Uploaded by arno.schmitt

1985 Vorlesung

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1970 war der Tiefpunkt. „Homosexualität“ hatte alle anderen Sichten
auf mann-männliche (und weib-weibliche) Sexualität soweit verdrängt,
dass im Zentralorgan der Orientalistik, der zuerst vor allem deutsch,
nach dem Krieg nur noch englisch und französisch erscheinenden
Enzyklopädie des Islam unter dem Stichwort liwā< (= Sodomie = Arschficken) eben nicht liwā< abgehandelt wurde, sondern Homosexualität.
Gleichzeitig verbreitet sich unter nordamerikanischen Schwulen die
Idee, dass Schwule – wie Schwarze, Koreaner und Juden – schwul
geboren werden, dass sie eine Urzeiten unterdrückte Minderheit seien.
John Boswells Homosexuality, Social Tolerance and Christiany (1980)
brachte ihm Ruhm, Preise, Geld und einen Ruf nach Yale. Darin schrieb er,
dass der Islam die Schwulen bewundert und respektiert habe. (pp194sq.)
Dagegen hielt ich meine Vorlesung, veröffentlichte meine Kleinen Schriften.
Zur Ausprache der arabischen Wörter
a,i,u wie im Deutschen (man, in, und)
ā,ī,ū lange Vokale (war, wir, Kugel)
b,d,f,h,k,l,m,n,s,t wie im Deutschen – jedoch bleiben d und h auch
am Ende weich bzw. hörbar,
s immer stimmlos (Kies)
w,y,z wie im Englischen (Jahr wäre also ‚yār´, Sonne ‚zone´)
M
stimmhaftes th wie im Englischen (the)
N
stimmloses th wie im Englischen (thing)
LJ
stimmhaftes dsch
gh
Gaumen-r (wie in Paris)
r
Zungen-r (wie in München)
P
tief in der Kehle hervorgepreßtes h
kh
wie deutsches ch (Bach, ach)
š
wie deutsches sch
q
dumpfes gutturales k
S, T, <, U am Obergaumen gebildete emphatische Variante von s, d, t, z
‫ء‬
Kehlverschlußlaut wie deutscher Stimmeinsatz ‫ء‬ein ‫ء‬Eid
(≠ Meineid)
Ɉ
gepreßter Kehllaut
Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik in der
islamischen Gesellschaft
Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich zuerst die Eingrenzung des Themas ganz deutlich machen: Erstens: Ich behandele nur
zwischenmännliche Sexualität und Erotik – zwischenweibliche Sexualität bleibt ausgespart. Zweitens: Es geht nicht in erster Linie um
Sexualität gläubiger, praktizierender Muslime, sondern um die
Sexualität von Knaben und Männern in der vom Islām geprägten
Gesellschaft Nordafrikas und Vorderasiens – schließt also einen
christlichen Libanesen ebenso ein, wie einen ungläubigen, laschen
oder häretischen Muslim, oder einen irāqischen Juden.
Drittens geht es nur um die Sexualität im islāmischen Kernraum, also
in erster Linie um die zwischenmännliche Sexualität in der
arabischen Gesellschaft seit Errichtung des ersten islāmischen Staates
im Jahre 622, dann in der persisch-islāmischen und auch in der
kleinasiatisch-islāmischen Gesellschaft. Die erst später islāmisierten
Gebiete Afrikas, Indiens und Südostasiens bleiben unberücksichtigt.
Übrigens deckt sich der islāmische Kernraum ziemlich genau mit
den hellenistischen Reichen der Diadochen plus dem der Punier, also
mit den außer-europäischen Teilen des Imperium Romanum plus
Iran. Geographen nennen dieses Gebiet „Winterregenzone des
Altwelt-Trockengürtels“.
Der Islām interessiert hier weniger als Religion, denn als Zivilisation
– übrigens ist weder das eine noch das andere in der Wüste entstanden; der Islām begann in einer arabischen Handelsstadt und bekam
seine klassische Gestalt in der Auseinandersetzung mit der christlichhellenistischen Kultur der Städte Ägyptens, Syriens und Mesopotamiens.
Die Araber haben viele hellenistische Sitten und Gebräuche einfach
von ihren aramäisch-, koptisch- oder griechisch-sprachigen Eltern
übernommen. Manche theoretischen Anschauungen haben sich
durch das Studium griechischer Texte erhalten, etwa die
medizinische Vorstellung, daß Männer, die sich gern ficken lassen,
einen sonst im Penis auslaufenden Nerv am After haben oder die
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
2
Vorstellung, daß das Geschlecht davon abhängt, ob der Samen und
die Eier von der rechten oder der linken Seite kommen und ob sich
das befruchtete Ei rechts oder links einnistet. Sind alle drei Faktoren
rechts, entsteht ein maskuliner Mann, der auf Frauen steht. Sind alle
Faktoren links, entsteht eine richtige Frau. Mannweiber,
Transvestiten, Invertierte entstehn bei teils rechts, teils links.1
Ebenfalls griechischen Ursprungs ist die Vorstellung, daß Hirtenund Bauernvölker, bei denen die Knaben alles Nötige vom Vater
lernen könnten, keine Paederastie kennten, während Kulturvölker
auf die erotische Anziehung der Knaben angewiesen seien, damit
weisen Männern Erziehung Spaß mache, daß es also bei
Kulturvölkern paedagogischen Eros und Paederastie gebe.2
Bevor ich ihnen meine Beobachtungen und Schlußfolgerungen vortrage,
möchte ich einige allgemeine Wahrheiten darlegen, von denen ich
ausgehe:
1.) Man kommt nicht homo (- oder hetero)sexuell auf die Welt, man
wird dazu gemacht.
