarer Erleichterung in groß
aufgemachten Erfolgsmeldungen gefeiert.
Die dritte Phase der Skandalisierung von Wulff dauerte nur einige Tage
und hatte keine erkennbare Wirkung auf die Meinung der Bevölkerung.10
Infolge des erwähnten Bild-Beitrags über eine Sylt-Reise Wulffs kündigte
jedoch die Staatsanwaltschaft Hannover ein Ermittlungsverfahren gegen
Wulff an, hob der Bundestag Wulffs Immunität auf und erklärte Wulff seinen
Rücktritt. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Hannover erklärte
Generalstaatsanwalt Frank Lüttig gegenüber der Welt (20.04.2013) mit dem
Einfluss der Medien auf die Protagonisten der Berichterstattung, ihren
»reziproken Effekten«: »Es waren so viele möglicherweise belastende
Informationen an die Öffentlichkeit gelangt, dass einem verantwortlichen
Staatsanwalt gar keine andere Wahl blieb, als diese Informationen zu
überprüfen«. Auf die Nachfrage, wann dieser Punkt erreicht war, präzisierte
er den konkreten Anlass: »In dem Moment, als in der Presse zu lesen war,
dass David Groenewold versucht, Beweise aus der Welt zu schaffen«. Dass
die erwähnte Behauptung in wesentlichen Punkten falsch war, spielte für den
weiteren Verlauf des Geschehens keine Rolle.11 Entscheidend für den Erfolg
der Skandalisierung von Wulff war demnach nicht die Wirkung der
skandalisierenden Beiträge auf die Masse der Bevölkerung, entscheidend
waren ihre reziproken Effekte, ihre Einflüsse auf die Protagonisten des
Geschehens – die beteiligten Juristen, die selbst zum Gegenstand kritischer
Berichte geworden waren oder werden konnten, und wahrscheinlich auch
unter dem Eindruck des von ihnen vermuteten Einflusses der Medienberichte
auf die Erwartungen der Bevölkerung an die Justiz handelten.
Ein aufschlussreicher Spezialfall eines großen Skandals ist aus mehreren
Gründen die Skandalisierung des Vorhabens, den Stuttgarter Kopfbahnhof
durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof zu ersetzen (Stuttgart 21).
Zum einen handelte es sich nicht um die Skandalisierung zurückliegender,
sondern zukünftiger Handlungen. Zum anderen ging es nicht um die
Berichterstattung über eine existierende Protestbewegung, sondern um ihre
Etablierung und Mobilisierung gegen die Entscheidungen demokratisch
gewählter Gremien. Von besonderem Interesse ist deshalb die
Berichterstattung vor den Auseinandersetzungen anlässlich des offiziellen
Baubeginns im Jahr 2010. Der SWR sendete 2009 mehr als 120
Fernsehbeiträge zu dem Vorhaben. Die extrem intensive Vorberichterstattung
dürfte die Vorhaben und Widerstände weit über Stuttgart hinaus bekannt
gemacht haben. Zudem war sie vermutlich eine wesentliche Ressource der
langsam entstehenden Protestbewegung. Im folgenden Jahr, in dem die
meisten Demonstrationen stattfanden, erreichte die Berichterstattung noch
ganz andere Dimensionen. Der SWR sendete fast 1.300 Fernsehbeiträge über
das Geschehen in Stuttgart.12 Hinzu kam eine unbekannte Anzahl von Presseund Hörfunkberichten.
Die ungewöhnliche Publizität der Proteste dürfte dazu geführt haben, dass
immer mehr Menschen das Vorhaben für problematisch hielten. Zudem
dürfte sie die Bereitschaft gefördert haben, an den Protesten gegen Stuttgart
21 teilzunehmen, weil eine intensive Berichterstattung für die Demonstranten
aus drei Gründen auch dann eine Gratifikation darstellt, wenn sie kritisch
ausfällt. Erstens bietet sie die Chance zur Teilnahme an einem bedeutsamen
Ereignis. Zweitens besteht die Möglichkeit, bei einem solchen Ereignis selbst
ins
Fernsehen
zu
kommen.
Und
drittens
bekräftigt
die
Fernsehberichterstattung die Hoffnung auf einen Erfolg der Proteste. Aus den
genannten Gründen lässt sich folgern, dass die Skandalisierung von Stuttgart
21 ein Beispiel für die Umkehrung des Verhältnisses von Ereignis und
Bericht ist: Die Medien haben nicht nur über den wesentlichen Kern des
aktuellen Geschehens – die großen Demonstrationen – berichtet, sondern
diesen Kern erst durch ihre vorangegangene Berichterstattung ermöglicht,
wenn nicht gar geschaffen.
Die Bedeutung des Fernsehens im Vergleich zu den Internetangeboten der
Fernsehsender illustriert die Nutzung der Berichterstattung über die
Schlichtungsgespräche.
Der
SWR
und
Phoenix
haben
die
Schlichtungsgespräche fast 80 Stunden lang live übertragen. Die
Übertragungen sind auf großes Interesse gestoßen, was angesichts der vom
SWR langfristig etablierten Problemvorstellung nicht überraschend ist. In
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben an allen Schlichtungstagen
2,56 Millionen Fernsehzuschauer mindestens eine Übertragung des SWR
gesehen, bundesweit waren es fast 5 Millionen. Insgesamt haben die
Übertragungen des SWR mehr als 20 Prozent der Bevölkerung in BadenWürttemberg und Rheinland-Pfalz erreicht. Die Phoenix-Website wurde
während der Abschlussrunde der Schlichtungsgespräche 514.000-mal
angeklickt. Das ist ein eindrucksvoller Wert. Er erweist sich jedoch
angesichts von etwa 5 Millionen Menschen, die das Geschehen am Fernseher
erlebt haben, und angesichts des starken Eindrucks einer solchen
Übertragung als relativ unbedeutend.
Vergleiche zwischen der Entwicklung einer skandalisierenden
Berichterstattung und den Sichtweisen der Bevölkerung machen die Existenz
von Medienwirkungen plausibel. Sie zeigen aber nicht, wie sie entstehen. Die
Wirkung einer skandalisierenden Berichterstattung hängt nämlich von
zahlreichen Faktoren ab – der Intensität der Berichterstattung, der Intensität
der Anprangerung in den einzelnen Beiträgen und der Art der Vorwürfe
gegen die Skandalisierten.13 Hinzu kommen aufseiten der Bevölkerung
weitere Faktoren – die Art der genutzten Medien und die Intensität ihrer
Nutzung, das Interesse an einem Skandal, die Interpretation der
skandalisierenden Beiträge usw. Deshalb muss man für eine differenzierte
Analyse der Mechanismen der Medienwirkungen an drei Stellen ansetzen –
der Berichterstattung der Medien, der Mediennutzung der Bevölkerung und
den Vorstellungen der Mediennutzer vom Geschehen. Die Grundlagen der im
Folgenden wiedergegebenen Untersuchung sind exakt aufeinander
abgestimmte Messinstrumente zur Analyse der Medienangebote
(Codebücher) und zur Analyse ihrer Nutzung durch und Wirkung auf die
Leser, Hörer und Zuschauer (Fragebögen). Erfasst wurden fünf Aspekte der
Darstellung und Wahrnehmung von Skandalen – das Ausmaß des Schadens,
die Bedeutung menschlichen Handelns, das Ausmaß egoistischer Ziele der
Handelnden, ihr Wissen um die Folgen ihres Handelns sowie die Existenz
von Handlungsalternativen. Hinzu kamen als Indikatoren für die Wirkung der
Skandalisierung emotionale Reaktionen – Ärger und Trauer – sowie eine
scheinbar eigenständige Folgerung der Leser, Hörer und Zuschauer aus der
individuell genutzten Darstellung des Geschehens – die Forderung nach
Sanktionen, nach einer Bestrafung der Skandalisierten.
Die Wirkung der skandalisierenden Berichterstattung wurde anhand von
vier Fällen untersucht – der Skandalisierung von Staatsminister Ludger
Volmer wegen der weitgehenden Aufhebung von VISA-Beschränkungen
(Volmer-Erlass) im Februar und März 2005; der Skandalisierung von
Außenminister Joschka Fischer wegen einer in die gleiche Richtung
zielenden Anweisung an die Auslandsvertretungen im April und Mai 2005;
der Skandalisierung von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder wegen seiner
Tätigkeit im Aufsichtsrat der von ihm als Kanzler geförderten North
European Gas Pipeline (NEGP) im Dezember 2005 sowie die
Skandalisierung des Bundesnachrichtendienstes (BND) wegen der
Beschattung von Journalisten zur Identifikation von undichten Stellen im
Geheimdienst im Mai und Juni 2006. Zu allen Fällen wurde die
Berichterstattung in einem Zeitraum von vier Wochen untersucht.
Gegenstand der Inhaltsanalysen waren sieben im Rhein-Main-Gebiet
relevante Zeitungen sowie die Nachrichten von vier Fernsehsendern.14
Außerdem wurden jeweils während der dritten und vierten
Untersuchungswoche im Rhein-Main-Gebiet repräsentative Umfragen
durchgeführt.
Die erwähnten Medien veröffentlichten innerhalb von jeweils vier
Wochen 224 (26) Beiträge über die Vorwürfe gegen Volmer, 91 (14)
Beiträge über die Vorwürfe gegen Fischer, 106 (11) Beiträge über die
Vorwürfe gegen Schröder und 143 (16) Beiträge über die Vorwürfe gegen
den BND. Die Ziffern in Klammern stehen für die Anzahl der besser mit
anderen Skandalen vergleichbaren Fernsehbeiträge. Im Unterschied zum Fall
Wulff, über den schon in den ersten drei Wochen 159 Fernseheiträge
erschienen sind, haben z. B. die untersuchten Medien alle vier Vorgänge
nicht intensiv skandalisiert. Allerdings wies die Berichterstattung über die
vier Fälle mehr oder weniger ausgeprägt die typischen Elemente
skandalträchtiger Schemata auf: Volmer, Fischer, Schröder und Mitarbeiter
des BNDs haben aus eigennützigen Motiven gehandelt; sie hätten anders
handeln können; sie haben erhebliche Schäden angerichtet; und sie kannten
die Folgen ihres Handelns. Diese Elemente der skandalträchtigen Schemata
waren nur in wenigen Beiträgen alle enthalten. Die meisten Beiträge
enthielten lediglich einen Teil davon und vermittelten folglich
fragmentarische Schemata. Die Leser und Zuschauer ergänzten sie jedoch zu
weitgehend vollständigen Schemata. Das geschah nicht willkürlich, sondern
schemagerecht entsprechend den vorhandenen oder früher schon gelesenen
oder gehörten Hinweisen auf das Skandalöse des Geschehens. Als Folge
dieses Prozesses entsprachen die Vorstellungen der Befragten von den
Geschehnissen deutlich besser den skandaltypischen Schemata als die
einzelnen Medienbeiträge, die sie gelesen oder gesehen hatten. Die
schemagerechte Verarbeitung der oft bruchstückhaften Informationen in
vielen Berichten kann man als Ursache der Illusion der autonomen
Urteilsbildung betrachten, der die meisten unbeteiligten Beobachter erliegen:
Sie glauben durchaus zu Recht, dass sie sich anhand der vorhandenen
Informationen ein eigenes Urteil gebildet haben, verkennen aber, dass ihre
gedanklichen Aktivitäten nicht eigenständig sind, sondern von
fragmentarischen und vollständigen Schemata gesteuert werden.
Aus dem genannten Grund hängt die Wirkung skandalisierender Beiträge
nicht davon ab, ob sie alle Elemente eines skandalträchtigen Schemas
enthalten. Vielmehr können auch nicht-skandalisierende Beiträge den
Eindruck verstärken, dass das Verhalten der Angeprangerten skandalös ist,
weil die neutralen Beiträge bereits etablierte Schemata aktivieren. Deshalb ist
die Anzahl der Beiträge – unabhängig von ihrem skandalisierenden Charakter
– ein entscheidender Wirkfaktor: Wenige stark skandalisierende Beiträge
verursachen keinen Skandal, solange es bei den wenigen bleibt. Zu einem
Skandal entwickeln sich Skandalisierungsversuche aber dann, wenn andere
Medien – mit möglicherweise nur schwach skandalisierenden Beiträgen – die
Vorlagen aufgreifen, die Ahnungen der bereits Informierten bestätigen und
als begründet erscheinen lassen sowie bei einer wachsenden Zahl von
Menschen Interesse am Thema wecken. Dieser sukzessive Prozess ist eine
Ursache der zeitlich verzögerten Wirkung der Skandalberichterstattung auf
die Meinungsbildung der Bevölkerung. Zugleich verdeutlicht er die große
Bedeutung der neutralen Chronisten, die lediglich ihrer Berichtspflicht
nachkommen,
für
den
Erfolg
oder
Misserfolg
eines
Skandalisierungsversuchs.
1 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: Lügen werden verziehen.
2 Zur Skandalisierung von Franz-Peter Tebartz-van Elst vgl. Klenk, Christian: Medialisierter
Skandal oder skandalöse Medien?
3 Quelle: Media Tenor.
4 Vgl. Smajlovic, Mina: Die Skandalisierung bei Christian Wulff.
5 Quelle: Media Tenor.
6 Vgl. Die Zeitungen. Reichweiten. Quelle: agma. http://www.die-zeitungen.de [Zugriff:
10.05.2015].
7 Vgl. Statista. Das Statistik-Portal. Daten nach AGF/GFK.
8 Zum Folgenden vgl. ARD-DeutschlandTREND. http://www.infratest-dimap.de.
9 Eine ähnliche zeitverzögerte Wirkung besaß die Skandalisierung von Kohl und der CDU in der
Spendenaffäre. Ihre größte Akzeptanz hatte die CDU mit 49 % im November 1999. Aufgrund der
massiven Kritik an Kohl und der CDU ging der Wert bis zur vierten Dezemberwoche auf 45 %
zurück. Nach dem Frontalangriff von Angela Merkel auf Kohl am 22.12.1999 in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung stürzte die Partei bis Ende Februar 2000 in der Wählergunst auf 31 % ab. Vgl.
Kepplinger, Hans Mathias: Die Mechanismen der Skandalisierung. 2. Auflage 2005, S. 31–35.
10 Zum Einfluss ihrer Skandalisierungen auf das nonverbale Verhalten von zu Guttenberg und Wulff
vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Post, Senja / Dickhaus, Maike: Effects of Scandals on Top
Politicians. Paper presented at the ICA-Conference in Japan 2016.
11 Vgl. hierzu Kapitel 15 sowie Wulff, Christian: Ganz oben. Ganz unten, S. 218.
12 Vgl. Heims, Günter: Medien und Stuttgart 21.
13 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Geiss, Stefan / Siebert, Sandra: Framing Scandals: Cognitive and
Emotional Media Effects.
14 Bei den untersuchten Zeitungen handelt es sich um Mainzer Allgemeine Zeitung, Mainzer RheinZeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, Welt und
Bild, bei den Fernsehsendungen um ARD Tagesthemen, ZDF heute journal, RTL aktuell, SAT.1
NEWS.
9. Die Zeit der Empörung
Ein Skandal ist eine Zeit der Empörung. Nüchterne Skepsis gilt nicht als
Tugend, sondern als Uneinsichtigkeit. Wer sich dem Protest nicht anschließt
oder wenigstens Sympathie dafür bekundet, wird isoliert und abgestraft. Als
der Skandal um die Versenkung der Brent Spar seinem Höhepunkt
entgegenstrebte, empörte sich Peter Alexander: »Ich bin entsetzt! Das kann
man doch nicht machen!«, und Rita Süssmuth rief mahnend aus: »Stoppt die
Gefährdung unserer Erde und Meere. Nehmt Vernunft an und handelt
entsprechend«. Ernst Benda erklärte vor 80.000 Besuchern des Kirchentags
in Hamburg, der Evangelische Kirchentag unterstütze den »Aufruf, die
Produkte dieses Unternehmens nicht zu kaufen, solange dieser Irrweg nicht
korrigiert wird«. Als sich die Forderungen überschlugen, Helmut Kohl solle
die Namen der anonymen Spender nennen, verglich der Jesuitenpater
Friedhelm Hengsbach ihn mit dem biblischen König Herodes, der sich auch
dann noch an sein Versprechen gegenüber Salome gebunden fühlte, als sie
»den Kopf des Propheten forderte«. Als Eva Herman ihr neues Buch
vorgestellt hatte, beschimpfte die Schriftstellerin Karin Duve sie mit den
Worten, sie sei »zum Knochenkotzen«, der Schauspieler Jan Fedder ereiferte
sich, sie habe »ein Loch im Kopf« und »einen Nazi-Zopf«. Bild fragte: »Ist
Eva Herman braun oder nur doof?«1 Nachdem Köhler zurückgetreten war,
wurde er auf Spiegel Online (01.06.2010) als »Absteiger des Jahres«
bezeichnet, der sich »selbst stürzt«, von Michael Hanfeld in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung (01.06.2010) als »präsidialer Rohrkrepierer« und von
Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung (01.06.2010) als »Null-Bock-Horst«
beschimpft. Als Christian Wulff nach seinem Rücktritt im Garten von
Schloss Bellevue verabschiedet wurde, schrien Hunderte Demonstranten
»Schande, Schande, Schande«, warfen als Zeichen der Verachtung Schuhe in
den Garten und übertönten das Stabsmusikkorps beim Großen Zapfenstreich
mit Vuvuzelas. Als im Januar 2015 in Frankfurt etwa 80 Menschen an einer
Pegida-Kundgebung teilnahmen, standen ihnen rund 1.000 Demonstranten
gegenüber, die sie niederschrien und mit Eiern, Flaschen und Böllern
bewarfen. Derartige Angriffe auf die Meinungsfreiheit einer Minderheit
wiederholten sich mit ähnlichen Größenverhältnissen im Februar und März.
Wie reagiert die Bevölkerung auf solche Äußerungen? Lehnt sie sie ab
oder goutiert sie sie? Bei Skandalen treffen, wie das Institut für Demoskopie
Allensbach in mehreren Beispielen gezeigt hat, irrationale Ausbrüche, die in
normalen Phasen peinliches Schweigen hervorrufen würden, auf große
Zustimmung. In einer eigens dafür entwickelten Testfrage wird eine
öffentlich tagende Expertenrunde geschildert. Sie diskutiert anlässlich eines
aktuellen Missstands – im Januar 2001 war es der BSE-Skandal – den Stand
der Forschung und erörtert mögliche Maßnahmen. Plötzlich, so die
Geschichte, springt ein Zuhörer auf und protestiert: »Was interessieren mich
Zahlen und Statistiken in diesem Zusammenhang! Wie kann man überhaupt
so kalt über ein Thema reden, bei dem es um unsere Gesundheit und unser
Leben geht«. Bei allen Skandalen hält die Mehrheit der Bevölkerung diese
Ausbrüche des »gesunden Menschenverstandes« für richtig – im Falle des
BSE-Skandals waren es nahezu zwei Drittel.2 Die Flucht vor der
bezifferbaren Realität angesichts drohender Gefahren bleibt nicht auf
bildungsferne Schichten beschränkt. So erklärte Bundeskanzlerin Angela
Merkel in der Sendung »Anne Will« als sie angesichts der massenhaften und
unkontrollierten Immigration auf konkrete Daten angesprochen wurde: »Ich
möchte mich an den Zahlen, an den Statistiken, die im Augenblick
herumgereicht werden, jetzt gar nicht beteiligen«, wies dann aber darauf hin,
dass »Millionen dieses Land mögen«.
Im Skandal geht es nicht vorrangig um die Richtigkeit der Behauptungen,
sondern um die dadurch hervorgerufenen Emotionen. Aber woher stammen
die Emotionen? Physiologen haben lange angenommen, dass Emotionen wie
Ärger und Empörung, Freude und Glück jeweils eigene physiologische
Ursachen haben. Trotz intensiver Forschungen wurden solche spezifischen
Ursachen jedoch nicht gefunden. In den 1960er-Jahren haben zwei
Psychologen, Stanley Schachter und Jerome Singer, eine andere Erklärung
vorgeschlagen. Ihrer Ansicht nach haben Emotionen zwei Ursachen – eine
unspezifische Erregung, die allen Emotionen gemeinsam ist, sowie eine
situationsspezifische Vorstellung, die die Art der Emotionen bestimmt
(»Zwei-Faktoren-Theorie«). Normalerweise hängt die situationsspezifische
Vorstellung mit dem tatsächlichen Anlass der Erregung zusammen – wer
durch eine Beleidigung erregt ist, führt das darauf zurück und reagiert
entsprechend wütend. Oft sind die Anlässe der Erregung jedoch unbekannt
oder mehrdeutig. Man ist erregt, weiß aber nicht warum. In diesen Fällen
stützt man sich unbewusst auf das, was man gerade beobachtet, und reagiert
dementsprechend – beispielsweise wütend in einer unangenehmen Situation
oder belustigt in einer angenehmen Umgebung. In solchen Situationen hat die
situationsspezifische Vorstellung andere Anlässe als die Erregung, sie steuert
aber die daraus entstehende Emotion.
Schachter und Singer haben ihre Vermutung belegt, indem sie
Versuchspersonen unter einem Vorwand eine erregende Substanz (Adrenalin)
spritzten. Einigen beschrieben sie die Wirkung des Mittels sachgerecht,
andere ließen sie darüber im Unklaren. Anschließend brachten sie die
Versuchspersonen unter einem Vorwand mit einem Mitarbeiter zusammen,
der als weitere Versuchsperson vorgestellt wurde. Er verhielt sich in einigen
Fällen aggressiv, in anderen Fällen führte er sich albern auf. Gemäß den
Erwartungen benahmen sich die ahnungslosen Versuchspersonen den
Umständen entsprechend ebenfalls entweder aggressiv oder albern. Dagegen
verhielten sich die kundigen Versuchspersonen, weil sie eine überzeugende
Erklärung für ihre Erregung hatten, normal.3 Percy H. Tannenbaum hat die
sogenannte Zwei-Faktoren-Theorie für die Analyse von Medienwirkungen
fruchtbar gemacht.4 Üblicherweise vermuten wir beispielsweise, dass
Gewaltdarstellungen die Bereitschaft zu aggressiven Handlungen erhöhen,
weil zwischen der Ursache – dem Inhalt des Films – und der Wirkung – dem
Verhalten – eine Ähnlichkeit besteht. Das ist jedoch nicht notwendigerweise
so. In einer Serie von Experimenten hat Tannenbaum gezeigt, dass inhaltlich
verschiedene Filme – Abenteuerfilme, Slapstick-Komödien, pornografische
Darstellungen – ähnlich starke Erregungen hervorrufen können. Dadurch
steigern sie generell die Reaktionsbereitschaft. Die Art der Reaktionen hängt
dann nicht vom Inhalt der gesehenen Filme ab, sondern ähnlich wie im
Experiment von Schachter und Singer von den Wahrnehmungen in der
jeweiligen Handlungssituation: Wurden die Versuchspersonen mit einem
pornografischen Film erregt und anschließend in eine Situation gebracht, in
der sie aggressiv reagieren konnten, verhielten sie sich aggressiver als
Personen, die einen nicht erregenden Film gesehen hatten.
Viele Skandalberichte, vor allem des Fernsehens, sind aufgrund ihrer
Bilder erregend – Aufnahmen von Nematoden in Fischen, von
Wasserkanonen gegen Greenpeace-Aktivisten, von Sanierungsarbeitern in
Ganzkörperschutzanzügen, von brennenden Tierkadavern auf englischen
Feldern, von Toten, Verletzten und Verzweifelten in Bad Reichenhall oder
von gewaltigen Explosionen im Kernkraftwerk bei Fukushima usw. Solche
Bilder sind Auslöser von Emotionen – Ekel, Empörung, Angst und Trauer.
Allerdings erklärt das bei vielen Skandalen die heftigen emotionalen
Reaktionen aus zwei Gründen nicht. Erstens bleibt unklar, weshalb die Bilder
diese und keine anderen Emotionen auslösten: Warum empfanden die
meisten Fernsehzuschauer angesichts der Wasserkanonen vor der Brent Spar
vor allem Empörung über die Shell AG statt Mitleid mit den attackierten
Greenpeace-Aktivisten? Warum schlug die anfängliche Trauer angesichts der
eingestürzten Eissporthalle in Bad Reichenhall in Wut und Empörung um,
obwohl die Bilder gleich oder zumindest ähnlich blieben? Die Bilder allein
erklären das nicht. Es müssen situationsbezogene Vorstellungen
hinzukommen – z. B. von der Ursache des Einsturzes der Eissporthalle.
Zweitens gibt es bei vielen Skandalen keine ähnlich erregenden Aufnahmen.
Trotzdem schlägt die Erregung hohe Wellen – bei der Gedenktagsrede
Jenningers, beim CDU-Spendenskandal, bei der vermeintlichen Ermordung
des sechsjährigen Joseph, anlässlich des Anrufs von Wulff bei Diekmann, des
Indienflugs von Tebartz-van Elst und der Pädophilie-Vorwürfe gegen
Sebastian Edathy. Warum kam es auch in solchen Fällen zu starken
emotionalen Reaktionen, obwohl ähnlich dramatische Bilder fehlten?
Erregende Bilder sind eine, aber nicht die einzige Ursache von
Emotionen. Ähnliche Emotionen können auch reine Textdarstellungen
hervorrufen. Warum das so ist, erklären die Psychologen Josef Nerb, Hans
Spada und Stefan Wahl mit der Bewertungs-Theorie (»Appraisal-Theory«).5
Sie besitzt Gemeinsamkeiten mit der Zwei-Faktoren-Theorie, präzisiert aber
die Elemente, die spezifische Emotionen auslösen. Emotionale Reaktionen
sind demnach spontane und intuitive Folgen der individuellen Einschätzung
einer Situation. Ihre Grundlage sind nicht objektive Fakten, sondern
subjektive Vorstellungen. Diese Vorstellungen beruhen bei Skandalen, weil
die Masse der Bevölkerung keine Informationen aus erster Hand besitzt, im
Wesentlichen auf Medienberichten. Die Intensität der Reaktionen auf das
Geschehen – genauer gesagt, auf seine Darstellung durch die Medien – hängt
von der Größe des wahrgenommenen Schadens ab: Je schwerwiegender die
Leser, Hörer oder Zuschauer einen Missstand einschätzen, desto heftiger
fallen ihre Reaktionen aus. Die Art der Reaktionen beruht dagegen auf den
Vorstellungen von den Ursachen des Missstands. Falls die Rezipienten den
Eindruck gewinnen, ein Missstand sei auf Fehler von eigennützig handelnden
Personen zurückzuführen, empfinden sie Ärger. Das gilt vor allem dann,
wenn sie der Meinung sind, dass die Akteure die Folgen ihres Handelns
abschätzen konnten und keine höheren Ziele verfolgten – also z. B. keine
schlimmeren Missstände verhindern wollten. Falls die Leser, Hörer oder
Zuschauer dagegen den Eindruck gewinnen, der Schaden sei durch höhere
Gewalt – etwa durch ein Naturereignis – hervorgerufen worden, empfinden
sie Trauer. Mit Trauer reagieren sie auch dann, wenn sie meinen, dass die
Handelnden die Folgen ihres Verhaltens nicht überblicken konnten, keine
andere Wahl hatten oder höhere Ziele verfolgten. Dann sind sie in ihren
Augen selbst Opfer der Umstände.
Nerb und seine Kollegen haben ihre theoretischen Annahmen anhand
fiktiver, aber realistischer Berichte über Umweltschäden getestet und
bestätigt: Wurde in einem Bericht über einen Tankerunfall mit großen
ökologischen Folgeschäden behauptet, das havarierte Schiff habe nicht den
Sicherheitsvorschriften entsprochen, reagierten die Leser mit Ärger, wurde
dagegen behauptet, es habe den neuesten Sicherheitsstandards entsprochen,
mit Trauer. Entsprechend den theoretischen Annahmen entwickelten die
Leser über die gegebenen Informationen hinaus auch andere, stimmige
Vorstellungen. So glaubten die Leser des Unfallberichts, in dem der Tanker
als unsicher dargestellt wurde, dass die Verantwortlichen das Risiko kannten
und kein höheres Ziel verfolgten – obwohl in dem Bericht darüber nichts
gesagt wurde. Wurde der Tanker nicht ausdrücklich als unsicher dargestellt,
zogen die Leser nicht die erwähnten Folgerungen. Die Realitätsdarstellungen
riefen auch Verhaltensabsichten hervor. So waren Leser, die erfahren hatten,
dass das Schiff nicht den Sicherheitsbestimmungen entsprach, eher zur
Teilnahme an einem Boykott bereit als Leser eines Berichts, in dem der
Tanker als sicheres Schiff charakterisiert wurde.
In den Labortests wurden mehrere Wirkfaktoren vernachlässigt, die bei
der Skandalisierung von Missständen in der gesellschaftlichen Realität eine
bedeutende Rolle spielen, im Labor aber nicht getestet werden können. Dazu
gehören u. a. die Konsonanz der Berichterstattung, d. h. der mehr oder
weniger übereinstimmende Tenor aller Medien, und die Menge der
veröffentlichten und genutzten Beiträge. Zudem haben die Autoren
ausschließlich materielle Schäden berücksichtigt. Ursachen der
Skandalisierung von Missständen sind jedoch vielfach immaterielle Schäden
– die Verletzung sozialer Normen, von Zitiervorschriften, des
Telefongeheimnisses, der Privatsphäre oder der Promillegrenze beim
Autofahren usw. Bei der Analyse der Skandalisierung von Missständen in der
sozialen Realität müssen die Theorie der Problematik angepasst, die
Messinstrumente weiterentwickelt und die Annahmen unter realistischen
Bedingungen in einer Feldstudie getestet werden.
Der Einfluss der Medienberichterstattung auf die Vorstellungen der
Rezipienten vom Geschehen, auf ihre emotionalen Reaktionen und auf ihre
Forderungen nach Konsequenzen für die Skandalisierten wurde auf der
Grundlage der erweiterten theoretischen Annahmen und Messinstrumente in
der bereits erwähnten Studie zur Skandalisierung von Volmer, Fischer,
Schröder sowie des BND untersucht.6 Die komplexen Beziehungen zwischen
der Darstellung der von Volmer, Fischer, Schröder und dem BND
verursachten Missstände, der Intensität der Mediennutzung der Befragen,
ihren Vorstellungen von dem berichteten Geschehen sowie ihren Emotionen
und Forderungen lassen sich in einem mathematischen Modell darstellen. Die
Ergebnisse der Feldstudie bestätigen danach im Wesentlichen die
Laborbefunde, ergänzen und präzisieren sie jedoch in mehreren Punkten. Mit
dem erwähnten Modell kann man ein Drittel der Emotionen der Befragten
erklären. Ähnlich gut kann man ihre Überzeugung erklären, dass sich die
skandalisierten Akteure schuldig gemacht haben. Der Ärger, den die Berichte
ausgelöst hatten, hing vor allem von den medial hervorgerufenen
Vorstellungen von der Größe des Schadens und vom Wissen der
Skandalisierten um die Folgen ihres Handelns ab. Dagegen beruhte die
Forderung nach Konsequenzen vor allem auf der Vorstellung von der Größe
des Schadens sowie auf den Überzeugungen, der Schaden sei tatsächlich
durch die Skandalisierten hervorgerufen worden und sie hätten aus
egoistischen Motiven gehandelt.
Die Darstellung des Vorhabens zur Versenkung der Brent Spar entsprach
dem Schuldschema des Laborexperiments und der darauf aufbauenden
Feldstudie: Die Shell AG wurde von Greenpeace in einer wochenlangen PRKampagne als Verursacher eines sehr großen, absehbaren und vermeidbaren
Schadens dargestellt, der mit der Versenkung der Brent Spar vor allem
Kosten sparen wollte. Bei der wichtigsten Zielgruppe der Kampagne, den
deutschen Journalisten, löste dies Wut und Ärger aus, die durch die
erregenden Bilder vom Kampf zwischen David und Goliath in der Nordsee
verstärkt wurden. Auch deshalb diskreditierten sie die Richtigstellungen von
Shell mit dem Zorn der Gerechten und steigerten damit die Empörung ihrer
Leser, Hörer und Zuschauer derart, dass sie sich im Boykott von ShellProdukten und gelegentlich auch in gewaltsamen Aktionen gegen ShellTankstellen entlud – wobei alle der festen Überzeugung waren, richtig zu
handeln. Ein neueres Beispiel ist die Kampagne gegen Tebartz-van Elst. Er
wurde in mehreren Wellen als Bischof präsentiert, der das Geld mit beiden
Händen ausgibt, »während seine Gläubigen sparen sollen« (Spiegel,
03.09.2012): Der »Protz-Bischof« lässt sich für über 30 Millionen eine
Luxusresidenz bauen, fliegt erster Klasse, gönnt sich einen BMWLuxuswagen und steigt auf einem Foto aus einem teuren Oldtimer, der ihm
zwar nicht gehört, aber offensichtlich gefällt. Die Folge ist eine »Riesen-Wut
auf den Protz-Bischof« (Bild, 12.10.2013). Auch hier bildeten Journalisten
einiger Schlüsselmedien die wichtigste Zielgruppe von Aktivisten, die ihre
eigenen, zum Teil ganz anders gelagerten Ziele verfolgten, und mit der
bereitwilligen Hilfe der Medien auch erreichten.
Bei den Schäden geht es in Deutschland meist um finanziellen Eigennutz.
Das muss jedoch nicht sein. Es kann sich auch um die Gefährdung der
Pressefreiheit handeln, wie im Fall Wulff, oder um die Diskriminierung der
sexuellen Orientierung von Minderheiten, wie im Fall Lewitscharoff, oder
um Gefahren für Gesundheit und Leben, wie bei den meisten Seuchen-,
Lebensmittel- und Medikamenten-Skandalen. Beispiele aus jüngerer Zeit sind
die Reaktionen auf die Skandalisierung von angeblich gefahrenträchtigem
Rinder-, Schweine- und Geflügelfleisch, wobei der Intensität der jeweiligen
Emotionen und Forderungen der Intensität der Skandalisierung entsprach.
Ähnliche emotionale Reaktionen lösten die Skandalisierungen von SARS,
Vogelgrippe und Schweinegrippe aus, bei denen die gleichen
Zusammenhänge zwischen der Intensität der Anprangerung und den Sorgen
und Ängsten der Bevölkerung auftraten. Besonders extrem sind, wegen der
scheinbaren Eindeutigkeit der Situationen und der moralischen Polarisierung,
emotionalen Reaktionen auf Skandalisierungen in Täter-OpferKonstellationen – der »Mörder« des kleinen Joseph in Sebnitz (2000), des
»Autobahnrasers« Rolf F. (2003), der »Totschläger« von Dominik Brunner
(2009) und Tugce Albayrak (2014). Falls sich die Vorstellungen vom
Geschehen als falsch erweisen, können Wut und Empörung in Scham und
Trauer umschlagen – wenn sich nämlich herausstellt, dass die angeprangerten
Missstände nicht durch menschliche Fehler hervorgerufen wurden, sondern
natürliche Ursachen hatten: Man ist noch erregt, empfindet die Erregung nun
jedoch ganz anders – als Folge der Erkenntnis etwa, dass der kleine Joseph in
Sebnitz nicht von Rechtsradikalen ermordet wurde, sondern Opfer eines
Badeunfalls war. Der Skandal war vorbei. Mitleid verdrängte Empörung. Ein
Beispiel für den umgekehrten Fall ist der katastrophale Brand der Bergbahn
bei Kaprun: Als bekannt wurde, dass er keine natürlichen Ursachen hatte,
sondern eine Folge menschlichen Versagens war, schlug die anfängliche
Trauer in Wut um. Das Gleiche geschah bei der Aufdeckung der
menschlichen Ursachen des Einsturzes der Eissporthalle in Bad Reichenhall
und der Entdeckung, dass der Absturz der Germanwings-Maschine nicht die
Folge eines unerklärlichen Unfalls war, sondern der gezielten Absicht des
Copiloten.
Die Art und Intensität der Reaktionen beruhen auf dem Zusammenwirken
der Intensität der Skandalisierung durch die Medien und der dadurch
etablierten Vorstellungen und Emotionen: Eine sachlich scheinbar richtige
Vorstellung ist verbunden mit einer moralisch scheinbar notwendigen
Erregung. Beide beruhen auf der gleichen Ursache, der medialen Darstellung
des Sachverhalts. Die Vorstellungen und Emotionen schaukeln sich im
Verlauf eines Skandals gegenseitig hoch und entfalten dadurch eine starke
Eigendynamik: Emotionen werden von bestimmten Informationen ausgelöst;
Informationen, die zu den Emotionen passen, werden geglaubt, unpassende
als unglaubhaft zurückgewiesen. Ob die Vorstellung berechtigt oder falsch
ist, kann die Mehrheit der Bevölkerung zeitnah nicht feststellen und
erschließt sich auch Journalisten oft nicht, nur unzureichend oder spät.
Entscheidend ist während der Kampagne die Überzeugung, dass sie zutrifft.
Zur Vorstellung vom Geschehen gehören die Empörung darüber sowie die
Bereitschaft, alles zu glauben, was diese Empörung verstärkt. Vorstellungen
und Empfindungen sind stimmig. Für Trauer ist deshalb im Skandal kein
Raum.
Wenn die intensive Skandalberichterstattung abgeklungen ist und die
Medien andere Themen in den Vordergrund stellen, lässt die Erregung nach
und verschwindet schließlich völlig. Die Erinnerung an die vielen
Einzelheiten verblasst, die sich während der Skandalisierung zu einem
schemagerechten Gesamtbild verdichtet und Empörung, Ärger, Abscheu usw.
hervorgerufen haben. Die sich selbst verstärkenden Wechselwirkungen
zwischen schemagerechten Informationen und Emotionen werden schwächer
und verschwinden schließlich ganz. Zurück bleiben bruchstückhafte
Vorstellungen, die ohne massive mediale Unterstützung keine starken
Erregungen auslösen. Es fehlt eine Hälfte der Verhaltensursachen: Man weiß
zwar noch einigermaßen, was man gedacht hat, versteht aber nicht mehr,
warum man so empört war, weil die dafür erforderliche Erregung fehlt.
Deshalb sind im Rückblick die Ängste vor BSE, der Schweinegrippe und
Ehec oder die Verdammung der Einwohner von Sebnitz kaum noch
nachvollziehbar. Und die Hysterie über die verstrahlte Molke und die
Versenkung der Brent Spar, die Empörung über die Reden Jenningers und
Walsers und die Aggressionen gegen Sarrazin, Wulff und Tebartz-van Elst ist
vielen nur noch peinlich.
1 Alle zitiert nach Focus, 15.10.2007.
2 Vgl. Köcher, Renate: Öffentliche Aufregung als Risiko und Chance.
3 Vgl. Schachter, Stanley / Singer, Jerome: Cognitive, Social, and Physiological Determinants of
Emotional State.
4 Vgl. Tannenbaum, Percy H.: Emotional Arousal as a Mediator of Erotic Communication Effects.
5 Vgl. Nerb, Josef / Spada, Hans / Wahl, Stefan: Kognition und Emotion.
6 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Geiß, Stefan / Siebert, Sandra: Framing Scandals.
10. Der Umgang mit Nonkonformisten
Einige Tage bevor Helmut Kohl sein »Tagebuch 1998–2000« vorstellte,
beendete Ulrich Deppendorf einen Kommentar in den Tagesthemen mit der
Bemerkung, an der Situation der Union änderten »auch (…) die peinlichen so
genannten Tagebuchaufzeichnungen von Ex-Kanzler Kohl (nichts).
Punktgenau zum Parteitag platziert, regen sie in der Partei keinen mehr auf.
Über so viel Selbstgerechtigkeit herrscht nur noch Kopfschütteln, selbst bei
den treuesten Kohl-Jüngern. Es interessiert keinen mehr, was Kohl zu sagen
hat. Es sei denn, er würde die Spender nennen«. Interpretiert man
Deppendorfs Behauptung als Tatsachenaussage, handelt es sich um eine
Spekulationen, weil zum Zeitpunkt des Kommentars niemand wissen konnte,
ob es tatsächlich »keinen mehr interessieren« würde, was Kohl zu sagen
hatte. Wenige Tage später hatten sich die Spekulation Deppendorfs als falsch
erwiesen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 25./26. November 2000
über die Buchvorstellung das Gegenteil vom dem, was Deppendorf behauptet
hatte: »Die Journalisten, das Publikum, sind in Kompaniestärke angerückt;
drei Dutzend Fernsehkameras und zahlreiche Fotoapparate halten jede
Regung des ebenso erfahrenen wie voluminösen Artisten vorne auf dem
Podium fest«. Der Verlag Kohls verzeichnete am Wochenende vor der
Auslieferung des Buches 160.000 Vorbestellungen und Kohl machte eine
bundesweite Lesereise, bei der Tausende geduldig Schlange standen, um ihr
Exemplar signieren zu lassen. Monatelang fanden sich seine Erinnerungen
auf der Bestsellerliste. Schwerer als Deppendorf konnte man kaum irren.