Ich möchte – sozusagen als Credo – die berühmten Sätze Freuds aus
den Fußnoten zu den Drei Abhandlungen zitieren:
„Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen. Indem sie
auch andere als die manifest kundgegebenen Sexualerregungen studiert, erfährt sie, daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen
Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen
haben. ... Der Psychoanalyse erscheint... die Unabhängigkeit der
Objektwahl vom Geschlecht des Objektes, die gleich freie Verfügung
über männliche und weibliche Objekte... als das Ursprüngliche, aus
dem sich durch Einschränkung nach der einen oder anderen Seite
der normale wie der Inversionstypus entwickeln. Im Sinne der
Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des
Ursula Weisser, Zeugung, Vererbung und pränatale Entwicklung in der Medizin des
arabisch-islāmischen Mittelalters, Erlangen, Hannelore Lueling, 1983, S.296-300
2 Ikhwān aS-Saffā‫ء‬, Rasā‫ء‬il
1
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
3
Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und
keine Selbstverständlichkeit...“3
Man darf also nicht von einer vorgegebenen Homosexualität ausgehen, die in verschiedenen Gesellschaften verschiedene Formen
annimmt, sondern es ist die Sozialisation des Einzelnen zu studieren,
dann die Werte und Einrichtungen der Gesellschaft und schließlich
das konkrete Verhalten. Wir müssen also die Entwicklung orientalischer Knaben vom amorph-sexuellen Urzustand zum sozialisierten
Erwachsenen studieren. Wir werden dabei feststellen, daß die Situation, in der der arabische Knabe aufwächst, in vielem eher der des
Knaben des klassischen Hellas gleicht als der des europäischen
Bürgers.
Wie im klassischen Griechenland4 gibt es in der arabisch-islāmischen
Gesellschaft eine scharfe Trennung zwischen dem weiblich-häuslichen
und dem männlich-öffentlichen Bereich. Der Knabe ist dem weiblichen
Bereich zugeordnet und gegenüber dem Vater und dessen männlichen
Freunden und Partnern muß er sich weiblich-unterwürfig verhalten.5
Diese primäre Sozialisation bewirkt beim Knaben meist die SelbstIdentifikation als Nicht-Mann (als den Penis Aufnehmender).
Gleichzeitig bekommt der Knabe früh mit, daß Männer in vieler Hinsicht (politisch, rechtlich, wirtschaftlich, rituell) privilegiert sind, und
daß er dazu ausersehen ist, ein Mann zu werden, ja für die Mutter ist
der kleine Nicht-Mann teils schon Mann; sie bedient ihn hinten und
vorn, er ist ihr Augapfel, ihr Kundschafter in der Männerwelt und
überhaupt derjenige, der ihr Wert verleiht; dies gilt ganz besonders
für den Erstgeborenen – nach meinen Erfahrungen haben diese
selten Schwierigkeiten mit der Männerrolle und lassen sich ganz
selten penetrieren.
Der – oft abrupte – Übergang in den öffentlich-männlichen Bereich,
in dem er sich einerseits „männlich“ (phallisch-aggressiv/rivalisie-
Sigmund Freud, Drei Abhandlungen, 1905, Fußnote 1910, 2. Absatz 1915
Philip E. Slater, The Glory of Hera, Boston, Beacon, 1969
5 Taher Ben Jelloun, La plus haute des Solitudes, Paris: Seuil 1977; deutsch als Die
tiefste der Einsamkeiten, trad. Dorothe Schnyder, Basel: Stroemfeldt-Roter Stern, 1986
3
4
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
4
rend) behaupten muß6, andererseits aber gegenüber dem Vater (und
anderen Autoritätspersonen) unterwürfig (anal-passiv) verhalten
muß,7 erlaubt meist nur eine prekäre männliche Identität. D.h. der
Mann muß sich seines Mann-Seins immer wieder neu vergewissern,
er muß es sich immer wieder neu beweisen. Deshalb auch die Angst,
penetriert zu werden, und die Angst davor, bei der Penetration Lust
zu empfinden und davor, daß das bekannt wird.
2.) Sprache und Wirklichkeit stehen in einem dialektischen Verhältnis.
Oder ohne das Fremdwort: Unsere Sprache und die Welt, so wie wir
sie wahrnehmen und erleben, wirken aufeinander.
Viele glauben, Dinge und Sachverhalte existierten unabhängig von
der Sprache. Sprache komme sozusagen hinterher; sie habe die Wirklichkeit nur – möglichst genau – abzubilden. Tatsächlich aber formt
die Sprache unsere Wahrnehmung von Dingen und Sachverhalten
ganz erheblich. Was die einen ‚Savanne´ nennen, heißt bei anderen
‚Wald´. Für die Franzosen muß übrigens ein Wald groß (dunkel und
unheimlich) sein, damit er forêt heißt, damit er ein Wald ist; sonst ist
er nur un bois – in dem man sich kaum verirren kann. Manche
Unterschiede bestehen nur „dank“ der Sprache: Kraut – Unkraut,
Gottesdienst – Götzendienst, stur – konsequent.
Die Araber erleben den Bruder der Mutter, den khāl, als viel netter
und wärmer als den Bruder des Vaters, den Ɉam. Für uns sind sie
beide gleich Onkel. Nur „dank“ der Sprache gibt es Mittelwelle und
Kurzwelle, „Verhaltensgestörte“ und „Lernbehinderte“ – oder
genauer – eben dialektisch gesehen: auch ohne Benennung gibt es
unterschiedliche Hautfarben. Daß aber Schweinfarbene, Elfenbeinarbene und Erdnußfarbige „Weiße“ sind, während Kaffee- und
Haselnußfarbige „Schwarze“ sind, „verdanken“ sie der Sprache.
Wörter sind also nicht Namen für Dinge, die so sind, wie sie sind,
sondern Wörter wählen aus und grenzen ab. Und in der Tat machen
sie dies mehr oder weniger gut.
ɈAbdalwahhāb Bouhdība, The Child and the Mother in Arab-Muslim Society in L.
Carl Brown (ed.): Psychological Dimensions..., Princeton, 1977
7 Hichem Djait, La Personalité et le devenir arabo-islamique, Paris, Seuil, 1974. vergl.
Hišām Bašīr Šarabī, Muqqadima li-dīrasat al-muLJtamaɈ al-Ɉarabī, Bairūt, 1975
6
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
5
2a) Die Begriffe „homosexuell“, „Homosexualität“ und „Homosexueller“ sind in meinen Augen äußerst unglücklich gewählt.
„homosexuell“ heißt ‚gleichgeschlechtlich´ und wird auch gelegentlich so verwendet; (etwa ‚die katholischen Klöster sind homosexuell´)
meist steht es jedoch für ‚gleichgeschlechtlichgeschlechtlich´: also für
‚geschlechtlich unter Personen gleichen Geschlechts´; ärgerlich, daß
ein Wort zwei Bedeutungen hat, von denen auch noch eine unlogisch
ist. Schwerer wiegt der Einwand, daß der Begriff unnötig abstrakt ist.