Möglicherweise handelte es sich jedoch bei Deppendorfs Behauptung
nicht um eine Tatsachenaussage, sondern um eine indirekte Aufforderung:
Alle, die ihn hören und sehen konnten, sollten Kohls Aufzeichnungen
»peinlich« finden und darauf mit »Kopfschütteln« und »Desinteresse«
reagieren. So verstanden, kann man die Aussage auch als Charakterisierung
derjenigen verstehen, die die Aufzeichnungen Kohls mit Spannung erwartet
hatten. Bei ihnen musste es sich um extreme Außenseiter handeln, deren
Verhalten Verachtung verdiente, weil sie sich mit etwas so Peinlichem
befassten, das selbst bei den treuesten Kohl-Anhängern in der CDU, ganz zu
schweigen von der Mehrheit der Gesellschaft, nur noch Kopfschütteln
hervorrief. Wer sich für Kohls Tagebuch interessierte, war demnach von allen
guten Geistern verlassen. So interpretiert, handelte es sich bei der
Behauptung Deppendorfs um eine versteckte Drohung, deren Ziel darin
bestand, Kohl durch die Diskreditierung möglicher Sympathisanten zu
isolieren. Stellungnahmen wie diese sind ein typisches Element von
Skandalen. Wer sich im Skandal der öffentlichen Meinung widersetzt, wird
mundtot gemacht oder, falls das nicht möglich ist, ausgegrenzt. Dies betrifft
sowohl die Skandalisierten als auch ihre Verteidiger. Die demonstrative
Isolierung der Skandalisierten und ihrer Verteidiger erfüllt zwei Funktionen:
Sie zeigt zum einen, dass der Skandalisierte völlig alleine steht, weil sich die
Rechtschaffenen vom ihm abgewandt haben. Zum anderen macht sie
potenziellen Verteidigern klar, was ihnen droht, wenn sie sich zu einer
Rechtfertigung der Skandalisierten hinreißen lassen.
Die Charakterisierung Kohls durch Deppendorf ist kein Einzelfall.
Ähnlich erging es Wulff. Am 3. Januar 2012, zwei Tage nach den ersten
Berichten über den »Drohanruf« Wulffs bei Diekmann, behauptete Philipp
Wittrock auf Spiegel Online unter der Überschrift »Der isolierte Präsident«,
es werde »einsam um Christian Wulff«. Am 4. Januar hieß es in Bild unter
der Überschrift »Der einsame Wulff«, der Bundespräsident fände »kaum
noch Unterstützung« und belegte das mit negativen Pressekommentaren zu
seinem Anruf. Am selben Tag berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung
auf ihrer Titelseite, das Bundespräsidialamt versuche »den Eindruck zu
vermitteln«, Wulff sei »auch in der kommenden Woche noch im Amt«. Am
9. Januar behauptete Nils Minkmar an gleicher Stelle unter Bezugnahme auf
eine Talkshow von Günther Jauch, zu der fast nur Wulff-Kritiker eingeladen
waren, Wulff fände »kaum noch Fürsprecher«. Am 13. Februar erklärte Jauch
in seiner Talkshow zur beruflichen Zukunft von Wulff, von ihm werde
»niemand ein Stück Brot nehmen«. Am 14. Februar leitete Andreas Platthaus
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seinen Bericht über einen Empfang
des Bundespräsidenten mit der Behauptung ein, die Prominenz interessiere
sich vor allem für die Frage, ob es ihrem Ruf schade, wenn sie die Einladung
von Wulff annähme. Anlässlich des Staatsbesuchs von Wulff in Italien stellte
die Rhein Main Presse (14.02.2012) ihn auf einem Foto weitgehend verdeckt
von zwei Personen dar. Die Unterzeile lautete: »Wulff ›versteckt‹ sich in
Rom«. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte am gleichen Tag
auf ihrer Titelseite unter der Zeile »Wulff in Rom« ein Foto, das nicht Wulff
zeigte, sondern einen roten Teppich, neben dem zwei Straßenkehrer den
liegengebliebenen Dreck wegschafften.
Sibylle Lewitscharoff erging es ähnlich. Sie hatte am 2. März 2014 in
einer Rede in Dresden informativ und einfühlsam über moralische Aspekte
der Hinauszögerung des Todes unheilbar Kranker sowie der künstlichen
Herstellung von Leben gesprochen und dabei am Rande mit polemischen
Begriffen die Legitimität der künstlichen Generierung von Kindern für
gleichgeschlechtliche Paare bestritten. Am 5. März skandalisierte Robert
Koall, Chefdramaturg am Schauspielhaus Dresden und Gastgeber
Lewitscharoffs, auf dem Briefpapier des Staatsschauspiels Dresden, also in
offizieller Funktion, ihre Rede und griff vorsorglich mögliche Unterstützer
an: der Journalist Matthias Matussek »schwadroniere« in der Welt über
Schwule, Thilo Sarrazin sei »verwirrt«, ein »Populist«, der »Raum schaffen«
wolle für »Vorurteile, Lügen und Ressentiments«. Am 6. März bezeichnete
Georg Diez Lewitscharoff auf Spiegel Online als »Herrenreiterin des
Kleingeistes«, charakterisierte ihre Rede als »Blaupause für einen neuen
Klerikalfaschismus«, als »menschenverachtend, herrisch, gefühlskalt,
reaktionär und ressentimentgeladen« und fragte vorsorglich, was die
»reaktionären Knallchargen« dazu sagen, die wie Matussek die
»demokratiefeindliche Muppetshow unserer Tage … bevölkern«. Am selben
Tag berichtete die Berliner Morgenpost, der Suhrkamp Verlag habe sich von
seiner erfolgreichen Autorin distanziert. Einige Tage später forderte der
Vorstandssprecher der Grünen in Bad Soden die Veranstalter einer seit
längerem geplanten Lesung auf, Lewitscharoff auszuladen. Der Vorsitzende
der Darmstädter Jusos verlangte, sie solle ihren Georg-Büchner-Preis
zurückzugeben (FAZ, 20.03.2014).
Wer trotz des Banns über die Skandalisierten etwas zu ihren Gunsten
unternimmt, sei es mit Argumenten oder auf andere Weise, muss mit
Sanktionen rechnen – wie Peter Hintze während der Skandalisierung von
Wulff. Michael Fröhlingsdorf, Veit Medick und Philipp Wittrock
charakterisierten ihn auf Spiegel Online (14.02.2012) als »Christian Wulffs
letzten Mann«, der ihn »einsam, aber dafür umso leidenschaftlicher
verteidigt«, als »gelernten Pfarrer«, der über die Medienberichterstattung
»lästert« und das Staatsoberhaupt »preist«. Bild (14.02.2012) dokumentierte
unter der Überschrift »Mein Gott, Herr Pfarrer … Du sollst nicht lügen,
Peter!« die »Sünden« Hintzes – seine Stellungnahmen zugunsten von Wulff
in der bereits erwähnten Talkshow von Jauch. Während der finalen
Skandalisierung von Tebartz-van Elst erklärte der Leiter des Frankfurter
Hauses am Dom, Joachim Valentin, wer »diesen Bischof öffentlich«
verteidige, habe »schlicht seine eigene Seriosität verspielt« (FAZ,
18.11.2013). Als Helmut Maucher, der frühere Vorstandsvorsitzende der
Nestlé AG, Kohl 500.000 DM spendete, damit Kohl die von ihm im CDUSpendenskandal verursachte Strafzahlung leisten konnte, rief die
Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis, zum Boykott
von Nestlé-Produkten auf. Weil Erich Schumann, SPD-Mitglied und
Verleger der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, aus dem gleichen Grund
800.000 DM gespendet hatte, wurde gegen ihn ein Parteiordnungsverfahren
beantragt. Hintze, Maucher und Schumacher hatten eines gemeinsam: Sie
hatten die Einheitsfront der Skandalgläubigen durchbrochen.
Typisch für Attacken zur Isolierung der Skandalisierten und derjenigen,
die zu ihnen stehen, ist die strikte Personalisierung von Sachfragen. Fakten,
Interpretationen und Meinungen werden nicht oder nur scheinbar diskutiert.
Ihr Ziel ist das Gegenteil, die Vermeidung eines Diskurses über Sachfragen
durch die Ausschaltung der Gegner. Ein Beispiel aus der Wissenschaft ist der
auf Person und berufliche Position zielende Angriff auf Horst Möller,
Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, wegen seiner Laudatio auf Ernst
Nolte anlässlich der Verleihung des Preises der Deutschland-Stiftung am 4.
Juli 2000. Hintergrund des Geschehens war der sogenannte
»Historikerstreit«, der in die Ächtung von Andreas Hillgruber und Ernst
Nolte mündete, die angeblich die historische Einzigartigkeit des Holocaust
infrage gestellt hatten. Obwohl Möller, das wissenschaftliche Werk Noltes
distanziert und kritisch würdigte, löste seine Laudatio wütende Attacken aus,
die in der Forderung nach seiner beruflichen Kaltstellung gipfelten. Möller,
so befand sein Kollege Heinrich August Winkler in einem offenen Brief,
könne nicht länger »an der Spitze des Instituts für Zeitgeschichte und der
Gemeinsamen Kommission zur Erforschung der jüngeren Geschichte der
deutsch-russischen Beziehungen verbleiben« (FAZ, 04.07.2000). Nicht der
Inhalt der Laudatio Möllers war die Ursache dieser Angriffe, sondern die
Tatsache, dass er sie gehalten und damit die Isolation Noltes durchbrochen
hatte.
Derartigen Isolationsdrohungen sind gelegentlich auch Medien,
Journalisten und Autoren ausgesetzt. Nachdem der Spiegel (12/2014) Edathy
die Möglichkeit gegeben hatte, sich in einem Interview zu den gegen ihn
erhobenen Pädophilie-Vorwürfen zu äußern, empörte sich der stellvertretende
Regierungssprecher Georg Streiter auf Facebook: »Das glaubt keiner, das
will auch keiner lesen und der Spiegel sollte sich hüten, unter dem
Deckmäntelchen von ach so tollem Journalismus die unsägliche PädophilieDebatte der siebziger und achtziger Jahre neu aufzulegen«. Nachdem Werner
Patzelt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.01.2015) mehrere Gründe
für die Entstehung von Pegida dargelegt hatte, darunter auch ein einseitig
verengtes Meinungsspektrum der Medien, schrieb Georg Diez auf Spiegel
Online (23.01.2015), dass jetzt im Feuilleton der FAZ ein »weitgehend
unbekannten Dresdner Politikwissenschaftler«, der sich »für Chormusik und
Burschenschaften interessiert«, also seine Aufmerksamkeit abseitigen
Erscheinungen widmet, darüber »schwadroniert« ob der »Vulkan des
›Volkswillens‹ bald ausbricht«.
Auch im Journalismus zielt die Diskreditierung der Qualifikation von
Kollegen gelegentlich auf ihre Ausschaltung. Ein Beispiel ist ein Interview
von Simon Feldmer mit dem Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung, Joachim
Dorfs. Anlass war der geplante Abriss des Stuttgarter Hauptbahnhofs
(Stuttgart 21), den eine Reihe einflussreicher Medien monatelang
skandalisiert, die Stuttgarter Zeitung aber gerechtfertigt hatte. Nachdem
Feldmer behauptet hatte, Gegner von Stuttgart 21 hätten im Internet die
Kündigung ihres Abonnements der Stuttgarter Zeitung dokumentiert, fragte
er: »Wie viele Leser haben explizit wegen Ihrer Berichterstattung
gekündigt?« Als Dorfs auf 600 Kündigungen verwiesen hatte, fragte
Feldmer: »Wie kommen Sie auf diese Zahl? Es können doch viel mehr Leser
gekündigt haben, die Ihnen nicht eigens den Grund mitgeteilt haben?« Als
Dorfs höhere Schätzungen mit konkreten Zahlenangaben zurückgewiesen
hatte, insistierte Feldmer ironisch: »Sie haben angefangen, Leserkonferenzen
zu organisieren. Wegen 600 Kündigungen?« Als Dorfs darauf hingewiesen
hatte, dass die Zeitung bereits viel früher damit begonnen hatte, gab Feldmer
das Thema auf und suggerierte auf die gleiche Art und Weise eine
Beschränkung der Pressefreiheit bei der Stuttgarter Zeitung. Auf das Für und
Wider von Stuttgart 21 ging Feldmer nicht ein. Stattdessen suggerierte er den
Eindruck, Dorfs sei ein irregeleiteter Außenseiter, der sich als Chefredakteur
disqualifiziert habe. Veröffentlicht hat das Interview das Magazin des
Deutschen Journalistenverbands (journalist, 3/2011).
Markus Brauck und Thomas Tuma gingen in ihrer Attacke gegen den
Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo, im Spiegel (05.12.2011)
ähnlich vor wie Feldmer im journalist. Anlass war unter anderem das als
Buch angekündigte Gespräch von di Lorenzo mit Karl-Theodor zu
Guttenberg über den Skandal um seine Dissertation. Auch Brauck und Tuma
ging es nicht um eine sachliche Klärung, sondern um Rufschädigung. Die für
ein Nachrichtenmagazin naheliegenden politischen Fragen, was für und
gegen eine Rückkehr von zu Guttenberg in die Politik spreche und welche
Folgen das für die CDU/CSU hätte, spielte für sie ebenso wenig eine Rolle
wie die journalistische Kernfrage, ob das Totschweigen z. B. von zu
Guttenberg eine akzeptable Alternative zur sachlichen Auseinandersetzung
mit kritikwürdigen Politikern ist. Ihnen ging es darum, di Lorenzo als
käuflichen Steigbügelhalter zu präsentieren, der seine persönlichen Interessen
auf Kosten seiner Zeitung verfolge. So habe der am Honorar beteiligte di
Lorenzo »mit Guttenberg das Interesse gemein, dass das Werk ein Bestseller«
werde. Er mache »Reklame« für zu Guttenberg und seinen Verlag. Er habe
sich »einspannen lassen«, sei »Teil eines Spiels geworden«. Nach einem
Umweg über das »Ständehausgespräch«, das di Lorenzo viermal im Jahr
gegen Honorar moderiert, mündeten die Unterstellungen in die Frage:
»Wären Sie so nett, uns zu sagen, was ein Giovanni di Lorenzo kostet …?«
Den krönenden Abschluss bildete die in Frageform gekleidete Unterstellung:
»Was meinen Sie – welche Marke hat mehr Schaden genommen?
Guttenberg, di Lorenzo oder ›die Zeit‹?«
Die Anprangerung von Nonkonformisten findet in der Öffentlichkeit statt,
ihre Ausschaltung wird jedoch gelegentlich im kleinen Kreis geplant. Das
illustriert eine Veranstaltung der Deutschen Welle zur politisch korrekten
Berichterstattung über den Klimawandel.1 Einer der Schulungskurse
behandelte die Frage: »Wie gehen wir professionell mit dem
Klimaskeptizismus um?« Gemeint war nach Darstellung von Ulli Kulke, der
an der Veranstaltung teilgenommen hatte, eine Antwort auf die Frage: »Wie
können wir diejenigen Forscher und Experten, die Zweifel an der
menschengemachten Klimakatastrophe hegen und sich öffentlich dazu
bekennen, aus dem Diskurs heraushalten?« Der Moderator, Bernhard Pötter
von der taz, erläuterte laut Kulke, man wolle »Hilfestellung geben für
Chefredakteure, Autoren und andere Journalisten, wie man sich am besten
verhalte bei einer unverhofften Konfrontation mit einem ›Klimaskeptiker‹«.
Die Referentin, eine amerikanische Wissenschaftlerin, empfahl dazu mehrere
Sprachregelungen. So solle man den Begriff »Klimaskeptiker« nicht
verwenden, weil der Wortbestandteil »Skeptiker« positiv besetzt sei.
Stattdessen solle man von »Gegnern« sprechen. Auch den Begriff
»Klimadebatte« solle man vermeiden, weil er den Eindruck erwecke, darüber
gäbe es in der Wissenschaft noch unterschiedliche Ansichten. Wichtig sei es,
journalistisch Stellung zu beziehen. Eine neutrale Berichterstattung über den
Klimawandel würde nur den Skeptikern nützen und zwar auf Kosten allen
Lebens.
Das zuweilen fragwürdige Zusammenspiel von Journalismus und
Wissenschaft illustriert auch die strategische Diskreditierung von
Klimaforschern, die an den hauptsächlich menschlichen Ursachen des
Klimawandels zweifeln, durch den Leiter der einflussreichen »Climate
Research Unit« (CRU) der University of East Anglia, Phil Jones.2 Bekannt
wurde die Manipulationsabsicht 2009 unter dem Stichwort »Klima-Gate«,
weil ein Hacker etwa 1.000 E-Mails und 3.000 Dokumente kopiert und ins
Internet gestellt hatte. Sie belegen, dass Jones seine Kollegen dazu
aufgefordert hatte, Skeptikern keine Daten zu liefern, die sie gegen die
Mehrheitsmeinung der Klimaforscher verwenden könnten. Teil der Strategie
war auch die Verhinderung der Publikation von Forschungsergebnissen, die
der Mehrheitsmeinung widersprachen. Jones trat unter dem Eindruck der
öffentlichen Kritik von seinem Amt als Institutsdirektor zurück. Zwei
Untersuchungskommissionen stützten seine wissenschaftlichen Thesen,
kritisierten aber seine Verstöße gegen wissenschaftliche Prinzipien wie
Unvoreingenommenheit und Bereitschaft zur Weitergabe von Daten.
Zahlreiche Online- und Offline-Medien skandalisierten die Behinderung der
Wissenschaftler nicht, sondern bagatellisierten sie. Zudem diskreditierten sie
die Kritik daran als durchsichtigen Versuch zur Skandalisierung der
bevorstehenden UN-Klimakonferenz in Kopenhagen. Wichtiger als die
Freiheit der Wissenschaft war ihnen die Reinheit der herrschenden Lehre.
Vermutlich konnten Feldmer, Brauck und Tuma mit ihren Attacken die
berufliche Existenz von Dorfs und di Lorenzo nicht ernsthaft gefährden.
Wahrscheinlich wussten sie das und darum ging es ihnen wohl auch nicht
primär. Vielmehr wollten sie an ihnen ein Exempel statuieren, das den
weniger Erfolgreichen und Exponierten klarmachen sollte, was ihnen blühen
kann, wenn sie sich der vorherrschenden Meinung widersetzen und den
verfemten Gegnern eine Chance geben, ihre Interessen zu vertreten. Im Kern
handelte es sich um Angriffe auf die Meinungsfreiheit, bei denen die
Herabsetzung von Personen eine Auseinandersetzung mit der Sache
verhindern sollte. Sie zielten nicht auf die Etablierung, sondern auf die
Unterbindung eines kritischen Diskurses. Was sind die Ursachen von solchen
journalistischen Entgleisungen? Allgemeiner gefragt: Was sind die Ursachen
der Intoleranz von Menschen, die sich wahrscheinlich für tolerant halten?
Eine Ursache ist die feste Überzeugung in Skandalen, dass Andersdenkende
nicht nur eine falsche Meinung haben, sondern sich der Wirklichkeit
verweigern. Das ist eine Konsequenz der erfolgreichen Etablierung allgemein
verbindlicher Sichtweisen. Eine weitere Ursache besteht darin, dass jeder
Skandal auf dem absoluten Geltungsanspruch spezifischer Sichtweisen
beruht, die als Normen gelten oder gelten sollen. Dieser Geltungsanspruch
wird exemplarisch durch die Skandalisierung von Personen und
Organisationen dokumentiert, die diese Sichtweisen verletzen. Ihr Ziel ist
öffentliche Ächtung. Sie bestätigt die Geltung der Sichtweise bzw. der
dahinter stehenden sozialen Normen. Andererseits stellen alle, die sich mit
den Skandalisierten solidarisieren, den allgemeinen Geltungsanspruch der
Normen und Sichtweisen infrage. Nonkonformisten müssen folglich
ausgeschaltet werden. Auch hierbei folgt das Verhalten im Skandal
sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten.
Die Ächtung der Nonkonformisten hat weniger mit dem Inhalt ihrer
Äußerungen zu tun als mit ihrer sozialen Rolle, sie dient der Sicherung des
Überlegenheitsgefühls der Mehrheit sowie der Unterwerfung der
Skandalisierten. Beide Kriterien sind unabdingbare Voraussetzungen für die
Verteidigung der vorherrschenden Sichtweise und damit für den Erfolg der
Skandalisierung. Nur wenn die Mehrheit geschlossen erscheint, kann sie, wie
die Asch-Experimente gezeigt haben, ihre Gegner niederhalten. In Skandalen
geht es deshalb immer ums Ganze: Es genügt nicht, den Urheber eines
Missstands anzuprangern. Er muss, weil nur so die allgemeine Geltung der
verletzten Norm gesichert werden kann, isoliert oder ausgeschaltet werden.
Das erfordert, dass auch diejenigen, die die Isolation des Skandalisierten
durchbrechen oder infrage stellen, diskreditiert werden. Falls das nicht
gelingt, muss im Interesse der Normsicherung zumindest der Eindruck
erweckt werden, dass die Unterstützer der Skandalisierten nicht zählen, weil
sie sich mit ihren Ansichten selbst ins Abseits gestellt haben. In diesem Sinne
weisen alle Skandale totalitäre Züge auf: Sie zielen auf Gleichschaltung, weil
Abweichler den Machtanspruch der Skandalisierer und ihrer Anhänger
infrage stellen. Große Skandale kann man deshalb als Varianten von
Schauprozessen betrachten: Die Anklage enthält fast immer einen wahren
Kern. Das Ziel besteht jedoch nicht darin, die Angeklagten in einem fairen
Verfahren zu überführen, sondern darin, sie mit allen möglichen Mitteln zu
diskreditieren, zu unterwerfen und wenn notwendig effektiv auszuschalten.
Deshalb ruft auch im Skandal nichts größere Empörung hervor als die
Weigerung der Angeklagten, ihre Schuld zu gestehen und die
Unverfrorenheit von Nonkonformisten, sich zu den Skandalisierten zu
bekennen – sei es auch nur durch ein Interview mit ihnen.
1 Vgl. Kulke, Ulli: Allein unter Klimakämpfern.
2 Vgl. Stahnke, Jochen / Wyssuawa, Mattjias: Klima-Gate; Bojanowski, Axel: Heißer Krieg ums
Klima; Müller-Junk, Joachim: Schludrig, aber wahr; Wieland, Leo: UN: Den Klimawandel zu
leugnen ist kriminell.
11. Täter und Opfer
Die meisten skandalisierten Personen und Organisationen haben tatsächlich
die Regeln verletzt und die Missstände verursacht, die ihnen vorgeworfen
werden. Zwar kommt es vor, dass jemand aufgrund völlig falscher Vorwürfe
angeprangert wird – die Skandalisierung von General Kießling durch
erfundene Behauptungen über dessen Sexualleben ist ein Beispiel1 – das sind
jedoch seltene Ausnahmen. Die meisten Skandalisierten haben die Fehler, für
die sie kritisiert werden, begangen und sie bestreiten das nach einiger Zeit
auch meist nicht mehr. Zudem akzeptieren dann viele die öffentliche Kritik
an ihrem Verhalten. Trotzdem fühlen sich fast alle als Opfer des Geschehens
und der Medien.2 Edathy erklärte einige Wochen vor seinem Freispruch an
einem geheimen Ort gegenüber dem Spiegel (17.03.2014), er fände die
»Hysterie in der Debatte« um ihn »verstörend«. Es werde ja »offenkundig
sogar von Teilen der Medien als anstößig betrachtet, wenn man nur auf seine
Rechte hinweist«. Er weigere sich »einen öffentlichen Kotau zu machen.
Medial und sozial gefoltert zu werden und dann auf der öffentlichen
Streckbank ein mea culpa zu raunen – das scheint man von mir zu erwarten,
aber das werde ich nicht tun«. Härtel bezeichnete sich als Opfer einer
»öffentlich betriebenen politischen Menschenjagd«, die das Ziel gehabt habe,
sie zu stigmatisieren. Sie hatte einen Kreislaufkollaps und litt nach Aussagen
eines psychiatrischen Gutachtens unter Depressionen. Cohn-Bendit fühlte
sich als Opfer einer »Menschenjagd« (FAZ, 27.02.2000), als er in Frankreich
wegen der Schilderung seiner Erlebnisse in einem Frankfurter »Kinderladen«
in seinem Buch »Le Grand Bazar« des Missbrauchs von Kindern verdächtigt
worden war.
Viele Skandalisierten fühlen sich auch deshalb als Opfer der Medien, weil
ihre Anprangerung Reaktionen des Publikums auslöst, die weit über das
hinausgehen, was die Verfasser der Beiträge beabsichtigt oder in Rechnung
gestellt haben. Kohl wurde in Berlin bei der Signierung seines »Tagebuchs«
mit einem Windbeutel beworfen. Auf der Website der Stadt Sebnitz fanden
sich die Aufrufe »Gebt allen Ossis eine Spritze mit dem Aids-Virus« und
»Tod allen Nazis. Tod Bürgermeister Ruckh« (FR, 30.11.2000). Während der
Skandalisierung der Oberbürgermeisterin von Hanau fanden sich im
Gästebuch des Internetauftritts der Stadt Aufforderungen an Härtel zum
Selbstmord (FAZ, 15.01.2004), und während der Skandalisierung von
Möllemann wegen der Aufnahme des Abgeordneten Karsli in die FDP
inszenierte der Regisseur Christoph Schlingensief vor Möllemanns
Unternehmenssitz in Düsseldorf das Stück »Tötet Möllemann!« (Welt am
Sonntag, 22.06.2003).
Ein extremes aber illustratives Beispiel für den Einfluss skandalträchtiger
Schemata auf die Wahrnehmung, deren Einfluss auf die Berichterstattung
und deren verheerende Folgen ist der Fall des Bestseller-Autors Akif Pirinçci.
Pirinçci hatte am 19. Oktober 2015 bei einer Pegida-Kundgebung in Dresden
über den Umgang der Politik mit Gegnern der deutschen Flüchtlingspolitik
gesagt: »Offenkundig scheint man bei der Macht die Angst und den Respekt
vor dem eigenen Volk so restlos abgelegt zu haben, dass man ihm
schulterzuckend die Ausreise empfehlen kann, wenn er gefälligst nicht
pariert. Es gäbe natürlich auch andere Alternativen. Aber die KZs sind ja
leider derzeit außer Betrieb.« Die ironische Drohung mit dem KZ bezog sich
offensichtlich auf dem Umgang der Politik u. a. mit Pegida-Anhängern, nicht
auf ihren Umgang mit Flüchtlingen. Das widersprach dem Image von Pegida
als Bewegung von Rechtsradikalen. Innerhalb kürzester Zeit mutierte deshalb
die Bemerkung Pirinçcis zu der schemakonformen Behauptung, Pirinçci habe
die Außerbetriebnahme von KZs mit Blick auf die Flüchtlinge bedauert.3
Wenig später war Pirinçci ein »Aussätziger«.4 Die Wirte seiner Stammlokale
wollten ihn nicht mehr bedienen, in einem anderen Lokal goss ihm ein Gast
eine Cola über den Kopf, sein Haus verließ er nur noch, wenn es sein musste,
die Verlagsgruppe Random House kündigte die Zusammenarbeit mit ihm auf
und mehrere Zwischenhändler, sogenannte »Barsortimenter«, lieferten seine
Bücher nicht mehr aus.
Alle Täter fühlen sich als Opfer. Aber wer das zu erkennen gibt, kann
nicht auf Mitleid hoffen, sondern muss mit der Häme derer rechnen, die von
der Berechtigung der Vorwürfe überzeugt sind. Anlässlich der Vorstellung
von Kohls Tagebuch schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung
(25./26.11.2000) verächtlich: »Wohin Kohl schaut, überall Verschwörung,
überall Feinde: die SPD sowieso, die Grünen erst recht, die Presse gleich gar.
Und mit jedem Tagebucheintrag werden die Feinde in der eigenen Partei
lebendig – undankbare Kreaturen, die die Hand dessen beißen, der sie genährt
und großgezogen hat«. Als Martin Walser in seinem Tagebuch der Jahre
1974 bis 1978 bekannt hatte, dass er nach dem vernichtenden Urteil von
Marcel Reich-Ranicki über seine schriftstellerischen Fähigkeiten im
Allgemeinen und seinen neuen Roman »Jenseits der Liebe« das Gefühl hatte,
»in ein anderes Land vertrieben zu werden«, mokierte sich Volker
Weidermann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.03.2010) darüber,
dass Walser sich trotz des Verkaufserfolgs seines Romans damals »allein«,
»isoliert«, »ausgeschaltet« gefühlt habe – so als sei der finanzielle Erfolg des
Autors ein hinreichender Ausgleich für seine öffentliche Demütigung. Weil
Köhler seinen Rücktritt damit erklärt hatte, dass unter anderem sein
Hörfunkinterview zur militärischen Vertretung deutscher Interessen falsch
zitiert und beleidigend kommentiert worden sei, war sein Rücktritt für
Sebastian Fischer und Florian Gathmann auf Spiegel Online (31.03.2010) der
»letzte Coup eines Gekränkten«, und Kurt Kister spottete in der
Süddeutschen Zeitung (01.06.2010): »Man war garstig zu ihm und jetzt mag
er nicht mehr mitspielen«.
Nachdem Wulff in einem Spiegel-Interview (21.07.2014) behauptet hatte,
er sei Opfer einer Medienkampagne geworden, bezeichnete Hans-Peter
Siebenhaar
das
im
Handelsblatt
(21.07.2014)
als
»absurde
Dolchstoßlegende«, mit der Wulff beweise, »dass er das falsche
Staatsoberhaupt war«. Wulff habe offenbar »den Bezug zur Wirklichkeit …
verloren«. Die »pauschale Pressekritik von Wulff« sei »für die
Meinungsfreiheit gefährlich«. Nachdem Gaschke in ihrem Erinnerungsbuch
»Volles Risiko« Ralf Stegner als einen ihrer entschiedensten Gegner in Kiel
charakterisiert und fünf Gründe genannt hatte, warum sie »Ralf Stegner nicht
mag«,5 bezeichnete Stegner sie in seiner Rezension des Buches für die
Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.09.2014) als »Förden-Hillary«, die sich
»in einem larmoyanten Politkrimi« rechtfertige.
Warum fühlen sich alle Skandalisierten auch dann als Opfer, wenn sie
zugeben, was man ihnen vorwirft? Und warum beklagen sich viele darüber,
obwohl sie mit Unverständnis und Häme rechnen müssen? Mit den Fehlern
und Missständen hängt das offensichtlich nicht zusammen. Dafür sind die
Anlässe zu verschieden, nur die Reaktionen ähneln sich. Sehr viel mehr hat
es mit der Sichtweise der Skandalisierten und der Darstellung des
Geschehens durch die Medien zu tun. Ein anschauliches Beispiel ist auch hier
die Skandalisierung des ortho-Nitroanisol-Unfalls bei der Hoechst AG.6 Für
die Verantwortlichen der Hoechst AG waren der Unfall und seine
Auswirkungen die Folge einer Kette von unglücklichen Umständen: Es war
Fastnachtszeit und der Arbeiter, der die chemische Reaktion kontrollieren
sollte, betrunken. Anstatt die Temperatur vorschriftsmäßig zu senken, heizte
er den Reaktor auf. Der Druck stieg und die Chemikalien entwischen über
Sicherheitsventile nach draußen. Am Unfalltag herrschte ungewöhnlich
starker Wind, wodurch die Stoffe über den Main in ein Wohngebiet geweht
wurden. Dort wurden sie zunächst nicht entdeckt, weil es minus 2 Grad kalt
war und ortho-Nitroanisol bei niedrigen Temperaturen unsichtbar ist. Die
Sprecher des Unternehmens hielten kurz nach dem Unfall am frühen Morgen
eine Pressekonferenz ab. Zu diesem Zeitpunkt kannten sie die Ausdehnung
der belasteten Gebiete und den (falschen) Krebsverdacht gegen orthoNitroanisol noch nicht. Alle Beteiligten waren folglich Opfer einer
Verkettung von unglücklichen Umständen. Die Journalisten und ihr
Publikum sahen das ganz anders: Der Arbeiter hatte gegen seine Vorschriften
verstoßen und der Werksleiter hatte seine Aufsichtspflicht gegenüber dem
Arbeiter vernachlässigt. Die Techniker und Chemiker hätten erkennen
müssen, dass die Masse der ausgetretenen Chemikalien offensichtlich nicht
direkt neben dem Reaktor lag. Auch hätten sie wissen müssen, dass orthoNitroanisol in den kalten Morgenstunden nicht sichtbar war und folglich
überall sein konnte. Aus Sicht der Journalisten und ihres Publikums waren
alle Beteiligten Täter. Derartige Wahrnehmungsdiskrepanzen zwischen
Akteuren, die zu Protagonisten der Berichterstattung werden, und
unbeteiligten Beobachtern des Geschehens sind keine Einzelfälle.
Tebartz-van Elst wurde bei seiner Amtseinführung am 20. Januar 2008
mit einer weit fortgeschrittenen Bauplanung für den aus mehreren Gebäuden
bestehenden Bischofssitz in Limburg konfrontiert.7 Nach Vorgesprächen, die
bereits 2004 begonnen hatten, hatte das Domkapitel am 8. Mai 2007 den
Neu- bzw. Umbau des Bischofssitzes beschlossen und den Architekten
Christoph Mäckler damit beauftragt. Die Veröffentlichung der von Mäckler
kalkulierten Kosten in Höhe von 6 bis 7 Millionen Euro im Dezember 2007
löste eine Protestwelle aus. Sie führte dazu, dass das Domkapitel die
zulässigen Kosten schrittweise verringerte, Mäckler von dem Auftrag
zurücktrat und finanziell mit einer beträchtlichen Summe abgefunden wurde.
Im Juni 2008, inzwischen war Tebartz-van Elst im Amt, entschied sich eine
interne Jury für Willi Hamm als neuen Architekten. Nachdem das Limburger
Bauamt aus städtebaulichen Gründen Bedenken gegen seinen Entwurf
geäußert hatte, wurde Anfang 2009 der Eichstätter Architekt Karljosef
Schattner als Berater gewonnen. Sein Plan wurde von der Stadt Limburg mit
kleinen Änderungen gebilligt. Da Schattner aus Altersgründen den Bau nicht
selbst realisieren wollte, schlug er Michael Frielinghaus vor, der im Frühjahr
2010 als vierter Architekt mit der Realisierung beauftragt wurde. Aus der
Sicht von Tebartz-van Elst war er mit einer extrem komplexen Planung und
ungeklärten Zuständigkeiten konfrontiert, in die er eigene Vorstellungen
einbrachte. Die meisten Journalisten sahen das anders, und als der
Gebäudekomplex neun Jahre nach den ersten Planungen fertig war, löste
seine Präsentation eine neue Protestwelle aus. So fragte Bild (11.10.2013), als
gehe es um die Grünanlage eines Privathauses: »Wofür braucht der Bischof
einen Garten für 783.000 Euro?«, listete die Kosten einzelner
Baumaßnahmen auf und berichtete einen Tag später über eine »Riesenwut
auf den Protz-Bischof«. Für Christoph Cuntz von der Rhein Main Presse
(11.10.2013) war »das sündhaft teure Bischofshaus« die Schuld eines
offensichtlich sündhaften Bischofs, und laut Dieter Bartetzko von der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.10.2013) muss für »die Hybris ihres
Bauherrn« sogar »die spektakuläre Architektur … büßen«.
Gaschke, damals noch Oberbürgermeisterin von Kiel, wurde am 21. Juni
2013 vom Kämmerer der Stadt über einen Vergleich mit dem
Steuerschuldner informiert, den ihr Vorgänger im Amt, Torsten Albig,
ausgehandelt hatte.8 Es ging um einen Unternehmer, der bei der Stadt seit 15
Jahren Schulden hatte, die inzwischen fast 8 Millionen Euro betrugen. Da er
bei einer Zwangsvollstreckung vermutlich Konkurs hätte anmelden müssen,
wäre die Stadt leer ausgehen. Der Vergleich sah vor, dass der Unternehmer
die Hälfte der Summe, nämlich die Schulden ohne Zinsen, bezahlen sollte.
Das musste nach Aussage des Kämmerers schnell geschehen, weil die Gefahr
einer Insolvenz bestand. Da ihr eigenes Fachreferat keine Einwände hatte,
unterschrieb Gaschke ohne Konsultation der Ratsversammlung in einer
Eilentscheidung die vorbereitete Vereinbarung. Am 20. August brachte die
CDU-Fraktion im Rathaus einen Antrag ein, der Gaschkes fachliche
Kompetenz infrage stellte und löste damit eine Medienkampagne aus, die den
Vergleich als fragwürdigen »Gaschke-Steuer-Deal« erscheinen ließ. Aus
Sicht der Kieler Nachrichten, der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung
und des Schleswig-Holstein-Magazins des NDR hatte sie einen
Steuerschuldner, der im Wohlstand lebte, mit ihrer kopflosen Eilentscheidung
ohne Notwendigkeit begünstigt, der Stadt erheblichen materiellen Schaden
zugefügt und zudem ihrer Partei geschadet. Am 28. Oktober 2013 trat
Gaschke zurück. Am 14. Mai 2014 stellte die Staatsanwaltschaft Kiel das
inzwischen aufgenommene Ermittlungsverfahren wegen Untreue ein.
Gaschke hatte, weil sie den zuständigen Ausschuss nicht einbezogen hatte,
gegen die Gemeindeordnung verstoßen, sah sich aber mit einer Notsituation
konfrontiert, in der sie von der Stadt einen absehbaren Schaden abwenden
wollte.
In einer ähnlichen Lage sah sich Kohl nach der Wiedervereinigung bei der
Annahme nicht deklarierter Spenden angesichts der finanziellen Notlage der
CDU-Landesverbände in den neuen Ländern.9 Anders als die SPD hatte die
CDU nach der Wiedervereinigung keine großen Vermögenswerte
zurückerhalten. Im Unterschied zur SPD konnte die CDU auch nicht mit der
organisatorischen Unterstützung der Gewerkschaften rechnen. Folglich waren
aus der damaligen Sicht Kohls die anonymen Spenden notwendig und
gerechtfertigt. Für die meisten Journalisten war die Annahme der anonymen
Spenden dagegen ein Teil des »Systems Kohl«. Der Spiegel (27.12.1999)
widmete dieser Thematik eine eigene Titelgeschichte und lokalisierte die
Ursache von Kohls Verhalten in seinen »Ludwigshafener Kindheits- und
Jugendtagen«. Späth betrachtete seine Auslandsflüge auf Kosten der Industrie
als einen Tribut an die knappe Haushaltslage seines Bundeslands. Seine
Kritiker hielten sie für den Ausdruck einer bauernschlauen Anbiederung.
Nach Überzeugung der Shell AG war die Versenkung der Brent Spar die
beste von mehreren Möglichkeiten. Die Kritiker hielten die Entscheidung für
einen Willkürakt im Interesse des Unternehmens. Fischer erklärte, nachdem
er auf einem Foto als Schläger identifiziert worden war, der 1973 auf einen
Polizisten einprügelte, in einem Interview mit dem Stern: »Wir haben Häuser
besetzt, und wenn die geräumt werden sollten, haben wir uns gewehrt. Wir
haben Steine geworfen. Wir wurden verdroschen, aber wir haben auch kräftig
hingelangt«.10
In allen Fällen bestritten die Akteure weder ihre Handlungen, noch deren
zum Teil problematischen Charakter. Trotzdem betrachteten sie sich im
Gegensatz zu den unbeteiligten Beobachtern als Opfer eines Geschehens, an
dem sie maßgeblich beteiligt waren. Woher kommen die Unterschiede in der
Wahrnehmung derselben Sachverhalte – und wer hat hier recht? Die
unbeteiligten und unbelasteten Beobachter oder die beteiligten und belasteten
Akteure? Eine Antwort gibt die von Fritz Heider konzipierte
Attributionstheorie.11 Für Heider sind alle Menschen zwanghafte
Ursachensucher, die Erklärungen für richtige und falsche Verhaltensweisen,
für Erfolge und Misserfolge brauchen. Sie fragen sich automatisch, warum
jemand unhöflich oder zuvorkommend war; warum jemand gestohlen hat
oder beschenkt wurde; wieso ein Unfall geschehen ist oder vermieden
werden konnte usw. Zur Erklärung des Geschehens ziehen sie drei Klassen
von Ursachen heran: erstens die Persönlichkeit der Akteure – ihre Herkunft,
ihren Charakter, ihre Intelligenz usw., zweitens die Umstände ihres Handelns
– die Einmaligkeit der Situation, die Existenz von Zwängen usw. und drittens
den Einfluss von fremden Mächten – des Zufalls, des Schicksals usw. Dabei
verfahren sie, wie spätere Weiterführungen der Theorie verdeutlichten, nicht
willkürlich. Akteure führen ihr eigenes Verhalten meist auf die Umstände
ihres Handelns zurück, weil sie diese aus eigenem Erleben kennen.
Beobachter erklären das gleiche Verhalten dagegen meist mit der
Persönlichkeit der Akteure, weil sie sich davon eher ein Bild machen können.
Bei dieser Diskrepanz handelt es sich um den sogenannten »fundamentalen
Attributionsfehler«: Im Grunde haben beide Seiten recht. Sie halten aber die
von ihnen wahrgenommenen Ursachen für wichtiger als die jeweils anderen.