Er fast nämlich zwei Sachen zusammen, die nichts miteinander zu
tun haben, nämlich „zwischenmännlich“ und „zwischenweiblich“.
Präziser kann meist von „Beziehungen zwischen Männern“ bzw.
„Beziehungen zwischen Männern und Knaben“, von „Beziehungen
zwischen Frauen“ bzw. „Geschlechtsverkehr zwischen zwei Frauen“
usw. gesprochen werden.
Das Substantiv „Homosexualität“ kann ganz Unterschiedliches
bedeuten:
einmal den einen Teil der sogenannten Bisexualität,8 mit der jeder
Mensch auf die Welt kommt,
dann das aus der primären Sozialisation hervorgegangene aber nicht
unbedingt ausgelebte Verlangen nach dem eigenen Geschlecht (so in
der Wendung ‚latente Homosexualität´),
dann die Gesamtheit der sexuell-erotischen Wünsche und Handlungen eines manifest Homosexuellen (´meine Homosexualität´) und
schließlich die Gesamtheit der sexuellen Erscheinungen (Phänomene)
zwischen Personen des gleichen Geschlechts in einer Gesellschaft
(etwa in der Wendung: ‚Homosexualität spielte in Griechenland eine
große Rolle´).
Relevanter für unser Thema sind die Definitionsschwierigkeiten des
Begriffs „ein Homosexueller“. Bezeichne ich jemanden – und nicht
einen Akt oder eine Beziehung – als homosexuell, komme ich in
Teufels Küche: Gilt jemand als „Homosexueller“, der irgendwann
mit „Bisexualität“ ist hier nicht gemeint, was das Wort genau genommen bedeutet –
und was es anfangs auch bedeutete -, nämlich „Zwei-Geschlechtlich-Sein“, „ZweiGeschlechter-Haben“, sondern „Auf-zwei-Geschlechter-gerichtet-Sein“, also
Digenitropie.
8
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
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einmal Sex mit einer männlichen Person hat oder muß er dies als
Erwachsener tun?
Reicht es, daß er es einmal tut, oder muß es mehrmals sein? Oder
muß es öfters sein als mit Frauen? Oder muß es gar ausschließlich
sein?
Muß es ganz freiwillig sein oder zählen auch Akte, die unter Drogeneinfluß oder für Geld erfolgten?; zählen Akte, von denen man sich
etwas für die Karriere verspricht?
Reicht es, daß man überhaupt mit männlichen Personen „schläft“
oder muß eine Vorliebe vorliegen?
Reicht es wenn Beobachter eine solche Präferenz feststellen, oder
muß der Betreffende selbst sagen, daß er Männer vorzieht, um „ein
Homosexueller“ genannt werden zu können?
Reicht ein Akt oder muß Orgasmus eingetreten sein? Oder muß die
empfundene Lust mindestens so groß (und häufig) sein wie mit
Frauen?
Reicht ein Liebesgefühl für einen Mann oder muß es körperlich
umgesetzt werden? Reicht ein körperlicher Akt ohne Gefühl? Reicht
es, um jemanden „einen Homosexuellen“ zu nennen, wenn er mit
nur einer Person des eigenen Geschlechts verkehrt hat?
Schließlich: zählt jede sexuelle Betätigung, auch Küssen? Oder
gegenseitiges Masturbieren? Oder muß man gar „Sachen gemacht“
haben, die man mit einer Frau nicht machen kann?
Diese Kriterien habe ich natürlich nach ihrer Relevanz für Araber
ausgewählt: im Gespräch mit mir gaben viele Araber, die „sich einen
blasen lassen“, oder ficken, an, daß sie das ja lieber von einer Frau
machen ließen und der Typ sei nur Ersatzfrau; er selbst sei der Mann
und nicht etwa homosexuell.
Andere sagten, sie stünden im Prinzip auf Frauen, nur mit einem
bestimmten Kumpel täten sie es ab und zu; mit andern Männern
oder Jungs könnten sie nicht; sie seien nicht homosexuell.
Andere sagten, sie täten es auch Frauen und später würden sie – wie
alle – heiraten; sie seien nicht homosexuell.
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
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Andere sagten, mit Männern mache es nicht richtig Spaß, sie müßten
sich vorstellen, sie fickten eine Frau; sie seien jedenfalls nicht homosexuell.
Andere sagten, sie täten es nur des Geldes wegen, oder in der Hoffnung, Visum und Arbeitsgenehmigung organisiert zu kriegen oder
um an einen Job zu kommen; Spaß mache es ihnen kaum, aber der
Samen müsse ja irgendwie raus und Nutten seien zu teuer.
Macht es einen Unterschied, ob ich denen das abnehme oder nicht,
ob ich es aufgrund meiner Beobachtungen für Ausreden halte oder
ob ich den Eindruck habe, daß sie bei gleichen Bedingungen eine
Frau vorzögen?
Andere sagten, sie täten es nur gelegentlich, wenn sie mal keine
Freundin hätten oder während der letzten Monate der Schwangerschaft ihrer Frau; sie seien jedenfalls normal.
Andere sagten, sie empfänden nichts für den Typen, den sie fickten.
Der brauche das, der brauche Männer, aber ihm selbst könne doch
völlig egal sein, was um das Loch drumherum sei.
Andere sagten, ja als Kinder seien sie von den Größeren gefickt worden, aber da hätten sie sich ja kaum wehren können; heute machten
sie da nichts mehr; da könne man sie doch nicht homosexuell
nennen.
Noch größer wird die Verwirrung, wenn „Homosexueller“ und
„Schwuler“ nicht getrennt werden. Ich bin jedenfalls der Meinung,
daß man von einem „Schwulen“ nur reden sollte, wenn er
b) sich dieser Vorliebe nicht entledigen möchte und
c) sie zumindest teilweise öffentlich macht sowie an schwulen SubKulturen teilnimmt.