Der Sozialpsychologe Michael D. Storms hat den Einfluss der
unterschiedlichen Perspektiven von Akteuren und Beobachtern auf die
Erklärung des Verhaltens mit einem Experiment nachgewiesen.12 Gegenstand
seiner Studie waren Gespräche zwischen zwei Personen, die sich
gegenübersaßen und von zwei Kameras gefilmt wurden. Die Kameras waren
seitlich versetzt hinter den Personen montiert, sodass sie jeweils einen
Gesprächspartner von vorne aufnahmen. Zudem wurden die Gespräche von
zwei unbeteiligten Personen beobachtet. Ein Teil der Akteure und der
Beobachter beschrieb und erklärte das Geschehen unmittelbar im Anschluss
an die Gespräche. Erwartungsgemäß führten die Akteure ihr Verhalten bei
ihrem Gespräch eher auf die Umstände zurück, während die Beobachter die
Ursachen eher in den beteiligten Personen vermuteten. Ein anderer Teil der
Akteure sah nach den Gesprächen Videoaufnahmen davon. Dabei verfolgten
einige das Geschehen aus der gleichen Perspektive wie zuvor: Sie sahen die
Aufnahmen der Kamera, die hinter ihnen montiert war. Einige betrachteten es
dagegen aus der entgegengesetzten Perspektive: Sie sahen die Aufnahmen
der Kamera, die ihnen gegenüberstand und nahmen sich folglich selbst aus
der
Perspektive
von
Beobachtern
wahr.
Der
erzwungene
Perspektivenwechsel schlug sich signifikant in der Beschreibung des
Geschehens nieder: Akteure, die ihr Verhalten aus der Akteursperspektive
sahen, führten es eindeutig auf die Umstände zurück. Akteure, die es aus der
Beobachterperspektive sahen, nannten dagegen häufiger Ursachen, die in
ihrer Person lagen.
Belege für die praktische Bedeutung des Laborexperiments liefert eine
Befragung von 437 Journalisten als berufsmäßige Beobachter und 1.578
Personen, die als Vertreter von Organisationen mit Missständen zu tun hatten
und dabei unterschiedliche Rollen einnahmen. Befragt zu den Ursachen von
konkreten Missständen, nannte weniger als die Hälfte der beteiligten Akteure
(46 %) personale Gründe. Darauf verwiesen jedoch deutlich mehr als zwei
Drittel der berufsmäßigen Beobachter – die Journalisten (73 %).
Entsprechend seltener nannten die Journalisten strukturelle Gründe (26 %),
die die Akteure besonders häufig erwähnten (52 %).13 Die Sichtweise der
Journalisten schlug sich, wie eine Inhaltsanalyse von 2.527 Artikeln über 30
mehr oder weniger skandalisierte Missstände belegt, in ihrer Darstellung
nieder: Je stärker die Journalisten die Missstände anprangerten, desto
entschiedener führten sie diese auf personale Ursachen zurück und desto eher
stellten sie sie als Folge des schuldhaften Versagens der Akteure dar.14 Die
skandalisierten Verursacher sahen sich deshalb häufig als Opfer der
Berichterstattung, ein Großteil von ihnen betrachtete sie als einseitig und
nicht objektiv.15 Ähnliche Reaktionen kann man bei den Anhängern
skandalisierter Protestbewegungen beobachten – früher bei den Teilnehmern
der 68er-Demonstrationen, jetzt bei den Teilnehmern von PegidaKundgebungen.
Die Attributionstheorie erklärt weshalb für die meisten Journalisten die
Ursachen des Verhaltens der Verantwortlichen der Hoechst AG und der Shell
AG, von Kohl, Härtel, Fischer, zu Guttenberg, Wulff, Gaschke und Tebartzvan Elst im Charakter der Personen lagen, während sie sich selbst als Opfer
der Umstände sahen. Aus Sicht der Journalisten konnten sie sich ohne
Rücksicht auf besondere Umstände frei entscheiden. Folglich waren sie für
ihr Verhalten voll verantwortlich. In ihrem Verhalten manifestierte sich eine
dauerhafte Disposition, ihr Charakter und damit zusammenhängend ihre
Motivation. Aus der Perspektive eines Beobachters der Beobachter haben
beide Recht, die Journalisten und die Skandalisierten. Die Akteure sind Täter
und Opfer zugleich. Sie sind Täter, weil sie meist die Verfehlungen begangen
und die Missstände verursacht haben, die ihnen vorgeworfen werden. Dabei
spielen immer auch Eigenschaften ihrer Persönlichkeit eine Rolle –
beispielsweise die Nachgiebigkeit des Werkleiters mit einem
alkoholgefährdeten Mitarbeiter im Falle des ortho-Nitroanisol-Unfalls bei der
Hoechst AG und der Machtwille Kohls angesichts der Möglichkeit einer
sozialdemokratisch-sozialistischen Allianz in den neuen Bundesländern. Die
Skandalisierten sind aber auch Opfer der Bedingungen, unter denen sie
gehandelt haben – des Wetters in Frankfurt-Höchst, der Finanzlage der CDU
oder der Vorgeschichte der Renovierung des Bischofssitzes in Limburg.
Die Doppelnatur der Akteure und der Einfluss der Rolle, die sie
wahrnehmen, zeigen sich auch in der Argumentation von Journalisten, wenn
sie selbst aus der Rolle der unbeteiligten Beobachter in die Rolle der
beobachteten Akteure geraten. Dann sehen auch sie die Ursachen der eigenen
Fehler überwiegend in den Umständen ihres Handelns – dem Mangel an
Informationen, dem Zeitdruck in den Redaktionen, den Erwartungen des
Publikums, der Konkurrenz zwischen den Medien, den Pressionen aus der
Politik usw. Wie alle Akteure betrachten sie sich, auch wenn sie eine
Mitschuld an den jeweiligen Fehlern nicht leugnen, als Opfer der Umstände:
Wären sie unabhängiger und wäre der Zeitdruck geringer, dann würden diese
und jene Fehler nicht passieren. Die Folgen des Perspektivwechsels zeigen
sich beispielhaft in den journalistischen Stellungnahmen zur irrtümlichen
Skandalisierung der Einwohner von Sebnitz. Nachdem sich die Berichte, der
sechsjährige Joseph sei in Sebnitz Opfer einer rechtsradikalen Gewalttat
geworden, als falsch erwiesen hatten, charakterisierten sich mehrere der
Berichterstatter als Opfer ungünstiger Umstände.16 Bernhard Honnigfort von
der Frankfurter Rundschau erklärte seinen Irrtum mit dem Hinweis auf Zeitund Informationsmangel: Er sei »nur drei Wochen mit dem Fall beschäftigt«
gewesen und habe »nicht jeden Brief der Kanzlei Bossi in den Händen
(gehabt), den Bruno Schrep hatte« – ein Kollege vom Spiegel, der auf die
Geschichte nicht hereingefallen war. Jens Schneider von der Süddeutschen
Zeitung schrieb dem abweisenden Verhalten der Sebnitzer eine Mitschuld zu:
Nur »wenige Sebnitzer wollten überhaupt noch mit Journalisten sprechen.
Fast alle Gesprächspartner waren trotz der drei Festnahmen und der
Zeugenaussagen sicher, dass die Vorwürfe haltlos seien«, wodurch sie
offensichtlich besonders unglaubwürdig erschienen. Andere, wie Barbara
Dribbusch von der taz, verwiesen auf eine Presseerklärung der Dresdner
Staatsanwaltschaft, »in der sie die Verhaftung der drei Hauptverdächtigen
mitteilte … Das musste als erste Quelle Grund genug sein, einen Artikel zu
verfassen.«17
Die Skandalisierten sind nicht nur Opfer der Umstände, sondern aus zwei
Gründen auch Opfer der Medien. Der erste Grund ist eine Folge des
fundamentalen Attributionsfehlers. Obwohl beide recht haben – die Akteure
und die Beobachter – prägt die Sichtweise der berufsmäßigen Beobachter, der
Journalisten, die Berichterstattung. Die Akteure werden folglich mit
Darstellungen konfrontiert, die mit ihren eigenen Erlebnissen und
Sichtweisen nicht vereinbar sind. Sie bestreiten zwar in der Regel nicht, dass
sie Fehler begangen haben, halten die Darstellungen aber für grobe, oft
ehrverletzende Verfälschungen. Die Berichte sind aus ihrer Sicht falsch, weil
sie die »wahren« Ursachen des Geschehens, nämlich die Bedingungen ihres
Handelns, verkennen. Ihnen geschieht, auch wenn die Fakten stimmen,
Unrecht, weil sie als frei und bewusst agierende Täter erscheinen, obwohl sie
nach eigener Überzeugung reagierende Opfer waren. Hierbei handelt es sich,
wie eine schriftliche Befragung der Pressesprecher von 151 deutschen
Großunternehmen zeigt, um ein generelles Problem im Verhältnis von
gesellschaftlichen Akteuren und journalistischen Berichterstattern. Zwei
Drittel waren schon einmal »in einer Krise oder einem Konflikt Gegenstand
von Medienberichten geworden«. Nach Ansicht von nahezu zwei Dritteln
dieser Unternehmen waren die Fakten nicht richtig dargestellt worden. Worin
lagen die Mängel? Nur relativ wenige Pressesprecher beklagten sich darüber,
dass »Fehler von Unternehmensangehörigen … aufgebauscht und
dramatisiert« wurden (21 %). Etwas mehr berichteten, dass »Mitarbeitern des
Unternehmens … Fehler und Versäumnisse vorgeworfen (wurden), die sie
nicht begangen hatten« (29 %). Der am häufigsten genannte Grund war
jedoch, dass »Umstände, auf die das Unternehmen keinen Einfluss hatte, …
verschwiegen oder heruntergespielt wurden« (57 %). Mit anderen Worten:
Die Journalisten stellten die Sachverhalte meist nüchtern dar, berichteten
jedoch nicht hinreichend über die Handlungsbedingungen der Akteure.
Dadurch erweckten sie den Eindruck, dass die Akteure in weitaus stärkerer
Weise für die Folgen ihres Handelns verantwortlich waren, als diese es aus
der eigenen Perspektive wahrgenommen hatten.18
Man könnte die Äußerungen der Pressesprecher für routinierte
Rechtfertigungen von Profis halten. Das würde jedoch den generellen
Charakter der Problematik verkennen. Auch Menschen, die sich beim
Deutschen Presserat über Beiträge über ihre eigene Person beschweren,
klagen über ähnliche Fehldarstellungen. Das belegt eine Befragung von 91
Personen im Sommer 2002. Sie hatten sich zwischen Anfang April 2000 und
Ende März 2002 beim Deutschen Presserat beschwert und kritisierten vor
allem zwei Charakteristika der aus ihrer Sicht nicht akzeptablen
Medienbeiträge: Über die Hälfte beklagte, ihnen seien »Fehler … unterstellt«
worden, die sie »nicht begangen hatten«, nahezu genauso viele verwiesen
darauf, dass die, »Umstände«, auf die sie »keinen Einfluss hatten …
verschwiegen oder heruntergespielt« worden seien. Auch hier erkennt man
die spezifische Sichtweise der Akteure, die sich von der Sichtweise der
Berichterstatter und der Art ihrer Darstellung unterschied und bei den
Protagonisten den Eindruck hervorrief, ihr Verhalten sei unfair dargestellt
worden.19
Der zweite Grund dafür, dass sich die meisten Skandalisierten als Opfer
der Medien sehen, sind Kommunikationsblockaden, denen die meisten
Skandalisierten ausgesetzt sind. Trotz der großen Zahl von Berichten haben
sie, sobald ihr Verhalten erfolgreich skandalisiert wurde, kaum noch die
Möglichkeit, ihre Sichtweise darzustellen. Ein Beispiel ist der publizistische
Umgang mit einem Bild-Bericht, der laut Generalstaatsanwalt Lüttig einen
wesentlichen Einfluss auf den Antrag zur Aufhebung der Immunität von
Wulff hatte und seinen Rücktritt am folgenden Tag unausweichlich machte.20
Nachdem Bild am 8. Februar 2012 auf der Titelseite mehrere
skandalisierende Behauptungen über einen Sylt-Urlaub von Wulff mit
Groenewold verbreitet hatte, beantragte Groenewolds Anwalt eine
einstweilige Verfügung gegen die Axel Springer AG, der das Landgericht
Köln am 14. Februar 2012 stattgab. Darin wurde der Axel Springer AG die
Verbreitung von zahlreichen Behauptungen untersagt, die auf eine
Unterdrückung oder Beseitigung von Beweismitteln hindeuteten.
Groenewolds Anwalt schickte eine Kopie der einstweiligen Verfügung an die
Deutsche Presse-Agentur, die die Information aber nicht verbreitete. Deshalb
erfuhren die deutschen Medien und die deutsche Bevölkerung nichts von der
spektakulären Information, die den Antrag auf Aufhebung der Immunität
Wulffs in einem ganz anderen Licht hätte erscheinen lassen.
Bis zu diesem Punkt lässt sich die Kommunikationsblockade durch das
Verhalten der Deutschen Presse-Agentur erklären. Am 25. April 2012 musste
Bild auf Seite 2 eine groß aufgemachte Gegendarstellung von Groenewold in
der gleichen Sache veröffentlichen. Auch das rief keine Resonanz in den
Medien hervor und änderte folglich nichts an den Meinungen zum Ablauf des
Rücktritts von Wulff. Am 18. Juni 2012 erkannte die Axel Springer AG die
einstweilige Verfügung an, womit sie rechtskräftig wurde. Auch das fand
keine Resonanz. Am 10. Juni 2014 stellte Wulff vor zahlreichen Journalisten
sein Buch »Ganz oben. Ganz unten« vor, in dem er den Vorgang beschreibt.
In den Berichten über die Buchvorstellung und in den darauffolgenden
Rezensionen spielte die erwähnte Episode kaum eine Rolle. Stefan
Niggemeier stellte den Sachverhalt unter der Überschrift »›Bild‹ stürzte
Wulff mit einer Falschmeldung. Das kümmert aber keinen«,21 ausführlich
dar. Aber auch das fand keine nennenswerte Resonanz etwa in den
Rezensionen des Buchs von Wulff.22
Kommunikationsblockaden wie im Fall Wulff sind typisch für Skandale.
Dagegen hilft auch die Kompetenz der Presseabteilungen von
Großunternehmen nichts. Ein Beispiel ist die minimale Resonanz der
Pressemeldungen kurz nach dem ortho-Nitroanisol-Unfall bei der Hoechst
AG. Die zentralen Aussagen der Hoechst AG wurden in nahezu zwei Dritteln
aller Presse- und Fernsehberichte überhaupt nicht wiedergegeben. Falls sie
wiedergegeben wurden, wurden sie in mehr als zwei Dritteln aller Fälle
negativ bewertet. Das Unternehmen hatte folglich kurz nach dem Störfall
kaum noch eine Chance, seine Version des Geschehens darzustellen.
Paradoxerweise hieß es später allgemein, die Hoechst AG sei Opfer ihrer
falschen Informationspolitik geworden. Das trifft für die ersten Stunden nach
dem Unfall zu und erklärt das daraus resultierende Misstrauen, ändert jedoch
nichts daran, dass die darauffolgende Nichtbeachtung oder Diskreditierung
der sachlich richtigen Presseerklärungen des Unternehmens eine
Hauptursache der Irreführung der Öffentlichkeit war.23 Auch nach dem Ende
von Skandalen treffen viele Skandalisierte auf kaum überwindbare
Kommunikationsbarrieren. Beispiele hierfür sind die Reaktionen auf die
Bücher von Wulff,24 zu Guttenberg,25 Sarrazin26 oder Gaschke,27 die
zahlreiche Beispiele für fragwürdige Zitate, Interpretationen und
Behauptungen dokumentieren und diskutieren, auf die die meisten
Rezensenten und Kommentatoren aber nicht eingingen.
Warum beklagen sich aber die Skandalisierten über ihre Opferrolle, wenn
sie damit rechnen müssen, dass dies eher negative Reaktionen hervorruft?
Und warum reagieren viele Journalisten, die normalerweise mit allen Mitleid
bekunden, die sich als Opfer sehen, auf ihre Klagen mit Hohn und Spott? Die
Antwort auf die erste Frage lautet, dass die meisten Skandalisierten den
Druck der öffentlichen Angriffe nicht aushalten und deshalb ihr subjektiv
empfundenes Leid loswerden wollen, indem sie darüber reden. Die Antwort
auf die zweite Frage ist vielschichtiger. Erstens beruhen Hohn und Spott
gegenüber den Skandalisierten, die sich als Opfer sehen, auf Unwissenheit:
Die Beobachter können sich vielfach nicht vorstellen, was eine
Skandalisierung bei den Betroffenen auslösen. Noch weniger kann man die
Reaktionen von Menschen nachvollziehen, die zum Gegenstand Dutzender
oder Hunderter Angriffe werden. Das könnte sich ändern, weil immer mehr
Journalisten Opfer von Schmähkritik werden und folglich über eigene,
schmerzliche Erfahrungen verfügen. Zweitens sind Spott und Hohn über die
Empfindungen der Skandalisierten die Folge einer Rollen-Inkonsistenz: Wer
Täter ist, kann nach landläufiger Vorstellung nicht Opfer sein. Das passt nicht
zusammen. Diese Gründe erklären jedoch nur einen Teil der atypischen
Reaktionen auf die Klagen der Täter. Ihr Hauptgrund liegt in der
Voraussetzung von Mitleid und in der Funktion von Skandalen. Ein
Gedankenexperiment kann das illustrieren.
Mitleid mit Opfern setzt voraus, dass man sich in die Opfer
hineinversetzt, dass man sich bis zu einem gewissen Grad mit ihnen
identifiziert und das Geschehen aus ihrer Perspektive wahrnimmt. Im
Skandal erfordert das einen Wechsel von der Beobachter- in die
Akteursperspektive. Journalisten und andere Beobachter müssten das
Geschehen aus der Sichtweise derer betrachten, die die Missstände verursacht
haben. Damit würde aber das zusammenbrechen, was den Missstand zum
Skandal macht: Was den Skandalisierten vorgeworfen wird, würde zum
erheblichen Teil als Folge ungünstiger Umständen erscheinen und folglich
keine große Empörung hervorrufen. Daraus folgt: Der Hohn und Spott
gegenüber den Tätern, die sich als Opfer bezeichnen, ist Teil eines
Abwehrmechanismus zur Verteidigung der kognitiven Grundlage der
Skandalisierung. Wer diese Grundlage verlässt, nimmt sich die Möglichkeit
zur Skandalisierung. Zugleich dienen Hohn und Spott der fortdauernden
Isolation der Skandalisierten. Sie erfordert Distanzierung und schließt
Identifizierung aus. Selbst eine probeweise Identifizierung und das aus ihr
resultierende Mitleid würden der Erfüllung der sozialen Funktion des
Skandals im Wege stehen. Deshalb darf der Täter im Skandal kein Opfer
sein, mit dem man Mitleid empfindet.
1 Mathes, Rainer: Medienwirkung und Konfliktdynamik in der Auseinandersetzung um die
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
Entlassung von General Kießling.
Vgl. Philipp, Michael: Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen.
Vgl. Niggemeier, Stefan: Die Katzen des Bösen.
Vgl. Fleischhauer, Jan: Der Aussätzige. Derselbe: Der Buchhändler als politischer Richter.
Gaschke, Susanne: Volles Risiko, S. 36 f.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Hartung, Uwe: Störfallfieber, S. 11 ff.
NN: Genese über die Planung und Entwicklung zur Errichtung des »Hauses der Bischöfe«.
Vgl. Gaschke, Susanne: Volles Risiko, S. 120–126, 216–232.
Für das von Kohl geschilderte Motiv ist es unerheblich, ob die von Kohl verteilten Gelder aus
Spenden stammten oder, wie neuerdings vermutet, aus anderen Quellen.
Zitiert nach Hartung, Uwe: Publizistische Bedingungen politischer Skandale, S. 249.
Vgl. Heider, Fritz: Social Perception and Phenomenal Causality
Vgl. Storms, Michael D.: Videotape and the Attribution Process.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Ehmig, Simone C. / Hartung, Uwe: Alltägliche Skandale, S. 55.
Vgl. ebenda, S. 121–141.
Vgl. ebenda, S. 157–168.
Alle Zitate nach message, 1/2001.
Zur Opferperspektive von Journalisten siehe auch Michael Meyen und Claudia Riesmeyer:
Diktatur des Publikums. Journalisten in Deutschland.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Warum Krisen eskalieren.
Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Emotionale Reaktionen von Medienerfahrenen und
Medienunerfahrenen.
Vgl. Wulff, Christian: Ganz oben. Ganz unten, S. 217–229.
Niggemeier, Stefan: »Bild« stürzte Wulff mit einer Falschmeldung. Laut Niggemeier berichtete
nur Martina Fietz auf Focus Online ausführlich über den Sachverhalt. Außerdem gingen HansMartin Tillack vom Stern und Dirk Kurbjuweit vom Spiegel darauf ein und charakterisierten den
Vorgang als unerheblich.
Eine bemerkenswerte Ausnahme ist die Umfangreiche Besprechung des Buchs von Peer
Steinbrück: Medien als Folterwerkzeug. Dass es sich bei dem Rezensenten um einen Politiker
handelt, komplettiert die Diagnose.
Vgl. Sturny, Dirk: Einfluss von Krisen-Typen auf Publikationsweisen.
Vgl. Wulff, Christian: Ganz oben. Ganz unten.
Vgl. zu Guttenberg, Karl Theodor / di Lorenzo, Giovanni: Vorerst gescheitert.
Vgl. Sarrazin, Thilo: Der neue Tugendterror.
Vgl. Gaschke, Susanne: Volles Risiko.
12. Trotz und Panik
Nachdem die Hoechst AG am 22. Februar 1993 sachlich korrekt behauptet
hatte, das bei dem Störfall ausgetretene ortho-Nitroanisol sei »mindergiftig«,
trat das Unternehmen aufgrund einer Welle skandalisierender Berichte die
Flucht nach vorne an und ließ Straßenbeläge abfräsen, Erdreich abtragen,
Sträucher zurückschneiden und Bäume abholzen. Dabei trugen die Arbeiter
aufgrund einer Anordnung des hessischen Umweltministeriums
Ganzkörperschutzanzüge und Atemschutzmasken, die die Dramatik des
Vorgehens noch erhöhten. Die Auswirkungen der gut gemeinten Maßnahmen
waren verheerend. Wer den beruhigenden Versicherungen des Unternehmens
bisher geglaubt hatte, musste aus der Radikalkur schließen, dass er in größter
Gefahr war. Die verängstigten Anwohner versammelten sich in der
Schwanheimer Kirche und ließen ihrer Wut freien Lauf. Nun erst erreichten
Angst und Empörung ihren Höhepunkt. Was war die Ursache dieser
Fehlentscheidung, die gegen die Interessen aller verstieß – der Anwohner,
des Unternehmens, der Behörden und Ministerien?
Nachdem die Shell AG wochenlang regungslos die von Greenpeace
gesteuerte Kampagne gegen die Versenkung der Brent Spar ertragen hatte
und die erste Presseerklärung des Unternehmens die Skandalisierung nicht
hatte stoppen können, erklärte die Geschäftsleitung plötzlich, dass die Brent
Spar nach Norwegen geschleppt und an Land abgewrackt werden solle.
Damit machte das Unternehmen genau das, was es bis dahin als wenig
geeignet bezeichnet hatte und diskreditierte damit seine eigene
Glaubwürdigkeit. Nachdem Christoph Daum tagelang jeglichen
Drogenkonsum bestritten und einen Drogentest abgelehnt hatte, verkündete
er plötzlich, er habe sich eine Haarprobe entnehmen lassen, die seine
Unschuld beweisen werde. Damit war seine Karriere als Bundestrainer
beendet, bevor sie begonnen hatte. Warum trat ein Mann wie Horst Köhler
für alle Beobachter völlig überraschend zurück, obwohl er damit rechnen
musste, dass er dafür heftig kritisiert werden würde? Warum treffen viele
Skandalisierte Entscheidungen, von denen sie bei ruhiger Betrachtung wissen
müssten, dass sie ihre Lage noch verschlechtern?
Hinweise für eine Antwort im Fall Köhler gaben Stefan Berg und Jan
Fleischhauer im Spiegel (07.06.2010). Danach war »Köhlers Welt intakt«,
solange er aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber Entscheidungen der
Regierung »nur die Respektlosigkeit der Politik ertragen musste«. In seiner
zweiten Amtszeit sei jedoch das Gefühl dazugekommen, auch die Presse
habe sich »gegen ihn verschworen«. Als Beleg führten sie eine Äußerung
Köhlers bei seiner letzten China-Reise an: »Ich weiß gar nicht, was ich Ihnen
sagen soll, mir wird ja jeder Satz im Mund umgedreht«. Resigniert habe
Köhler hinzugefügt: »… ich dachte, es gäbe noch so etwas wie
journalistisches Ethos, aber was soll’s«. In dieser Situation war die
Skandalisierung seines Radiointerviews nur noch der Auslöser für einen
radikalen Schnitt, mit dem er sich schweren Herzens derartigen Zumutungen
ein für alle Mal entziehen wollte und das Gegenteil bewirkte – eine Welle
von hämischen bis bösartigen Kommentaren.
Warum hat sich Ulrich Hoeneß mit einer überhasteten Selbstanzeige nach
Ansicht des Gerichts »geradezu ans Messer geliefert« (FAZ, 31.10.2014),
weil sie die Voraussetzung für erfolgreiche Ermittlungen in der Schweiz war
– statt die Selbstanzeige in aller Ruhe vorzubereiten als absehbar war, dass
das Straffreiheit gewährende Steuerabkommen zwischen Deutschland und
der Schweiz scheitern würde? Nach Ansicht des Gerichts war der Grund klar:
Hoeneß war »getrieben von Angst« vor der Aufdeckung der
Steuerhinterziehung durch einen bevorstehenden Magazinbericht. Deshalb
trat er die Flucht nach vorne an. Warum bereitete sich der
Vorstandsvorsitzende von VW, Martin Winterkorn, der spätestens 2014 über
die Ermittlungen der amerikanischen Umweltbehörde EPA gegen VW
informiert wurde, nicht auf den Tag vor, an dem herauskommen musste, dass
VW mit einer speziellen Software korrekte Abgaswerte vortäuschte? Warum
bezeichnete er in einer auch technisch laienhaften Videobotschaft das
Vorgehen von VW selbst als »Manipulieren«, das bei Volkswagen »nie
wieder vorkommen« dürfe? Und warum sagte er, »wir«, also auch er, »klären
das auf« – und trat am folgenden Tag zurück? Der plötzliche Rücktritt war
vermutlich eine Folge der Stimmung im Aufsichtsrat. Aber was waren die
Ursachen seines Verhaltens Jahre zuvor und kurz nach Beginn des Skandals?
Die Beispiele haben eine Gemeinsamkeit – das unvermittelte Umschlagen
von überlegener Gelassenheit in Angst, von Trotz in Panik. In Extremfällen
kann sie im Selbstmord enden. Ein Beispiel ist der vermutliche Freitod von
Jürgen W. Möllemann. Nach der Bundestagswahl 2002 bestritt er energisch,
dass er mit illegalem Spendengeld ein Flugblatt mit massiver Kritik an der
Palästinapolitik des israelischen Ministerpräsidenten Scharon bezahlt hatte.
Seine Anwälte ließ er erklären, er habe für die Aktion eine Million Euro aus
seinem Privatvermögen verwendet. Als er mit seinem Austritt aus der FDP
einem Parteiausschlussverfahren zuvorgekommen war, spekulierte er nach
gut zweieinhalb Monaten in einer Talkshow über die Gründung einer eigenen
Partei. Vier Tage später, am 5. Juni, während der Bundestag seine Immunität
aufhob und die Staatsanwaltschaft seine Wohn- und Büroräume im
Bundesgebiet sowie in Luxemburg, Spanien und Liechtenstein durchsuchte,
sprang er aus einem Sportflugzeug in den Tod. Zwar hatte sich sein
Fallschirm ordnungsgemäß geöffnet, aber etwa 1.000 bis 1.500 Meter über
dem Boden von ihm gelöst. Der Ablauf des Geschehens legt die Folgerung
nahe, dass sich Möllemann das Leben genommen hat, zumal ein technischer
Fehler später ausgeschlossen wurde. Bewiesen ist ein Selbstmord damit nicht.
Auch kann man einwenden, Möllemann habe sich weniger wegen des
öffentlichen Drucks umgebracht als wegen seiner fragwürdigen Geldquellen
und wegen der zu erwartenden Strafe. Das mag zutreffen, dürfte jedoch, wie
die nahezu zeitgleiche Kelly-Affäre zeigt, nicht die einzige Erklärung sein.
Nachdem der BBC-Korrespondent Andrew Gillian berichtet hatte, ein
hoher Regierungsbeamter habe ihm mitgeteilt, die britische Regierung habe
ein Dossier über die Rüstung des Irak aufgebauscht, um einen Angriff auf
den Irak zu rechtfertigen, wurde der Mikrobiologe und Waffenexperte David
Kelly als Quelle verdächtigt. Am 15. Juni 2003 bestritt Kelly vor einem
Parlamentsausschuss, die »Hauptquelle« der Behauptung von Gillian und
anderen Journalisten gewesen zu sein. Am 16. Juni forderte Ministerpräsident
Tony Blair die BBC auf, zu erklären, ob Kelly die Quelle ihres Mitarbeiters
war. Am 17. Juni brachte sich Kelly in der Nähe seines Hauses um.1 Drei
Tage später bestätigte die BBC, dass Kelly die Quelle war. Kelly war, wie
sich später zeigen sollte, sachlich und moralisch im Recht, weil die von der
Regierung vermuteten Massenvernichtungswaffen im Irak nicht existierten.
Zwar fürchtete auch er möglicherweise ein Gerichtsverfahren, bedeutsamer
war aber, dass er die öffentliche Diskreditierung seiner Integrität im
Parlament, seine baldige Enttarnung und die absehbare Kampagne gegen ihn
nicht ertragen konnte.2
Warum beachten die meisten Skandalisierten frühe Warnzeichen nicht,
lassen erste Anschuldigungen scheinbar regungslos an sich abprallen und
unterwerfen sich dann plötzlich bedingungslos den Forderungen ihrer
Kritiker? Wieso machen sie ab einem bestimmten Punkt plötzlich genau das,
was sie zuvor aus sachlichen Gründen entschieden abgelehnt hatten? Im Fall
Daum war schnell von »Realitätsverlust« durch Drogen und von
»autosuggestiver Verblendung« die Rede. Das mag bei Daum eine Rolle
gespielt haben, erklärt aber nicht die Panikreaktionen der Hoechst AG und
der Shell AG oder die von Köhler, Hoeneß, Möllemann und Kelly. Der Sache
näher kam der Manager von Bayer Leverkusen, Reiner Calmund. Nach seiner
Aussage war Daum »wie besessen von dieser Lösung«, von diesem
»Befreiungsschlag« (FAZ, 23.10.2000). Ähnliche Beweggründe hatten
vermutlich die beiden Unternehmen, Köhler, Hoeneß und andere: Auch sie
planten einen »Befreiungsschlag«. Wie konnten sie aber eine
Vorgehensweise als »Befreiungsschlag« betrachten, die bei nüchterner
Überlegung die Vorwürfe bestätigen und als Eingeständnis schuldhaften
Versagens erscheinen lassen musste? Wovon wollten sie sich »lösen« und
»befreien«? Die Verdachte des Drogenmissbrauchs im Fall Daum oder der
Umweltzerstörung im Fall der Unternehmen konnten es nicht sein, denn
genau diese Vorwürfe wurden durch den »Befreiungsschlag« tatsächlich oder
scheinbar bestätigt.
Eine Ursache des Umschlagens von stoischem Trotz in panikartige
Unterwerfung sind die »reziproken Effekte« der Medienberichte – ihr
Einfluss auf die Protagonisten der Berichterstattung. Die Protagonisten
nehmen die mediale Berichterstattung ganz anders wahr, als die Masse der
unbeteiligten Beobachter.3 Das trifft sowohl auf positive als auch auf
negative Berichte zu, auf die negativen jedoch in besonders starkem Maße.
Das zeigen die Ergebnisse der Befragung von über 1.500 Personen in
verschiedenen Lebensbereichen – Richter und Staatsanwälte, Politiker und
Manager, Prominente und Namenlose, die selbst schon Gegenstand negativer
Medienberichte waren. Die starken reziproken Effekte negativer
Medienberichte haben mehrere Ursachen. Erstens verfolgen die Protagonisten
aufgrund ihrer Betroffenheit die Berichterstattung viel intensiver als
unbeteiligte Beobachter. Sie lesen, hören und sehen mehr Beiträge als andere
und nutzen sie gründlicher. So verfolgt jeder zweite Landtagsabgeordnete,
dessen Partei »von den Medien massiv kritisiert oder sogar angeprangert«
wird, »viel mehr Beiträge über die Landespartei als normalerweise«; fast
zwei Drittel lesen »einzelne Beiträge viel aufmerksamer als normalerweise«,
über ein Drittel nutzt »Medien, die sie normalerweise nicht beachten« und
fast ein Drittel liest »einzelne Beiträge (sogar) mehrmals«.4 Zwar können die
Protagonisten großer Skandale nicht alle Berichte verfolgen. Die
weitverbreitete Vorstellung, sie würden solche Berichte gezielt vermeiden, ist
jedoch falsch. Sie setzen sich aus verständlichen Gründen mit
problematischen Folgen weit höheren Mediendosen aus als die Masse der
unbeteiligten Beobachter.
Zweitens vergleichen die Protagonisten die mediale Darstellung des
Geschehens mit dem, was sie selbst erlebt haben. Dabei stellen sie häufig
fest, dass Journalisten die Umstände ihres Verhaltens gar nicht, verkürzt oder
falsch darstellen und dadurch einen aus ihrer Sicht falschen Eindruck von
ihrem Verhalten vermitteln. Ein Beispiel sind die Erfahrungen von Richtern
und Staatsanwälten. Die Hälfte der Richter und Staatsanwälte, über deren
Prozesse fehlerhaft berichtet wurde, beklagen – vergleichbar den Erfahrungen
der Pressesprecher von Großunternehmen – dass die »Umstände, auf die das
Gericht keinen Einfluss hatte, … falsch dargestellt« wurden.5 Das trifft auf
Protagonisten, die skandalisiert werden, in besonderem Maße zu.6 Sie sehen
massive Diskrepanzen zwischen erlebter Realität und medialer Darstellung.
Diese Diskrepanzen können unbeteiligte Beobachter nicht erkennen, weil die
mediale Darstellung ihre einzige Quelle ist. Die Folgen sind bei den
Protagonisten
skandalisierender
Berichte
selbstdienliche
Fehlwahrnehmungen und bei den Beobachtern essentialistische Trugschlüsse:
Was die Beobachter für die Realität halten, sind Darstellungen, die ein
angemessenes Bild der Realität vermitteln können, aber nicht müssen. Die
Beobachter verwechseln die Darstellungen mit der Realität, weil die
Ähnlichkeit der Darstellungen verschiedener Medien ihre Fähigkeit zu
kritischer Distanz minimiert.
Drittens überschätzen die Protagonisten negativer Medienberichte wie die
meisten Menschen den Einfluss solcher Berichte auf andere. Solche Effekte
existieren. Die meisten nehmen sie aber übertrieben wahr und zwar umso
mehr, je größer die Zahl der Menschen und je größer die soziale Distanz zu
ihnen ist.7 So sieht weniger als die Hälfte der Landtagsabgeordneten einen
großen Einfluss negativer Beiträge auf ihre »Fraktionskollegen«, aber zwei
Drittel vermuten einen derartigen Einfluss auf die »Wähler allgemein«. Von
den Richtern und Staatsanwälten sehen nur wenige einen starken Einfluss
negativer Medienberichte auf »Sachverständige«, aber mehr als drei Viertel
vermuten einen derartigen Einfluss auf die »Opfer«, die »Angeklagten« und
die »Öffentlichkeit«. Für die Protagonisten skandalisierender Berichte
bedeutet das, dass sie sich von einer amorphen Masse umgeben sehen, die
nach ihrer Überzeugung von der negativen Berichterstattung stark beeinflusst
wird. Dabei überschätzen sie wahrscheinlich, weil massive Effekte meist erst
später eintreten, in den ersten Wochen die Wirkung der negativen
Berichterstattung auf die Bevölkerung. Aufgrund ihrer großen Betroffenheit
und ihrer starken Mediennutzung können sie sich diesem Eindruck aber nach
wenigen Tagen kaum noch entziehen.
Viertens rufen die Diskrepanzen zwischen ihren Sichtweisen und den
Mediendarstellungen das Gefühl von Ärger, Angst und Hilflosigkeit hervor,
das durch Vermutungen über die Wirkung der Medien auf Dritte noch
verstärkt wird. Fast die Hälfte der Richter und Staatsanwälte, die Gegenstand
negativer Medienberichten waren, reagierte darauf mit Ärger und dem Gefühl
der Hilflosigkeit. Diese emotionalen Reaktionen sind weitgehend unabhängig
davon, ob die Protagonisten schon häufiger in den Medien waren oder nicht.
So berichtet jeweils mehr als die Hälfte der Medienerfahrenen und der
Medienunerfahrenen, die sich beim Deutschen Presserat beschwert haben,
dass sie sich hilflos gefühlt haben. Jeweils ein Drittel berichtet, sie hätten das
Gefühl gehabt, »verlassen zu sein«.8 Die Vorstellung, Medienerfahrung
immunisiere gegen Medienkritik, ist naiv. Zwar können Medienerfahrene mit
ihren negativen Emotionen besser umgehen als Unerfahrene, weil sie diese
besser auf wenige Empfindungen einengen können. Sie leiden aber unter den
Empfindungen ähnlich häufig und ähnlich lange wie die Unerfahrenen.
Deshalb trifft eine Skandalisierung medienerfahrene Personen ähnlich stark
wie medienunerfahrene.
Fünftens beobachten die Protagonisten negativer Mediendarstellungen die
Einflüsse dieser Berichte auf Menschen in ihrer näheren und ferneren
Umgebung. Diese Beobachtungen bestätigen ihre Befürchtungen und
verstärken ihre ohnehin schon vorhandenen negativen Emotionen.9 Die Folge
ist vor allem bei länger andauernden Angriffen ein rückgekoppelter Prozess,
der von den realen Vorgängen gelöst, eine kaum steuerbare Eigendynamik
entwickeln kann. Auch dabei unterscheiden sich die Reaktionen der
Medienerfahrenen nicht wesentlich von den Reaktionen der Unerfahrenen.
Bei beiden besteht z. B. ein starker Zusammenhang zwischen ihrer
Beobachtung, dass ihnen manche »aus dem Weg gegangen« sind und dem
Gefühl der Verlassenheit. Das ist bei Skandalen besonders bedeutsam, weil
ein zentrales Ziel von Skandalisierungen in der Isolation der Skandalisierten
besteht. Der Eindruck der Isolation der Skandalisierten kann durch verbale,
jedoch auch durch visuelle Mittel vermittelt werden, z. B. entsprechenden
Fotos von den Skandalisierten. Der so vermittelte Eindruck von den
Skandalisierten hat, wie man experimentell zeigen kann, einen erheblichen
Einfluss auf die Vorstellungen der unbeteiligten Beobachter vom
Geschehen.10
Das Zusammenwirken der erwähnten Faktoren beeinflusst sechstens das
Verhalten der Protagonisten. Derartige Wirkungen hat sowohl die
vorhandene als auch die von den Protagonisten erwartete Berichterstattung.
Die Hälfte der Leiter der Informationsabteilungen der größten deutschen
Unternehmen in drei Branchen berichtet, dass schon »mögliche Reaktionen
der Medien« bei anstehenden Entscheidungen »so weit wie möglich
berücksichtigt« werden, aber »am Kern von Entscheidungen … nichts«
ändern. War das der Fall bei VW vor dem Diesel-Skandal oder sind die
Verantwortlichen blind in ihr Verderben gerannt? Ein weiteres Viertel
berichtet, dass die erwarteten Medienberichte »gelegentlich einen
substanziellen Einfluss auf die Entscheidungen haben«.11 Beispiele dafür
sind die Maßnahmen der Hoechst AG und der Shell AG. Auch jeder zweite
Staatsanwalt und Richter in umstrittenen Strafverfahren denkt schon beim
Strafantrag und der Urteilsformulierung an die möglichen Reaktionen der
Öffentlichkeit und fast jeder Dritte berichtet, dass Medienberichte tatsächlich
einen Einfluss auf die »Höhe der Strafe« haben. Hier sind die Ursachen der
reziproken Effekte sowohl die erlebte als auch befürchtete Berichterstattung.
Danach richten die Protagonisten, im genannten Fall die Staatsanwälte und
Richter, ihr Verhalten präventiv aus.
Die individuellen Erfahrungen zahlreicher Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens12 bestätigen und illustrieren die Befunde der
systematischen Befragungen von Personen aus verschiedenen Lebens- und
Arbeitsbereichen: »Eine Besprechung meines Buches, die dumm ist oder von
Ablehnung – meiner Person oder meiner Romanfiguren – diktiert scheint,
geht mir unter die Haut. (…) Die vornehme Verteidigung, meine Taktik,
nicht weiter zu lesen, sobald ich merke, dass ich einem unbedachten oder
böswilligen Rezensenten in die Hände gefallen bin, gelingt mir nur
unvollkommen (…). Gut möglich, dass ich mit dem Schreiben aufgehört
hätte, wären meine Romane nicht viel häufiger gelobt als verrissen worden«
– so der Romancier Louis Begley. »Die Gewalt, der das Objekt einer
Medienkampagne ausgesetzt ist, kann sich kein Journalist ausmalen« – so die
Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer. Er habe aufgrund der öffentlichen
Vorwürfe »97 Prozent (seines) Bekanntenkreises verloren« und antizipiere
jetzt »in jeder Sekunde alles, was man aus (seinem) Verhalten herauslesen
könnte« – so Jörg Kachelmann nach seinem Freispruch (Zeit, 09.06.2011).