Doch von noch größerer Bedeutung als die Abgrenzungsschwierigkeiten des Begriffes „Ein Homosexueller“ ist die Beliebigkeit des
Kriteriums Gleichheit/Andersheit des Geschlechts überhaupt. Statt
das Geschlecht der Partner zum Kriterium zu mache, könnte man
auch ihr Alter, ihren Stand, ihre Rasse, ihre Religion zum Kriterium
machen. Man könnte aber auch danach unterscheiden, ob es sich um
reinen oder um sentimental oder finanziell befrachteten Sex handelt,
ob die Personen innerhalb einer festen Beziehung „verkehren“,
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
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außerhalb oder ganz ohne. Manchen Gesellschaften ist es wichtig, ob
man es versteckt oder öffentlich tut, anderen ist wichtig, ob Gewalt
dabei eine Rolle spielt oder nicht. Wieder andere richten ihr Augenmerk auf den Akt selbst: sie wollen wissen, ob er rein genital, genitaloral, genital-anal, oder a-genital ist (wobei man noch in natürliche
und unnatürliche trennen kann). Wieder andere lenken durch
Wortschatz, Redewendungen und Dichtung, durch Tadeln, Strafen,
Loben, Privilegieren, durch Absondern und Heiligen
Aufmerksamkeit auf die Rolle, die man in einem als asymmetrisch
gedachten Akt einnimmt: penetriert man oder wird man penetriert?
Die von uns untersuchten islāmischen Gesellschaften gehören hierzu;
hier fragt man „wer ist aktiv und wer passiv?“ Man beachte die
verräterische Sprache: aktiv – passiv. Genau so gut könnte man von
dem als ‚aktiv´ reden, der sich öffnet, der aufnimmt und von dem als
‚passiv´, der teilweise aufgenommen wird.
Die islāmischen Gesellschaften unterteilt nicht wie „wir“ nach Alter,
Geschlecht und Geschlecht des Partners,
sondern die entscheidende Grenze ist: penetriert man den Körper des
Anderen oder wird man penetriert, nimmt den Penis auf. Die einen
sind Männer, die anderen sind Nicht-Männer; dazu gehören neben
Frauen und Mädchen, auch Knaben, Eunuchen, Zwitter, Transvestiten und alle Gefickten.
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
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Für die die islāmische Kultur weitgehend prägende städtische Mittelschicht der Blütezeit des Islām gehörten auch Sklaven, Abhängige,
Nomaden, Unzivilisierte und in gewisser Weise Nicht-Muslime zur
Gruppe der Nicht-Männer. Dann ergibt sich dieser Graph:
Die Araber kommen also gar nicht auf die Idee, „Arschficker“ als
Schimpfwort zu benutzen, denn auch Arschficker sind Ficker, also
o.k.. Das entsprechende Schimpfwort ist „Gefickter“. Es wird
natürlich auch einfach so – ohne konkreten Verdacht – gebraucht,
um jemanden herabzusetzen.
Bei allem Gefühl der Überlegenheit der Männer – sie halten sich für
stärker, intelligenter, verantwortlicher, eher in der Lage ihre Triebe
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
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zu zügeln9 – wissen sie, daß sie ihre Überlegenheit vielfältig
absichern müssen. So legen sie – wie im alten Griechenland – Wert
darauf, daß die Familie der Ehefrau dem Mann weder ökonomisch,
noch vom gesellschaftlichen Ansehen her überlegen ist. Damit die
Ehefrauen möglichst dümmer sind als die Ehemänner, gibt man
seinen Töchtern kaum theoretisches Wissen mit, und verheiratet sie
fast immer an einen älteren Mann. Während ein Mann vier Gattinnen
und unbeschränkt viele Konkubinen haben darf, ist die Frau auf
einen Mann beschränkt. Während er sie verstoßen kann, hat sie dies
Recht nicht. Sie kann weder Oberhaupt der Gemeinde noch Richterin
in Strafsachen sein. Als Zeugin und als Erbin zählt sie halb so viel
wie ein Mann. Nicht einmal Bewegungsfreiheit hat sie.
Ähnliche Handicaps gelten für Wahnsinnige, Kinder, Sklaven, NichtMuslime10.
Nun die Hauptaussage dieser Vorlesung – quasi zum Mitschreiben:
In der Gesellschaft des islāmischen Kernraums (Nordafrika,
Vorderasien) gibt es „den Homosexuellen“ weder im Denken (als
Begriff), noch in der Sprache (als Wort), noch in der Realität.
Genau so wenig gibt es „den Heterosexuellen“.
Es gibt – von modernen Kunstschöpfungen abgesehen – im Arabischen kein Wort für „Homosexualität“.
Es gibt eine Reihe von Wörtern, die moderne Europäer und
Amerikaner dem „Vokabular der Homosexualität“ zurechnen. Doch
bezeichnet kein Begriff „Homosexualität“.
vergl. die interessante Arbeit von A. Cheikh Moussa, džāPiU et les eunuques in
Arabica XXXIX, 1982
10 nicht nur die allgemeine Rechtsfähigkeit ist beschränkt, auch das Verfügen über
ihren Körper; nicht nur die „öffentliche Meinung“, sondern auch Juristen erlauben das
Penetrieren von Sklaven und Nicht-Muslimen (z.B. einige Malikiten laut Abū'l MaɈāli
MuP. b. ɈUbaidallāh al-husainī, ediert von Charles Schefer in Chrestomathie Persane I
p.154).
In Ibn Falīta, Rušd al-Labīb, ed. Moh. Z. Djabri, p.14 beruft sich ein mu‫ء‬aMMin, der
einen Christenjungen beschlief auf den Qur‫ء‬ān (Sure IX, Vers 120: „sie werden keinen
Einfall machen, der den Groll der Ungläubigen hervorruft, ohne daß ihnen dafür eine
rechtschaffene Tat gutgeschrieben würde.“)
9
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
11
Erstens beziehen sich alle Wörter aus diesem Vokabular entweder
auf zwischenweibliches oder auf zwischenmännliches Verhalten
oder Verlangen.
Zweitens bezeichnet kein arabisches Wort zwischenmännliches
Verhalten oder Verlangen (oder Beziehungen) allgemein und
ausschließlich
Das ist so, wenn auch in den Wörterbüchern anderes steht. Dort wird
oft liwā< mit Homosexualität oder Paederastie übersetzt. Die Herkunft
des Wortes legt dies auch nahe; es ist nämlich eine Ableitung vom
Namen Lots, des Vetters Abrahams. Im Qur‫ء‬ān heißt er Lū< und er
sagt dort:
„Ihr gebt euch in Sinnenlust wahrhaftig mit Männern ab, statt mit
Frauen.“ (VII, 81) und an anderer Stelle: „Wollt ihr euch denn mit
Männern abgeben...?“ (XXIX, 29)
Die Bedeutung „sexuelle Handlungen unter Männern“ ließe sich also
vom Qur‫ء‬ān her rechtfertigen. In der Tat jedoch bekam das Wort im
klassischen Arabisch die Kernbedeutung „Arschficken“ oder „analgenitales Eindringen“ oder ganz lateinisch „pedicatio“. So ein
Auseinanderfallen zwischen dem, was das Wort eigentlich heißt und
dem, was es bedeutet, ist nichts besonderes. Auch das deutsche
„Sodomie“ bedeutet ja heute etwas anderes als was es heißt: es
bedeutet ‚Sex mit Tieren´, obwohl die Engel, mit denen es die
Männer von Sodom gern getrieben hätten, Jünglingsgestalt hatten.