Unbeteiligte Beobachter beobachten ähnliche Reaktionen bei skandalisierten
Prominenten. Nach Darstellung von Mathias Geis und Bernd Ulrich hat
Joschka Fischer wegen der Skandalisierung seiner Vergangenheit als
politisch motivierter Schläger »schwer gelitten. Er war gereizt, deprimiert,
mitunter sogar verzweifelt«.13 Nach Volker Zastrow (FAZ, 19.02.2012) hat
Christian Wulff seinen Rücktritt »als das Wrack des Mannes« erklärt, »der er
noch vor kurzem gewesen ist, nun abgemagert, sichtlich gezeichnet von dem,
was er rückblickend als ›neun Wochen Fight‹, vorausschauend als ›Krieg‹
angedroht oder befürchtet hatte«. Seit einigen Jahren werden Journalisten im
Internet massiv angegriffen und schildern ähnliche Reaktionen. So
dokumentierte Andrea Diener tief betroffen unter der Überschrift »Meine
Tage im Hass« auf einer halben Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
zahlreiche Beleidigungen,14 und Jasper von Altenbockum beklagte im selben
Blatt »Rituale der Verunglimpfung, die sich im Netz ausbreiten wie eine
Seuche«.15 Seine Diagnose trifft zu. Im Anschluss daran wäre allerdings zu
fragen, ob das nur für das Netz gilt oder auch für die Skandalisierungen von
Wulff, Tebartz-van Elst und anderen durch die traditionellen Medien?
Die Ursachen der weitgehend automatischen und kaum kontrollierbaren
Reaktionen von Personen, die öffentlich angegriffen werden, sind in der
Persönlichkeit tief verankert und lassen sich auf die Notwendigkeit
zurückführen, die Bindung zu anderen aufrechtzuerhalten. Sie hat ihren
Ursprung in der Gattungsgeschichte der Menschen und wird von jedem
Einzelnen im Laufe seiner eigenen Entwicklung intensiv erlebt und
entsprechend verinnerlicht. Um die Bindung an andere Menschen
aufrechterhalten zu können, sind vier Voraussetzungen erforderlich: Man
muss erstens die äußere Welt im Zusammenwirken mit den eigenen
Bezugspersonen – vor allem Kollegen, Freunde und Verwandte – sinnvoll
interpretieren können. Man muss zweitens darauf vertrauen können, dass
diese Personen das eigene Verhalten wohlwollend beurteilen und ernsthafte
Anstrengungen entsprechend honorieren. Man muss drittens glauben können,
dass man bei allen Fehlern im Kern ein guter Mensch ist, und man muss
viertens davon überzeugt sein, dass man kompetent und leistungsfähig ist,
weil man nur so die anderen davon überzeugen kann, dass es sich für sie
lohnt, die Bindung aufrechtzuerhalten.16
Die Skandalisierung eines Menschen erschüttert die Grundlagen dieser
Selbstgewissheiten: Sie suggeriert ihm, dass er kein guter Mensch ist. Sie
zerstört seinen Glauben daran, dass die Welt alles in allem gerecht und
wohlwollend ist. Sie weckt den Zweifel daran, dass er das Verhalten anderer
noch sinnvoll abschätzen kann, und sie macht ihn durch die Fixierung auf die
Angriffe der Medien zunehmend handlungsunfähig. Seine eigentliche
Aufgabe kann er immer weniger erfüllen. Zudem vermittelt die
Skandalisierung dem Betroffenen den Eindruck, dass er jede Kontrolle
darüber verloren hat, wie andere ihn sehen. Dieser Eindruck wird nun massiv
von anderen geprägt, ohne dass er dagegen etwas unternehmen kann. Der
Kontrollverlust weckt zusätzlich zu den bereits genannten Ursachen starke
Ängste, die kaum zu beherrschen sind, weil es sich um automatische
Reaktionen auf Angriffe handelt, die die soziale Existenz bedrohen. Ein
Beispiel hierfür ist der gefallene Medienstar zu Guttenberg, der seinen
Rücktritt mit folgenden Worten begründete: »Die enorme Wucht der
medialen Betrachtung meiner Person – zu der ich viel beigetragen habe –,
aber auch die Qualität der Auseinandersetzung bleiben nicht ohne Wirkung
auf mich selbst und meine Familie … Es ist mir … nicht mehr möglich, den
in mich gesetzten Erwartungen gerecht zu werden … Ich war immer bereit zu
kämpfen, aber ich habe die Grenzen meiner Kräfte erreicht«.17
Massive öffentliche Angriffe wirken sich im Laufe der Zeit auf das
Selbstwertgefühl und die Problemlösungsfähigkeit der Kritisierten aus. Zu
ihrer Verteidigung greifen sie zu Mitteln, die entweder das Selbstwertgefühl
oder die Problemlösungsfähigkeit stärken können, die Erreichung des jeweils
anderen Ziels aber gefährden.18 Geht es um die Aufrechterhaltung des
Selbstwertgefühls, dann verfolgen vor allem Personen, deren
Selbstwertgefühl vom Urteil anderer abhängt, negative Berichte über ihre
Person, um die darin enthaltenen Informationen zu diskreditieren. Dabei
versteigen sie sich häufig in Wunschdenken über die Urheber der Urteile.
Das ist typisch für die erste Phase von Skandalisierungen. Stammen die
negativen Urteile von Personen, die einer anderen Gruppe angehören, rufen
sie Angstgefühle hervor. Sie sind vor allem dann stark, wenn die Gruppe der
Kritiker groß, homogen und entsprechend mächtig ist. Von großen Gruppen
homogener und mächtiger Kritiker erwarten die Versuchspersonen in
Experimenten nur das Schlimmste. Das ist typisch für die zweite Phase von
Skandalisierungen. Dann geht es aus Sicht der Betroffenen zunehmend um
ihre Problemlösungsfähigkeit. Jetzt nehmen Versuchspersonen, deren
Erfolgschancen von anderen abhängen, negative Informationen über ihre
Person mit mehr Aufmerksamkeit wahr als andere. Das trifft auf Politiker und
Unternehmer zu, die mit wachem Blick kritische Berichte über ihre Person
und Organisation verfolgen. Sind die Versuchspersonen sogar einseitig von
anderen abhängig, verfolgen sie die kritischen Hinweise besonders
aufmerksam und übergenau, damit sie die in sie gesetzten Erwartungen
erfüllen können. Dies gilt vor allem für Akteure auf den mittleren und
unteren Ebenen von Hierarchien, die sich ihren Mentoren in einem günstigen
Licht zeigen wollen.
Rekonstruiert man in Kenntnis der skizzierten Befunde den Verlauf von
Skandalisierungen aus Sicht der Betroffenen, kann man die Entwicklung in
zwei Phasen einteilen: Zunächst betrachten die Skandalisierten die Kritik an
ihrem Verhalten als Angriffe auf ihr Selbstwertgefühl, die sie – vor allem,
wenn sie öffentliche Kritik gewohnt sind – nicht sonderlich ernst nehmen,
weil sie die Kritiker für sachlich inkompetent halten. Sie lesen zwar alles,
was sie finden, beachten es aber möglichst wenig, leugnen auch zutreffende
Tatsachenbehauptungen und berechtigte Folgerungen oder werten sie als
unsachlich und unfair ab. Weil die Skandalisierten die Sachverhalte meist
besser kennen als ihre Kritiker, die Angriffe häufig auch falsche
Behauptungen enthalten und weil sie fast immer mit herabsetzenden
Wertungen verbunden sind, gelingt ihnen das vor sich selbst zunächst
durchaus überzeugend. Folglich wiegen sich die Skandalisierten – ungeachtet
ihrer unabweisbaren Ängste – in einer trügerischen Sicherheit, die von außen
betrachtet als überlegener Trotz erscheint: Die Skandalisierten kann scheinbar
nichts erschüttern, noch widerstehen sie jedem Angriff.
Je länger die Angriffe dauern und je größer, geschlossener und mächtiger
die Gruppe der Angreifer wird, desto klarer erkennen die Skandalisierten,
dass die Masse der Medien ihrer eigenen Darstellung des Geschehens nicht
folgt, sondern sie ironisiert, umdeutet oder totschweigt. Zugleich müssen die
Skandalisierten der Welle negativer Berichte immer mehr Aufmerksamkeit
widmen, was ihre Leistungsfähigkeit einschränkt. Sie können ihre Aufgaben
immer schlechter erfüllen und empfinden die Skandalisierung zunehmend als
ernsten Angriff auf ihre Tätigkeit.19 Trotzdem verfolgen sie die Angriffe
noch intensiver als vorher, um sie widerlegen zu können, und deshalb
nehmen sie auch Vorwürfe ernst, die sie zuvor als unsinnig abqualifiziert
haben. Das erfordert immer mehr Zeit und Energie, verringert zunehmend die
Leistungsfähigkeit und mündet in die Gewissheit, dass sie praktisch nicht
mehr handlungsfähig sind. Zudem wird ihr Ansehen in der Öffentlichkeit
ruiniert. Auf diesem Weg ist nichts zu gewinnen.
Nachdem die Skandalisierten jeden Einfluss auf ihr Erscheinungsbild
eingebüßt haben, schlägt der unbeirrte Trotz, der zuletzt nur noch Fassade
war, in panikartige Unterwerfung um. In einem »Befreiungsschlag« machen
sie nun genau das, was die Kritiker von ihnen verlangen und was sie bis
dahin abgelehnt haben. Das, wovon sich die Skandalisierten befreien wollen,
ist nicht die Last der anstehenden Sachprobleme – die Entsorgung der Brent
Spar, der Schutz der Anwohner in Höchst, die Richtigstellung eines Zitats –
sondern der unerträgliche Druck durch die bereits erfolgten oder erwarteten
öffentlichen Angriffe. Schon die Vorankündigung eines negativen SpiegelBerichts übt nach Aussage des langjährigen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen
Vogel einen »gewissen Druck« aus, weil man gezwungen sei, alles zu lesen,
was zum Thema gehört. Wegen dieses Drucks ist nach Vogel der Erfolg im
Skandal vor allem eine »Frage der Kraft und der Nervenstärke«. Man
brauche »eine beachtliche psychische und physische Konstitution, um so eine
Kampagne so lange durchstehen zu können, bis die andere Seite sich
erschöpft hat«.20 Diesem Druck sind viele Skandalisierte nicht gewachsen.
Um ihn loszuwerden, sind sie bereit, alles zu tun, notfalls auch das, was sie
für falsch halten und was sich später auch als falsch erweist. In dieser
Situation erscheint manchen Politikern, die sich nach eigener Einschätzung
nichts Gravierendes vorzuwerfen haben, der Rücktritt als Erlösung.
Die skizzierte Zwei-Phasen-Theorie des Verhaltens von Skandalisierten
lässt sich anhand von Beobachtungen und Selbstaussagen zwar plausibel
machen, jedoch nicht durch wiederholte Befragungen belegen, weil die
Skandalisierten während der Angriffe auf sie daran nicht teilnehmen würden.
Trotzdem kann man sie unter bestimmten Bedingungen auch ohne ihre
Bereitschaft und Zustimmung empirisch prüfen. Die Möglichkeit hierzu
liefert, weil es sich einer bewussten Steuerung weitgehend entzieht, das
nonverbale Verhalten von Skandalisierten, über die das Fernsehen berichtet.
Das war bei der zweiwöchigen Skandalisierung von zu Guttenberg und bei
der über neunwöchigen Skandalisierung von Wulff der Fall.21 Herangezogen
wurden Fernsehberichte vor ihrer Skandalisierung, die mit jeweils drei
Fernsehbeiträgen während ihrer Skandalisierung verglichen wurden. Die
Aufnahmen wurden mehreren Versuchsgruppen ohne Ton vorgeführt, um
einen Einfluss der verbalen Inhalte auszuschließen. Die Versuchspersonen
beurteilten das nonverbale Verhalten der beiden Politiker sowie den von
ihnen vermittelten Gesamteindruck mithilfe von zahlreichen Skalen. Die
ersten Berichte während des Skandals zeigten die Politiker jeweils bei ihrem
ersten Auftritt im Fernsehen, die letzten Berichte bei ihrem Rücktritt. Die
Berichte dazwischen zeigten zu Guttenberg bei einer Fragestunde im
Parlament und Wulff bei seinem ARD/ZDF-Interview Anfang Januar 2012.
Aus längeren Berichten wurden unauffällige Szenen von zwei Minuten
herausgeschnitten und getestet.
Entsprechend den theoretischen Annahmen der Zwei-Phasen-Theorie war
das Verhalten von zu Guttenberg und Wulff zu Beginn der Skandale völlig
normal. Ihr nonverbales Verhalten zeigte genauso viel Gelassenheit wie vor
den Skandalen. Zugleich strahlten sie genauso viel Selbstvertrauen aus wie
zuvor. Noch waren beide davon überzeugt, dass die Kritik weit überzogen
war und am Kern der Sache vorbeiging – zu Guttenberg, weil er nicht
absichtlich getäuscht, sondern Textstellen unabsichtlich ohne Quellenangabe
verwendet hatte; Wulff, weil er die aus seiner Sicht relevanten Fragen schon
im Niedersächsischen Landtag beantwortet hatte. In der zweiten Phase
änderte sich das nonverbale Verhalten beider Politiker signifikant. Jetzt
erschienen sie weniger gelassen als vorher. Zugleich strahlten sie weniger
Selbstvertrauen aus. Bei Wulff war dieser Einbruch schon einige Tage nach
Beginn der zweiten Welle seiner Skandalisierung wegen des Anrufs bei
Diekmann erkennbar. Bei der viel kürzeren Skandalisierung von zu
Guttenberg war er erst bei seinem Rücktritt offensichtlich. Obwohl sich die
nonverbalen Verhaltensweisen und der Gesamteindruck der beiden Politiker
von Beginn an massiv unterschieden und obwohl Wulff wesentlich länger
skandalisiert wurde als zu Guttenberg, verliefen die Verhaltensänderungen –
wenn man die Zeitunterschiede vernachlässigt – völlig parallel. Mit anderen
Worten: Der Einbruch beim Wechsel von der ersten zur zweiten Phase der
Skandalisierung vollzog sich unabhängig von diesen Faktoren. Die
unterschiedlichen Persönlichkeiten der Politiker spielten zwar eine Rolle,
verhinderten aber nicht, dass beide den gleichen, am nonverbalen Verhalten
erkennbaren inneren Absturz erlebten.
Der Skandal verlangt von den Skandalisierten die Einsicht in eine
paradoxe Situation: Sie müssen unter höchstem Zeitdruck vor allem Ruhe
bewahren und Zeit gewinnen. Ein erfolgreiches Beispiel ist das Verhalten
von Joschka Fischer im Visa-Skandal, als er so lange im Hintergrund blieb,
bis sich die Kritik an ihm wegen des Rücktritts von Volmer totgelaufen hatte.
Ein solches Aussitzen gelingt nicht immer, weil die Kritik nicht nachlässt,
sondern wie bei der Skandalisierung von zu Guttenberg und Wulff zunimmt,
oder weil die Skandalisierten und ihre soziale Umgebung wie im Fall von
Tebartz-van Elst den Druck nicht mehr aushalten. Jan Philipp Reemtsma,
dessen »Wehrmachtsausstellung« zwar nicht zum Skandal wurde, aber
immerhin einen massiven publizistischen Konflikt auslöste, hat das erlebt
und in einem Interview beschrieben. Auf die Frage, weshalb er gegen einen
seiner Kritiker, den polnischen Historiker Bogdan Musial, einen
fragwürdigen Prozess geführt habe, erklärte er, durch die Angriffe sei »so
etwas wie eine Wagenburgmentalität entstanden, von der aus dann
irgendwann alle Kritiker« ähnlich ausgesehen hätten. Es wäre damals richtig
gewesen, Ruhe zu bewahren, nicht so empfindlich zu reagieren (FAZ,
06.11.1999). Dazu sind aber viele Skandalisierte nicht in der Lage. Anderen,
wie zu Guttenberg und Winterkorn, hätte das, weil sie ihre Entlassung riskiert
hätten, nichts genutzt. Viele Fälle liegen jedoch anders.
Hätte die Hoechst AG nach dem ortho-Nitroanisol-Unfall im Februar
1993 ihre erste Pressekonferenz nicht bereits in der Morgendämmerung
einberufen, wäre die Sachdarstellung des Unternehmens nicht durch neu
auftauchende Fakten widerlegt und seine Glaubwürdigkeit nicht erschüttert
worden. Hätte die Shell AG ihren Kritikern ein Moratorium von einem
halben Jahr angeboten und alle interessierten Journalisten auf Kosten des
Unternehmens auf die Brent Spar gebracht, damit sie sich dort ein eigenes
Urteil hätten bilden können, wäre der Protest zusammengebrochen, weil die
Journalisten erkannt hätten, dass Greenpeace falsche Angaben über die
Schadstoffbelastung der Brent Spar verbreitet hatte. Wäre der Waffenexperte
Kelly dazu imstande gewesen, die Attacken der Regierung und der
regierungsfreundlichen Medien auszuhalten, wäre er nach der Widerlegung
der angeblichen Gründe für den Angriff auf den Irak als vorausschauender
Experte gefeiert worden. Wäre Wulff nach Aufhebung seiner Immunität im
Amt geblieben, hätte ihn niemand entlassen können und einige Wochen
später wäre klar gewesen, dass die Staatsanwaltschaft den Antrag auf
Aufhebung seiner Immunität unter dem Eindruck einer Falschmeldung
gestellt hatte. Er konnte dem Druck aber aus den genannten Gründen genauso
wenig standhalten wie Kelly und wie die Verantwortlichen der Hoechst AG
und der Shell AG.
1 Bis heute ist nicht zweifelsfrei geklärt, ob er sich tatsächlich umgebracht hat – wofür viele Indizien
sprechen – oder ermordet wurde.
2 Einen besonders tragischen Fall von Menschenjagd im Internet beschreibt Hendrik Ankenbrand
unter dem Titel »China jagt das Menschenfleisch« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
(26.07.2013).
3 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Medieneffekte, S. 135–153.
4 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: ebenda, S. 175–190.
5 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Zerback, Thomas: Der Einfluss der Medien auf Richter und
Staatsanwälte.
6 Die negativen Wahrnehmungen der Protagonisten werden vermutlich durch das auch bei
Beobachtern auftretende »Hostile Media Phenomenon« bekräftigt: Sympathisanten einer
Konfliktpartei nehmen die Berichterstattung negativer wahr als neutrale Beobachter. Vgl. Gunther
et al.: Congenial Public, Contrary Press, and Biased Estimates of the Climate of Opinion.
7 Vgl. Davison, W. Phillips: The Third-Person Effect in Communication.
8 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Medieneffekte, S. 155–173.
9 Die Familie von Tebartz-van Elst wurde während dessen Skandalisierung telefonisch und brieflich
beschimpft und erhielt Morddrohungen. Vgl. Limburger Skandalbischof. Auf Spiegel Online,
23.10.2013. [Zugriff am 24.10.2013].
10 Vgl. von Sikorski, Christian / Ludwig, Mark: Visual Framing in der Skandalberichterstattung.
11 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Medieneffekte, S. 191–203.
12 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch die Medien.
13 Geis, Mathias / Ulrich, Bernd: Der Unvollendete, S. 189.
14 Diener, Andrea: Meine Tage im Hass.
15 von Altenbockum, Jasper: Verrohung.
16 Vgl. Fiske, Susan T. / Taylor, Shelley E.: Social Cognition; Fiske, Susan T. / Morling, Beth /
Stevens, Laura E.: Controlling Self and Others.
17 Zitiert nach »Plagiatsaffäre Guttenberg«. Auf: Wikipedia.de [Zugriff: 02.10.2011].
18 Vgl. zum Folgenden Fiske, Susan T. / Morling, Beth / Stevens, Laura E.: Controlling Self and
Others.
19 Eine Vorstellung von dem Stress, dem Skandalisierte und ihr Umfeld ausgesetzt sind, können
folgende Zahlen vermitteln: Die DW-Bank beantwortete am 16.12.2011 vier von acht Fragen der
Welt vom selben Tag zum Hauskredit an Wulff. Der Anwalt Wulffs, Gernot Lehr, beantwortete am
17.12.2011 zehn Fragen der Welt vom 16.12.2011 zum gleichen Thema. Die DW-Bank
beantwortete am 20.12.2011 fünf Fragen, eine sechste Frage blieb unbeantwortet. Am selben Tag
beantwortete Lehr weitere Fragen der Welt vom 17., 19., und 20.12.2011. Auf dem Höhepunkt der
Skandalisierung von Wulff im Januar 2012 stellten die SPD 62 und die Grünen 100 Fragen im
Niedersächsischen Landtag (vgl. FAZ, 13.01.2012).
20 Zitiert nach Kepplinger, Hans Mathias: Am Pranger, S. 147.
21 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Post, Senja / Dickhaus, Maike: Effects of Scandals on Top
Politicians.
13. Gewinner und Verlierer
Anfang der 1950er-Jahre gab es in der alten Bundesrepublik pro Jahr etwa
zwei bis drei bundesweit beachtete politische Skandale. Das blieb so bis
Mitte der 1970er-Jahre, als die Zahl dieser Skandale zunächst langsam, dann
schneller zunahm und 1993 bei etwa zehn pro Jahr lag. Bis 2015 stieg sie
erheblich an auf schätzungsweise 25 bis 30 pro Jahr. Diese Entwicklung hat
zahlreiche Gründe, darunter die Veränderung des journalistischen
Selbstverständnisses seit den 1970er-Jahren, die wachsende Konkurrenz
zwischen der Presse und dem Fernsehen sowie zwischen einzelnen
Presseorganen seit den 1980er-Jahren. Verstärkt wird dieser Prozess in
jüngerer Zeit von der zunehmenden Bedeutung des Internets als Quelle der
Anprangerung von Missständen durch Hobby-Journalisten sowie als Ort der
Koorientierung der Journalisten traditioneller Medien. Möglicherweise hat
auch die Zahl der Missstände in der Politik zugenommen und dadurch die
Zahl der Skandale. Dafür gibt es aber keine Belege durch z. B. die Zahl der
Gerichtsurteile oder der Verfahren zur Aufhebung der Immunität von
Politikern. Besser erkennt man den Einfluss der Realität auf ihre Darstellung
anhand von Umweltskandalen. Die Zahl der Umweltskandale hat in
Deutschland seit den 1970er- und 1980er-Jahren erheblich zugenommen. In
diesem Fall kann man ausschließen, dass die wachsende Zahl der Skandale
eine Folge vermehrter Missstände war: Die Zahl der Umweltskandale nahm
vielmehr in dem Maße zu, in dem die schweren Umweltschäden
zurückgingen. Das gilt unter anderem für die Belastung der Gewässer und der
Luft und trifft in ähnlicher Weise – trotz der Katastrophe von Tschernobyl –
auf die radioaktiven Niederschläge und die kerntechnisch relevanten Störfälle
in Kernkraftwerken zu.1 Ähnliches kann man für die wachsende Zahl der
Lebensmittelskandale vermuten, weil die Qualität von Lebensmitteln heute
erheblich genauer kontrolliert wird und Lebensmittel deshalb heute deutlich
weniger Mängel aufweisen als früher.
Die Auswirkungen von politischen Skandalen auf die Karrieren von
Politikern sind im Unterschied zu ihren Ursachen aufgrund von detaillierten
Recherchen zu 108 Fällen von 1949 bis 1993 bekannt.2 Als Folge ihrer
Skandalisierung verloren im genannten Zeitraum 51 Politiker ihr Amt. Von
ihnen schieden 28 aus der Politik aus. Sieben nahmen später wieder ein
politisches Amt ein, das im Rang ihrer ursprünglichen Tätigkeit entsprach.
Die tatsächliche Schwere der Verfehlungen lässt sich nicht in allen Fällen
eindeutig ermitteln. Dagegen kann man gut feststellen, ob die Medien das
Verhalten der Politiker als leichte oder schwere Verfehlung charakterisierten.
Von den Politikern, denen schwere Verfehlungen vorgeworfen wurden,
verloren zwei Drittel ihr Amt. Von jenen, denen leichtere Verfehlungen
angelastet wurden, war es ein Drittel. Zwischen der Schwere der Vorwürfe
und den Chancen, einen Skandal im Amt zu überstehen, besteht demnach ein
Zusammenhang. Eine ganz andere Frage ist, ob das Ausmaß der Vorwürfe
immer dem Ausmaß der Fehler und Verfehlungen entsprach. Das erscheint
aufgrund zahlreicher Gegenbeispiele aus jüngerer Zeit, darunter die
Skandalisierungen von Jenninger, Seiters, Härtel, Özdemir, Gysi, Oettinger,
von Boetticher, Wulff, Steinbrück und Brüderle unwahrscheinlich.
Einen maßgeblichen Einfluss auf die Chancen der Skandalisierten, den
Skandal im Amt zu überstehen, hat ihre Verteidigung. Hier kann man drei
Strategien unterscheiden: Schuldbekenntnisse, Selbstrechtfertigungen und
Dementis. Am erfolgreichsten waren Politiker, die ihr Verhalten
rechtfertigten, indem sie besondere Umstände hervorhoben, Erklärungen für
ihr Verhalten anboten oder auf übergeordnete Ziele verwiesen – also ein
alternatives Schema zur Interpretation ihres Verhaltens präsentierten. Von
diesen Politikern behielten zwei Drittel ihr Amt. Dazu gehört Manfred Stolpe,
der, wenn ein neuer Vorwurf drohte, sofort eine Interpretation anbot: Er
präsentierte sich glaubhaft als selbstloser Anwalt von ausreisewilligen DDRBürgern, lieferte akzeptable Erklärungen für eine hohe Auszeichnung durch
die DDR und benannte einen Zeugen, der nicht mehr aussagen konnte, weil
er tot war. Beispiele liefern auch die Erklärungen, mit denen Joschka Fischer
sein Verhalten als politisch motivierter Schläger rechtfertigte, nachdem er
2001 auf einer schon lange bekannten Fotografie identifiziert worden war.3
Er bekannte sich zu dem, was nicht zu leugnen war, stellte sein Verhalten als
Gegengewalt dar und präsentierte sich als Moderator der Szene, der
Schlimmeres verhindert hat. Eine Voraussetzung für den Erfolg der
erwähnten Strategie besteht allerdings darin, dass hinreichend viele relevante
Journalisten die Erklärungen für glaubhaft halten, aufgreifen und – wie im
Falle Fischers, dessen Verhalten von einigen Journalisten fälschlich als
generationstypisch dargestellt wurde – ausbauen.
Politiker, die zwischen 1949 und 1993 skandalisiert worden waren und
die Vorwürfe dementiert hatten, waren weniger erfolgreich. Von ihnen
behielt nur knapp die Hälfte ihr Amt. Das hat zwei Gründe. Zum einen
erscheinen reine Dementis ohne ergänzende Interpretationen des Verhaltens
auch dann unglaubwürdig, wenn sie sachlich zutreffen. Zum anderen besteht
die Gefahr, dass neue Erkenntnisse ein Dementi widerlegen. Ob dieser
Eindruck zu Recht besteht, ist gleichgültig. Ein Beispiel sind die Dementis
von Ministerpräsident Filbinger zu seiner Rolle als Marinerichter im Dritten
Reich, die die meisten Journalisten nicht glaubten, den Skandal verlängerten
und ihn am Ende sein Amt kosteten. Ein neueres Beispiel sind zu
Guttenbergs Reaktionen auf die Plagiatsvorwürfe. Die stufenweise
Entwicklung der anfänglich noch verhaltenen Kritik an der Benotung seiner
Doktorarbeit über eine schon deutlichere Kritik an der Verleihung des
Doktortitels bis zur massiven Forderung nach seinem Rücktritt ist auch
darauf zurückzuführen, dass er bei seiner Verteidigung gravierende Fehler
gemacht hat. Statt den Missbrauch von Zitaten ohne Einschränkung
zuzugeben, hat er einen Streit um Worte geführt, nämlich die aus seiner Sicht
falsche Verwendung des Begriffs »Plagiat«. Dadurch hat er trotz
gegenteiliger Bekenntnisse den Eindruck vermittelt, er würde den Missbrauch
selbst bestreiten und wurde durch immer neue Funde sachlich widerlegt. Der
Hinweis auf seine Mehrfachbelastung hat Universitätsangehörige gegen ihn
aufgebracht, weil damit viele Doktoranden fertigwerden müssen. Durch sein
improvisiertes Interview vor einigen Fernsehkameras hat er die Mitglieder
der Bundespressekonferenz brüskiert, die einen größeren Einfluss auf sein
Erscheinungsbild besaßen als sein Auftritt im Fernsehen. Darüber hinaus hat
zu Guttenberg die Bedeutung meinungsbildender Medien wie der
Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und des Spiegels
unterschätzt. Aus diesen Gründen konnten ihn auch wohlwollende
Weggefährten und Journalisten nicht mehr effektiv entschuldigen, und
deshalb mündete die Skandalisierung seiner Dissertation in einen Skandal
statt in einen publizistischen Konflikt, aus dem er möglicherweise als
tragischer Held hervorgegangen wäre.
Die Skandalisierung von Hoeneß verlief aus anderen Gründen ähnlich.
Obwohl er zunächst bei mehreren Medien auf ein bemerkenswert großes
Verständnis stieß,4 weil er als Opfer einer krankhaften Zockerleidenschaft
erschien, war die Kritik an ihm während des Strafverfahrens massiv und
einhellig. Ein Grund bestand darin, dass im Laufe der Zeit immer neue
Zahlen auftauchten, die seine Glaubwürdigkeit zerstörten – zunächst sollte er
3,5 Millionen Euro hinterzogen haben, dann 15 Millionen, dann 18,5
Millionen und schließlich 27,2 Millionen. Verurteilt wurde er letztendlich
wegen Steuerhinterziehung in sieben Fällen in Höhe von 28,5 Millionen
Euro.5 Ein Gedankenexperiment gibt Hinweise auf die Alternative: Hätte
Hoeneß am Anfang einen geschätzten Betrag von 32 Millionen Euro genannt
und dezent die ihm angebotene Opferrolle gepflegt, wäre er wahrscheinlich
ebenfalls zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Die Diskussion über
seine Schuld wäre aber anders verlaufen und die Urteilsverkündung wäre
vermutlich mit verständnisvollem Fatalismus kommentiert worden.
Den geringsten Erfolg hatten Politiker, die sich sofort oder später zu den
Vorwürfen bekannten. Von ihnen behielt nur ein Drittel ihr Amt. Der
Amtsverlust von Politikern, die sich zu den Vorwürfen bekennen, erscheint
sachlich folgerichtig. Das trifft jedoch nur dann zu, wenn man annimmt, dass
die Vorwürfe voll und ganz der Wahrheit entsprechen. Diese Annahme ist
zuweilen falsch, wie die Rücktritte von Innenminister Seiters als Folge der
Skandalisierung des GSG 9-Einsatzes in Bad Kleinen und von
Bundestagspräsident Jenninger als Folge seiner missglückten Gedenktagsrede
zeigen. Das Eingeständnis von Fehlern wird im Skandal zwar heftig
gefordert, jedoch nicht honoriert. Neuere Beispiele sind die Anprangerungen
von Brüderle, Steinbrück, Hoeneß, Gaschke und Hartmann. Die erwähnten
Zusammenhänge zwischen der Strategie der Skandalisierten und dem Verlauf
der Skandale sind mit Vorsicht zu betrachten, weil man vermuten kann, dass
die Vorwürfe gegen Politiker, die sich dazu bekennen, zuweilen
substanzieller sind als die Vorwürfe gegen jene, die sich rechtfertigen. Der
Amtsverlust wäre im ersten Fall zwingender als im zweiten. Zudem dürfte die
Sachlage häufig eine bestimmte Verteidigungsstrategie nahelegen. Dann kann
von einer freien Wahl der Reaktionsweise keine Rede sein. Dennoch deuten
die unterschiedlichen Erfolgsquoten der drei Strategien darauf hin, dass sich
sofortige oder spätere Bekenntnisse nicht auszahlen. Wer die freie Wahl hat
und hofft, durch Bekenntnisse zu gewinnen, hat meist schon verloren. Wer
sich rechtfertigt und erwarten kann, dass seine Rechtfertigung relevanten
Journalisten und meinungsbildenden Medien glaubhaft erscheint, hat dagegen
eine realistische Chance. Der entscheidende Grund liegt erneut in der Natur
des Skandals: Wer seine Schuld bekennt, bestätigt die Sichtweise der
Skandalisierer; wer sich rechtfertigt, stellt sie infrage. Je besser das gelingt,
desto besser sind die Chancen der Skandalisierten.
Neben den genannten Faktoren hat das Verhalten der Parteifreunde bzw.
das Ausmaß der innerparteilichen Konflikte einen Einfluss auf den Verlauf
politischer Skandale. Ist die parteiinterne Kritik groß, sind die Chancen der
Skandalisierten schlecht. Ist die parteiinterne Kritik gering, sind sie gut. Von
den Politikern, deren Verhalten wenig parteiinterne Kritik hervorrief,
behielten nahezu zwei Drittel ihr Amt. Von den Politikern, deren Verhalten
von Angehörigen des eigenen Lagers stark kritisiert wurde, war es dagegen
nur ein Fünftel. Ein Beispiel für die Relevanz von Konflikten in der eigenen
Partei ist der zunächst mehrfach gescheiterte, aber letztendlich geglückte
Versuch zur Skandalisierung der Parteifinanzen der CDU. »Entscheidend«
für den späteren Erfolg war nach Mascolo »der Umstand, dass jetzt die CDUSpitze bereit war, das Theaterstück ›Helden und Schurken‹ aufzuführen und
auch das Ritual des Abschieds von ihrem Paten öffentlich zu zelebrieren«
(message, 2/2000), darunter allen voran Angela Merkel. Die erfolgreichen
Skandalisierungen von Boettichers und Oettingers dürften ähnliche Ursachen
gehabt haben, weil sie im Unterschied zur Skandalisierung zu Guttenbergs
aufgrund der reinen Sachlage nicht zwingend erscheinen.
Auch die Kompetenz bzw. Inkompetenz der skandalisierten
Organisationen hat einen Einfluss auf den Verlauf von Skandalen. Die
angegriffenen Parteien, Unternehmen oder Verbände sind zuweilen über ihre
eigene Tätigkeit unzureichend informiert. Sie schätzen Angriffe falsch ein,
und es fehlt ihnen an Gelassenheit für situationsgerechte Entscheidungen. Ein
Beispiel für verhängnisvolle Mängel der internen Kommunikation ist der
Informationsfluss bei der Hoechst AG in Zusammenhang mit dem orthoNitroanisol-Austritt.6 Die Forschungsabteilung der Hoechst AG hatte das
»Beratergremium für Umweltrelevante Altstoffe« über eine Studie informiert,
der zufolge ortho-Nitroanisol krebserregend sein könnte, nicht jedoch die
unternehmenseigene »Zentralabteilung Öffentlichkeitsarbeit«. Deshalb
konnten die Vertreter der Hoechst AG die anwesenden Journalisten zunächst
nicht über den Verdacht einer krebserregenden Wirkung informieren.
Stattdessen erfuhr die Öffentlichkeit das auf dem Umweg über einen
Mitarbeiter des Umweltministeriums. Das zerstörte, obwohl keine
Vertuschungsabsicht bestand, die schon erschütterte Glaubwürdigkeit des
Unternehmens vollends. Auch bei der geplanten Versenkung der Brent Spar
gab es in der Shell AG schwerwiegende Kommunikationsmängel.7 Shell U.
K., die für die Entsorgung der Brent Spar zuständig war, hatte über 30
Studien und Gutachten über die Vor- und Nachteile verschiedener Verfahren
eingeholt und auf ihrer Grundlage die Genehmigung für die Versenkung
erhalten. Eine deutsche Übersetzung der technisch komplizierten Gutachten
lag aber nicht vor. Deshalb konnte Shell Deutschland, als Greenpeace seine
Kampagne in Deutschland startete, wo sich die Umweltorganisation mehr
Resonanz versprach, dem zunächst nichts entgegensetzen.
Ein neueres Beispiel sind die Informationspannen von Vattenfall Europe
nach dem Brand eines Transformators auf dem Gelände des AKWs Krümmel
am 28. Juni 2007. Der Schichtleiter besprach mit dem Bereitschaftsdienst das
Vorgehen. Es wurde vereinbart, den Reaktor binnen vier Tagen durch
abwechselndes Öffnen und Schließen der Ventile langsam herunterzufahren.
Tatsächlich erfolgte das aber durch längeres Öffnen der Ventile innerhalb von
vier Minuten. Grund dafür war ein Missverständnis zwischen Schichtleiter
und Reaktorfahrer. Um 15.18 Uhr kam es im Bereich des Transformators zu
einer starken Rauchentwicklung. Kurz darauf setzte der Reaktorfahrer ein
Atemschutzgerät auf, obwohl die CO2-Konzentration weit unter der
Warnschwelle lag. Das war zwar falsch, aber ungefährlich. Deshalb
informierte das Unternehmen die Medien darüber nicht. Das war sachlich
richtig aber trotzdem verhängnisvoll. Eine Woche nach dem Brand warf
Greenpeace dem Eigentümer Vattenfall vor, wichtige Einzelheiten
verschwiegen zu haben. Zwei Tage später wurde öffentlich bekannt, dass bei
dem Brand des Transformators Rauchgas in die Leitwarte des
Kernkraftwerks eingedrungen war. Das bestätigte den Verdacht, das
Unternehmen hätte gravierende Probleme vertuscht, unterminierte seine
Glaubwürdigkeit und war ausschlaggebend für das volle Ausmaß des
Skandals.
In vielen Fällen erweisen sich die Vorwürfe gegen die Skandalisierten als
überzogen oder völlig falsch. Das wirft die Frage auf, ob ihnen das
Presserecht helfen kann, da es eine ganze Palette von Möglichkeiten bietet –
von der Gegendarstellung über die Unterlassung bis zum Widerruf und
Schadenersatz. Diese theoretischen Möglichkeiten sind jedoch nach Ansicht
der meisten Betroffenen praktisch nutzlos. Das zeigt sich bereits bei
»einfachen« Verletzungen des Persönlichkeitsrechts, ganz zu schweigen von
den massiven Angriffen in einem Skandal.8 Von den Führungskräften aus
Politik, Wirtschaft und Verwaltung hatte 1993 jeder Fünfte »selbst schon
einmal die Erfahrung gemacht, dass Journalisten zu weit gingen bei Berichten
über ihr Privatleben«. Besonders verbreitet war diese Erfahrung unter
Politikern, deutlich seltener unter Führungskräften aus Wirtschaft und
Verwaltung. Nahezu zwei Drittel hielten es für klüger, bei der Verletzung
von Persönlichkeitsrechten die Sache auf sich beruhen zu lassen. Nur ein
knappes Fünftel fand es richtig, sich gegen die Medien zur Wehr zu setzen.
Führungskräfte aus Wirtschaft und Verwaltung rieten noch häufiger zur
Passivität als bekannte Politiker. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, dass
die Karrieren von Politikern stärker von ihrem Erscheinungsbild in der
Öffentlichkeit abhängen, während Erfolge von Führungskräften in der
Wirtschaft und Verwaltung mehr auf der Akzeptanz im Kollegenkreis
beruhen. Sie wird durch weitere öffentliche Aufmerksamkeit eher gefährdet
als gefördert.
Nicht jeder Betroffene folgt dem Rat seiner Kollegen und wehrt sich nicht
gegen Berichte, die seiner Ansicht nach zu weit gehen. Das belegen die
Aussagen von 237 Pressesprechern großer Verbände und Unternehmen sowie
von 184 Abgeordneten der im Bundestag vertretenen Parteien.9 Auf die
Frage: »Kennen Sie Personen, die nach falschen und ehrverletzenden
Berichten auf presserechtliche Maßnahmen verzichtet haben, obwohl die
rechtlichen Voraussetzungen nach Ihrer Kenntnis gut dafür waren?« erklärten
1997 mehr als zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten und nahezu die
Hälfte der Pressesprecher, sie würden mindestens eine Person kennen, die
sich so entschieden hat. Über die Hälfte der Parlamentarier kannten sogar
mehrere Personen. Im Bereich des Persönlichkeitsschutzes ist die
Dunkelziffer folglich sehr groß. Warum verhalten sich die meisten Politiker
und anderen Personen des öffentlichen Lebens so? Die spontanen Antworten
auf eine offene Frage nach den »Gründe(n) für den Verzicht auf
presserechtliche Maßnahmen wie beispielsweise den Anspruch auf
Gegendarstellung, Unterlassung oder Widerruf« geben ein klares Bild: Die
Parlamentarier und die Pressesprecher nannten am häufigsten die Angst vor
weiterer Publizität. Daneben spielten das unangemessene Verhältnis von
Aufwand und Ertrag sowie die geringe Wirkung von Gegendarstellungen
eine wichtige Rolle.