„Onanie“ bedeutet heute ‚Selbstbefriedigung´, obwohl der biblische
Onan coitus interruptus praktizierte. „Rundfunk“ heißt Rundfunk
im Gegensatz zum Richtfunk – unabhängig ob nur Ton oder auch
Bild übertragen wird; es bedeutet aber ‚Hörfunk´ im Gegensatz zu
‚Bildfunk´ (Fernsehn). Ein „Buchmacher“ macht trotz seines Namen
keine Bücher und ein „Schuhmacher“ repariert heute eher Schuhe
oder verkauft sie, als daß er welche macht. Und während „homosexuell“ ‚gleichgeschlechtlich´ heißt, bedeutet es meist
‚gleichgeschlechtlichgeschlechtlich´.
Die klassischen arabischen Juristen und Lexikographen, definieren
sonst meist haarscharf genau. Ihre Definition von liwā< jedoch,
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
12
nämlich „das was die Männer von Sodom und Gomorrah gemacht
haben“ (Ɉamal qaum Lū<), hilft nicht weiter.
Daß aber in erster Linie Arschficken gemeint ist, sieht man schon
daran, daß meist von einem Aktiven und einem Passiven die Rede ist
oder von einem Sodomierer und einem Sodimisierten, einem lū<ī
und einem malū< bihi. Man kann es auch an dem viel zitierten Vers
des Abū Nūwās11 erkennen, nach dem schlankhüftige Mädchen in
Knabenkleidern sowohl für lū<īs als für Koitierer geeignet seien. Was
sollte ein Homosexueller mit einem Mädchen machen? Was ein
Arschficker mit ihm macht, ist weniger rätselhaft. Lū<ī kann hier nur
‚Arschficker´ bedeuten. Drittens gibt es genügend Stellen, an denen
von liwā< mit (oder gegen) Frauen die Rede ist.12 Viertens spricht der
spanische Muslim Ibn hazm13 einmal von einem Mann, der einen
Knaben so fest, so lange und so gezielt an sich drückt, bis er
abspritzt, und leitet dann über: „Was aber liwā< betrifft“;
Rummachen ist also nicht liwā<. Und schließlich zeigen die
Sexualhandbücher und Anekdotensammlungen, daß die lu<is es nur
auf das Eine abgesehen hatten.14
11 Alf laila, Callcutta, 1832-42, II 462; Abū Nuwās, Diwān, Bairut 1382, 1962 S.627; Ibn
Khallikān, Wafayāt, ed. IP. ɈAbbās, I 223; Pierre Cachia, Arabic into English in Gazelle
Review 3, London, 1977. p.30; E. Wagner Abū Nūwās, Wiesbaden: Fr. Steiner, 1965.
S.176 (weitere Stellen: siehe dort)
12 diese wird zur Unterscheidung Bewertung anderer auch al-lū<īya aS-Sughra genannt
(Abū Dā‫ء‬ūd a<-jayālīsī, Musnad Nr.2266; siehe auch MasɈūd ibn Ɉumar at-Taftāzānī,
ŠarP Ɉala'l Ɉaqā‫ء‬id an-nasafiya, al-Qāhira Ɉīsā al-bābī al-halabī o.j., p.149 . Im weiteren
Sinne schließt liwā< auch koitusähnlichen mann-männlichen Verkehr zwischen
Schenkeln (tafkhīM) oder Gesäßbacken ein.
Wenn Moralisten von ‚liwā< des Blicks´ sprechen, tun sie es metaphorisch, tun es vor
allem, weil sie wenig Vertrauen in die innere Kraft des Mannes haben daraus nicht
‚liwā< der Berührung´ und daraus ‚echten liwā<´, ‚liwā< der Tat´ werden zu lassen
(MuPammad al-Ġazzālī, IPyā‫ ء‬Ɉulūm ad-dīn, al-Qāhira 1352,1933 III 88). Damit s e t z
t der Moralist Liebesspiel dem liwā< gleich, assimiliert es ihm, sagt es sei so viel w i e
liwā<, nicht, es s e i liwā<.
13 Ibn hazm, jauq al-Pamāma, ed.,trad. R. Blachère, pp.364-67; ed. Pétroff, pp. 321f.;
trad. Nykl, pp. 200f.
14 Im weiteren Sinne schließt liwā< auch koitusähnlichen mann-männlichen Verkehr
zwischen Schenkeln (tafkhīM) oder Gesäßbacken ein. – Wenn Moralisten von ‚liwā< des
Blicks´ sprechen, tun sie es metaphorisch, tun es vor allem, weil sie wenig Vertrauen in
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
13
Wie kommt es, daß bei so eindeutiger „Beweislage“ sogar Wissenschaftler an der überkommenen Übersetzung von liwā< als „Homosexualität“ festhalten?
Ich denke, daß sie den Unterschied zwischen einem Begriff (der Definition: den Eigenschaften, die ein Ding haben muß, um ‚X´ zu sein)
und den Bezeichneten (den Signata, den Dingen mit all seinen konkreten Eigenschaften) nicht verstanden haben.
Die Begriffe „Jude“ und „Diamantenschleifer“ haben nichts miteinander zu tun (wenn man von ‚männlicher Mensch´ absieht) – genau
sowenig wie ‚Homosexueller´ und ‚Arschficker´. Und doch könnte
ein Araber, der zum ersten Mal in Antwerpen ist, auf die Idee kommen, man könne ‚Diamantenschleifer´ mit yahūdī übersetzen, weil
die Menge der Diamantenschleifer´ nur (?) Juden aufweist (und weil
unserer Araber zu faul war, nach Juden zu suchen, die nichts mit
Diamanten zu tun hatten.)