Viele von denen, die das Recht im Skandal auf ihrer Seite sehen,
verzichten wegen ihres berechtigten Ohnmachtsgefühls gegenüber den
Medien darauf, ihr Recht wahrzunehmen. Sie gewinnen nach ihrer eigenen
Überzeugung im Augenblick kaum etwas und riskieren für die Zukunft viel:
Vom Recht erhoffen sie weniger, als sie von den Medien befürchten. Das ist
mit Blick auf die Verfassung des Rechtsstaats zwar eine bedauerliche, aus
Sicht der Protagonisten aber rationale Haltung. Einen Beleg für die
Richtigkeit dieser Einschätzung liefert die Skandalisierung einer Sylt-Reise
von Wulff und Groenewold durch Bild (08.02.2012), die zum Rücktritt von
Wulff führte. Auf Antrag von Groenewold musste Bild (25.04.2012)
zweieinhalb Monate später eine große Gegendarstellung zu der BildDarstellung im Februar drucken. Bild revanchierte sich dafür auf derselben
Seite mit einem noch größer aufgemachten Gegenangriff unter der
Überschrift »Staatsanwalt weitet Ermittlungen gegen Wulff-Freund David
Groenewold aus«.
1 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Künstliche Horizonte, S. 112–140.
2 Vgl. Geiger, Thomas / Steinbach, Alexander: Auswirkungen politischer Skandale auf die Karrieren
der Skandalisierten.
3 Vgl. Hartung, Uwe: Publizistische Bedingungen politischer Skandale, S. 247–285.
4 Vgl. Süddeutsche Zeitung (24.03.2013), Frankfurter Allgemeine Zeitung (03.05.2013), Bild
(23.04.2013), Hart aber fair (23.04.2013).
5 Vgl. Bild, 13.03.2014.
6 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Hartung, Uwe: Störfallfieber, S. 50–55.
7 Zur Chronologie vgl. Mantow, Wolfgang: Die Ereignisse um Brent Spar in Deutschland.
8 Vgl. die ausführliche Darstellung in Kepplinger, Hans Mathias: Verletzung der
Persönlichkeitsrechte durch die Medien.
9 Vgl. ebenda.
14. Skandale und publizistische Konflikte
Skandale und publizistische Konflikte besitzen Gemeinsamkeiten und
Unterschiede. Bei Skandalen und publizistischen Konflikten werden
tatsächliche oder vermeintliche Missstände angeprangert. In beiden Fällen
sind die Fakten meist nach wenigen Tagen unstrittig, was nicht bedeutet, dass
sie zutreffen. Sie werden in der Öffentlichkeit aber nicht infrage gestellt.
Daneben gibt es gravierende Unterschiede: Bei Skandalen besteht nach
kurzer Zeit ein Konsens über die Einschätzung der Ursachen der Missstände
sowie der Verantwortung ihrer Urheber. Diejenigen, die die Missstände
verursacht oder nicht verhindert haben, haben nach allgemeiner Überzeugung
aus egoistischen Motiven, aus freien Stücken und in Kenntnis der Folgen
gehandelt. Sie sind folglich voll verantwortlich und müssen zur
Verantwortung gezogen werden. Bei publizistischen Konflikten entsteht
dagegen eine Auseinandersetzung über die Einschätzung der Ursachen der
Missstände und der Verantwortung der Urheber. Ein bemerkenswerter Teil
der Beobachter hält die Missstände für unvermeidbar oder sieht viele
Menschen als Urheber, was den individuellen Beitrag relativiert. Zudem
schreibt er den Urhebern der Missstände legitime bzw. altruistische Motive
zu, die die negative Folgen ihres Handelns in einem milden Licht erscheinen
lassen. Deshalb geht es im publizistischen Konflikt vor allem darum, wie das
Urteil aussehen soll. Ein neueres Beispiel hierfür ist die Diskussion um Jan
Böhmermanns »Schmähkritik«.1 Im Skandal steht dagegen das Urteil nach
kurzer Zeit fest. Es geht nur noch darum, wann und wie es exekutiert wird.
Beispiele für die Unterschiede sind die Skandalisierungen in den Fällen von
Thilo Sarrazin2 und Karl-Theodor zu Guttenberg.3
Die Skandalisierung Sarrazins begann Ende August 2010 mit einem
Paukenschlag – dem Vorabdruck im Spiegel und der aus seinem Buch
»Deutschland schafft sich ab« abgeleiteten Schlagzeile von Bild
»Deutschland wird immer ärmer und dümmer«. Zunächst verlief die
Skandalisierung wie in ähnlichen Fällen – etwa die Anprangerung Ernst
Noltes und Andreas Hillgrubers wegen ihrer Äußerungen zur Rolle des
Deutschen Reichs und der Sowjetunion vor und im Zweiten Weltkrieg,
Martin Walsers wegen seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des
Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und von Friedrich Merz wegen
seiner Forderung nach Anpassung der Einwanderer an die deutsche
»Leitkultur«. Gegen Sarrazin wurde ein breites Spektrum an herabsetzenden
Behauptungen vorgebracht. Der Höhepunkt seiner Skandalisierung war
erreicht, als sich Frank Schirrmacher mit dem Leitartikel »Sarrazins drittes
Buch« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (05.09.2010) an die Spitze der
Bewegung setzte. Schirrmacher kritisierte Sarrazin mit besonderer Schärfe
für das, was er nicht geschrieben, aber angeblich gemeint hat.4 Laut
Schirrmacher
vertrat
Sarrazin
eine
»vulgärdarwinistische
Gesellschaftstheorie« und präsentierte Darwins Theorien, als »seien sie
Erkenntnisse von heute«. Es sei »schlichtweg unseriös, wie fahrlässig (er) mit
seinen Quellen« umgehe. Sarrazin meine mit seinen Äußerungen zur
negativen Selektion »faktisch ›Entartung‹ – daran kann kein Zweifel bestehen
–, aber er nennt das Wort nicht«. Sarrazin täusche die Leser seines Buches
über dessen Grundlagen. Er wisse auch um die Täuschung, denn warum sonst
sollte er »so großen Wert« auf den Hinweis legen, »dass Intelligenztests von
Juden erfunden wurden?« Es scheine, so Schirrmacher, »als habe ein Lektor
alle ›anstößigen‹, aber historisch zutreffenden Begriffe aus dem Buch
verbannt, damit die Botschaft an den Kunden gebracht werden kann«. Das
erfülle »den Tatbestand der Irreführung«.
Die Skandalisierung Sarrazins führte, trotz der massiven Vorwürfe
Schirrmachers und anderer Autoren, im Unterschied zu früheren Fällen –
etwa der Interpretation des satirischen Romans »Tod eines Kritikers« von
Walser als antisemitisch – nicht zu einem Skandal im engeren Sinn, d. h.
einer einhellig negativen Meinung und dem ebenso einhelligen Ruf nach der
Exekution des Urteils – der moralischen Ächtung und der sozialen Isolation
des Übeltäters. Sie mündete in einen publizistischen Konflikt. Das hatte sechs
Gründe: Der erste Grund war die Meinung der Bevölkerung. Sarrazins Buch
stand beim Online-Buchhändler Amazon aufgrund der vielen
Vorbestellungen bereits vor seinem Erscheinen auf Platz 1 der Verkaufsliste.
Fast zwei Drittel der Bevölkerung waren nach einer Umfrage des Instituts für
Demoskopie Allensbach der Meinung, Sarrazin spreche »viele Dinge an, die
im Großen und Ganzen zutreffen«. Im Urteil über Sarrazins These, die
deutsche Gesellschaft werde »auf natürlichem Wege durchschnittlich
dümmer«, standen sich mit 35 Prozent Zustimmung und 38 Prozent
Ablehnung zwei gleich große Lager gegenüber.5 Der zweite Grund waren die
direkten Reaktionen auf die Medien. Einige Zeitungen wurden nach
negativen Beiträgen über Sarrazins Thesen von kritischen Leserbriefen
geradezu überschwemmt und machten daraus eigene Sonderseiten. Nach
einem Auftritt von Sarrazin in der Sendung »Hart aber fair« stimmten 84
Prozent der Zuschauer, die ihre Meinung äußerten, den Thesen Sarrazins zu.6
Die meisten Journalisten hatten so etwas noch nie erlebt, und die massive
Kritik gefährdete ihre eigenen Interessen, ihre Akzeptanz beim Publikum.
Der dritte Grund waren die Reaktionen mehrerer Juden auf den Vorwurf,
Sarrazin sei ein Antisemit, weil er in einem Interview von einem »jüdischen
Gen« gesprochen hatte. Dazu erklärte der deutsch-israelische Schriftsteller
Chaim Noll in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (04.09.2010), nach dem
jüdischen Religionsgesetz sei »Jude sein zum Teil genetisch definiert«. In
Israel bestehe kein »Tabu, jüdische Identität mit Genetik in Zusammenhang
zu bringen«. Vielmehr würden entsprechende Forschungen intensiv
diskutiert. Dadurch wurde ein bisher erfolgreiches Killerargument
Schirrmachers
wertlos.
Der
vierte
Grund
waren
mehrere
fachwissenschaftliche Stellungnahmen zu Sarrazins Analysen und
Folgerungen. Eine zentrale Rolle spielte der Artikel »Was ist dran an
Sarrazins Thesen?« von Heiner Rindermann und Detlef Rost in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung (07.09.2010). Er mündete in das Fazit:
»Sarrazins Thesen sind, was die psychologischen Aspekte betrifft, im Großen
und Ganzen mit dem Kenntnisstand der modernen psychologischen
Forschung vereinbar. (…) Massive Fehlinterpretationen haben wir … nicht
gefunden«. Mit der Stellungnahme der beiden Psychologen war der Vorwurf
der wissenschaftlichen Unhaltbarkeit von Sarrazins Thesen nicht länger
aufrechtzuerhalten.7 Der fünfte Grund bestand darin, dass von Beginn an eine
Reihe bedeutender Journalisten und Publizisten Sarrazin verteidigten. Dazu
gehörten Necla Kelek in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.08.2010)
und Henryk M. Broder im Spiegel (06.09.2010).
Der sechste und vermutlich entscheidende Grund für das Scheitern der
Skandalisierung war die Verlagerung der Diskussion der Thesen Sarrazins
auf die Diskussion über Meinungsfreiheit in Deutschland. Diesen Aspekt
hatte Bild schon am 1. September angesprochen und am 4. September auf
drei Seiten zum zentralen Thema gemacht. Die Wende markierten dann
mehrere Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Berthold Kohler
warf am 10. September die Frage auf: »Was darf man in dieser Republik
sagen und schreiben, ohne die mitunter bis zur Existenzgefährdung reichende
›Menschenverachtung‹ zu erfahren, die Sarrazins Kritiker nur bei ihm
erkennen können?« Und er konstatierte: »Jedenfalls einem Teil der Eliten
dieses Landes scheint das Wissen abhandengekommen zu sein, dass die für
die Demokratie konstitutive Meinungsfreiheit nicht nur für Meinungen gilt,
die von der Kanzlerin als hilfreich und von besonders klugen Kolumnisten als
diskussionswürdig und dem gerade geltenden Stand der Wissenschaft
entsprechend angesehen werden, sondern auch für falsche, verwerfliche und
abwertende Äußerungen bis an die Grenze anderer, von der Verfassung
garantierter Rechtsgüter«. Zwei Tage später nannte Volker Zastrow an
gleicher Stelle den Charakter der Kampagne beim Namen und ging auf
unsaubere Tricks der Meinungsmacher ein. Er fragte, warum einige Kritiker
Sarrazins es »unerträglich« fanden, wie er die Welt beschreibt, und stellte
mehrere Gründe zur Diskussion: »Weil sie nicht so ist? Oder weil man es
nicht aushält, dass sie so ist? Oder weil sie nicht so sein darf? (…) Weil
daraus falsche Schlüsse gezogen werden könnten? Welche denn? Wer zog
sie? Und darf man keine falschen Schlüsse ziehen? Wer zieht sie nicht?« Im
Anschluss daran konstatierte er: »›Ertragen‹ ist eines dieser Stichworte …
von intellektuellen Lobbyisten, die totale Meinungskriege führen« und
folgerte: »Schon vor Jahrzehnten, am Bundestagspräsidenten Jenninger,
wurde demonstriert, dass nicht zählt, was einer gemeint hat, sondern ob man
es ihm erfolgreich verdrehen kann, gern bis ins Gegenteil über allen Anstand
hinaus«.
Die Skandalisierung zu Guttenbergs wegen seiner Doktorarbeit verlief
ganz anders. Sie begann am 16. Februar 2011 mit einem eher verhaltenen
Beitrag von Roland Preuß in der Süddeutschen Zeitung. Unter dem Titel
»Guttenbergs Doktorarbeit. Summa cum laude? – Mehr als schmeichelhaft«
dokumentierte er mehrere nicht belegte Zitate. Seine Quelle war der
Juraprofessor Andreas Fischer-Lescano, der wenige Tage zuvor bei der
Arbeit an einer Besprechung der Dissertation auf Zitate ohne Quellenangaben
gestoßen war.8 zu Guttenberg erklärte am selben Tag in einer schriftlichen
Stellungnahme, »der Vorwurf«, seine »Doktorarbeit sei ein Plagiat«, sei
»abstrus«,9 machte jedoch nicht deutlich, dass seiner Behauptung eine zwar
korrekte, aber kaum bekannte Definition von »Plagiat« zugrunde lag. Am 17.
Februar veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung zwei weitere
Zitate ohne Quellenangaben. Außerdem wurde GuttenPlag Wiki gegründet,
eine Internetplattform, auf der neue Funde von jedermann öffentlich bekannt
gemacht werden konnten.10 Am 18. Februar gab zu Guttenberg in Berlin in
einer improvisierten Stellungnahme vor Fernsehjournalisten zu, dass seine
Doktorarbeit »fraglos Fehler« enthalte. Er habe aber »zu keinem Zeitpunkt
bewusst getäuscht oder bewusst die Urheberschaft nicht kenntlich gemacht«.
Vielmehr habe er, weil er neben seiner politischen Tätigkeit auf mehreren
Datenträgern Texte gespeichert habe, den Überblick über die Quellen
verloren.11
Am 19. Februar berichtete Spiegel Online, zu Guttenberg habe Gutachten
der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, die er selbst in Auftrag
gegeben habe, ohne Quellenangabe in seine Doktorarbeit eingefügt. Am 20.
Februar veröffentlichten Markus Wehner und Eckart Lohse Belege dafür,
dass zu Guttenberg seinen Lebenslauf an mehreren Stellen geschönt hat,
darunter seine Tätigkeit als freier Journalist bei der Welt.12 Am 21. Februar
dokumentierte GuttenPlag Wiki nicht belegte Zitate auf 271 Seiten der
Doktorarbeit. Am selben Tag bat zu Guttenberg brieflich die Universität
Bayreuth mit der Begründung, ihm seien »gravierende handwerkliche Fehler
unterlaufen«, um Rücknahme des Doktorgrades. Kanzlerin Merkel stellte
sich vor zu Guttenberg mit der sachlich abwegigen Erklärung, sie habe
»keinen wissenschaftlichen Assistenten oder einen Promovierenden« ins
Kabinett berufen. Seine Arbeit als Bundesverteidigungsminister erfülle zu
Guttenberg »hervorragend, und das ist, was für mich zählt«13. Am Abend
desselben Tags trat zu Guttenberg bei einer Wahlveranstaltung der hessischen
CDU in Kelkheim als umjubelter Redner auf, räumte erneut ein, dass er beim
Verfassen seiner Doktorarbeit »gravierende Fehler« gemacht habe und
deshalb auf seinen Titel dauerhaft verzichten wolle. Einen Rücktritt lehnte er
entschieden ab.14 Zwei Tage später, am 23. Februar, erklärte zu Guttenberg
bei einer Fragestunde des Bundestags zwar wieder, er habe eine »fehlerhafte
Doktorarbeit« geschrieben, bezeichnete die Plagiatsvorwürfe aber erneut als
»abstrus«. Am selben Tag gab der Präsident der Universität Bayreuth,
Universitätsprofessor Rüdiger Bormann, bekannt, dass die Universität
Bayreuth zu Guttenberg den Doktortitel aberkenne.15
Zwei Tage nach der Fragestunde des Bundestags warf
Bundestagspräsident Lammert (CDU), der Opposition vor, sie habe zu
Guttenberg nicht danach gefragt, wie viele Fehler er selbst in seiner
Doktorarbeit gefunden habe. An den folgenden Tagen kritisierten die
ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten und Minister Vogel, Böhmer und
Biedenkopf zu Guttenberg mehr oder weniger scharf.16 Die Ministerin für
Bildung und Forschung, Schavan, erklärte laut Süddeutsche Zeitung
(28.02.2010) mit einer Anspielung auf den »Mescalero-Brief«, sie schäme
sich »nicht nur heimlich« und der ehemalige Minister Beckstein forderte laut
stern.de, zu Guttenberg müsse zurücktreten, falls er »im Amt oder vor dem
Bundestag etwas Unwahres gesagt« habe.17 Inzwischen häuften sich kritische
Stellungnahmen aus der Wissenschaft: 70 Dozenten der Universität München
forderten den bayerischen Wissenschaftsminister in einem offenen Brief auf,
dem Eindruck entgegenzutreten, das Verhalten zu Guttenbergs sei ein
»Kavaliersdelikt«. Der Vorsitzende des Philosophischen Fakultätentags,
Gerhard Wolf, kritisierte, in der öffentlichen Diskussion würden
Täuschungsversuche bagatellisiert. Der Präsident des Deutschen
Hochschulverbands, Bernhard Kempen, bezeichnete die »Marginalisierung
wissenschaftlichen Fehlverhaltens durch höchste Repräsentanten unseres
Staates« als empörend – gemeint war jeweils zu Guttenberg.
Die zunehmende Kritik an zu Guttenberg und die wachsende Beweislast
schmälerten zunächst nicht die Beliebtheit zu Guttenbergs bei der
Bevölkerung.18 Nach einer am 23. Februar veröffentlichten Umfrage von
Infratest dimap waren 73 Prozent der Befragten mit seiner politischen Arbeit
zufrieden und 72 Prozent wünschten seinen Verbleib im Amt.19 Zwar hielten
am 1. März 53 Prozent der Befragten seinen Rücktritt für richtig, jedoch
lehnten 72 Prozent sein völliges Ausscheiden aus der Politik ab.20 Noch
Anfang Mai, zwei Monate nach seinem Rücktritt, waren laut TNS Emnid 58
Prozent der Befragten dafür, dass er »nach einer Pause wieder in die
Bundespolitik« zurückkehrt.21 Ende Februar war zu Guttenberg aber mit
einer fast geschlossenen Ablehnungsfront in den Medien, in der Politik und
in der Wissenschaft konfrontiert. Eine bemerkenswerte Ausnahme war Bild.
In dieser Situation hatte zu Guttenberg keine Chance, das Meinungsbild der
relevanten Eliten zu ändern. Am 1. März trat er von seinen politischen
Ämtern zurück, am 3. März gab er sein Bundestagsmandat zurück, am 10.
März wurde er mit einem Großen Zapfenstreich verabschiedet.
Weitere Beispiele für die Unterschiede zwischen Skandalen und
publizistischen Konflikten liefern die Skandalisierungen von Joschka Fischer
und Margret Härtel. Zugleich zeigt Fischers Verhalten eine aufschlussreiche
Alternative zum Verhalten zu Guttenbergs. Am 4. Januar 2001
veröffentlichten Stern, Bild und Welt Fotografien des damaligen
Außenministers, die ihn am 7. April 1973 bei einer gewaltsamen
Demonstration in Frankfurt am Main zeigen. Einige der Aufnahmen hatte die
Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits zwei Tage nach der Demonstration
veröffentlicht. Wenige Wochen später druckte die Wirtschaftswoche die
Bilder nach; später wurden sie in eine umfangreiche Dokumentation der Stadt
Frankfurt aufgenommen. Allerdings blieb Fischer unerkannt. Als Bettina
Röhl, eine Tochter Ulrike Meinhofs, Jahre später bei Recherchen für ein
Buch auf die Fotos stieß und Fischer erkannte, platzierte sie die Bilder in den
genannten Medien. Auf einem der Bilder ist Fischer zu sehen wie er – von
mehreren Demonstranten umringt und durch einen Motorradhelm geschützt –
auf einen Beamten einschlägt. Zusätzliche Brisanz erhielten die Fotografien
durch den Prozess gegen Hans-Joachim Klein, der seit Herbst 2000 in
Frankfurt wegen Mordes beim Terroranschlag gegen die OPEC-Tagung 1975
in Wien angeklagt war. Klein war in den 1970er-Jahren ein Weggefährte
Fischers und hatte 1973 im Auto Fischers Waffen transportiert, darunter die
Pistole, mit der 1981 der hessische Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry
ermordet wurde.22
Die Verteidigung Fischers bereitete der Stern schon auf der Titelseite
seiner Enthüllungsgeschichte vor: »Joschka Fischer über seine Zeit als Sponti
in Frankfurt: ›Ja, ich war militant‹«. Im Blatt schilderte Fischer dann
ausführlich seine Sichtweise der Vorgänge, wobei er sich als Urheber und
Opfer von Gewalt bei Demonstrationen präsentierte. In einem Kasten stellte
das Blatt die als besonders gewalttätig geltende »Putzgruppe« vor, der auch
Fischer angehört hatte. Die Welt zitierte Jutta Ditfurth, die Fischer vorwarf,
noch in den 1990er-Jahren bei innerparteilichen Auseinandersetzungen der
Grünen mit Gewalt kokettiert zu haben, sowie mehrere CDU/CSU-Politiker,
die sich empört über Fischer äußerten. Am 8. Januar brachte der Spiegel eine
Titelgeschichte über die militante Vergangenheit Fischers. Grundlage waren
intensive Recherchen in der Frankfurter »Szene«. Dabei ging es auch um
Fischers Beteiligung an einer gewaltsamen Demonstration anlässlich des
Selbstmords von Ulrike Meinhof 1976, bei der der Polizist Jürgen Weber
durch einen Brandsatz schwerste Verbrennungen erlitt.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte vom 4. bis zum 6.
Januar mehrere verständnisvolle Kommentare und Glossen von Thomas
Schmid, einem früheren Weggefährten Fischers. Er ging auf die Vorwürfe
gegen Fischer nur am Rande ein und charakterisierte seinen Werdegang als
generationstypisch. Die Süddeutsche Zeitung äußerte in zwei Beiträgen am 5.
und 8. Januar Verständnis für die gewaltsamen Demonstrationen der 1970erJahre. Dagegen brachte der NDR in seinem Politmagazin Panorama am 11.
Januar einen Beitrag, in dem eine Zeugin Fischer beschuldigte, er sei für den
Einsatz von Molotowcocktails eingetreten. In der Anmoderation wurde
Fischer aber ausdrücklich zum Verbleib im Amt aufgefordert. Am selben Tag
hieß es in Bild: »Verbrannter Polizist klagt Joschka Fischer an«. Vergleichbar
schwere Vorwürfe gegen Fischer folgten am 15., 19. und 24. Januar. Damit
standen sich wenige Tage nach den ersten Veröffentlichungen zwei
publizistische Lager gegenüber – Medien, die das Verhalten Fischers mehr
oder weniger eindeutig anprangerten, und Medien, die es mehr oder weniger
eindeutig entschuldigten. Zum ersten Lager gehörten vor allem Bild und
Focus, zum zweiten die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Rundschau.
Die Folgen sind bekannt: Fischer blieb Außenminister und wurde in den
folgenden Monaten und Jahren der beliebteste Politiker Deutschlands.
Ganz anders verlief die Skandalisierung von Margret Härtel. Am 28.
November 2002 berichtete die Frankfurter Rundschau, die Hanauer
Oberbürgermeisterin Härtel (CDU) habe zunächst geleugnet, dass sie in
ihrem Dienstwagen eine private Reise nach Warschau unternommen hatte,
um eine Schönheitsoperation vorzubereiten. Am Tag darauf habe sie aber in
einer eilends einberufenen Pressekonferenz zugegeben, dass sie die
»Unwahrheit« gesagt habe. Sie habe »falsch gehandelt, als sie Dienst und
Privatleben nicht klar getrennt habe«, wolle aber einen möglichen Schaden
beheben. Im selben Artikel hieß es, das Haushaltsdefizit der Stadt sei
inzwischen auf mindestens 500.000 Euro gestiegen. In den folgenden Tagen
und Monaten häuften sich Vorwürfe gegen Härtel. Danach hatte sie die
Kosten für ein Hochzeitsgeschenk im Wert von 424 Euro, die Rechnung über
ein Familienessen in Höhe von 650 Euro sowie die Ausgaben für ein privates
Geschenk zum 50. Geburtstag des hessischen Innenministers Volker Bouffier
in Höhe von 388 Euro über die Stadtkasse abgerechnet. Zudem hieß es, sie
habe aus Anlass einer Geburtstagsfeier für den Seniorchef einer PR-Agentur
die Zufahrt zu Schloss Philippsruhe asphaltieren lassen, damit die Ehrengäste
vorfahren konnten. Da die Zufahrt eigentlich gepflastert werden sollte,
musste der Asphalt wieder entfernt werden, was 1.100 Euro kostete.
Gemeinsam war diesen und ähnlichen Vorgängen der Vorwurf einer
unzulässigen Vermischung von Amt und Privatleben. Überlagert wurde er
vom Vorwurf der unsachgemäßen Amtsführung, wodurch erhebliche
finanzielle Belastungen für die Stadt entstanden seien. So warf ihr der
Bürgermeister und Stadtkämmerer Claus Kaminsky (SPD) vor, sie habe am
Magistrat vorbei einen Auftrag für die Aktion »Hanau putzmunter« in Höhe
von 65.000 Euro vergeben.
Härtel beantragte Anfang Januar 2003 als Reaktion auf die Vorwürfe ein
Disziplinarverfahren gegen sich selbst. Die Staatsanwaltschaft nahm ein
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Betrug und Untreue auf, das
in ein Strafverfahren mündete. Nachdem Härtel trotz massiver Forderungen
einen Rücktritt abgelehnt hatte, beschloss der Hanauer Magistrat einstimmig,
ihre Suspendierung zu fordern. »Das Vertrauen«, so Bürgermeister Kaminsky
auch im Namen seiner beiden hauptamtlichen Kollegen von CDU und SPD,
sei »unwiederbringlich zerstört«. Am 10. Februar 2003 stimmten 55 von 56
Abgeordneten für ein Verfahren zur Abwahl der Oberbürgermeisterin. Am
11. Mai waren die Bürger zur Abstimmung aufgerufen. Drei Jahre zuvor war
Härtel mit 50,8 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden. Nun entschied
sich die Mehrheit gegen sie. Neuer Oberbürgermeister wurde Kaminsky. Im
September 2003 wurde vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts
Hanau das Strafverfahren gegen Härtel wegen Verdachts auf Untreue
eröffnet, jedoch sofort ausgesetzt, weil ein Richter einen Großteil der Akten
nicht kannte. Anfang 2004 wurde vor der 5. Großen Strafkammer das
Strafverfahren erneut eröffnet und wenige Tage später wegen geringer Schuld
gegen Zahlung von 4.000 Euro eingestellt. Die Masse der Vorwürfe hatte
sich als haltlos oder unbedeutend erwiesen. Anfang März 2004 wurde auch
das Disziplinarverfahren gegen Härtel eingestellt. Dabei wurde betont, ihr
seien keine beamtenrechtlichen Verfehlungen vorzuwerfen. Während des
gesamten Skandals sah sich Härtel, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, einer nahezu geschlossenen
Front der regionalen Medien gegenüber. Dies hatte nach Ansicht des
zuständigen Richters zu einer Vorverurteilung Härtels geführt. Darin sah das
Gericht neben der geringen Schuld einen Grund für die Einstellung des
Verfahrens. Etwa gleichzeitig tauchte der begründete Verdacht auf, dass
Härtel Opfer einer Intrige von Kollegen und Mitarbeitern geworden war, die
gezielt Material gesammelt hatten, um sie bei einer günstigen Gelegenheit
»fertig zu machen« (FAZ, 09.01.2004).
Warum verlor Härtel ihr Amt, während Fischer im Amt blieb? Auf eine
solche Frage werden meist drei Gründe genannt: die Schwere der Tat, die
Fallhöhe des Täters und die Reputation der publizistischen Angreifer. An der
Schwere der Tat lag es kaum, weil es bei Härtel zwar um kleinere und
größere Geldbeträge ging, bei Fischer aber um Gewaltanwendung mit zum
Teil schweren Folgen sowie um seine Nähe zu einem Mordverdächtigen. An
der Fallhöhe lag es auch nicht, weil der Fall Fischers viel tiefer gewesen wäre
als der Fall Härtels. An der Reputation der publizistischen Angreifer lag es
schon gar nicht – sie war bei Fischer erheblich größer als bei Härtel. Die
üblichen Erklärungen scheiden damit aus. Was bleibt? Der entscheidende
Grund für den unterschiedlichen Verlauf der Skandalisierungen der beiden
Politiker bestand darin, dass die Skandalisierung Härtels sofort zu einem
Skandal führte, während die Skandalisierung Fischers nach wenigen Tagen in
einen publizistischen Konflikt mündete. Die Tatsache, dass Härtel Opfer
eines Skandals wurde, Fischer jedoch Gegenstand eines publizistischen
Konflikts, erklärt zwar, weshalb Härtel ihr Amt verlor, während Fischer im
Amt blieb. Sie wirft jedoch die Frage auf, weshalb die Skandalisierung
Härtels zu einem Skandal führte, während die Skandalisierung Fischers in
einen publizistischen Konflikt mündete? Darauf gibt es mehrere Antworten.
Sie sind auch für den Vergleich der Fälle Fischer und zu Guttenberg
aufschlussreich.
Erstens bekannte sich Fischer, anders als zu Guttenberg, der sich hinter
der Problematisierung des Begriffs »Plagiat« verschanzte, demonstrativ zu
einem Verhalten, das nicht zu leugnen war. Dagegen hatte Härtel versucht,
ihr Verhalten zu vertuschen und wurde bei einer Lüge ertappt. Fischer
gewann Vertrauen, während Härtel Vertrauen verlor. Ähnlich erging es zu
Guttenberg. Zweitens lieferte Fischer, anders als zu Guttenberg, eine
überzeugende Erklärung für sein Verhalten. Er charakterisierte sein Handeln
als Versuch, ein übergeordnetes Ziel zu erreichen – die Veränderung der
Gesellschaft zum Besseren. Dabei stellte sich Fischer als selbstlosen Teil
einer breiten Bewegung dar. Dagegen stand Härtel durch Hinweise auf eine
geplante Schönheitsoperation und auf Vergünstigungen bei ihren Reisen im
Verdacht der persönlichen Bereicherung. Auch bei zu Guttenberg ging es um
persönliche Vorteile, seine Promotion, und nicht um höhere Ziele. Auch
deshalb hatte er mit seiner Beschränkung des Begriffs »Plagiat« auf
absichtliche Täuschungen keinen Erfolg. Drittens solidarisierten sich
zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens mit Fischer. So äußerten sich bei
der Skandalisierung Fischers neben einer Reihe von Politikern der Grünen
auch der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering, der SPDFraktionsvorsitzende Peter Struck, Bundeskanzler Gerhard Schröder,
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und Bundespräsident Johannes Rau
verständnisvoll. Ähnlich eindrucksvolle Entlastungen gab es weder auf
nationaler Ebene bei der Skandalisierung zu Guttenbergs noch im regionalen
Rahmen bei der Skandalisierung Härtels. Viertens folgte der Skandalisierung
Fischers eine Gegenskandalisierung seiner Skandalisierer. In der
Süddeutschen Zeitung (05., 08. und 19.01.2001) diskreditierte Hans
Leyendecker in mehreren Beiträgen die Motive von Röhl, die Fischer auf den
Aufnahmen entdeckt und diese in den Medien platziert hatte. Die Frankfurter
Rundschau (04.01.2001) versuchte am ersten Tag der Skandalisierung
Fischers, den CDU-Politiker Bosbach lächerlich zu machen, weil er den
Rücktritt Fischers gefordert hatte. Die endgültige Wende bewirkte ein Artikel
von Reinhard Mohr im Spiegel (22.01.2001), in dem er die Kritik an Fischer
als Versuch von Konservativen darstellte, die Revolte von 1968 als
»monströsen Irrtum« zu deuten. Eine Woche darauf baute der Spiegel in
seiner Titelgeschichte »Das Gespenst der Siebzigerjahre. Die Gegenwart der
Vergangenheit« diese Argumentation aus. Damit war nicht mehr Fischer das
zentrale Thema, sondern der Umgang seiner Kritiker mit der
Studentenbewegung und ihren Folgen. Zwar veröffentlichten mehrere
Medien, darunter auch der Spiegel, in den folgenden Wochen zum Teil
schwere Vorwürfe gegen Fischer. Sie trafen jedoch auf eine Front von
Politikern und Journalisten, die ihn entlasteten und seine Kritiker ins Unrecht
setzten.
Die Gegenüberstellungen zeigen: Die Risiken, aufgrund fragwürdiger
Verhaltensweisen skandalisiert zu werden, und die Chancen, einen
Skandalisierungsversuch zu überstehen, sind nicht für alle gleich. Einer der
Faktoren, von denen sie abhängen, sind die politischen Präferenzen und
persönlichen Antipathien der Journalisten. Die bereitwillige Übernahme der
Selbstdarstellung Fischers ist auch deshalb bemerkenswert, weil ein
wesentliches Argument seiner Verteidiger offensichtlich falsch war: Das
Verhalten der 1968er-Demonstranten war nicht typisch für eine ganze
Generation, weil an den Protesten allenfalls fünf Prozent der damaligen
Alterskohorte teilgenommen hatten. Zudem war das Verhalten der politisch
motivierten Schlägergruppen der 1970er-Jahre nicht typisch für die 1968erDemonstranten mit ihrem überbordenden Interesse an politischer Theorie.
Beides deutet darauf hin, dass die Verteidiger Fischers den Ausdruck
»generationstypisch« nicht wörtlich, sondern metaphorisch verwendeten:
Fischers Verhalten war nicht typisch für seine Generation. Es war typisch für
das Generationsbewusstsein seiner Verteidiger.23 Mehr als die Hälfte der
1968er-Generation unter den Journalisten hat nach eigener Angabe an
»friedlichen Demonstrationen« teilgenommen, fast die Hälfte hat »Gewalt bei
Demonstrationen«
erlebt,
nahezu
ein
Drittel
war
in
der
»Studentenbewegung« aktiv. Auch wenn die meisten Journalisten in ihrer
Jugend keine gewaltsamen Demonstranten waren, glich die Skandalisierung
Fischers einem Angriff auf ihre Vergangenheit und ihr Selbstverständnis. Bei
der Skandalisierung von zu Guttenberg war die Konstellation völlig anders –
er hatte eine Jugend, die einen Kontrast zu jener der meisten Journalisten
darstellt. Er war er keiner von ihnen.
Die Skandalisierung Fischers wäre aus den genannten Gründen allenfalls
dann erfolgreich gewesen, wenn man ihm eindeutig kriminelle Akte hätte
nachweisen können. Da dies nicht der Fall war, mündete seine
Skandalisierung in einen publizistischen Konflikt über die Bedeutung der
Studentenbewegung für die Bundesrepublik und die Notwendigkeit einer
bruchlosen Biografie. Das führt zu der Frage, weshalb auch Sarrazin bereits
frühzeitig von Journalisten, Publizisten und Medien unterstützt wurde und
warum sich deren Sichtweise am Ende durchsetzte, während zu Guttenberg
kaum Unterstützung fand. Ein wichtiger Grund waren die Interessenlagen:
Bei der Diskussion der Thesen Sarrazins ging es nicht nur um die Interessen
der Migranten, sondern auch um die Interessen der Medien – ihren Freiraum
im Meinungskampf.24 Am Ende war der Schutz der Meinungsfreiheit auch
denjenigen, die Sarrazins Thesen nicht zustimmten, wichtiger als die
Interessen der Migranten. Bei der Diskussion um zu Guttenberg war die
Interessenlage der Medien umgekehrt: Hier ging es ebenfalls um eine
journalistische Berufsnorm – die Sorgfaltspflicht. Hätten die Journalisten zu
Guttenbergs Regelverstöße im Umgang mit Quellen hingenommen, hätten sie
Zweifel an ihrem eigenen Umgang mit Quellen geweckt. Deshalb konnte zu
Guttenberg – von anderen Gründen abgesehen – bei den meisten Journalisten
nicht mit Nachsicht rechnen.
Matthias Rosenthal hat den Einfluss subjektiver Faktoren auf die
Bereitschaft zur Skandalisierung von Politikern nach der FlickParteispenden-Affäre in einem Fragebogen-Experiment systematisch
untersucht.25 Er legte zwei Stichproben von Journalisten eine fiktive
Meldung vor: »Der Ministerpräsident … soll für seine Partei Gelder in Höhe
von etwa 100.000 DM beschafft haben. Aus den Informationen über den
Vorgang geht nicht klar hervor, ob die Geldbeschaffung rechtmäßig oder
rechtswidrig war«. In der einen Hälfte der Fragebögen wurde als
Verdächtigter der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen,
Johannes Rau, genannt, in der anderen der damalige Ministerpräsident von
Bayern, Franz Josef Strauß. Die Einstellung der Befragten zu den Politikern
ermittelte er mithilfe einer Sympathie-Skala. Eine der Testfragen zielte auf
die Erstpublikation eines Verdachts gegen die genannten Politiker. Sie
lautete: »Stellen Sie sich bitte vor, eine Redaktion erhält die … Information
exklusiv vor Redaktionsschluss. Wann sollte sie Ihrer Meinung nach
veröffentlicht werden?« Von den Journalisten, die die Politiker
unsympathisch fanden, erklärten mehr als zwei Drittel, sie würden die
Meldung »sofort publizieren, um das Thema exklusiv im Blatt zu haben«.
Von den Journalisten, die die Politiker sympathisch fanden, war es weniger
als die Hälfte. Sie wollten mehrheitlich »warten, um gründlich recherchieren
zu können«. Weil die meisten Journalisten Rau sympathischer fanden als
Strauß, waren sie eher bereit, den ungeprüften Verdacht gegen Strauß zu
veröffentlichen als den ungeprüften Verdacht gegen Rau. Der Erfolg einer
Skandalisierung hängt auch davon ab, wie intensiv die Redaktionen
Missstände recherchieren und mit welcher Wucht sie ihre Anklagen
publizieren. Journalisten, die die Politiker unsympathisch fanden, waren
häufiger der Meinung, die Redaktion sollte »mehrere Journalisten … für die
Recherche« abstellen. Darüber hinaus waren sie auch eher bereit, die
Vorwürfe zu verallgemeinern und »in einem Bericht oder einem Kommentar
… Parallelen zu früherem zweifelhaften Verhalten« zu ziehen. Ob sich aus
einem Skandalisierungsversuch ein Skandal oder ein publizistischer Konflikt
entwickelt, hängt folglich nicht nur von den möglichen Verfehlungen der
Skandalisierten ab. Genauso wichtig ist die Verteilung der Meinungen über
die skandalisierten Personen unter den Journalisten der meinungsbildenden
Medien.
Einen Test auf die praktische Bedeutsamkeit dieser Befunde liefert der
Vergleich der Skandalisierung der Bundespräsidenten Rau und Wulff.
Nachdem Rau 1999 als Bundespräsident vereidigt worden war, berichteten
im Dezember mehrere Medien über die Bezahlung von Dienstreisen des
damaligen Ministerpräsidenten durch die WestLB. Das führte zur
sogenannten »Flugaffäre«.26 Im Januar 2000 warf eine Zeugin in dem
zwischenzeitlich eingesetzten Untersuchungsausschuss Rau vor, er habe auf
Kosten der WestLB auch Privatreisen unternommen. Anfang Februar
berichtete der Spiegel, die WestLB habe die Kosten für eine Geburtstagsfeier
von Rau mit 1.500 Gästen in Höhe von 150.000 DM übernommen. Mitte
Februar hieß es im selben Blatt, die WestLB habe Wahlkampfreisen Raus
sowie seine Reisen zu SPD-Veranstaltungen finanziert. Wie war das mediale
Meinungsspektrum im Fall Rau? Damals waren laut Media Tenor 14 Prozent
der Aussagen in den Fernsehnachrichten von ARD, ZDF und RTL sowie in
Bild, Spiegel und Focus negativ. Ihnen standen acht Prozent positiver
Aussagen gegenüber.27 Der Negativ-Saldo für Rau betrug folglich sechs
Prozent. Damit war das Verhältnis nahezu ausgeglichen. Die Kritik an Rau
mündete in einen publizistischen Konflikt zwischen ähnlich starken Lagern.