Läßt man „Homosexueller“ auch alle ‚Bisexuellen´ mitbezeichnen, so
decken sich im islāmischen Orient die Bezeichnetenmengen von
„Homosexueller“ und von „Arschficker“ weitgehend. Das liegt daran,
daß für Orientalen Sex praktisch mit Penetration identisch ist und
daran, daß man weder Knaben noch Männer vaginal penetrieren
kann.
Wirklich schlimm wird es, wenn man nicht nur Juden mit Diamantenschleifern gleichsetzt, sondern auch Judentum mit Diamantenschleifen, also liwā< mit ‚Homosexualität´ übersetzt.
Dabei gibt es doch drei grundsätzliche Unterschiede zwischen liwā<
und ‚Homosexualität':
1.) das eine bezieht sich nur auf Männer, während das andere sich
auf beide Geschlechter bezieht.
– sonst müßte man analog zu den arabischen Wörtern la<ā und
malū< bihi, im Deutschen ‚jemanden *homosexuellen´ und ‚ein
*Gehomosexualisierter´ sagen können.
die innere Kraft des Mannes haben daraus nicht ‚liwā< der Berührung´ und daraus
‚echten liwā<´, ‚liwā< der Tat´ werden zu lassen (MuPammad al-Ġazzālī, IPyā‫ ء‬Ɉulūm
ad-dīn, al-Qāhira 1352,1933 III 88). Damit s e t z t der Moralist Liebesspiel dem liwā<
gleich, assimiliert es ihm, sagt es sei so viel w i e liwā<, nicht, es s e i liwā<.
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
14
3.) das eine bezieht sich auf die Rolle im Akt, das andere auf das
Geschlecht des Objekts bzw. des Partners.
Wenn man Araber, die Deutsch, Englisch oder Französisch sprechen,
bittet, „Homosexueller“ zu übersetzen, so sagt fast jeder ein Wort,
welches den Gefickten bezeichnet; ein Maghrebiner könnte zum
Beispiel „ma‫ء‬būn“ sagen, oder „Ɉa<ai“, was „den-Arsch-Gebender“
bedeutet, oder „zāmel“, was sich von „weich, zart“ herleitet; im,
arabischen Osten hörte man eher „manyak/ manyūk“, was ganz
wörtlich „Gefickter“ heißt, oder „hau‫ء‬el“, was ursprünglich mädchenhafte Berufstänzer bezeichnete. Allenfalls kann man noch „schadhdh
dschinsī“ hören, was ungefähr „Perverser“ entspricht.
Ein anderes Wort, ubna, wird von Orientalisten oft mit „Päderastie“15
oder „passive Päderastie“16 übersetzt. In Wirklichkeit meint es „die
Krankheit eines Mannes, anal penetriert werden zu wollen“. Ubna
wird oft als Folge von Impotenz angesehen. Es ist nicht die passive
Entsprechung zu liwā<. Denn es bezeichnet eher eine Eigenschaft,
während liwā< eher eine Handlung meint17.
hulāq ist nicht nur die „Unfruchtbarkeit der Kamelstute“18 es bedeutet vielmehr auch „Erkrankung des Afterringes“19, aber weniger im
Sinne von „Entzündung“, als von „Entzündbarkeit“, „Empfänglichkeit“, „lustvolle Erregbarkeit“, „Jucken“ im Sinne von „es juckt mich,
etwas zu tun“. Auch Frauen können von Pulāq „befallen“ sein.20
während bei uns „Transvestismus“ ein relativ junges Wort ist, haben
die Araber schon lange eine Bezeichnung dafür. Es handelt sich nämlich um eine gesellschaftliche Einrichtung. Wer den Privilegien der
Gernot Rotter, Vernunft ist nichts als Narretei, Tübingen, Erdmann, 1982, S.117,
Übersetzung der Seite 44 von HamaMānī, Maqāmāt, İstanbul 1298,1881
16 genau genommen bedeutet „passive Päderastie“ „Von-Knaben-Geliebt-Werden“; ist
bei Wehr aber nur ein prüder Ausdruck für „anal Penetriert-Werden“ – egal ob von
Knaben, Männern oder Greisen
17 Franz Rosenthal, Ar-Rāzi on the Hidden Illness in Bulletin of the History of
Medicine 52 (1978)
18 Ibrāhīm al-Kailānī in Fußnote in seiner Edition von at-TauPīdī, al-BaSā‫ء‬ir wa'M
Makhā‫ء‬ir, Dimašq, A<las, 1964, p. 278
19 Ewald Wagner, Abū Nuwās, Wiesbaden, S.165
20 at-TauPīdī, al-BaSā‫ء‬ir wa'M Makhā‫ء‬ir, Dimašq, A<las, 1964, p.278
15
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
15
Mann-Rolle entsagt, sich nicht wie ein Mann kleidet, gewinnt dadurch
Zugang zum weiblich-häuslichen Bereich, dem Parīm. Sänger
können so ihren Wirkungsbereich vergrössern. Eine andere Rolle
dieser mukhannathūn (sg. mukhannath) genannten Nicht-Männer ist
die Prostitution.21
Bevor ich auf einen besonders eigentümlichen Begriff eingehe, will
ich das Gesagte zusammenfassen:
es gibt im Arabischen, Persischen und Türkischen keine Termini für
„das Vorziehen von Männern als Sexualobjekte“; dergleichen
vermag sich der Durchschnittsorientale gar nicht vorzustellen (oder
anders gesagt: von den knapp Hundert Arabern, mit denen ich über
das Thema gesprochen habe: keiner); vorstellen kann er sich, daß
man lieber mit Knaben verkehrt als mit Frauen (oder genauer: in der
arabischen Literatur des Mittelalters kommen Männer vor, die es
lieber mit Lustknaben als mit Lustsklavinnen treiben).
Diese Vorliebe für Knaben würde ich nur ungern als Homosexualität
bezeichnen, verhält es sich doch wie Freud geschrieben hat:
„Das Sexualobjekt ist also in diesem Falle, wie in vielen anderen, nicht
das gleiche Geschlecht, sondern die Vereinigung beider Geschlechtscharaktere.“22 bzw. die Abwesenheit von Charakteristika beider
Geschlechter.