Auch bei der Skandalisierung von Wulff ging es um finanzielle Vorteile,
jedoch um deutlich geringere Beträge – einen günstigen Kredit statt einer
Kostenübernahme – und politisch unbedeutende Sachverhalte –
Urlaubsreisen statt einer Vermischung von Privatund Dienstreisen. Wie sah
die Berichterstattung derselben Medien im Fall Wulff aus? Im zweiten
Halbjahr 2011 waren 41 Prozent der Aussagen über Wulff negativ, zwei
Prozent waren positiv. Der Negativ-Saldo betrug folglich 39 Prozent. Die
Kritik an Wulff entwickelte sich zu einem Skandal, in dem seine Unterstützer
ab Dezember 2011 kaum noch zu Wort kamen. Das ist auch deshalb
bemerkenswert, weil sich einige prominente Personen vor Wulff gestellt
hatten, darunter Ministerpräsident Horst Seehofer, der Filmregisseur Helmut
Dietl und der Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer. Ihre Einwände fanden
aber kaum publizistische Resonanz. Die Folgen entsprachen dem, was
aufgrund der Meinungsverteilung in den Medien zu erwarten war: Rau hat
seine Skandalisierung im Amt überstanden, Wulff nicht. Was waren die
Ursachen der Unterschiede? Wulff und Rau hatten dasselbe Amt inne und sie
hatten denselben Anwalt. Allerdings waren die Verfehlungen Raus
eindeutiger. Mit der Sache selbst – der Fallhöhe der Skandalisierten, ihrer
juristischen Beratung und dem Ausmaß der Verfehlungen – hatten die
Medienmeinungen und ihre Konsequenzen für Rau und Wulff offensichtlich
nichts zu tun. Dagegen dürfte es eine Rolle gespielt haben, dass »Bruder
Johannes«, wie viele Journalisten Rau freundlich-ironisch nannten, in den
Medien und ihrem Umfeld schon lange ein Wohlwollen genoss, das Wulff
von Anfang an fehlte. Wie wichtig dieses Wohlwollen ist, konnte man kurze
Zeit später erneut beobachten. Einen Monat nach Wulffs erzwungenem
Rücktritt berichtete Spiegel Online (13.03.2012), dass Berlins regierender
Bürgermeister Klaus Wowereit kostenlos in einem Privatjet nach London
mitgeflogen und zum Ausgleich für die Gesamtkosten der Reise in Höhe von
5.600 Euro immerhin 300 Euro an einen gemeinnützigen Verein überwiesen
hatte. Ein Skandal, der seinen Verbleib im Amt ernsthaft infrage gestellt
hätte, wurde daraus nicht – vermutlich aus den gleichen Gründen wie im Fall
Rau. Stattdessen verschwand das Thema innerhalb kurzer Zeit aus den
Medien, obwohl Wowereit laut Spiegel Online einen Urlaub bei dem gleichen
Gastgeber verbracht hatte, dessen Gastfreundschaft Wulff genossen hatte.
Was bei Wulff empört berichtet und kommentiert wurde, war bei Wowereit
kaum der Rede wert.
1 Vgl. dazu die Pro- und Contra-Stellungnahmen von Mathias Döpfner »Solidarität mit Jan
Böhmermann!« (Welt am Sonntag, 10.04.2016) und von Jakob Augstein: »Witz, komm raus!«
(Spiegel Online, 18.04.2016) sowie das Meinungsbild der Medien im »Pressekompass: Hat die
Kanzlerin das Richtige getan? Das sagen die Medien« (Spiegel Online, 15.04.2016).
2 Vgl. hierzu auch Kepplinger, Hans Mathias: Die gescheiterte Skandalisierung von Thilo Sarrazin.
3 Lepsius, Oliver / Meyer-Kalkus, Reinhart (Hg.): Inszenierung als Beruf.
4 Vgl. hierzu auch Schirrmacher, Frank: Sarrazins Konsequenz. Ein fataler Irrweg.
5 Vgl. Rüssmann, Ursula: Eine Überdosis Sarrazin. Auf: fr-online.de, 30.09.2010; Reinbold, Fabian:
42 Prozent der Deutschen lehnen Sarrazins Thesen ab. Auf: Spiegel Online, 14.09.2010.
6 Referiert nach Das Erste.de, abgerufen am 14.10.2010. Das Ergebnis ist inzwischen nicht mehr
abrufbar.
7 Vgl. auch Weede, Erich: Demographie, Intelligenz und Zuwanderung.
8 Zur folgenden Chronologie vgl. »Plagiatsaffäre Guttenberg«. Auf: Wikipedia.de [Zugriff:
03.10.2011].
9 Zu dieser und den folgenden Stellungnahmen zu Guttenbergs vergleiche die Dokumentation in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 24.02.2011.
10 Abrufbar unter http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/GuttenPlag_Wiki.
11 Vgl. dazu auch zu Guttenberg, Karl-Theodor / di Lorenzo, Giovanni: Vorerst gescheitert, S. 12–30.
12 Vgl. Wehner, Markus / Lohse, Eckart: Die Studierstube ist seine Bühne nicht. Auf: faz.net,
20.02.2011.
13 Vgl. Merkel stärkt Guttenberg den Rücken. In: Südwest Presse, 21.02.2011, zitiert nach
»Plagiatsaffäre Guttenberg«.
14 Vgl. Fischer, Sebastian / Gebauer, Matthias: Guttenberg tauscht Doktor gegen Karriere. Auf:
Spiegel Online, 22.02.2011; Georgi, Oliver / Bannas, Günter / Kaube, Jürgen: Guttenberg
verzichtet auf Doktortitel. Auf: faz.net, 21.02.2011.
15 Vgl. o. V.: Der Titel ist weg. Auf: BR-online, 24.02.2011.
16 Vgl. zum Folgenden die Zusammenstellung in »Plagiatsaffäre Guttenberg« mit Einzelnachweisen.
17 Vgl. Rettner-Halder, Gabriele: Es wird einsam um Dr. Googleberg. Auf: stern.de, 28.02.2011.
18 Zeitverzögerte Effekte bei Skandalen sind normal (vgl. dazu Kapitel 8). Eine Ursache des auch
dann noch milden Urteils über zu Guttenbergs Plagiate war vermutlich der Gegenstand der
Skandalisierung: Es ging nicht um eines der in Deutschland skandalträchtigen Themen, und den
meisten Menschen waren die Zitierweisen in der Wissenschaft gleichgültig.
19 Vgl. WDR-Pressestelle: Umfrage für ARD-Sendung »Hart aber fair«: Guttenberg beliebter als vor
der Plagiatsaffäre / 72 Prozent der Deutschen wünschen sich, dass er im Amt bleibt. Auf: WDR.de,
23.02.2011.
20 Vgl. Infratest dimap: Rücktritt des Bundesverteidigungsministers spaltet die Deutschen. Auf:
infratest-dimap.de, 01.03.2011.
21 Vgl. Focus, 20/2011.
22 Vgl. zum Folgenden auch Hartung, Uwe: Publizistische Bedingungen politischer Skandale, S.
247–283
23 Vgl. zum Folgenden Ehmig, Simone C.: Generationswechsel im deutschen Journalismus, S. 211.
24 Ähnliche Interessen dürften dazu geführt haben, dass die zunächst überwiegende Kritik an dem
Böhmermanns »Schmähgedicht« von zahlreichen Journalisten zurückgewiesen wurde. Dazu diente
ein breites Spektrum von Argumenten – angefangen vom hohen künstlerischen Wert der
Schmähung bis zur Verteidigung der Meinungsfreiheit in Deutschland.
25 Vgl. zum Folgenden Rosenthal, Matthias: Der Einfluss von Sympathie oder Antipathie auf das
journalistische Verhalten von Tageszeitungsredakteuren bei Konflikten um Politiker.
26 Vgl. Johannes Rau, auf: Wikipedia.de [Zugriff: 26.11.2012]; Focus Online, 27.03.2000 [Zugriff:
26.11.2012]. Siehe auch »Die Flugaffäre von Anfang an. Eine Chronologie«, Spiegel Online,
26.01.2000 [Zugriff: 26.11.2012].
27 Vgl. Media Tenor: Christian Wulff im Vergleich mit Johannes Rau. Bewertung als Hauptakteure;
Rau 8/99–2/00, Wulff 7–12/11.
15. Die Illusion der Wahrheit
Viele Skandalisierungen beruhen auf der Veröffentlichung von neuen
Informationen: Die unzulässig hohen Schadstoffemissionen von VWFahrzeugen erfuhr man erst durch Medienberichte über die
computergesteuerte
Manipulation
von
Abgasmessungen.
Die
Geschäftsbeziehung von Wulff zu Edith Geerkens wurde aufgrund der
Recherchen von Bild-Reportern bekannt. Die Kosten für den Um- und
Neubau des Bischofssitzes in Limburg und den Flug von Bischof Tebartz-van
Elst nach Indien machte der Spiegel publik. Über die sinkende
Treffergenauigkeit des Sturmgewehrs G36 bei hohen Temperaturen und
Dauerfeuer informierten mehrere Medien. Die nicht belegten Zitate in der
Doktorarbeit von zu Guttenberg machten die Medien bekannt und weckten
dadurch berechtigte Zweifel an der Sorgfalt anderer Doktoranden. Die
Mitgliedschaft von Grass in der Waffen-SS entlarvte indirekt seine Kritik am
Besuch Kohls und Reagans auf dem Militärfriedhof Bitburg als
scheinheiligen Opportunismus. Zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch
über einen langen Zeitraum an der Odenwaldschule machte die späte
Skandalisierung der Vorfälle bekannt. Dass Fische von Würmern befallen
sein können, wussten die meisten vor dem Nematoden-Skandal nicht. Auch
wussten sie vor dem Lipobay-Skandal nicht, dass das Medikament tödliche
Nebenwirkungen haben konnte. Von der Übergabe einer Million DM auf
einem Schweizer Parkplatz an Leisler Kiep hätten sie ohne die
Medienberichte ebenso wenig erfahren wie von den nicht ordnungsgemäß
verbuchten Spenden an die CDU.
Viele der neuen Informationen sind Insidern und Experten allerdings
längst bekannt: So hatten zahlreichen Personen im Bistum Limburg schon
lange Kenntnis von den baulichen und finanziellen Problemen von Neu- und
Umbau der Bischofsresidenz. Zahlreiche Experten und Soldaten wussten,
dass das G36 bei Dauerfeuer heiß werden kann und an Treffsicherheit
verliert. Mehrere Freunde von Grass wussten um seine Mitgliedschaft in der
Waffen-SS. Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule waren schon Jahre
zuvor berichtet worden. Geißler wusste schon vor der Geldübergabe an
Leisler Kiep von schwarzen Kassen der CDU. Fachleuten war bekannt, dass
außer der Brent Spar noch andere Rohölspeicher versenkt werden sollten.
Auf diese Details kommt es aber nicht an. Es geht nicht darum, dass Insider
und Spezialisten die relevanten Informationen kennen, sondern dass die
Öffentlichkeit sie erfährt. Es kommt auch nicht darauf an, dass einzelne
Journalisten skandalrelevante Informationen bereits vorher weitgehend
unbemerkt erwähnt haben. Entscheidend ist, dass die Öffentlichkeit
insgesamt auf Missstände aufmerksam gemacht wird – und genau das
geschieht in Skandalen durch die massenhafte Berichterstattung aller oder
fast aller Medien.
Die Bevölkerung erfährt durch die Skandalisierung von Missständen
vieles, was sie bisher nicht wusste. Aber erfährt sie dadurch die Wahrheit?
Dagegen spricht, dass bei fast allen Skandalen auch falsche Behauptungen
verbreitet werden: Wulff hatte im niedersächsischen Landtag die Frage der
Grünen nach einer Geschäftsbeziehung zu Egon Geerkens wahrheitsgemäß
verneint. Der Verdacht, er habe gelogen, wäre nur berechtigt, wenn man
unterstellen würde, dass Geerkens Ehefrau Edith ohne Zustimmung ihres
Mannes keine Finanzgeschäfte tätigen dürfte. Die Darstellung des Indienflugs
von Tebartz-van Elst auf Spiegel Online (22.08.2012) erweckte den falschen
Eindruck, er habe dem Spiegel erst auf Drängen des Reporters die Fakten
eingeräumt. Tatsächlich gab es nichts einzuräumen, weil das Blatt aufgrund
einer Mitteilung des Bistums schon seit mehreren Monaten die Fakten
kannte.1 Nach Aussage von Fachleuten erwärmen sich alle mit dem G36
vergleichbare Schnellfeuergewehre bei Dauerfeuer. Ob das G36 dadurch
weniger treffgenau wird als vergleichbare Waffen, war lange unklar und
erwies sich später als falsch. Falsch waren auch zahlreiche Informationen
über die Ursachen der Ehec-Erkrankungen, über die Gefährdung durch
dioxinbelastete Eier, über die Gefährdung durch die Schweinegrippe und die
Gefährdung durch BSE-kranke Rinder. Falsch waren die dominierenden
Informationen über die Rückstände in der Brent Spar, über den Tod von
Wolfgang Grams und über die Gefährdung der Anwohner im Umkreis der
Hoechst AG. Falsch waren die Informationen über die Verwendung der
anonymen Spenden an Kohl und über den Mord durch Rechtsradikale in
Sebnitz – um nur einige zu nennen. Die Zweifel daran, dass
Skandalisierungen immer richtige Informationen vermitteln, sind berechtigt
und sachlich begründet, allerdings kann man nie ausschließen, dass sich
einzelne Behauptungen als falsch erweisen. Die Möglichkeit des Irrtums ist
eine Voraussetzung für die Erkenntnis der Wahrheit. Wollte man die
Verbreitung von möglicherweise falschen Informationen verhindern, wäre
auch die Verbreitung der Informationen behindert, deren Richtigkeit sich erst
später herausstellt. Dagegen kann man einwenden, dass es sich bei den
falschen Behauptungen gelegentlich um gezielte Fehlinformationen handelt,
die einen Verdacht wecken oder bestätigen sollen. Das trifft vermutlich
vielfach zu, führt aber nicht weiter, weil man kaum beweisen kann, dass die
Beteiligten wider besseres Wissen gehandelt haben. Die Antwort auf die
Frage, ob in Skandalen die Wahrheit gefunden wird, hängt aber vorrangig
nicht davon ab, ob auch falsche Informationen verbreitet werden, sondern
davon, was man unter Wahrheit versteht.
Als Wahrheit oder wahr gilt spätestens seit der Aufklärung das, was in
einem geregelten Verfahren festgestellt wurde. Das Ziel der
Verfahrensmäßigkeit ist die Objektivität der Erkenntnis: Als wahr gilt nur,
was systematisch ermittelt wurde, intersubjektiv nachprüfbar ist und einer
solchen Nachprüfung standhält. Individuelle Erkenntnisse mögen als
Hypothese interessant sein. Als richtig können sie aber nur akzeptiert werden,
wenn verschiedene Beobachter zum gleichen oder annähernd gleichen
Ergebnis gelangen. Zu den Eigenschaften eines geregelten Verfahrens
gehören Richtlinien, die die Interessen der betroffenen Personen schützen.
Bei Tests von Medikamenten sind das die Patienten, bei Strafprozessen die
Angeklagten, bei Bevölkerungsumfragen die Befragten usw. In geregelten
Verfahren ist mit guten Gründen nicht alles erlaubt, was bei einer flüchtigen
Betrachtung der Wahrheit dienen könnte. Deshalb regelt die
Strafprozessordnung, welche Beweise erlaubt und welche im Interesse der
Wahrheit und zum Schutz der Angeklagten unzulässig sind. So dürfen
verdeckte Ermittler nicht generell, sondern nur zur Aufdeckung bestimmter
Straftaten eingesetzt werden (§ 110a). Zeugen dürfen unter bestimmten
Voraussetzungen die Aussage verweigern (§§ 52, 53). Die Vernehmung der
Beschuldigten muss nach genau festgelegten Grundsätzen erfolgen. Die
richterliche Untersuchung muss protokolliert werden, wobei die Anfertigung
des Protokolls bis in alle Einzelheiten hinein geregelt ist (§ 168). Die
wissenschaftliche Methodenlehre legt fest, wie Versuchspersonen auf
Experimental- und Kontrollgruppen verteilt werden müssen und welche
Erhebungsmethoden unzulässig sind. Bei demoskopischen Untersuchungen
dürfen keine Suggestivfragen gestellt und keine Informationen über das
Privatleben anderer Personen erfragt werden. Personenbezogene Daten
dürfen nur im Rahmen des Datenschutzgesetzes gespeichert werden. Im
geregelten Verfahren ist folglich nicht alles erlaubt, was aus der individuellen
Sicht eines Staatsanwalts oder Wissenschaftlers der Wahrheitsfindung dienen
könnte.
Gegen diese Argumentation kann man einwenden, es gebe keine
objektive Wahrheit. Alles, was wir als Wahrheit betrachten, ist danach eine
Folge von individuellen Eindrücken und Wertungen, weshalb es ebenso viele
subjektive Wahrheiten wie Beobachter gibt. Dieser Einwand ist theoretisch
richtig, praktisch jedoch aus zwei Gründen oft irreführend und meist
irrelevant. Aus der Einsicht, dass es nicht möglich ist, die volle Wahrheit zu
erfahren, folgt nicht, dass alle Aussagen gleichermaßen falsch sind. Es gibt
immer bessere und schlechtere Annäherungen an die Realität, und es kommt
darauf an, die besseren von den schlechteren zu unterscheiden. Das ist die
zentrale Aufgabe der Wissenschaft, des Journalismus, des Handwerks usw.
Zudem genügt in der Praxis meist schon eine hinreichende Annäherung an
die Realität – die bestmögliche ist nicht erforderlich. Kein Maler kennt die
tatsächliche Größe der Räume, die er anstreicht, weil er ihre Länge, Breite
und Höhe nicht auf tausendstel Millimeter genau ausmisst. Sowenig wie bei
Malern geht es bei Skandalen um die exakte Erkenntnis. Ob Shell die
Schadstoffe in der Brent Spar auf ein Gramm genau angegeben hat, ob orthoNitroanisol in extremen Dosen krebserregend ist oder ob Kohl von den
Spenden 100.000 oder 200.000 DM in den alten statt in den neuen Ländern
ausgegeben hat, ist für die Beurteilung des Kerns der Problematik genauso
irrelevant wie die Frage, ob von 2.800.000 getesteten Rindern 120 oder 130
infiziert waren. Solche Abweichungen ändern an der Diagnose und den
daraus abgeleiteten Folgerungen nichts. In allen Fällen geht es nicht um die
Bestimmung absoluter Größen, sondern um sachlich angemessene
Näherungswerte, die man in den meisten Fällen mit hinreichend großer
Genauigkeit erkennen kann.
Ein wesentliches Ziel von geregelten Verfahren besteht darin, dass
gleiche Sachverhalte gleich behandelt und in Relation zu anderen
Sachverhalten gesetzt werden. So sollen ähnliche Vergehen ähnlich bestraft
werden, und die Strafe für eine Tat soll in einem angemessenen Verhältnis zu
den Strafen für vergleichbare Taten stehen. Das trifft auf Skandale nicht zu.
Typisch für Skandale ist die Ungleichbehandlung ähnlicher Sachverhalte.
Das gilt sowohl für die Beurteilung ähnlicher Sachverhalte zu verschiedenen
Zeiten als auch für die Beurteilung ähnlicher Sachverhalte im gleichen
Zeitraum. Die Mitgliedschaft von Grass in der Waffen-SS wurde als
Jugendsünde abgetan, die Bemerkung von Herman über die Rolle des
Mutterbildes im Dritten Reich löste Empörung aus. Die Privatflüge von
Özdemir und Gysi kosteten sie ihre politischen Ämter, Schmidt blieb trotz
der privaten Nutzung ihres Dienstwagens in Spanien im Amt. Die anonymen
Spenden an den ehemaligen Schatzmeister der SPD wurden kaum zur
Kenntnis genommen, die Spenden an den ehemaligen CDU-Vorsitzenden als
Verfassungsbruch gegeißelt. Die Risiken der Kernkraft in Japan wurden nicht
seriös mit den Risiken der Kernkraft in Deutschland verglichen. Die Risiken
der Kernkraft in Deutschland wurden nicht den Risiken eines Ausstiegs
gegenübergestellt – der Entwicklung der Strompreise, der Gefährdung der
Versorgungssicherheit, des Klimas durch Kohlekraftwerke, der Wälder und
Kulturlandschaften durch Windräder.
Die Skandalisierung von Missständen beruht auf der Ausschaltung bzw.
Umkehrung der Prinzipien von geregelten Verfahren. Das gilt sowohl für
rechtliche Regelungen als auch für journalistische Berufsnormen. Im Skandal
erscheint vieles erlaubt, was normalerweise unzulässig ist: Illegal beschaffte
Informationen werden veröffentlicht – vom Stern das von der Stasi abgehörte
Telefonat zwischen Kohl und Biedenkopf. Informanten werden für ihre
Aussagen bezahlt – vom Spiegel eine Zeugin für ihre Aussagen gegen Rau in
der Flugaffäre oder von der Bunten mehrere Zeuginnen im Kachelmann-
Prozess. Gutachter werden diskreditiert, bevor sie im Gerichtssaal ihre
Ergebnisse und Folgerungen präsentieren können – im selben Verfahren.
Anonyme Anschuldigungen werden veröffentlicht – so von der Leipziger
Volkszeitung über angebliche Spenden der Firma Bosch an Kohl und Teufel
und vom Spiegel nach dem Tod von Grams in Bad Kleinen. Beschuldigte
werden vor Beginn eines Verfahrens wie Schwerverbrecher vor laufenden
Kameras abgeführt – so Klaus Zumwinkel. Mehrdeutige Informationen und
ungeklärte Vorwürfe werden systematisch gegen die Skandalisierten
interpretiert und gezielt gegen sie eingesetzt – wie bei den Skandalisierungen
von Mixa, Köhler, Wulff, Tebartz-van Elst und Edathy.
Im Zusammenhang mit dem VW-Abgasskandal wurden Unternehmen wie
Mercedes, Porsche und Audi als Verdächtige behandelt, obwohl sie zum
Schutz des Motors bei niedrigen Temperaturen sogenannte »Thermofenster«
regelkonform zur Reduzierung der Abgasreinigung genutzt haben. Scheinbar
alarmierende Messwerte werden ohne Hinweis auf ihre geringe Bedeutung
publiziert – wie die Behauptungen über die radioaktive Belastung von Molke
und über die Reststoffe in der Brent Spar. Wichtige Informationen, die der
dominierenden Sichtweise widersprechen, werden unterschlagen oder
diskreditiert – wie die Feststellungen, dass das bei der Hoechst AG
ausgetretene ortho-Nitroanisol keine Gefahr darstellte; dass die Belastung
von Eiern und Schweinefleisch mit Dioxin gesundheitlich unbedenklich war;
dass ähnliche Probleme wie beim G36 auch bei anderen Sturmgewehren
auftreten und dass nur ein Bruchteil der Kosten für den Um- und Ausbau des
maroden Bischofssitzen in Limburg auf die Privaträume des Bischof entfiel.
Auch bei bedeutenden Skandalen zentrale Sachfragen nicht einmal gestellt,
geschweige denn beantwortet. Ein Beispiel dafür ist der VW-Abgasskandal.
Zwar wurde die Manipulation von Messergebnissen zu Recht skandalisiert.
Die Größe der Differenzen zwischen den angeblichen und tatsächlichen
Emissionen bei z. B. 100.000 Autos mit durchschnittlich 15.000 Kilometer
Laufleistung pro Jahr wurde aber genau so wenig thematisiert wie die
Auswirkungen dieser erhöhten Emissionen auf das Klima – etwa im
Vergleich zu den Emissionen eines deutschen Kohlekraftwerkes. Auch
hierbei kommt es nicht auf exakte Werte an. Aber ohne eine Vorstellung von
Größenordnung des Schadens ist ein rationales Urteil über die
Gesamtproblematik nicht möglich. Die künstliche Empörung verhindert nicht
nur oft die sachliche Diskussion von realen Problemen. Zuweilen dient sie
sogar dazu, eine sachliche Diskussion von solchen Problemen zu
unterbinden. Ein Bespiel ist die Skandalisierung der Dresdner Rede von
Sibylle Lewitscharoff wegen einiger polemischer Ausdrücke, die eine
rationale Diskussion über die Rolle der Apparatemedizin zur
Lebensverlängerung von Sterbenskranken und des Missbrauchs von
Leihmüttern zur Beglückung von Kinderlosen verhinderte. Bei der
Berichterstattung über alle genannten Fälle gab es Medien, die sachliche
Informationen verbreitet haben. Hierbei handelte es sich jedoch um
Ausnahmen in einem Chor alarmierender Stimmen.
Bei jedem geregelten Verfahren besteht die Gefahr von
Verfahrensfehlern. Gelegentlich werden Richtlinien aus Unkenntnis oder
Nachlässigkeit nicht hinreichend beachtet. Zuweilen lassen sich kleinere
Regelverletzungen praktisch nicht vermeiden. Mitunter überschreiten
Staatsanwaltschaften die Grenzen ihrer Ermittlungstätigkeit – weshalb der
Verfassungsjurist Gernot Fritz im Fall Wulff Strafanzeige gegen die
Staatsanwaltschaft Hannover gestellt hat,2 sie stecken Informationen durch –
wie die Staatsanwaltschaft Bochum vor der Verhaftung von Klaus
Zumwinkel, oder sie schützen ihre Ermittlungsergebnisse unzureichend –
deshalb konnten mehr als 1.000 Beamte die Akte von Hoeneß einsehen.3
Zudem gibt es schwerwiegende Regelverstöße, die das gesamte Verfahren
und seine Ergebnisse zunichtemachen. Folglich werden nicht alle Täter für
ähnliche Taten tatsächlich ähnlich bestraft. Zuweilen werden auch eklatante
Fehlurteile gefällt – wie die Einweisung von Gustl Mollath in die Psychiatrie;
es werden falsche Analyseergebnisse publiziert – wie die Daten des
Physikers Jan Hendrik Schön aus seiner Tätigkeit bei den Bell Laboratories;
es werden richtige Erkenntnisse verschwiegen – wie lange Zeit die Daten zur
stockenden Erderwärmung. In einem Rechtsstaat akzeptieren jedoch Juristen
keine Beweise, die durch die offenkundige Missachtung von
Verfahrensregeln zustande kamen, und Wissenschaftler übernehmen keine
Erkenntnisse, die durch die erkennbare Verletzung von Methodenregeln
gewonnen wurden – nicht weil sie bessere Menschen sind, sondern weil sie
damit ihre berufliche Existenz riskieren würden. Im Unterschied zu
Skandalisierern rechtfertigen sie solche Regelverletzungen auch nicht mit den
so gewonnenen Erkenntnissen, weil die so gewonnenen Informationen
generell nicht als Erkenntnisse betrachtet werden. Dabei spielt es keine Rolle,
ob die Regeln im Interesse der Wahrheitsfindung oder aus Eigennutz verletzt
wurden – aus politischen Motiven, finanziellen Gründen oder aus
Profilierungssucht.
Im Gegensatz dazu stellen bei Skandalen auch schwere Verletzungen der
Regeln das, was als Wahrheit erscheint, nicht generell infrage. Das geschieht
nur dann, wenn Regelverletzungen – wie der Rufmord an der Bevölkerung
von Sebnitz oder die Lüge, mit der Bettina Schausten im ARD/ZDF-Interview
Wulff ins Unrecht setzen wollte – zu groben und zugleich unbezweifelbaren
Irrtümern führen. In vielen Fällen bilden Regelverletzungen die Grundlage
der skandalträchtigen Sichtweise, ohne dass das moniert wird – bei der
Skandalisierung von möglichen Missständen durch illegal beschaffte
Informationen im Fall der Panama Papers; bei der Skandalisierung komplexer
Äußerungen durch irreführende Kürzungen im Fall Lewitscharoff; bei der
Skandalisierung der Kernenergie in Deutschland nach der Reaktorkatastrophe
in Japan durch das Verschweigen oder Bagatellisieren ihrer spezifischen
Ursachen – riesige Wellen als Folge eines Tsunamis, zu niedrige
Schutzmauern, verspätete Gegenmaßnehmen, fehlende Ersatzteile wegen der
vom Tsunami zerstörten Infrastruktur. Falls bei Skandalen dennoch einmal
die Zulässigkeit von Regelverletzungen öffentlich diskutiert wird, ist nicht
die Ermittlung der Wahrheit das relevante Urteilskriterium, sondern das
Interesse der Öffentlichkeit. Die Fragen, wer das Interesse der Öffentlichkeit
definiert und ob die Befriedigung dieses Interesses die Wahrheitsfindung
fördert, werden dabei allerdings nicht gestellt.
Ein Ziel von geregelten Verfahren ist die Einordnung der Einzelfälle in
den Kontext ähnlicher Fälle sowie ihre entsprechende Beurteilung. Dazu
gehören im Strafverfahren die Umstände der Straftat, bei Umfragen die
Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse, bei Risikoabwägungen die
Wahrscheinlichkeit von Unfällen usw. Charakteristisch für Skandale ist
dagegen die isolierte Betrachtung und Verallgemeinerung von Einzelfällen.
Bei der Skandalisierung von Politikern, Unternehmern und anderen Personen
geschieht das durch die Darstellung von Ausnahmefällen als symptomatisch.
Einzelne Verhaltensweisen erscheinen als typisch für einen Politiker, seine
Partei, die politische Klasse oder das politische System. So wurde bei der
Skandalisierung von Wulff sein Anruf bei Diekmann als einzigartige
Entgleisung präsentiert, obwohl ähnliche Anrufe immer wieder vorkommen.
Zudem wurden die Vorwürfe gegen Wulff fast nie im naheliegenden Kontext
der Vorwürfe gegen Rau diskutiert, und falls das geschah, wurde Wulffs
damalige
Rücktrittsforderung
an
Rau
gegen
sein
späteres
Beharrungsvermögen im Amt ins Feld geführt. Bei der Skandalisierung von
Schäden geschieht die Verallgemeinerung meist dadurch, dass die sehr
geringe Wahrscheinlichkeit von Einzelfällen nicht erkennbar ist und damit
die geringe Gefahr einer Schädigung ausgeblendet wird.4 Konsequenzen
dieser Problemverkürzung sind die Desorientierung der Bevölkerung über
das Ausmaß der Gefährdung, die übertriebene Verängstigung der Bürger und
erhebliche wirtschaftliche Schäden für die Produzenten und den Handel.
Im Recht wie in der Wissenschaft ist das, was als Wahrheit erkannt und
bekannt gemacht wird, das Ergebnis der Abwägung von Einzelinformationen.
Das gilt auch dann, wenn es am Anfang eine klare Vermutung gibt. Die
Wahrheit steht folglich erst am Ende des geregelten Verfahrens fest. Bis
dahin müssen alle möglichen Folgerungen gleichermaßen berücksichtigt
werden. Alles andere gilt als Vorverurteilung bzw. Vorurteil. Im Skandal
dagegen steht das, was als Wahrheit betrachtet und publiziert wird, von
Anfang an fest. Die Wahrheit folgt nicht aus der Abwägung der schrittweise
erkennbaren Einzelbefunde. Die nacheinander erkennbaren Einzelbefunde
werden vielmehr im Licht der am Anfang etablierten Sichtweise stimmig
interpretiert. Nur wenn es am Anfang gelingt, eine skandalträchtige
Sichtweise zu etablieren, erscheinen die Einzelbefunde skandalös. Zwar
werden zuweilen auch im Recht und in der Wissenschaft Einzelinformationen
so interpretiert, dass sie zu den etablierten Vorstellungen passen. Was dort
jedoch der nicht tolerierbare Sonderfall ist, ist im Skandal der allgemein
akzeptierte Normalfall.5
Erweist sich im Skandal die zentrale Behauptung als falsch, wird auf
andere Sachverhalte verwiesen, die das Verhalten der Angeprangerten
skandalös erscheinen lassen. Auf diese Weise werden Sachverhalte, die im
Vergleich zur zentralen Behauptung unerheblich sind und alleine kaum
Beachtung finden würden, zum Beweis für die Richtigkeit des zentralen
Vorwurfs.
Im
Fall
des
ortho-Nitroanisol-Unfalls
wurden
Kommunikationsfehler der Unternehmensleitung zum Ersatz für die
unzureichende Giftigkeit der Chemikalien. Im Fall von BSE wurden
Anklagen gegen Viehtransporte und Schlachtpraktiken zum Ersatz für den
geringen Anteil erkrankter Tiere. Im Fall der Gedenkrede Jenningers wurde
seine falsche Intonation zum Ersatz für den Mangel an inhaltlichen Fehlern.
Im Fall des AKW Krümmel diente die unzureichende Information des
Unternehmens über einen kerntechnisch irrelevanten Brand zur
Rechtfertigung der dramatisierenden Berichte über einen vermeintlich
gefährlichen Störfall. Im Fall von Wulff wurden substanzlose
Herabsetzungen seines Charakters und seiner Amtseignung zum Ersatz für
die substanzarmen Vorwürfe, die ihn aus dem Amt getrieben haben.
Kein Verfahren liefert immer richtige Ergebnisse. Die Geschichte der
Wissenschaft ist auch eine Geschichte der wissenschaftlichen Irrtümer, die
des Rechts auch eine der Justizirrtümer usw. Solche Fehler geschehen selbst
dann, wenn alle Regeln beachtet werden – weil die theoretischen Annahmen
falsch waren, weil Messungen zu ungenau waren, weil sich Beobachter geirrt
haben, weil neue Zeugen aufgetaucht sind, weil falsche Schlüsse gezogen
wurden usw. Die entscheidende Frage lautet deshalb nicht, ob Gerichte oder
Forschungsinstitute bzw. einzelne Fachleute immer Recht haben. Das trifft
zweifellos nicht zu. Die entscheidende Frage lautet, wer eher irrt – Experten
oder Laien – und wann solche Irrtümer größer sind – bei der Durchführung
von geregelten Verfahren oder bei intuitiven Vorgehensweisen. Die Antwort
darauf ist eindeutig. Selbst wenn gelegentlich die individuelle und intuitive
Einsicht von Laien dem geregelten Verfahren durch Experten überlegen ist,
stellt sie keine Alternative dazu dar, weil geregelte Verfahren trotz ihrer
Fehleranfälligkeit per Saldo dem, was langfristig als Wahrheit betrachtet
werden kann, in der Regel weitaus näher kommen.
Bei einem geregelten Verfahren werden Fakten und Folgerungen in einem
Abschlussbericht dokumentiert – in der Begründung von Gerichtsurteilen, in
wissenschaftlichen Forschungsberichten usw. Auch nach dem Ende von
Skandalen erscheinen neben Gesamtdarstellungen von Angreifern und
Opfern gelegentlich Analysen von unbeteiligten Experten. Zudem erstellen
Pressearchive
und
einzelne
Medien
zuweilen
resümierende
Gesamtdarstellungen.
Diese
findet
man
jedoch
allenfalls
in
Qualitätszeitungen. Darüber hinaus gibt es für viele Fälle ausführliche
Dokumentationen im Internet. Aber auch sie erreichen die Masse des
Publikums nicht und hinterlassen folglich – im Gegensatz zu den
Skandalberichten – keine erkennbaren Spuren. Die Mehrheit der Bevölkerung
glaubt am Ende nicht das, was inzwischen erwiesen ist, sondern das, was sie
vorher überall massenhaft gelesen, gehört und gesehen hat. Je länger ein
Skandal dauert, desto größer wird die Kluft zwischen dem, was die Mehrheit
zu wissen glaubt, und dem, was man tatsächlich wissen kann. Dafür sind
nicht nur die Medien verantwortlich. Selbst wenn sie am Ende eines Skandals
den erreichten Erkenntnisstand mit der gleichen Wucht publizieren würden
wie am Anfang die Vorwürfe, würden das nur wenige verfolgen, weil sich
das Interesse längst anderen Themen zugewandt hat. Die großen Skandale
sind deshalb meist die Ursache von großen Kollektivirrtümern, und die
Mehrheit kehrt nach einiger Zeit nicht deshalb zu ihren Gewohnheiten
zurück, weil sie nun die Wahrheit kennt, sondern weil sie das, was sie noch
immer für die Wahrheit hält, nicht mehr ernst nimmt. Deshalb tanken die
Menschen wieder bei Shell, essen Fische aus der Nordsee, Rindfleisch,
Schweinefleisch und Eier und reichern ihren Salat mit Sprossen an, deren
Herkunft sie nicht kennen.
Zu jedem geregelten Verfahren gehört schließlich die Möglichkeit der
Revision. Im Rechtswesen ist dies durch spezielle Instanzen gewährleistet. In
der Wissenschaft wird die Revision von Erkenntnissen mit Ansehen honoriert
und ist dadurch fest institutionalisiert. Das schlägt sich im beruflichen
Selbstverständnis nieder, wie eine Befragung von Journalisten und
Wissenschaftlern belegt.6 Die meisten Wissenschaftler finden es richtig,
wenn Kollegen, die gegen wissenschaftliche Verfahrensregeln verstoßen
haben, in der Öffentlichkeit namentlich kritisiert werden. Dagegen kann man
den Einwand erheben, dass sie sich in der Praxis häufig nicht daran halten.
Das trifft zu. Journalisten lehnen aber eine solche Kollegenkritik selbst in der
Befragungssituation fast einhellig ab. Sie halten zwar eine interne Kritik am
beruflichen Fehlverhalten von Kollegen für notwendig, betrachten die
Öffentlichkeit jedoch nicht als den richtigen Ort dafür. Dieses fragwürdige
Selbstverständnis vieler Journalisten ist einer der Gründe dafür, dass man von
den meisten Missständen im Journalismus – im Gegensatz zu den meisten
Missständen in anderen Tätigkeitsbereichen – durch die Medien nichts
erfährt.7
Die Neigung, Missstände im Journalismus in den Medien
herunterzuspielen, schlägt sich auch, falls die Missstände einmal aufgegriffen
werden, in der Intensität der Berichterstattung nieder. Das zeigen die
Ergebnisse einer Analyse der Berichterstattung über vier Missstände im
Journalismus – die Skandalisierung der Bürger von Sebnitz, die
Veröffentlichung der »Hitler-Tagebücher«, die manipulierten Reportagen des
Fernsehjournalisten Michael Born sowie die erfundenen Berichte des
Reporters Tom Kummer – und über vier Missstände in anderen
Tätigkeitsbereichen – der Betrug mit Herzklappen, die Nebenwirkungen von
Lipobay, die private Nutzung dienstlich erworbener Bonusmeilen und die
Vermischung von Privatleben und Amtsführung durch Härtel.8 Über die
Missstände in den anderen Tätigkeitsbereichen veröffentlichten zehn
untersuchte Zeitungen und Zeitschriften nahezu doppelt so viele Beiträge wie
über die Missstände im Journalismus. Falls die Journalisten einen Missstand
im Journalismus aber thematisierten, kritisierten sie ihre Kollegen härter als
die Urheber der Missstände in den anderen Bereichen.
Im Skandal findet schließlich im Unterschied zum geregelten Verfahren
eine Revision nicht statt. Die Wortführer treten, wenn sich ihre Sichtweise als
falsch oder unhaltbar erweist, stillschweigend von der Bühne ab. Die meisten
Skandale verebben deshalb nach einiger Zeit, ohne dass man es richtig
bemerkt. So hat der Spiegel, nachdem er 1991 wochenlang einen Klima-GAU
als Folge des Golfkriegs vorhergesagt hatte, seine falschen Prognosen nicht
revidiert, sondern die Berichterstattung eingestellt.9 Bild hat seine
dramatischen Warnungen vor der Schweinegrippe nicht selbstkritisch
korrigiert sondern stattdessen die Länder kritisiert, die wegen der künstlichen
Hysterie zu viel Impfstoffe beschafft hatten. Die Rhein Main Presse hat ihre
Skandalisierung von angeblichen Misshandlungen in einer katholischen Kita
nicht bedauert, sondern die katholische Kirche wegen ihres Übereifers
kritisiert. Ist ein schadloser Rückzug nicht möglich, bleiben die Wortführer
oft auch dann bei ihrer Sichtweise, wenn sie sich als falsch herausgestellt hat.
So verteidigte das Fernsehmagazin Monitor seine Darstellung des Todes von
Grams auch dann noch, als sie durch mehrere Gutachten widerlegt worden
war.10 Und wenn die Gerichte nicht so verfahren, wie es die Skandalisierer
erwarten, sind sie empört. So wetterten vor allem die in der CDUSpendenaffäre besonders engagierten Blätter gegen die Einstellung des
Ermittlungsverfahrens gegen Kohl. Und nachdem die Staatsanwaltschaft und
der Vatikan die Eröffnung von straf- und kirchenrechtlichen Verfahren gegen
Tebartz-van Elst abgelehnt hatten, skandalisierten vor allem Journalisten, die
bereits die Kampagne gegen Tebartz-van Elst angeführt hatten, die Gerichte
bzw. den Vatikan.11
Besonders Eindrucksvoll waren diese Selbstrechtfertigungen am Ende der
ebenso erfolgreichen wie fragwürdigen Skandalisierung von Wulff. Nach
seinem Rücktritt stellte Hanfeld in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
(18.02.2012) die rhetorische Frage: »Ende einer Hetzjagd?« und erklärte
vorsorglich: »Christian Wulff hat sich alles selbst zuzuschreiben«. Diekmann
verbreitete am selben Tag in Bild die Einsicht: »Ist Christian Wulff Opfer
einer ›Medienkampagne‹ geworden? Nein. Ist er nicht. Er ist das Opfer seiner
selbst geworden«. Einen Tag später legte der Chefredakteur der Welt am
Sonntag, Peters, nach: »Schuld an der Affäre sind nicht die Medien …,
schuld ist nicht die Justiz und auch nicht die Politik. Schuld ist Christian
Wulff, ein Opfer seiner selbst«. Das angeblich falsche Verhalten von Wulff
mutierte zum Ersatz für die nachweislich substanzlosen Vorwürfe gegen ihn
und etablierte das Schema für die Endabrechnung. Als absehbar war, dass
Wulff das Vergleichsangebot der Staatsanwaltschaft ablehnen würde, warf
ihm Ralf Heidenreich in der Rhein Main Presse (08.04.2013) vor, dass er
einen Freispruch wolle. Wulff gehe »leider so vor, wie wir das bereits von
ihm kennen: nur sich selbst im Blick und … ohne jede Rücksicht auf das so
wichtige Amt des Bundespräsidenten. Für dieses wäre es sicher besser …
gegen Zahlung von 20.000 Euro und der Zuweisung von ein ›bisschen‹
Schuld das Verfahren einzustellen«.
Nachdem Wulff die Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldzahlung
abgelehnt hatte, fragte Bild (14.11.2013) zwölf sorgfältig ausgewählte
Chefredakteure anderer Medien, ob »der Rücktritt von Wulff aus heutiger
Sicht richtig« gewesen sei. Alle außer einem – Roland Tichy von der
Wirtschaftswoche – antworteten mit einem klaren Ja. Die Frage von Bild, ob
»der Prozess gegen Christian Wulff richtig« sei, beantworteten sieben
eindeutig mit ja, drei wichen einer klaren Antwort aus und zwei verneinten
die Frage. Damit waren die Mehrheitsverhältnisse klar. Daran änderte sich
auch nichts, als Wulff freigesprochen wurde, weil es nach Richter Frank
Rosenow »schlicht keine schlagkräftigen Beweise gegen die Angeklagten«
gab.12 Kritik am Urteil kam zwar angesichts der Dürftigkeit der Grundlagen
für die Anklage nicht auf. Allerdings erteilte Thorsten Denkler, der das
Schema zur Skandalisierung von Wulff vorgegeben hatte, Wulff am Ende des
Prozesses auf Sueddeutsche.de (27.02.1014) noch eine Bewährungsauflage:
»Der Geschmähte« erhalte, so Denkler, »eine neue Chance«. Der Freispruch
könne für Wulff »ein Neuanfang sein. Dazu müsste er allerdings anfangen zu
verstehen, warum sein Rücktritt als Bundespräsident unvermeidlich war«.
Sein Rücktritt bleibe richtig, denn »wer den Fall Wulff verstehen will«, dürfe
»nicht allein auf den Freispruch schauen«, er müsse sich »auch an den
Anfang erinnern«, womit er allerdings nicht seine eigene Rolle meinte.
Bei Skandalen wird die Wahrheit meist nicht deshalb verfehlt, weil
Journalisten lügen. Die Wahrheit wird verfehlt, weil die Wortführer und ihre
Anhänger bedingungslos an die Richtigkeit ihrer Sichtweisen glauben, weil
sie in diesem Glauben Übertreibungen im Interesse der guten Sache
hinnehmen, und weil sie aus dem gleichen Grund Fakten diskreditieren, die
ihnen sonst heilig sind. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn
Tatsachenbehauptungen
falsch
sind,
die
auf
skandalträchtigen
Überzeugungen beruhen – wie im Fall des kleinen Joseph. So hieß es nach
der Klärung des Sachverhalts in der Frankfurter Rundschau (30.11.2000)
unbeirrt: »Das Beklemmende ist, dass Sebnitz der plausible Schauplatz einer
mörderischen Handlung aus rechtsradikalen Motiven hätte sein können …
Der Sebnitz-Verdacht war indes nicht nur eine illusionäre allein
westdeutscher Überheblichkeit entspringende Projektion«. Die eigene
Sichtweise war folglich auch dann noch kein folgenschwerer Irrtum, als sich
die davon gesteuerte Tatbeschreibung als falsch erwiesen hatte. Der Ort
erschien selbst dann noch als plausibler Schauplatz der Gräueltat, als man
wusste, dass sie nicht stattgefunden hatte.
Nachdem Wulff sein Buch »Ganz oben. Ganz unten« zunächst in Berlin
und dann in München vorgestellt hatte, berichteten einige Journalisten
sachlich über seine Kritik an den Medien, darunter Roland Nelles und drei
Kollegen auf Spiegel Online (10.07.2014), Peter Tiede in Bild (11.06.2014),
Eckart Lohse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.06.2014) und Peter
Fahrenholz in der Süddeutschen Zeitung (17.07.2014). Keiner von ihnen
setzte sich jedoch kritisch mit den entscheidenden Weichenstellungen
auseinander – der Frage, was problematischer war: der drohende Anruf von
Wulff bei Diekmann oder die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses durch
Diekmann und andere; keiner diskutierte die Diskrepanz zwischen der Art,
Zahl und Heftigkeit der medialen Vorwürfe gegen Wulff und dem Befund
von Richter Rosenow, es gebe »schlicht keine schlagkräftigen Beweise gegen
die Angeklagten«; keiner stellte die alles entscheidende Frage, ob die bereits
erwähnte Behauptung von Stefan Niggemeier (15.06.2014) zutrifft, dass Bild
»Wulff mit einer Falschmeldung« gestürzt hatte, und keiner warf die Frage
auf, was daraus folgt, dass die Masse der Medien dabei Beifall gespendet
hatte.
Warum ist das so? Liegt es nur daran, dass viele engagierte Journalisten
Opfer ihres eigenen Engagements geworden sind? Dass sie am Ende
felsenfest geglaubt haben, was sie am Anfang vielleicht nur vermutet haben?
Wahrscheinlich nicht. Hinzu kommen sozialpsychologische Gründe. Hierzu
gehört die öffentliche Festlegung der Skandalisierer auf eine bestimmte
Sichtweise. Wer sich in einer bedeutsamen Frage derart exponiert hat, kann
davon ohne massive Selbstzweifel nicht abrücken. Zudem würde er Kritik
aus der selbst mitbegründete Glaubensgemeinschaft riskieren. So wurde
Leyendecker wegen der Berichtigung eines Irrtums bei der Skandalisierung
Kohls in der Spendenaffäre in zahlreichen Leserbriefen von empörten Lesern
kritisiert. In einem solchen Fall droht den Skandalisierern in milder Form was
sie dem Skandalisierten zugefügt haben – die Isolation in ihrer
Bezugsgruppe. Eine weitere Ursache für das Insistieren auf der einmal
etablierten Sichtweise ist der Charakter der Anschuldigungen. Mit ihnen
bewegen sich die Skandalisierer auf dem schmalen Grat zwischen
Aufklärung und Verleumdung, und das Eingeständnis des Irrtums würde sie
unweigerlich abstürzen lassen: Sie würden genau das verlieren, was sie am
meisten beanspruchen – höhere Moralität.
Einzelne Gerichte und Forschungsinstitute mögen irren, und sie tun das
immer wieder. Rechtswesen und Wissenschaft sind jedoch auf
Wahrheitsfindung angelegt. Je mehr Personen und Institutionen an der Suche
beteiligt sind, desto eher kommen sie zum Ziel. Für den Journalismus gilt im
Skandal das Gegenteil. In fast allen Skandalen entdecken, dokumentieren und
analysieren einzelne Journalisten Missstände und ihre Ursachen, und sie
leisten damit einen erheblichen Beitrag zur Wahrheitsfindung. Die BNDAffäre, der Fall zu Guttenberg und der Fall der Odenwaldschule sind
Beispiele hierfür aus jüngerer Zeit. Die Medien insgesamt sind dazu aber oft
nicht in der Lage. Je mehr Journalisten sich an der Skandalisierung eines
Missstands beteiligen und je intensiver sie das tun, desto mehr entfernt sich
das, was die Masse der Medien der Masse der Bevölkerung präsentiert, von
dem, was man aus der Distanz betrachtet als Wahrheit bezeichnen kann.
Hierfür stehen aus jüngerer Zeit unter anderem die Fälle AKW Krümmel,
Schweinegrippe, Ehec, Dioxin und Fukushima; Herman, Oettinger, Köhler,
Kachelmann, Wulff und Tebartz-van Elst. Der Grund hierfür liegt nicht im
individuellen Unvermögen einzelner Journalisten, sondern in der
Eigendynamik des Mediensystems. Wenn einzelne Journalisten im Skandal
die Wahrheit präsentieren, was immer wieder geschieht, dann nicht wegen,
sondern trotz der Berichterstattung der Masse der Medien, deren
Konformitätsdruck sie sich widersetzen. Auch dass nach einem Skandal
Journalisten die Mechanismen der Skandalisierung grundsätzlich infrage
stellen, kommt gelegentlich vor. Zu den Ausnahmen gehören Leyendecker,
der 2012 aus Protest gegen die gleichzeitige Auszeichnung von zwei BildRedakteuren für ihre Skandalisierung von Wulff die Annahme des HenriNannen-Preises ablehnte, Prantl, der unter dem Titel »Von der Lawine zum
Schneebällchen« in der Süddeutschen Zeitung (10.04.2013) die zeitweise
problematische Rolle seines Blattes offenlegte, und Niggemeier, der im
Spiegel (16.01.2012) unter der Überschrift »Im Namen des Volkes?« die
Frage aufwarf, ob die Medien den Ansprüchen gerecht werden, die sie selbst
an andere stellen.
Skandale sind Kunstwerke mit klaren Botschaften und starken
emotionalen Appellen. Die Skandalisierung von Missständen ist eine Kunst,
und die Skandalisierer sind viel eher Künstler als Analytiker –
Geschichtenerzähler, die einem disparaten Geschehen subjektiven Sinn
verleihen und es dadurch für die Allgemeinheit nachvollziehbar machen. Die
Skandalisierer bewegen sich damit weniger im Grenzbereich zwischen
Journalismus und Wissenschaft oder Journalismus und Recht als im
Grenzbereich zwischen Journalismus und Literatur. Darin ähneln sie den
Vertretern des »New Journalism«. Dennoch unterscheiden sich die
aufwühlenden Darstellungen der Skandalisierer fundamental von den
unterkühlten Berichten eines Truman Capote, Hunter S. Thompson oder Tom
Wolfe, die alles andere als moralische Empörung hervorrufen: Während
Letztgenannte nüchterne Reportagen in Form von Romanen verfasst haben,
schreiben Erstgenannte erregende Romane in Form von Reportagen.
Entwicklungsgeschichtlich ist die Skandalisierung von Missständen eine
archaische Maßnahme zur Ausschaltung von Akteuren, die schuldhaft Fehler
begangen haben. Dies gilt auch für den Medienpranger. Im Unterschied zum
mittelalterlichen Pranger ist er aber keine Strafe als Konsequenz eines
geregelten Verfahrens. Der Medienpranger geht einem geregelten Verfahren
voraus und ersetzt es vielfach. Zudem reicht seine Wirkung aufgrund der
modernen Technik weit darüber hinaus. Theoretisch ist er räumlich
unbeschränkt, was ihm eine neue Qualität verleiht: Was dem Medienpranger
an physischer Gewalt fehlt, macht er mit psychischer Gewalt wett. In beiden
Fällen ist die Anprangerung kein Erkenntnisverfahren, sondern ein
Machtmittel. Das zeigt sich spätestens dann, wenn skandalträchtige
Sichtweisen durch systematisch gewonnene Erkenntnisse infrage gestellt
werden. Dann geht es nicht mehr um die Aufklärung des Sachverhalts,
sondern um die Deutungshoheit. Es geht darum, wer die gesellschaftlich
relevanten Wahrheiten feststellt, wer auf welche Weise ermittelt, was wir als
Realität akzeptieren. Deshalb münden viele große Skandale in einen Konflikt
zwischen der Wahrheitsfindung in geregelten Verfahren und intuitiven
Realitätsdeutungen sowie zwischen den Institutionen, die verfahrensgemäß
vorgehen, und den Medien, die sich im Skandal nicht an die im Journalismus
sonst üblichen Regeln halten. Die wachsende Zahl der Skandale verweist
deshalb vor allem auf das, worum es jenseits ihrer konkreten Anlässe geht –
um einen latenten Machtkampf zwischen konkurrierenden Institutionen mit
unterschiedlichen Handlungsprinzipen. Deshalb waren die zielführenden
Skandalisierungen von Bischof Mixa und Bischof Tebartz-van Elst sowie von
Bundespräsident Köhler und Bundespräsident Wulff moderne Varianten des
mittelalterlichen Investiturstreits – es ging darum, wer über die Berufung in
und die Abberufung aus höchsten Ämtern entscheidet – die dafür zuständigen
Gremien oder die Medien. Diesen Sachverhalt und die in ihrem Kern antiinstitutionelle Haltung der Skandalisierer hat Rudolf Augstein in seinem
Vorwort zur Darstellung der Flick-Affäre kurz und prägnant auf den Punkt
gebracht: »Geben wir unserem Gemeinwesen noch eine Chance, erschüttern
wir den Staat!«13 Daraus spricht nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern
der Wille zur Macht.
1 Vgl. dazu die Dokumentation des Spiegel: Der Bischof und das 8. Gebot.
http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelblog/bischof-von-limburg-ein-drama-infuenf-akten-a879255.html [Zugriff: 18.03.2015].
2 Vgl. FAZ, 20.06.2014 und 08.11.2014.
3 Vgl. FAZ, 26.08.2014. Siehe dazu auch Götschenberg, Michael: Der böse Wulff? S. 257–262.
4 Vgl. zum Folgenden Kepplinger, Hans Mathias: Der Umgang der Medien mit Ungewissheit;
Maurer, Marcus / Oschatz, Corinna / Haßler, Jörg / Schaaf, Lisa-Maria: »Es kostet nicht die Welt,
den Planeten zu retten.« Ungewissheit wissenschaftlicher Erkenntnisse in Wissenschaft,
Massenmedien und Politik.
5 Durch das Übergreifen der Rationalität des Skandals auf geregelte Verfahren werden geregelte
Verfahren immer häufiger selbst zum Skandal. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Strafprozess
gegen Kachelmann, in dem die Anklage und die Verteidigung im Verbund mit Journalisten, die für
und gegen eine Verurteilung kämpften, die jeweilige Gegenseite sowie Gutachter herabgesetzt und
den Angeklagten vor den Plädoyers und dem Urteil freigesprochen oder verurteilt haben.
6 Vgl. zum Folgenden Kepplinger, Hans Mathias: Kollegenkritik in Journalismus und Wissenschaft.
7 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Ehmig, Simone C. / Hartung, Uwe: Alltägliche Skandale, S.67–
69.
8 Vgl. hierzu Seitz, Benjamin S.: Selbstkritik und Fremdkritik im Journalismus.
9 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Der Umgang der Medien mit Ungewissheit.
10 Vgl. Mocken, Daniela: Bad Kleinen.
11 Vgl. D. D. (Daniel Deckers): Tebartz muss Schaden nicht ersetzen. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 10.09.2015. Derselbe: Sicher im Vatikan. Ebenda, 10.09.2015; Wensierski, Peter:
Limburger Katholiken empört über Tebartz-Entlastung. Auf Spiegel Online [Zugriff am
10.09.2015]; Cuntz, Christoph: Der Vatikan vergibt. Limburgs Ex-Bischof wird wegen
Verschwendung nicht zur Rechenschaft gezogen. In: Rhein Main Presse 10.09.2015.
12 Vgl. Freispruch erster Klasse für Christian Wulff. Auf: Zeit online, 27.02.2012 [Zugriff:
29.05.2015].
13 Zitiert nach Kilz, Hans Werner / Preuss, Joachim: Flick. Die gekaufte Republik, S. 12.
16. Der Nutzen des Schadens
Die Skandalisierung von Missständen stellt nach einer weitverbreiteten
Überzeugung für die Gesellschaft einen Wert an sich dar: Sie zeigt, dass auch
Mächtige allgemein anerkannte Regeln nicht ungestraft verletzen dürfen. Das
bekräftigt das Vertrauen in die Selbstreinigungskräfte der Gesellschaft.
Zudem schreckt sie potenzielle Täter ab. Das stärkt die Geltungskraft der
sozialen Normen. Aus den genannten Gründen erfüllt die Skandalisierung
selbst dann eine wichtige soziale Funktion, wenn die Vorwürfe im Einzelfall
übertrieben sind. Im Mittelpunkt dieser funktionalistischen Skandaltheorie
stehen die manifesten Funktionen der Skandale – ihre beabsichtigten und
wahrgenommenen Auswirkungen auf die Gesellschaft.1 Nach dieser
Auffassung kompensieren die Massenmedien durch die Anprangerung von
Missständen Defizite anderer Institutionen, die bei der Aufdeckung,
Verfolgung und Ahndung von Normverletzungen aller Art versagen –
Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften, Parlamente und Parteien,
Zulassungs- und Kontrollbehörden. Die Skandalisierung von Missständen ist
demnach ein funktionales Äquivalent zur Kontrolltätigkeit dieser
Institutionen, und sie ist umso notwendiger, je häufiger die dafür
vorgesehenen Organe versagen. Folglich verweisen die Häufigkeit und die
Dimensionen der Skandale auf das Ausmaß der Funktionsdefizite eines
Staates. Zugleich belegen sie die Funktionsfähigkeit der Massenmedien: Je
mehr Missstände sie anprangern, desto besser erfüllen sie ihre Aufgabe. Auch
deshalb genießen die erfolgreichen Skandalisierer vor allem im Journalismus
hohes Ansehen. Das trifft nicht nur auf die Leitfiguren des investigativen
Journalismus in den USA zu – wie Bob Woodward und Carl Bernstein, die
mit der Watergate-Affäre Richard Nixon zu Fall gebracht haben.2 In allen
Fällen gilt die Bewunderung der Kollegen nicht nur ihren journalistischen
Leistungen, sondern auch ihrer gesellschaftlichen Rolle: Ihnen gelingt, was
viele Journalisten wollen, aber nur wenige offen zugeben. Sie bewegen
etwas, üben reale Macht aus. Sie beschreiben und erklären die Welt nicht nur.
Sie verändern sie.
Der funktionalistischen Skandaltheorie der Soziologie liegt eine ähnliche
Argumentationsfigur zugrunde wie der im 19. Jahrhundert entwickelten
Theorie der Generalprävention. Danach führt die Aufdeckung und Ahndung
von Straftaten dazu, dass die Gesetze eingehalten werden. Deshalb sollen alle
Straftaten angezeigt und aufgeklärt sowie alle Straftäter gefasst und verurteilt
werden. Je besser das gelingt, desto besser ist die Bewahrung von Recht und
Ordnung gesichert. Die Theorie der Generalprävention wurde längst
aufgegeben, weil sie offensichtlich falsch ist. Selbst die weniger weit
reichende Theorie der positiven Generalprävention, nach der die öffentliche
Kommunikation zwar keine Straftaten verhindert aber die Geltung von
Werten und Normen sichert, erscheint zweifelhaft, weil es dafür keine
überzeugenden empirischen Belege gibt. Gegen die dahinter stehenden
Annahmen haben Soziologen wie Wilbert E. Moore, Melvin M. Tumin3 und
Heinrich Popitz4 zudem eingewandt, dass die Geltung von sozialen Normen
auch auf dem Unwissen über das tatsächliche Ausmaß ihrer Verletzung
beruht: Wenn alle wüssten, wie häufig soziale Normen gebrochen werden,
würden sie noch öfter verletzt, als es ohnehin geschieht. Nach Popitz kann
»kein System sozialer Normen … einer perfekten Verhaltenstransparenz
ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren. Eine Gesellschaft, die
jede Verhaltensabweichung aufdeckt, würde zugleich die Geltung ihrer
Normen ruinieren«. Nur weil wir einen Großteil der Normverletzungen nicht
kennen, kann man den Geltungsanspruch der Normen aufrechterhalten.
Popitz spricht deshalb von einer »Präventivwirkung des Nichtwissens«: Das
Nichtwissen um das volle Ausmaß der Normverletzungen »ermöglicht ein
Ausweichen, eine Entdramatisierung – eine Unschärfe-Relation des sozialen
Lebens, die letztlich ebenso der guten Meinung dient, die wir uns
voneinander, wie der, die wir uns von unserem Normensystem bilden.
Tiefstrahler können Normen nicht ertragen, sie brauchen etwas
Dämmerung«.5
Popitz hat seine Argumente für das Jahr 1962 mit empirischen Daten
belegt. Nach seinen Schätzungen, die unter anderem auf der polizeilichen
Kriminalstatistik beruhen, begingen innerhalb eines Jahres vier Prozent der
strafmündigen Personen strafrechtlich relevante Betrugsdelikte.6 Die
Dunkelziffer, also die Zahl der nicht bekannt gewordenen Straftaten, war
vermutlich wesentlich höher: Von den schätzungsweise 7,6 Millionen
Diebstählen blieben vermutlich ca. 6,9 Millionen unbekannt, weil sie nicht
entdeckt oder nicht angezeigt wurden. Von allen Tätern wurden nur etwa
240.000 bekannt und von ihnen nur etwa 75.000 verurteilt – das entsprach
etwa einem Prozent aller Täter. Wären alle Straftaten bekannt und alle Täter
bestraft worden, wäre ein erheblicher Teil der Bevölkerung kriminalisiert
worden. Popitz folgerte aus diesen Daten und ähnlichen Befunden für
zahlreiche andere Straftaten: »Werden allzu viele an den Pranger gestellt,
verliert nicht nur der Pranger seine Schrecken, sondern auch der Normbruch
seinen Ausnahmecharakter und damit den Charakter einer Tat, in der etwas
›gebrochen‹, zerbrochen wird«.7
Sprechen die Einwände gegen die funktionalistische Straftheorie auch
gegen die funktionalistische Skandaltheorie? Verliert der Pranger seinen
Schrecken, wenn zu viele skandalisiert werden? Das ist aufgrund des
Täterkreises eher unwahrscheinlich: Bei den skandalisierten Personen handelt
es sich meist um Mitglieder von gesellschaftlichen Eliten – Entscheider in
Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Kultur. Die Zahl der potenziellen Täter
ist folglich im Unterschied zu den Straftätern, die Popitz im Auge hat, sehr
klein. Entsprechend groß ist das Risiko, dass ihre Regelverstöße entdeckt und
angeprangert werden. Zudem ist das Ausmaß der Skandalisierung im
Unterschied zur Höhe der Strafe kaum kalkulierbar. Das spricht theoretisch
für eine Präventivwirkung der Skandalisierung von Missständen. Ein Beleg
hierfür ist der Anstieg von Selbstanzeigen wegen Steuerhinterziehung durch
Kapitalerträge vor allem in der Schweiz von 4.856 im Jahr 2011 auf 38.587
im Jahr 2014. Den besonders starken Anstieg von 7.952 im Jahr 2012 auf
25.710 im Folgejahr kann man als Effekt der Skandalisierung der
unversteuerten Einkommen von Uli Hoeneß im Januar 2013 betrachten.
Dabei dürfte aber auch der Ankauf von steuerrelevanten Dateien eine Rolle
gespielt haben.
Gegen die Verallgemeinerung dieser Befunde sprechen allerdings
zahlreiche prominente Gegenbeispiele. Der Skandal um die Verbindung von
Dienst- mit Privatreisen durch Bundespräsident Rau in den 1990er-Jahren hat
Bundespräsident Wulff in den 2010er-Jahren nicht daran gehindert, private
Einladungen anzunehmen, die er besser abgelehnt hätte. Der Skandal um den
Anruf von Wulff 2011 beim Chefredakteur von Bild hat Gaschke 2013 nicht
daran gehindert, den Chefredakteur der Kieler Nachrichten in ähnlicher
Absicht anzurufen.8 Der Skandal um die privaten Flugreisen von Özdemir
und Gysi 2002 hat Schmidt 2008 nicht daran gehindert, ihren Dienstwagen
im Urlaub zu benutzen. Der Kokainskandal im Jahr 2000 um Daum hat
Friedman und Immendorff 2003 nicht am Kokainkonsum gehindert. Der
Crystal Meth-Skandal um den SPD-Abgeordneten Hartmann 2014 hat den
Grünen-Abgeordneten Baum 2016 nicht am Crystal Meth-Missbrauch
gehindert. Der Dioxinskandal 2002/2003 hat den ähnlich gelagerten
Dioxinskandal 2010/2011 nicht verhindert. Der Skandal um die von Tom
Kummer im Jahr 2000 erfundenen Interviews hat René Pfister 2010 nicht
daran gehindert, Seehofer am Stellpult seiner Modelleisenbahn so zu
beschreiben, als hätte er ihn selbst beobachtet. Der Parteispendenskandal in
den frühen 1980er-Jahren hat Kohl in den 1990er Jahren nicht daran
gehindert, anonyme Spenden für die Finanzierung der CDU in den neuen
Bundesländern anzunehmen. Die Beispiele sprechen gegen die These der
Präventivwirkung von Skandalen. Einen schlüssigen Gegenbeweis liefern sie
nicht. Solange gesellschaftliche Regeln existieren, wird es Regelverstöße
geben. Andernfalls würde es sich nicht um soziale Normen, sondern um
Naturgesetze handeln. Einzelne Regelverstöße lassen nicht den Schluss zu,
dass Sanktionen generell unwirksam sind. Auch dann, wenn sie wirken, wird
es Regelverstöße geben. Zudem ist es durchaus möglich, dass frühere
Skandale spätere Regelverletzungen verhindert haben, obwohl sie missachtet
wurden: Möglicherweise wären die Regeln noch öfter verletzt worden, wenn
es die Skandale nicht gegeben hätte.
Im Unterschied zur Theorie der Generalprävention, die einer Missachtung
von bestehenden Normen vorbeugt, wird der Skandalisierung von
Missständen auch ein Mobilisierungseffekt zugesprochen, der die Umsetzung
und Weiterentwicklung von Normen fördert. Dieser Mobilisierungseffekt
zielt ebenfalls auf Entscheider in allen Bereichen der Gesellschaft – der
Politik, Verwaltung und Wirtschaft – und betrifft folglich ebenfalls einen
relativ kleinen, aber bedeutenden Teil der Bevölkerung. Auch hierfür gibt es
Belege. Aufgrund des VW-Abgasskandals wurden realistischere
Abgasmessungen eingeführt und bei VW die internen Kontrollen verbessert.
Aufgrund des Skandals um die nichtbelegten Zitate in der Dissertation von zu
Guttenberg wurden die Betreuung und Prüfung von Dissertationen verbessert
und besoldungswirksame Maßnahmen bei ihrer Vernachlässigung
angekündigt. Aufgrund des Skandals um den sexuellen Missbrauch in der
katholischen Kirche haben die Bischöfe die Präventionsarbeit erheblich
verstärkt und ein Forschungsprojekt zur Analyse der Missbrauchsfälle in
Auftrag gegeben. Aufgrund des Skandals um die Lustreisen von Mitarbeitern
der Hamburg-Mannheimer und von Wüstenrot hat der Gesamtverband der
Versicherungswirtschaft
einen
verschärften
Verhaltenscodex
für
Vertriebsmitarbeiter beschlossen. Aufgrund des BSE-Skandals und des
AIDS-Blut-Skandals wurden effektive Schutzmaßnahmen eingeführt.9
Weitere Beispiele sind die Abschaffung der Umweg-Finanzierung von
Parteien über die Staatsbürgerliche Vereinigung als Konsequenz des
Parteispendenskandals und die Neufassung des Abgeordnetengesetzes
(Artikel 44a AbgG) als Konsequenz der Gehaltsaffären von Landtags- und
Bundestagsabgeordneten. Danach sind finanzielle Zuwendungen ohne
angemessene Leistungen ausdrücklich untersagt. In all diesen Fällen
kompensierten die Medien durch Skandalisierungen die Funktionsmängel
anderer Institutionen, wobei im Einzelfall die Verhältnismäßigkeit der Mittel
zur Diskussion steht. Dies führt zum Kern der Problematik.
Skandale haben vor allem dann eine Präventivwirkung und einen
Mobilisierungseffekt, wenn die Missstände stark übertrieben dargestellt
werden und wenn die Vorwürfe gegen die Entscheider weit über das sachlich
gerechtfertigte Maß hinausgehen. Sie leben sozusagen von der Übertreibung
im Dienst der guten Sache. Die Funktionsweise der Skandalisierung
entspricht damit derjenigen der »punitive damages«, der extrem hohen
Schadensersatzleistungen im amerikanischen Zivilrecht. In beiden Fällen geht
es weniger um Gerechtigkeit für die Regelverletzer als um die Abschreckung
Dritter. Im Unterschied zu den »punitive damages« sind die Folgen von
Skandalen jedoch nicht immer begrenzt und beabsichtigt. Vielmehr gehen sie
aufgrund der Eigendynamik von Skandalen gelegentlich weit über das
sachlich begründete und intendierte Maß hinaus. Dabei können auch negative
Nebenfolgen eintreten, die vermutlich niemand beabsichtigt hat. Das
markanteste Beispiel hierfür ist der Tod von Barschel. In einem Land, das
weder die Todesstrafe vorsieht noch den rituellen Selbstmord kennt, stünde
der Tod des Beschuldigten auch dann nicht in einem vertretbaren Verhältnis
zu seinen Verfehlungen, wenn alle gegen ihn erhoben Vorwürfe berechtigt
gewesen wären – was im Fall Barschel nicht zutrifft. Deshalb ist die
Barschel-Affäre und nicht die Skandalisierung von Sebnitz der Super-GAU
des deutschen Skandaljournalismus. In die gleiche Kategorie gehört der Tod
Möllemanns, sofern er nicht Opfer eines Unfalls wurde. Gegen diese
Argumentation kann man einwenden, kein Journalist habe den Tod Barschels
und Möllemanns gewollt. Das ist richtig, gilt jedoch in gleichem Maße für
Innenminister Seiters und Generalbundesanwalt von Stahl, die den Tod von
Grams auch nicht geplant hatten und doch dafür geradestehen mussten.
Die »punitive damages« unterscheiden sich von den Skandalfolgen auch
dadurch, dass erstere nur die Schuldigen treffen, während unter den
Skandalfolgen häufig auch unbeteiligte Dritte leiden. Hierbei handelt es sich
ebenfalls um unbeabsichtigte negative Nebenwirkungen der Skandalisierung
von Missständen. Besonders deutlich wird dies an den finanziellen Folgen
von skandalinduzierten Panikreaktionen, die die Allgemeinheit tragen muss.
Nach
der
Reaktorkatastrophe
von
Tschernobyl
ließ
das
Bundesumweltministerium als Folge der Skandalisierung von 5.000 Tonnen
radioaktiv schwach belasteter Molke, den sogenannten »Atommüll« (Stern,
12.02.1987), für nahezu 60 Millionen DM erst in 242 Eisenbahnwaggons im
Land herumfahren und dann in einer eigens dafür gebauten Anlage entsorgen,
die danach verkauft und verschrottet wurde. Diese und ähnliche Folgekosten
waren minimal im Vergleich zu den Schäden, die die Dramatisierung der
Gefahren durch BSE 2000/2001 hervorgerufen hatte. Als Folge der medial
induzierten Ängste ging die Nachfrage nach Rindfleisch um über 50 Prozent
zurück. Ein halbes Jahr später verzeichnete die Bundesanstalt für Arbeit unter
anderem deshalb ein Milliardenloch in ihrem Haushalt, weil aufgrund des
BSE-Skandals die Kurzarbeit erheblich zugenommen hatte. Bis 2010 wurden
– obwohl kein ab 2001 geborenes Rind positiv getestet wurde – 21 Millionen
Rinder getestet. Die Kosten der gesamten Vorsorgemaßnahmen betrugen bis
2013 zwei Milliarden Euro. Hierbei handelt es sich nicht um
vernachlässigbare Einzelfälle.
Die Skandalisierung von SARS hat die Lufthansa im April 2003 im
Vergleich zum Vorjahresmonat im Asienverkehr 200.000 Fluggäste gekostet.
Die Mindereinnahmen betrugen pro Woche etwa 50 Millionen Euro, wovon
ein Teil auf den Irakkrieg zurückging. Wegen der Skandalisierung der
Schweinegrippe als Folge ihrer Einstufung als Pandemie hat jedes der 16
Bundesländer Impfstoffe im Wert zwischen 4,5 und 54 Millionen Euro zu
viel eingekauft. Die Skandalisierung von Ehec hat in mehreren europäischen
Ländern die Existenz von Landwirten bedroht. Deshalb zahlte die EUKommission Hilfsmittel in Höhe von 227 Millionen Euro. Den höchsten
Betrag erhielt mit 71 Millionen Euro Spanien, dessen Agrarproduzenten unter
den Folgen der Berichte deutscher Medien besonders gelitten hatten. Weit
übertroffen werden die unbeabsichtigten negativen finanziellen Folgen der
genannten Skandale von den finanziellen Folgen der finalen Skandalisierung
der deutschen Kernenergie nach der Reaktorkatastrophe in Japan und dem
überhasteten Ausstieg aus der Kernenergie. Die einst finanzstarken und
gewinnträchtigen Stromkonzerne E.ON, RWE und ENBW wurden durch
Milliardenverluste an den Rand des Ruins getrieben und fordern von Bund
und Ländern knapp 900 Millionen Euro Schadensersatz. Hinzu kommen die
Verluste von Arbeitsplätzen bei den Energieunternehmen und der
Zulieferindustrie sowie die Kosten für den erforderlichen Aus- und Umbau
der Stromnetze. Sie betragen aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere
Milliarden Euro und werden letztlich von den Verbrauchern gezahlt.
Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Zahlung
von Schadensersatz durch die EU wegen der Verdienstausfälle aufgrund der
Skandalisierung von Ehec. Zum einen hat die EU damit eine Haftung für die
unbeabsichtigten negativen Nebenfolgen falscher Medienberichte anerkannt.
Zum anderen hat sie Schadensersatz geleistet, obwohl die falschen
Warnungen vor den vermeintlichen Ursachen nicht von EU-Behörden
stammten und die negativen Folgen erst durch die dramatisierende
Berichterstattung darüber entstanden sind. Das wirft die Frage auf, ob und
inwieweit hier ein Präzedenzfall für Schadensersatzforderungen gegen die
negativen Nebenfolgen von falschen oder irreführenden Medienberichten
geschaffen wurde. Wenn dies der Fall wäre, müssten die Medien dafür
aufkommen. Das würde erhebliche Beweisprobleme aufwerfen, weil man
zwar die Effekte der Medienberichterstattung insgesamt auf die
Vorstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung relativ gut messen
kann. Es dürfte aber in absehbarer Zeit kaum möglich sein, den jeweiligen
Anteil einzelner Medien an den Effekten zu bestimmen. Ohne einen solchen
Kausalnachweis würden Schadensersatzforderungen gegen einzelne Medien
ins Leere laufen, weil sie keinen konkreten Adressaten hätten. Eine
Alternative wäre die Haftung jener Medien, die die ersten irreführenden
Meldungen veröffentlicht haben. Sie sind aber angesichts der Vernetzung der
Medien nur selten identifizierbar. In diesem Zusammenhang ist die Klage
von Kachelmann gegen den Springer-Verlag zu sehen, der 2016 als
Ausgleich für die Verletzung von Kachelmanns Persönlichkeitsrechten mit
der Berichterstattung über das gegen ihn laufende Strafverfahren zur Zahlung
von 395.000 Euro verurteilt wurde, wogegen der Verlag
Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingelegt hat.
Neben negativen materiellen Folgen können anprangernde Beiträge auch
immaterielle Nebenwirkungen haben, die den meisten Autoren solcher
Beiträge vermutlich nicht bewusst sind. So wurden in Deutschland im Laufe
der Jahre ca. 20.000 psychisch Kranke, die sich in postklinischer Behandlung
befanden, erneut in psychiatrische Anstalten eingewiesen, weil sie aufgrund
von spektakulären Medienberichten über Nebenwirkungen von
Psychopharmaka die ihnen verordneten Medikamente abgesetzt und schwere
Rückfälle erlitten hatten.10 Zu den immateriellen Kosten von
Skandalisierungen gehört auch der im Einzelfall dramatische Verlust an
Sozialkapital – Ehre, Ansehen, Berufschancen.11 Ein Beispiel ist
Kachelmann, dessen Karriere zerstört wurde. Ihm hat sein Freispruch kaum
genutzt. Ein zweites Beispiel ist Wulff, der aufgrund weit überzogener
Vorwürfe zurücktreten musste, nach einem extrem aufwändigen und rechtlich
fragwürdigen Ermittlungsverfahren trotz dürftiger Beweislage angeklagt und
freigesprochen wurde. Ein drittes Beispiel ist Tebartz-van Elst, der auf
fragwürdige Weise als Lügner gebrandmarkt und in nicht haltbarer Weise als
Protzbischof geächtet wurde. Er musste sein Amt nicht wegen der ihm
vorgeworfenen Aktivitäten zur Verfügung stellen, sondern weil er wegen der
hemmungslosen Anprangerung seines durchaus diskussionswürden
Verhaltens als Bischof nicht mehr tragbar war.
Die zentrale Annahme der funktionalistischen Skandaltheorie betrifft die
Auswirkung von Skandalen auf das Vertrauen in die Selbstreinigungskräfte
der Gesellschaft. Ob diese Annahme zutrifft, kann man anhand empirischer
Daten feststellen. Hierzu gehören Vergleiche zwischen der Häufigkeit von
politischen Skandalen und den Ansichten der Bevölkerung über die
politischen Eliten. In Deutschland bestanden in den 1970er- und 1980erJahren deutliche Zusammenhänge zwischen der wachsenden Zahl politischer
Skandale und den Vorstellungen der Bevölkerung von den führenden
Politikern. Sie widersprechen den Annahmen der funktionalistischen
Skandaltheorie. Mit der steigenden Zahl politischer Skandale verminderte
sich die Wertschätzung der Politiker: Der Anteil derer, die der Ansicht waren,
ein Bundestagsabgeordneter müsse »große Fähigkeiten haben«, ging von
1972/1973 bis 1992/1993 von 65 auf 39 Prozent zurück. Dagegen nahm die
Überzeugung zu, dass Bundestagsabgeordnete nicht in erster Linie die
»Interessen der Bevölkerung« vertreten. Der Anteil derer, die davon
überzeugt waren, dass sie vor allem »persönliche Interessen« vertreten, stieg
von 1978/1979 bis 1992/1993 von 15 auf 33 Prozent. Zudem schwand das
Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der führenden Politiker. Der Kreis derer, die
»kein Vertrauen« in sie hatten, weil sie es »schon zu oft erlebt« hatten, »dass
sie nicht die Wahrheit« sagten, stieg von 33 auf 57 Prozent. Gleichzeitig mit
dem Ansehensverlust der Politiker verringerte sich die Wertschätzung des
politischen Engagements der Bürger. Der Anteil derer, die das politische
Engagement von Frauen »sympathisch« fanden, ging von 65 auf 45 Prozent
zurück. Noch mehr Anerkennung verlor das politische Engagement von
Männern.12
Vergleichbare Erkenntnisse liegen aus den USA vor. Zwischen 1966 und
1982 sank in Phasen mit politischen Skandalen sowie wirtschaftlichen und
politischen Krisen das Vertrauen in die Exekutive.13 Auch für die USA
belegen statistische Analysen, dass die Skandalisierung von politischen
Institutionen das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Institutionen
eher schwächt als stärkt.14 Die Zusammenhänge zwischen der
Skandalisierung von Missständen und der Bevölkerungsmeinung lassen sich
zwar nicht zweifelsfrei beweisen. Das wäre nur mit Hilfe von
Feldexperimenten möglich, die man jedoch aus praktischen Gründen nicht
durchführen kann. Die erwähnten Zusammenhänge werden aber durch
umfangreiche empirische Analysen bestätigt. So besteht in Deutschland, im
Zeitverlauf von mehreren Jahren betrachtet, ein statistisch gesicherter
Zusammenhang zwischen der Tendenz der Politikberichterstattung der
Medien, die die Bürger nutzen, und dem mehr oder weniger negativen
Politikbild der Rezipienten: Je negativer die genutzten Medien Politiker und
Politik darstellen, desto negativer wird im Zeitverlauf deren Politikbild.15
Jede Demokratie lebt vom Engagement ihrer Bürger, wobei man davon
ausgehen muss, dass die Einzelnen damit auch ihre eigenen Interessen
verfolgen. Auch die dazu vorliegenden Daten stützen die These nicht, dass
die Skandalisierung von Missständen in der Politik das Systemvertrauen und
das politische Engagement stärkt. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Beispiel ist
der Rückgang der Spendenbereitschaft nach der exzessiven Skandalisierung
illegaler Parteispenden, u. a. an Kohl, sowie der Bestechung von
Lokalpolitikern, darunter SPD-Politiker in Nordrhein-Westfalen. Ein Grund
für solche Folgen massiver Anprangerungen besteht darin, dass die
Bevölkerung Einzelfälle verallgemeinert. So glaubten 1999, also vor den
erwähnten Skandalisierungen, 58 Prozent der Bevölkerung, politische
Entscheidungen würden durch Spenden erkauft. Drei Jahre später, also nach
den Skandalisierungen, waren es 72 Prozent. Mehr als die Hälfte der
Bevölkerung hielt die Skandalisierung von SPD-Politikern in NordrheinWestfalen nicht nur für ein lokales Problem. Sie glaubte, dass »darin auch
SPD-Bundespolitiker verstrickt« waren. Die Verallgemeinerung von
spektakulär präsentierten Einzelfällen belegen auch die Antworten auf die
Frage, ob »Filz«, die Postenbesetzung nach dem Parteibuch, »weitverbreitet«
ist. Dass Filz dort weit verbreitet ist, wo sich die Befragten auskennen, in der
eigenen Region, meinte im April/Mai 2002 nur etwas mehr als ein Drittel,
dass er in einem Gebiet weit verbreitet ist, das sie nur aus den Medien
kennen, in Deutschland, glaubten aber fast zwei Drittel.16
Betrachtet man das Vertrauen in die Eliten und Institutionen als Indikator
für das Vertrauen in die Selbstreinigungskräfte des politischen Systems, kann
man ausschließen, dass die Skandalisierung von Missständen das
Systemvertrauen fördert. Mit großer Wahrscheinlichkeit trifft das Gegenteil
zu: Die Skandalisierung fördert eher Misstrauen als Vertrauen, ruft eher
resignative Apathie als kritisches Engagement hervor und befeuert die
Politikverdrossenheit vor allem bei den politisch Interessierten, die die
aktuelle Berichterstattung aufmerksam verfolgen. Die einzige Institution,
deren Ansehen mit der Häufigkeit und Intensität der Skandale wächst, sind
kurzfristig die Medien, die ihr Ansehen auf Kosten der skandalisierten
Institutionen vergrößern, langfristig jedoch vermindern. Der gleiche
Mechanismus zeigt sich bei der Berichterstattung über Katastrophen: Je
dramatischer die Darstellungen sind, desto mehr steigt in solchen Situationen
die Glaubwürdigkeit der Journalisten auf Kosten der Experten. Allerdings
mehren sich in den letzten Jahren die Anzeichen dafür, dass die wachsende
Zahl der Skandale, die sich im Nachhinein als Übertreibungen und
Irreführungen erweisen, das Vertrauen in die Medien langfristig verringert.