Der Knabe ist – ähnlich wie die Frau – leicht zu beeindrucken, er ist –
wie sie – unerfahren in der Welt und ist sexuell weniger anspruchsvoll – so sagen zumindest die Sexualhandbücher23. Andererseits ist
der Knabe weniger fremd als die Frau – der Mann war ja schließlich
selbst mal einer.
Also das Vorziehen von Knaben ist verständlich. Geradezu selbstverständlich ist es dem Orientalen, daß man a u c h gerne m a l
21 Unni Wikan, Behind the Veil in Arabia. Woman in Oman, Baltimore, Johns Hopkins
Univ. Press, 1982, pp.168-183
Frederik Barth, Sohar. Culture and Society in an Omani Town, Baltimore, Johns
Hopkins Univ. Press, 1983
22 Freud, Drei Abhandlungen, 1905
23 vergl. Anm. 26
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
16
Knaben penetriert – vor allem, wenn keine Frau zur Hand ist. Dabei
werden zierliche, schöne, schwächliche Knaben bevorzugt. Daß
Lispeln bei ihnen als schön galt, interpretiere ich als Zeichen, daß
man sie niedlich, sprich un-männlich haben wollte. In den Hauptstädten der islāmischen Reiche des Mittelalters wurde in unzähligen
Gedichten die Schönheit von Knaben besungen. Doch zeugt es von
Blindheit, wenn man diese Gedichte „schwule Gedichte“ nennt, wie
es John Boswell tut.24
Mir ist kein Gedicht von Knaben – oder überhaupt kein Kunstgedicht
von Gefickten – bekannt; ihre Lage ist in diesem Punkt also noch
schlechter als die der Frauen. Und ich jedenfalls halte eine
Beziehung, in der einer spricht und einer schweigt, in der einer
spricht und einer besprochen wird, in der einer Sex will und der
andere Geschenke, nicht für „schwul“.
Zweitens darf man das Besingen von Knabenschönheit nicht vorschnell mit Sex-Haben-Wollen gleichsetzen (es soll Schwule geben,
die manche Frau schön finden und sogar solche, die Frauen gemalt
haben).
Weiter darf man nicht vorschnell Sex-Haben-Wollen mit Sex-Haben
gleichsetzen. Manch ein frommer Muslim wird nach Knaben
geschmachtet haben, ihnen sogar den Hof gemacht haben, ihnen
kleine Geschenke gemacht haben, aber nicht mehr. Soll doch der
Prophet – Gott segne ihn und über ihm sei Heil – gesagt haben: „Wer
von Leidenschaft ergriffen wird, und widersteht, ist ein Glaubenszeuge“ – kommt also ins Paradies.
Andere werden alles versucht haben, den Knaben rumzukriegen
bevor er häßlich wurde – und das begann mit dem Sprießen des
Bartflaumes.
Andere versuchten, den Knaben nicht zu über r e d e n, sondern zu
überl is te n bzw. zu übe r wä l t ige n, wobei wir bei dem versprochenen eigentümlichen und aufschlußreichen Begriff sind: beim
dabīb, wörtlich „Kriechen“. In der Regel wird dabei ein Knabe erst
mit Alkohol oder Hasch betäubt, dann mit einem starken
24
John Boswell, Christianity p.176 vergl. mein Alles Schein
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
17
Schlafmittel absolut unempfindlich gemacht und in diesem Zustand
penetriert. Meist bemerkt er das Ganze erst nach dem Aufwachen
und dann schweigt er besser davon. Selbst wenn er weiß, wer sich an
ihm vergangen hat, hat er den größeren Schaden, wenn bekannt
wird, daß man ihn gefickt hat.25
Überhaupt stehen viele Araber Affen und amerikanischen
Gefängnisinsassen näher als Schwulen: für sie ist Penetrieren
männlich und aggressiv. Penetrieren ist Ausdruck einer
Höherstellung – sei es einer schon festgestellten oder einer erst durch
den Akt festgemachten.
Man betrachte nur die folgende Anekdote, die sich im 11.
Jahrhundert christlicher Rechnung in Isfahān ereignete: Der Autor, Ibn
al-Habbāra, berichtet wie er an einer nächtlichen Party der besseren
Gesellschaft teilnahm. Es war ziemlich ruhig, als ein Hilfeschrei die
Nacht durchgellte. Die Gäste stellten mit großem Erstaunen fest, daß
der gebildete und geschliffene Literat Abū DschɈafar al-QaSSās den
alten, blinden Dichter Abū'l hasan ibn DschɈafar as-Bandanīdschī
vergewaltigte. Nachdem er fertig war, sagte er: „Ich wollte schon
immer Abū'l ɈAlā al-MaɈarrī ficken, weil er Islām und Gott leugnet.
Aber nie hatte ich die Gelegenheit dazu. Als ich dich sah, einen
gelehrten und blinden alten Mann, [wie Abū'l ɈAlā al-MaɈarī einer
ist,] fickte ich dich seinetwegen.“26
Des Penetrierens eines Mannes KANN man sich rühmen; doch ist die
Penetration eines muslimischen Mannes verboten, da sie ein Mitglied
der Gesellschaft schädigt, ihn zum Nicht-Mann macht.
25 Auch das Überlisten des Besitzers eines Sklaven – der selbst damit einverstanden ist,
daß er penetriert wird, – oder des behütenden Vaters eines willigen Sohnes reicht aus,
um die Penetration als dabīb zu bezeichnen. Zu dabīb siehe:
džaubarī, Kitāb al-Mukhtār fī Kašf al-Asrār, Kap. 26
Ibn Falīta, Rušd al-Labīb, Kap. 10
a<-jifāšī, Nuzhat al-Albāb, Kap. 9
Franz Rosenthal, The Herb, Leiden 1971, p.83
26 Khalīl ibn Aibak aS-qafadī in Gait al-musaLJLJam II, 88 James Bellamy in A. Lutfi
Sayyid-Marsot (ed.) Society and the Sexes in Medieval Islām, Malibu, Sixth G. Levy
della Vida Biannual Conference S. 28
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
18
Aus dem Gesagten geht hervor, daß es ein Widerspruch in sich wäre,
mit seinem Freund zu ficken. Schon der Ausdruck „mit jemandem
ficken“ kommt in der arabischen Sprache nicht vor; es heißt immer
„jemanden ficken“, „jemanden reiten“, „jemanden schlagen“,
„jemanden arschficken“. Ich habe einmal die Gegenseitigkeitsform
von „ficken“, also „einander ficken“ gebildet; ich wurde nicht verstanden; als ich erklärte, was ich meinte, hörte ich ein entsetztes: „Die
Frau muß unten liegen.“ Überhaupt gilt die Vorstellung, Männer
könnten gleichaltrige Männer den Frauen als Objekte der Penetration
vorziehen, als abwegig. Als ebenso abwegig gilt es, daß Männer beim
anal-genitalen Verkehr mit dem selben Partner beide Rollen
einnehmen könnten.