Die wichtigste und von vielen Journalisten internalisierte Folgerung aus
der funktionalistischen Skandaltheorie lautet, dass alle Missstände von den
Medien aufgedeckt und skandalisiert werden sollten. Würde das die
erwarteten Konsequenzen zeitigen? Eine Antwort darauf gibt eine
quantitative Analyse der Missstands- und Skandalhäufigkeit in
Deutschland.17 Von allen bekannten Missständen werden in Deutschland ca.
5 bis 10 Prozent skandalisiert. Nicht alle Missstände eignen sich für eine
Skandalisierung – einige Sachverhalte werden nur von einem Teil der
Bevölkerung als Missstand angesehen; einige sind zu unbedeutend, um
größere Beachtung zu finden; bei einigen handelt es sich um
Strukturprobleme, deren Ursachen nicht eindeutig benannt werden können
usw. Aus diesen und anderen Gründen scheidet vermutlich die Hälfte der
Missstände aus dem Kreis der potenziellen Skandale aus. Im Kreis der
potenziellen Skandale verbleiben danach ca. 45 bis 47 Prozent aller
Missstände, die bisher nicht skandalisiert wurden, aber die Voraussetzungen
dazu erfüllen. Würden all diese Missstände skandalisiert, würde sich die Zahl
der Skandale verfünf- bis verzehnfachen. Vermutlich ist diese Schätzung eher
zu niedrig als zu hoch, weil die Urteilskriterien im Laufe der Zeit strenger
und die Schwellen für die Skandalisierung von Missständen
dementsprechend niedriger werden. Daraus kann man einige Folgerungen
ableiten. Eine Verfünf- oder Verzehnfachung der Skandale würde angesichts
der bekannten Zusammenhänge die Zweifel an Politik, Wirtschaft und
Wissenschaft eher vergrößern als verkleinern und darüber hinaus den
Glauben an die Geltung der relevanten Normen eher schwächen als stärken.
Sie würde einen erheblichen Teil der Entscheider in allen betroffenen
Bereichen stigmatisieren und die skandalwürdigen Missstände alltäglich
erscheinen lassen. Die Zunahme der Skandale würde damit wahrscheinlich
die Präventivwirkung und die Motivationseffekte der Skandale vermindern.
Deshalb gilt auch für den Skandal, was Popitz für den Strafprozess feststellt:
»Die positiven Folgen des Prangers sind nur wahrscheinlich, wenn er selten
ist. Die Strafe kann ihre soziale Wirksamkeit nur bewahren, solange die
Mehrheit nicht ›bekommt, was sie verdient‹«.18
Überblickt man die Gründe, die für und gegen die funktionalistische
Skandaltheorie sprechen, muss man feststellen, dass die funktionalistische
Skandaltheorie allenfalls teilweise und nur unter bestimmten Bedingungen
zutrifft. Gelegentlich zutreffend sind die These einer Präventivwirkung und
die These eines Motivationseffekts. Beide treffen aber nur zu, wenn nicht alle
bzw. nicht zu viele Missstände skandalisiert werden. Falls die Zahl der
Skandale einen unbekannten Wert übersteigt, verringern sich vermutlich ihre
Präventivwirkung und ihr Motivationseffekt. Höchstwahrscheinlich falsch ist
die These, dass die Aufdeckung und Skandalisierung von Missständen den
Glauben an die Selbstregulierungskräfte einer Gesellschaft und die
Geltungskraft ihrer Normen stärken. Nach allem, was bisher bekannt ist, tritt
das Gegenteil ein. Zudem haben Skandale relativ häufig Nebenwirkungen,
die zuweilen schwerwiegender sind als die Missstände, die durch die
Skandalisierung beseitigt werden sollen. Die Nutzen-Schaden-Bilanz von
Skandalen ist deshalb sehr fragwürdig. Gäbe es eine Produkthaftung für
Skandalberichte, die praktisch kaum realisierbar und im Interesse der
Pressefreiheit auch nicht wünschenswert ist, wären einige Medien in kurzer
Zeit konkursreif. Aus der problematischen Nutzen-Schaden-Bilanz folgt
nicht, dass die Massenmedien gravierende Missstände nicht anprangern
sollten. Das ist gelegentlich der einzige Weg zu ihrer Beseitigung. Die
Skandalisierung von Missständen stellt jedoch keinen Wert an sich dar.
Da die Skandalisierung von Missständen aus den genannten Gründen kein
Wert an sich ist, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen man sie als
positiv oder negativ bewerten kann. Eine Grundlage dazu bieten zwei
einfache und vermutlich unstrittige Feststellungen. Erstens: Je größer
Missstände sind, desto verdienstvoller ist ihre Skandalisierung. Zweitens: Je
geringer die mit einer Skandalisierung verbundenen Nebenfolgen sind, desto
eher ist die Skandalisierung gerechtfertigt. Betrachtet man auf der Grundlage
dieser Feststellungen die Entwicklung der Häufigkeit und der Größe von
Skandalen im Zeitverlauf, kann man zwei Folgerungen ableiten. Je größer die
skandalisierten Missstände werden und je geringer die damit verbundenen
Nebenfolgen sind, desto verdienstvoller wird die Skandalisierung von
Missständen. Ein Beispiel ist die Skandalisierung der immer größeren
Umweltschäden in den 1960er- und 1970er-Jahren. Ferner gilt: Je kleiner die
skandalisierten Missstände werden und je größer die damit verbundenen
Nebenfolgen ausfallen, desto fragwürdiger wird die Skandalisierung von
Missständen. Beispiele hierfür sind die meisten Lebensmittelskandale der
letzten zwanzig Jahre.
Diese Überlegungen führen zu einer verallgemeinernden Feststellung: Der
Grenznutzen der Skandalisierung von Missständen wird im Verlauf der
Entwicklung von Staaten geringer und irgendwann übersteigt ihr Schaden
ihren Nutzen. Diesen Punkt haben die meisten liberalen Demokratien längst
überschritten. In solchen Ländern ist die Skandalisierung von Missständen
nicht die Krönung des investigativen Journalismus. Der Sinn und Zweck des
investigativen Journalismus sind Informationen. Solche Informationen
brauchen Gesellschaften aufgrund ihrer wachsenden Komplexität und ihrer
damit verbundenen Undurchschaubarkeit. Deshalb wird der investigative
Journalismus immer wichtiger. Der Sinn und Zweck der Skandalisierung von
Missständen sind dagegen Aktionen auf der Grundlage von Emotionen.
Solche Aktionen sind allenfalls gelegentlich notwendige Ausnahmefälle. Sie
sind nur unter eng umgrenzten Voraussetzungen berechtigt – nicht weniger,
aber auch nicht mehr.
1 Vgl. hierzu Hartung, Uwe: Publizistische Bedingungen politischer Skandale, S. 21–41.
2 Vgl. Lang, Gladys Engel / Lang, Kurt: The Battle for Public Opinion.
3 Vgl. Moore, Wilbert E. / Tumin, Melvin M.: Some Social Functions of Ignorance.
4 Vgl. Popitz, Heinrich: Über die Präventivwirkung des Nichtwissens.
5 Popitz, Heinrich, ebenda, S. 12.
6 In dem Zusammenhang muss man sich klarmachen, dass viele Diebstähle strafbar sind, aber von
vielen nicht so wahrgenommen werden, darunter die Mitnahme von Büromaterial für private
Zwecke, das Einpacken nicht abgerechneter Lebensmittel beim Großeinkauf usw.
7 Popitz, Heinrich, ebenda, S. 17.
8 Vgl. Gaschke, Susanne: Volles Risiko, S. 180–181.
9 Vgl. Schmitt, Christiane: Die Entwicklung des AIDS-Blutskandals 1993.
10 Vgl. Linde, Otfried K. / Kepplinger, Hans Mathias / Ehmig, Simone C.: Mehr Akzeptanz durch
mehr Fachinformation?
11 Vgl. hierzu Burkhart, Dagmar: Ehre. Das symbolische Kapital.
12 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft, S.
178–205.
13 Vgl. Lipset, Seymour M. / Schneider, William: The Confidence Gap. Business, Labor, and
Government in the Public Mind.
14 Vgl. Chanley, Virginia A. / Rudolph, Thomas J. / Rahn, Wendy M.: The Origins and
Consequences of Public Trust in Government; Ulbig, Stacy G. / Martorano Miller, Nancy: The
Coingate effect.
15 Vgl. Maurer, Marcus: Politikverdrossenheit durch Medienberichte, S. 159–250; siehe hierzu auch
Siebert, Sandra: Angeprangert!
16 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: Sind Parteispenden unmoralisch?
17 Vgl. Kepplinger, Hans Mathias / Ehmig, Simone C. /Hartung, Uwe: Alltägliche Skandale.
18 Popitz, Heinrich: Präventivwirkung des Nichtwissens, S. 20.
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Personenregister
Albayrak, Tugce 13
Albers, Wolfgang 17
Albig, Thorsten 22, 132
Alexander, Peter 107
Altenbockum, Jasper von 151 f.
Ansari, Salman 30
Arnim, Hans Herbert von 92
Asch, Solomon 79, 82, 125
Augstein, Jakob 35
Augstein, Rudolf 205
Barschel, Uwe 8, 11, 14, 19, 72, 88, 212
Bartetzko, Dieter 132
Beck, Volker 8, 14, 17, 36
Beckenbauer, Franz 14, 17, 36
Becker, Gerold 30
Begley, Louis 151
Benda, Ernst 107
Berg, Stefan 144
Bernstein, Carl 207
Bertsch, Benno 75
Biedenkopf, Kurt 41, 67, 82, 175, 191
Blair, Tony 145
Böhmer, Wolfgang 175
Böhmermann, Jan 14, 17, 36, 169, 183
Boetticher, Christian von 12, 160, 164
Bormann, Rüdiger 175
Born, Michael 75 f., 198
Bosbach, Wolfgang 181
Brandt, Willy 41, 72
Brauck, Markus 122, 124
Breitbart, Andrew
Broder, Henryk M. 172
Brüderle, Rainer 13, 16, 21, 25, 76, 88, 160, 163
Brunner, Dominik 114
Bouffier, Volker 178
Bush, George W. 24
Calmund, Reiner 146
Capote, Truman 204
Clinton, Bill 24
Cohn-Bendit, Daniel 13, 28, 44, 127
Cuntz, Christoph 132, 200
Daum, Christoph 11, 14, 143, 146, 210
Darwin, Charles 170
Davison, Phillips W. 148
Deckers, Daniel 200
Deppendorf, Ulrich 117 f.
Denkler, Thorsten 50, 201
Dexelmann, Albert 34
Diekmann, Kai 25, 50, 65, 89–92, 97, 110, 118, 157, 195, 200, 202
Dietl, Helmut 185
Diez, Gerorg 119, 121
Ditfurth, Jutta 177
Dole, Bob 27
Döpfner, Mathias 50, 169
Dorfs, Joachim 121 f., 124
Dribbusch, Barbara 137
Duve, Karin 107
Edathy, Sebastian 13, 16, 22 f., 35, 40, 44, 52, 111, 121, 127, 192
Eimterbäumer, Clemens 93
Ende, Michael 83
Engholm, Björn 11, 19, 88
Erdogan, Recep Tayyip 14, 36
Eumann, Marc Jan 35
Eylmann, Horst
Fedder, Jan 107
Feldmer, Simon 121 f., 124
Filbinger, Hans 12, 161
Fischer, Joschka 12, 103 f., 113, 133, 136, 151, 157, 161, 176–178, 180–182
Fischer, Sebastian 129, 174
Fischer-Lescano, Andreas 34, 89, 173
Fleischhauer, Jan 128, 144, 185
Franziskus (Papst) 21
Friedman, Michel 11, 14, 210
Friedrich, Hans-Peter 13, 16
Frielinghaus, Michael 131
Fritz, Gernot 193
Fröhlingsdorf, Michael 120
Gabriel, Sigmar 13
Gaschke, Susanne 13, 16, 22, 130, 132, 136, 141, 163, 210
Gathmann, Florian 129
Gauweiler, Peter 75, 78, 88
Geerkens, Edith 65, 187
Geerkens, Egon 50 f., 188
Geiger, Thomas 35, 160
Geis, Mathias 151
Geißler, Heiner 33, 72, 76, 188
Gillian, Andrew 145
Glaeseker, Olaf 50, 65, 92
Grams, Wolfgang 11, 62, 189, 192, 199, 212
Grass, Günter 22, 25, 187, 191
Groenewold, David 50, 83, 97, 100, 139 f., 167
Guttenberg, Karl-Theodor zu 12, 15, 18, 28, 34 f., 80, 87, 89, 100, 122, 136, 141, 153, 156−158, 161 f.,
164, 170, 173–176, 180–183, 187, 203, 211
Gysi, Gregor 11, 14, 24, 160, 191, 210
Haderthauer, Hubert 13, 16
Hamdan, Fouad 57
Hamm, Willi 131
Hanfeld, Michael 67, 91, 107, 200
Harbusch, Nikolaus 50 f.
Härtel, Margret 127 f., 136, 160, 176, 178–181, 199
Hartmann, Michael 13, 16, 163, 210
Hartz, Peter 15
Heidenreich, Ralf 200
Heidenreich, Ulrike 75
Heider, Fritz 134
Hengsbach, Friedhelm 107
Hennis, Wilhelm
Herman, Eva 12, 15, 34, 107, 191, 203
Herodes (König) 107
Herzog, Roman 23
Hillgruber, Andreas 120, 170
Himmelreich, Laura 13
Hintze, Peter 120
Hipp, Dietmar 92
Hipp, Roland 57
Hoeneß, Uli 13, 16, 144, 146, 162 f., 193, 210
Höfer, Werner 29, 30, 32, 34, 51 f.
Hohmann, Martin 11, 14
Hondrich, Karl Otto 17
Honnigfort, Bernhard 137
Hunzinger, Moritz 11, 18
Hussein, Saddam 24, 61
Janssen, Hubertus 34
Jauch, Günther 118, 120
Jenninger, Philipp 11, 14, 52, 110, 16, 160, 163, 173, 196
Johannes Paul II. 52
Jones, Phil 123 f.
Kachelmann, Jörg 12, 15, 18, 23, 151, 192, 196, 203, 214 f.
Kaminsky, Claus 179
Kamphaus, Franz 52
Karry, Heinz Herbert 177
Karsli, Jamal 128
Kelek, Necla 172
Kelly, David 145 f., 158
Kempen, Bernhard 175
Kerner, Johannes B. 15
Kießling, Günter 127
Kister, Kurt 107, 129
Klein, Hans-Joachim 177
Koall, Robert 119
Koch-Mehrin, Silvana 35
Kohl, Helmut 11, 14, 18, 31, 34, 72, 78, 81, 83, 99, 107, 117 f., 120, 128 f., 133, 136, 172, 187, 189–
192, 199, 202, 210, 217
Kohler, Berthold 83, 172
Köhler, Horst 12, 15, 18, 24, 36, 107, 129, 143 f., 146, 192, 203, 205
Krause, Günther 95 f.
Kreiten, Karlrobert 29, 32
Kulke, Ulli 123
Kummer, Tom 198, 210
Lammert, Norbert 175
Lehr, Gernot 51, 155
Leisler Kiep, Walther 75, 187 f.
Lewinsky, Monica 24
Lewitscharoff, Sibylle 13, 16, 25, 114, 119, 193 f.
Leyendecker, Hans 75, 81, 88, 181, 202 f.
Loerzer, Sven 75
Lohse, Eckart 174, 202
Lorenzo, Giovanni di 122, 124
Maas, Heiko 16
Mäckler, Christoph 131
Maizière, Thomas de 82
Marx, Reinhard 59 f.
Maschmeyer, Carsten 36, 50, 83
Mascolo, Georg 75, 164
Matussek, Matthias 119
Maucher, Helmut 120
Medick, Veit 120
Meinhof, Ulrike 177
Merkel, Angela 72, 99, 108, 164, 174
Minkmar, Nils 90, 118
Mixa, Walter 12, 15, 20 f., 192
Mohr, Reinhard 181
Mollath, Gustl 13, 15, 193
Möllemann, Jürgen W. 11, 15, 20, 128, 145 f., 212
Möller, Horst 120 f.
Moore, Wilbert E. 208
Müller, Gerhard Ludwig 36
Müller, Martin U. 53
Müntefering, Franz 181
Musial, Bogdan 157
Naidoo, Xavier 13, 16
Nau, Alfred 31
Nelles, Roland 202
Nerb, Josef 111
Niersbach, Wolfgang 16
Niggemeier, Stefan 140, 202 f.
Noelle-Neumann, Elisabeth 79
Noll, Chaim 171
Nolte, Ernst 120 f., 170
Oettinger, Günther 12, 160, 164, 203
Özdemir, Cem 12, 14, 24, 160, 191, 210
Patzelt, Werner 121
Peters, Jan-Eric 200
Pfarr, Heide 95 f.
Pfister, René 12, 15, 210
Pirinçci, Akif 128
Platthaus, Andreas 118
Popitz, Heinrich 208 f., 219
Pötter, Bernhard 123
Prantl, Heribert 129, 203
Preuß, Ulrich 173
Range, Harald 16, 22, 36
Rau, Johannes 181, 183, 192
Reemtsma, Jan Philipp 157
Reich-Ranicki, Marcel 129
Reimann, Anna 93
Reisch, Linda 64 f.
Rindermann, Heiner 172
Röhl, Bettina 177, 181
Rohwedder, Carsten 23
Rosenow, Frank 201 f.
Rosenthal, Matthias 183
Roß, Andreas 75
Rost, Detlef 172
Sarkozy, Nicolas 83
Sarrazin, Thilo 35, 116, 119, 141, 170–173, 182 f.
Sauerland, Adolf 15
Schachter, Stanley 109 f.
Scharping, Rudolf 11, 14, 18, 24, 67
Schattner, Karljosef 131
Schäuble, Wolfgang 8, 13, 16, 18 f., 81
Schausten, Bettina 194
Schavan, Annette 13, 15, 175
Schindler, Jörg 30
Schirrmacher, Frank 49 f., 170–172
Schmid, Thomas 177
Schmidt, Manfred 92
Schmidt, Ulla 12, 50, 191, 210
Schneider, Jens 137
Schreiber, Karlheinz 75
Schrep, Bruno 137
Schröder, Gerhard 12, 24, 27, 36, 41, 103 f., 113, 181
Schröder, Hillu 27
Schulze, Rainer 22
Schumann, Erich 120
Schwarzer, Alice 76
Seehofer, Horst 12, 185, 210
Sherif, Muzafer 39 f.
Siebenhaar, Peter 129
Simonis, Heide 120
Singer, Jerome 109 f.
Snowden, Edward 34
Spada, Hans 111
Späth, Lothar 11, 14, 23, 30, 32, 51, 70, 76, 133
Stahl, Alexander von 14, 23, 212
Stegner, Ralf 130
Steinbrück, Peer 13, 16, 23–25, 88, 140, 160, 163
Stiller, Michael 75
Stolpe, Manfred 160
Storms, Michael D. 134
Strauß, Franz Josef 71, 183 f.
Streiter, Georg 121
Struck, Peter 181
Sturm, Axel 93
Süssmuth, Rita 107
Tannenbaum, Percy H. 109 f.
Tebartz-van Elst, Franz-Peter 13, 16, 24, 27, 34, 40, 52–54, 59 f., 65, 72, 74, 83, 96, 99, 113, 116, 120,
131, 136, 149, 152, 157, 187 f., 192, 199 f., 203, 205, 215
Terlinden, Hans 81
Thierse, Wolfgang 181
Tichy, Roland 200
Tiede, Peter 202
Tuma, Thomas 122, 124
Tumin, Melvin M. 208
Ulrich, Bernd 151
Valentin, Joachim 120
Vogel, Hans-Jochen 155, 175
Vollmer, Antje 30, 151
Volmer, Ludger 12, 15, 103 f., 113, 157
Voltmer, Mirko 93
Wahl, Stefan 111
Wallraff, Günter 35
Walser, Martin 49, 116, 129, 170 f.
Wassermann, Otmar 62
Weber, Jürgen 177
Wehner, Herbert 72
Wehner, Markus 174
Weidermann, Volker 129
Weiland, Severin 92 f.
Welteke, Ernst 11, 14, 25
Wendt, Rainer 93
Wensierski, Peter 53 f.
Weyrauch, Horst 81
Winkler, Heinrich August 121
Winterkorn, Martin 16, 144, 158
Wittmann, Klaus 35, 75
Wittrock, Philipp 92 f., 118, 120
Wolfe, Tom 204
Woodward, Bob 207
Wowereit, Klaus 186
Wulff, Christian 8, 13, 15, 23–25, 27, 35, 40, 50 f., 65, 72, 74 f., 78, 80, 83 f., 89–93, 96–100, 104, 107,
110, 114, 116, 118–120, 129 f., 139–141, 151 f., 155–158, 160, 167, 184–188, 192–196, 200–203,
205, 210, 215
Zastrow, Volker 151, 173
Zippert, Hans 83
Zumwinkel, Klaus 12, 15, 23, 35, 192 f.
Sachregister
1968er 182
Abschlussbericht 197
Absprachen 76 f., 80
Ächtung 120, 125, 171
Aggressivität 109 f.
AIDS-Blut-Skandal 211
AKW Krümmel 12, 40, 63, 165, 196, 203
Andersdenkende 124
Angst 22, 25, 31, 42, 45, 52, 62, 66 f., 92, 110, 128, 143–145, 149, 153, 157
Anschlusskommunikation
Appraisal-Theory 111
ARD 13, 16, 62, 66, 77, 96, 99, 103, 156, 176, 185, 194
Ärger 28, 51, 103, 108, 111–113, 115, 149
Attributionstheorie 134, 136
Audi 65, 192
Bad Kleinen 11, 14, 23, 62 f., 163, 192
Bad Reichenhall 12, 110, 115
Beobachter 39, 41, 98, 104, 131, 133–137, 141–143, 147 f., 150 f., 169, 189 f., 197
Birkel-Nudeln 8, 11, 14, 17
BND 12 f., 16, 33, 36, 103 f., 113, 203
Bonusmeilen 11, 54, 199
Brent Spar 8, 11, 14, 17 f., 24 f., 33 f., 40, 45, 56 f., 58, 78, 107, 110, 113, 116, 133, 143, 155, 158,
164, 188–190, 192
BSE-Skandal 11, 20, 42, 63, 66–68, 108, 116, 188, 196, 211, 213
BUND 34
Celler Loch 80
Charakter 50, 96, 99, 104, 133 f., 136, 138, 173, 196, 202, 209
Chronisten 74 f., 77, 79, 85, 105
Compact 34
Conditio sine qua non 87
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, vCJK 42, 63
Deutsche Umwelthilfe (DUH) 34, 76
Deutungshoheit 204
DFB 16
Dioxin 12, 15, 25, 40, 52, 55, 188, 192, 203, 210
Diskreditierung 118, 121, 123, 140, 146
Dramatisierung 31, 57, 61, 63, 65 f., 68, 209, 213
Drohanruf 90, 118
Ehec 12, 20, 31, 40, 52, 61, 116, 188, 203, 213 f.
Eigennutz 32 f., 37, 70, 114, 194
Empörung 7, 9, 25, 28, 30, 36, 41, 75, 89, 91–93, 96, 107 f., 110, 113–116, 125, 142 f., 191, 193, 204
Ermittlungsverfahren 23, 54, 92, 100, 132, 179, 199, 215
essentialistischer Trugschluss 43 f., 148
Fallhöhe 180, 185
Falschmeldung 140, 158, 202
Flick-Untersuchungsausschuss 31
Flugaffäre 184, 192
Fukushima 12, 15, 21, 24, 27, 33, 45, 56, 59, 66, 86, 110, 203
fundamentaler Attributionsfehler 134, 137
Gegenskandalisierung 181
Gelassenheit 145, 156, 164
Geld, geldwerte Vorteile 13, 15, 18 f., 22, 24 f., 31, 50, 53, 65, 83, 96, 114, 133, 145, 180, 183, 188,
200
Generalprävention, Theorie der 208, 211
Georg-Büchner-Preis 119
Gewissheit 11, 43, 155
Gleichschaltung 125
Glyphosat 13, 16, 19, 34, 40, 42 f.
Greenpeace 17, 34, 56–58, 110, 113, 143, 158, 165
Grexit 13, 19
Gruppendruck 40, 79
Gruppennorm 39 f., 43
GSG 9 14, 23, 62, 163
GuttenPlag Wiki 89, 173 f.
Häme 51, 129 f.
Henri-Nannen-Preis 15, 203
Herzklappen 199
Hilflosigkeit 149
Hitler-Tagebücher 198
Hoechst AG 11, 14, 17, 20, 28, 52, 62, 66, 77, 130, 136, 140, 143, 146, 150, 158, 164, 189, 192
Horror-Etiketten 66
Illusion der autonomen Urteilsbildung 43 f., 104
Immunität 23, 84, 92 f., 100, 139, 145, 158 f.
Infratest dimap 176
Institut für Demoskopie Allensbach 108
instrumentelle Aktualisierung 85, 87 f., 92 f.
Intendantenaffäre 64
International Council on Clean Transportation (ICCT) 34
Internet 73, 83, 89, 101, 121, 123, 128, 146, 151, 159, 173, 197
Isolationsdrohung 121
Isolierung 118, 120
Journalismus, investigativer 207, 220
Kanzlei-Affäre 75, 78, 88
Katastrophen-Collagen 66
Katastrophen-Suggestionen 66
Kernenergie, Kernkraft 8, 15, 21, 24, 33, 45, 55 f., 63 f., 70, 86 f., 199, 213 f.
Killerthema 53, 89
Kita-Skandal 13, 16, 19, 199
Klimawandel 123
Kokain 11, 210
Kollegenkritik 198
Kölner Silvesternacht 14, 17, 40
Kommunikationsblockade 139 f.
Konformitätsdruck 203
Konsens 73, 80, 169
Kontrollverlust 153
Koorientierung 73, 80, 159
Lebensmittelskandale 70, 159, 220
Lipobay 11, 14, 52, 187, 199
Lufthansa 19, 28, 213
Lustreisen 12, 211
Machtkampf 72, 204
Mailboxanruf 90
Media Tenor 185
Medienerfahrene 149 f.
Medienunerfahrene 149
Mercedes 192
Missbrauch 12, 30, 34, 36, 127, 146, 161, 187, 193, 210 f.
Missstände 8 f., 24 f., 27–29, 31, 33 f., 37 f., 40, 44, 52, 64, 66–72, 74, 79, 86, 111–114, 127, 130, 135
f., 142, 159, 169, 184, 188, 191, 194, 198 f., 203 f., 207, 210, 213, 216–220
Mitläufer 74–77, 79
Mobilisierungseffekt 211 f.
Molke, radioaktiv verseuchte 25, 116, 192, 213
Motive 7, 18, 27, 33, 38, 70, 104, 113, 169, 181, 194, 201
Müller-Milch 35, 74, 78
Nebenfolgen, negative 8, 19, 23, 33, 49, 70 f., 212, 214, 220
Nematoden 52, 110, 187
Neue Heimat 71
NGO 34
Nichtwissen 208
Nonkonformisten 117, 123, 125
Norm 27, 40 f., 44, 66 f., 70, 112, 124 f., 183, 191, 207–209, 211, 219
NSA 13, 16, 33 f., 36
NSU-Untersuchungsausschuss 44
Nutzen-Schaden-Bilanz 219
Odenwaldschule 12, 30, 187 f., 203
Opfer 7–9, 19, 28, 30–32, 43, 48 f., 111, 114 f., 127–130, 133, 135–142, 148, 162, 177, 180, 197, 200,
202, 212
Opfer-Schema 28, 49
optische Übertreibung 67
ortho-Nitroanisol 17, 28, 52, 62, 66, 70, 130 f., 136, 140, 143, 158, 164, 190, 192, 196
Pädophilie 13, 25, 55, 111, 121
Panama Papers 37, 77, 93, 194
Pandemie 12, 49, 66, 213
Panik 143, 145–147, 155, 213
Parteispendenskandal 18, 210 f.
Pegida 8, 13 f., 16, 23, 40, 108, 121, 128, 136
Politikverdrossenheit 218
politische Skandale 28, 159–164
Porsche 192
Portionieren 88
Pradaxa 80
Pranger 204, 209, 219
Präventivwirkung 208, 210, 212, 219
Pressefreiheit 22, 89–92, 114, 122, 219
Presserecht 165 f.
Problemlösungsfähigkeit 153
Protagonist 7–9, 80, 99 f., 131, 139, 147–150, 167
Prügelstrafen 15, 20
publizistischer Konflikt 36, 184
Revision 198 f.
reziproke Effekte 147 ff.
Rollen-Inkonsistenz 141
Sandoz 44
SARS 11, 31, 40, 67, 114, 213
Schaden 7, 9, 14, 20, 29, 43, 65, 70, 103, 111, 113, 122, 132 f., 178, 193, 200, 207, 220
Schauprozess 24, 125
Schemata, Schemabildung 40 f., 43–45, 47, 48–52, 55, 78–80, 104, 128
Schleichwerbung 13, 35
Schmähkritik 14, 17, 36, 141, 169
Schweinegrippe 12, 20, 34, 49, 66, 114, 116, 188, 199, 203, 213
Sebnitz 23, 40 f., 76, 114–116, 128, 137, 189, 194, 198, 201, 212
Selbstreferenzialität 80
Selbstvertrauen 156 f.
Selbstwertgefühl 153 f.
serielle Skandalsierung 40, 67
Shell AG 56–58, 110, 113, 133, 136, 143, 146, 150, 158, 164
Skandalisierer 7 f., 33 f., 49, 65, 88, 125, 163, 181, 194, 199, 202–205, 207
Skandalisierungsversuch 35, 52 f., 75, 77, 105, 182, 184
Skandalkulturen 24
Skandaltheorie, funktionalistische 207–209, 215, 218 f.
Skeptiker 74, 78, 123 f.
Spenden, anonyme 11, 31, 189, 191, 210
Staatsanwälte 23, 35, 92, 147–150
Steuerhinterziehung 12 f., 32, 144, 162, 210
Störfallserie 20
Sturmgewehr G36 8, 13, 16, 19, 22, 36, 187 f., 192
Stuttgart 21 12, 25, 100 f., 122
Suhrkamp Verlag 16, 119
Systemvertrauen 217
Täter 7 f., 28, 48, 55, 127, 129, 131, 136, 138, 141 f., 180, 193, 207, 209
Täter-Opfer-Dramen 114
Täter-Schema 48
TNS Emnid 176
Totschweigen 122
Trittbrettfahrer 76
Trotz 143, 145, 147, 154 f.
Tschernobyl 56, 66, 80, 86, 159, 213
TTIP 34, 36
Übertreibung 41, 65, 67–70, 86, 201, 212, 218
Umweltskandale 28, 66, 159
UNSCEAR-Bericht 59
Ursache-Wirkungs-Beziehung 85
Verbrechens-Assoziationen 66
Verfahren, geregeltes 196 f.
Verfahrensfehler 193
Verkehrsclub Deutschland (VCD) 34, 76
Verlierer 159
Vioxx 11, 52, 80
VISA 12, 15, 103, 157
Vogelgrippe 11, 66, 114
VW-Abgasskandal 32, 34, 76, 192, 211
VW-Skandal (2005) 15, 25
Wahrheit 11, 25, 41, 74, 96, 163, 187–190, 194 f., 197 f., 201, 203–205
Watergate-Affäre 207
WestLB 184 f.
WHO 14, 16, 18 f., 34, 49
Wirkung 8, 36, 47, 66, 68, 85 f., 99, 100, 102–105, 109 f., 149 f., 153, 164, 167, 204
Wirkungspotenzial 80, 95–97
Wortführer 41, 70, 74–76, 78, 81, 199, 201
ZDF 13, 16 f., 66, 73, 81, 96, 103, 156, 185, 194
Zweck-Mittel-Beziehung 85
Zwei-Faktoren-Theorie 109, 111
Zwei-Phasen-Theorie 154–157
Rainer Brüderle - Jetzt rede ich!
Müller-Vogg, Hugo
9783957681225
150 Seiten
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Rainer Brüderle war bei der Bundestagswahl 2013 "Gesicht und Kopf
der FDP" (Philipp Rösler). Doch kaum war er zum Spitzenkandidaten
nominiert, wurde er das Opfer rein politisch motivierter "Sexismus"Vorwürfe. Brüderle und die FDP gerieten nicht nur deshalb in die
Defensive. Die Partei litt zudem an ihren schlechten Umfragewerten,
am Streit innerhalb ihrer Führung sowie an den ständigen Querelen
mit dem Koalitionspartner CDU/CSU. Zu allem Unglück zog sich der
Spitzenkandidat drei Monate vor der Wahl bei einem Sturz schwere
Brüche zu, konnte so den Wahlkampf nur unter Schmerzen
durchstehen. Das Ende ist bekannt: Am 22. September verfehlte die
FDP den Einzug in den Bundestag. Rainer Brüderle hat zu alldem
bisher eisern geschwiegen, zu den Medien-Kampagnen gegen die
FDP wie zu dem stellenweise gegen die Liberalen gerichteten
Wahlkampf der Union. In diesem Buch nimmt er zum ersten Mal
Stellung: offen, selbstbewusst, kritisch - auch selbstkritisch. Hier
spricht ein Mann, der eine Schlacht verloren hat, aber nicht den
Glauben an die liberale Idee.
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Pioniere reiten los
von Trotha, Thilo
9783957681744
264 Seiten
Titel jetzt kaufen und lesen
In zwei Deutschland aufgewachsen. In den revolutionären 68/69er
Jahren studiert. In den dramatischen Monaten der Ostpolitik im
Bundestag gearbeitet. Im Bundeskanzleramt unter Helmut Schmidt als
Redenschreiber den deutschen Herbst, Mogadischu und Hanns
Martin Schleyer erlitten. Deutsche Einheit. 70 Jahre Frieden. Thilo von
Trotha liefert uns die deutsche Erzählung aus der Sicht eines jungen,
mittelalten und alten Zeitzeugen und Mitgestalters. Komponiert im Stil
einer Kantate. Für ältere Menschen gut, um sich zu erinnern. Für
junge Menschen gut, um zu verstehen.
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Historische Existenz
Nolte, Ernst
9783957681478
768 Seiten
Titel jetzt kaufen und lesen
Die Geschichte als Ganzes verstehend zu begreifen - diesem Ziel
dient Ernst Noltes großes Buch. Seine bisherige Beschäftigung mit
Zeitgeschichte und vor allem mit den modernen Ideologien erhält
damit den denkbar größten zeitlichen Rahmen. "Historische Existenz"
meint die Geschichte im Ganzen, nämlich den Zeitabschnitt von etwa
5000 Jahren zwischen der Vorgeschichte und unserer Gegenwart, die
der Anfang einer möglicherweise unabsehbar langen
"Nachgeschichte" sein könnte. Eine Begrenztheit der Geschichte ist
seit Hegel zum Thema für Historiker und Geschichtsphilosophen
geworden. Ernst Nolte nähert sich dieser Frage nicht auf
"universalhistorische" Weise, sondern er analysiert die wichtigsten
Kategorien der historischen Existenz wie Religion, Staat, Adel, Krieg
und Frieden, Stadt und Land, das Aufbegehren und die Linke, ohne
dabei auf erzählende Kapitel zu verzichten. Die "Nachgeschichte" ist
für Nolte indessen keine fraglose Realität, die durch eine klare Grenze
von der Geschichte abgetrennt ist. Wenn er in diesem Buch der
Geschichte des 20. Jahrhunderts den weitestmöglichen Rahmen zu
geben versucht, so bleibt er gleichwohl ein Geschichtsdenker, der sich
von den großen Konstruktionen einer "Geschichtsphilosophie"
fernhält. "Historische Existenz" ist das Opus magnum eines großen
Gelehrten und zugleich unentbehrliche Lektüre für alle, die sich für die
Geschichte als Ganzes interessieren.
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Höllensturz und Hoffnung
Hahn, Hans-Joachim
9783957681164
256 Seiten
Titel jetzt kaufen und lesen
Wohin steuert unsere Gesellschaft? "Wir sind zehn Professoren aus
Deutschland. Und wir glauben, dass unsere Zivilisation kurz vor dem
Zusammenbruch steht. Allen Ernstes. Wir sind national und
international anerkannte Topexperten in den Feldern Medizin,
Finanzen, Ethik, Psychologie, Biophysiologie, Wirtschaft, Informatik,
Rechtswesen und Biophysik. Und wir sehen den Berg, an dem unsere
Gesellschaft zerschellen wird, auf uns zu kommen. Das Ende der Welt
zu beschwören hat derzeit wieder Konjunktur, das wissen wir. Nichts
liegt uns ferner, als uns in den Chor der Kassandras einzureihen, die
das Abschmelzen der Polkappen beklagen und das bevorstehende
Aussterben der Eisbären, die Vermüllung und Vergiftung der Meere,
die Überbevölkerung … Das alles findet statt. Was uns bevorsteht, ist
aber noch viel schlimmer als all das. Wir sehen so viele
Negativspiralen, die miteinander in Wechselwirkung stehen, wir sehen
derart steile Kurven in ganz bestimmten krisenhaften
Entwicklungsfeldern, wir sehen so viele kumulierende Krisen und
kollabierende Systeme, dass wir sicher sind: Unsere westliche Welt ist
in größerer Gefahr als jemals zuvor." In diesem Buch werden die
zukunftsbedrohenden Entwicklungen im Inneren unserer Zivilisation.
Der Fokus richtet sich auf die inneren Prozesse unseres
Zusammenlebens, die Richtung, in die sich unsere Gesellschaft
entwickelt, darauf, die wesentlichen Katastrophenfelder und Effekte zu
erklären, die bislang übersehen werden, weil sie nicht so einfach
messbar sind wie die äußeren Faktoren und für sich betrachtet nicht
so bedrohlich aussehen und so dramatisch darstellbar sind wie z. B.
eine Sturmflut oder eine Ölpest. "Die innere Verfassung unserer
westlichen Welt sehen wir mürbe werden und zerbrechen. Unsere
Zivilisation droht im Innern zu kollabieren, und das wiegt viel schwerer
als all die Probleme von Außen." Uns droht ein "Höllensturz", wenn wir
nicht zur Umkehr aus ihnen finden. Indes begründen sie auch, warum
si
Titel jetzt kaufen und lesen
Der Weg zur Knechtschaft
Hayek, Friedrich A. von
9783957681270
336 Seiten
Titel jetzt kaufen und lesen
Das Kultbuch des renommierten Nationalökonomen und intellektuellen
Gegenspielers von John Maynard Keynes. "Selten schafft es einmal
ein Ökonom, mit einem Buch das breite Publikum aufzurütteln. Eine
große Ausnahme bildet ›Der Weg zur Knechtschaft‹, jenes legendäre
Buch des späteren Nobelpreisträgers Friedrich A. v. Hayek […]. Ein
Jahr vor Kriegsende popularisierte Hayek damit im Londoner Exil
seine in den zwanziger und dreißiger Jahren gewonnenen
Überzeugungen, vor allem die These, dass jeder Planwirtschaft eine
Tendenz zum Totalitarismus innewohnt und dass es keinen Mittelweg
zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft geben kann. ›Der Weg zur
Knechtschaft‹ hat zentrale Bedeutung für jene Ideen, die man heute,
leicht missverständlich, als ›Neoliberalismus‹ bezeichnet; die
Überzeugung, dass ökonomische Probleme am besten über freie
Märkte gelöst werden sollen und der Anteil des Staates zurückgeführt
werden sollte. Einprägsam besonders Hayeks Begründung, warum
Planwirtschaft und Demokratie nicht zusammenpassen."
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