Damit will ich nicht sagen, daß es das gar nicht gebe, sondern nur,
daß es dafür kein gesellschaftliches Schema gibt – weder ein verurteilendes, noch ein tolerierendes, weder ein bemitleidendes, noch ein
verständnisvolles – auch nicht eines, das von einer nonkonformistischen Minderheit verteidigt oder gar hochgehalten würde.
Dergleichen wird dann nach außen geleugnet und vor sich selbst wegerklärt: „man war besoffen“ oder auch nur: „es hat keinen Spaß gemacht“; oder auf eine f a s t schon schwule Art: „wir machen das
wie mancher Schaumwein trinkt 1.) weil er durstig ist, 2) weil er sich
echten Champagner jetzt noch nicht leisten kann. Später werden wir
heiraten. Darüber braucht man doch nicht zu reden, das machen
doch alle.
Ein typischer Fehler, von Leuten, die nichts als „Homosexualität“ im
Kopf haben, ist es, händchen-haltende Orientalen für „Homosexuelle“
zu halten, und es verdächtig zu finden, wenn sich Männern beim
Wiedersehen freudig anstrahlen. Die Araber haben ganz andere
Grenzen: Streicheln hat nichts mit liwā< zu tun und auf irgend eine
Art unter Männern zum Abspritzen zu kommen, ist nicht liwā<.
Moralisten warnen lediglich vor allem, was zu Arschficken führen
könnte. Denn das Fleisch ist willig.
Der volle Tadel der Gesellschaft trifft nicht den, der Männer/Knaben
penetriert, sondern den, der sich der Fortpflanzung entzieht. Sich
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
19
nicht fortzupflanzen ist schlimmer, als nichtfortpflanzender Sex –
also genau umgekehrt wie im christlichen Abendland.
Wer sich nicht nur mit jungen Männern, sondern auch mit Frauen
abgibt, ist über die meisten Zweifel erhaben, denn man geht davon
aus, daß nur Impotente sich penetrieren lassen, und daß Potente
eben viele Löcher stopfen müssen.
Am Allerbesten ist es, Vater zu werden – dann ist die Männlichkeit
nie mehr ganz zu rauben – selbst nicht durch Penetration. Die Orientalen haben schließlich die Kunst, nicht zu sehen, was ungut zu
sehen wäre, zur Meisterschaft entwickelt. Nicht abweichendes Verhalten stört die Gesellschaft, sondern non-konformistisches (und
rebellisches). Solange man die Gültigkeit der Regeln nicht in Frage
stellt und sein regelwidriges Verhalten kaschiert, werden die andern
meist mitspielen. Diese Art, homosexuelles Verlangen im Geheimen
auszuleben, mag auch ganz schön sein, nur ist sie in meinen Augen
das Gegenteil von Schwul-Sein.
Ich wiederhole: solange man es diskret macht und die Leute darüber
nicht öffentlich reden, obwohl sie es alle wissen, solange man nicht
vor anderen bloßgestellt wird, ist alles o.k.
Wenn ein Knabe – der ja nicht Mann ist – penetriert wird, ist der
Schaden in den Augen der Leute geringer; er hat es „nur“ schwerer
Mann zu werden. Die Schmach ist je nach der sozialen Schicht des
Knaben und des Penetrators unterschiedlich – auch von Region zu
Region, von Ethnie zu Ethnie gibt es Unterschiede.
Ist die Familie des Opfers arm, wird Prostitution oft geduldet.
Handelt es sich beim Penetrator um eine angesehene Person, etwa
um den (unverheirateten) Koranlehrer des Knaben,27 wäre es
ungehörig, sich darüber zu beschweren.
„Folgendes trug sich um 1970 in einer Stadt an der Somaliküste:
„APmed, ein junger Mann, hatte in Saudi Arabien gelebt und dort
etwa über den Islām gelernt.
Zurückgekehrt half er seinem Vater in der Qur‫ء‬an-Schule. Einmal
kam [ein Nachfahre des Propheten MuPammad] in die Moschee und
27 S.D. Goitein: The sexual Mores of the Common People, in Society and the Sexes in
Medieval Islam (ed. Sayyid-Marsot), Malibu: Udena, 1977. pp.47-61
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
20
versuchte dort mit einem der Jungen Sex zu haben. Der Junge aber
entkam und sagte und seinem Lehrer, dem das aus zwei Gründen
nicht gefiel:
1.) Homosexualität ist gegen den Islām, wie er ihn verstand.
2.) ... die Moschee ist als das ‚Haus Gottes´ Ort der Reinheit. Er ging
zu dem [Nachfahren des Propheten] und fordere ihn auf, die Moschee
zu verlassen und nicht wieder zu kommen. Die Leute der Stadt
waren mit [APmed's] Verhalten nicht einverstanden; sie schickten
ihre Jungs nicht mehr in seinen Unterricht. ... Der [Prophetennachfahre] erklärte, daß APmed in Saudi Arabien den wahren Glauben
verloren habe und aus der Moschee vertrieben werden müsse.
[APmed mußte die Stadt verlassen und] arbeitete in Mombasa als
Träger auf dem Markt.28 In verschiedenen extrem-schiɈitischen
Sekten des Irāq ging man auch davon aus, daß die Weisheit durch
Ficken übertragen wird. Viele Sunniten verdächtigen die Sektierer
auch heute noch dieser Praktiken. Auch von Sufi-Orden ist
dergleichen berichtet worden.29
Zurück zu „normalen Muslimen“. Da der Schaden nicht so sehr im
Penetriert-werden als im Bekanntwerden des Sachverhalts liegt,
reden die meisten Knaben nicht davon, das würde nur weitere
ermutigen, es auch zu versuchen. Später vergessen sie dann meist
diese Schmach – reden zumindest nicht darüber.
Problematisch wird die Angelegenheit für die Eltern, wenn der Junge
das nicht nur über sich ergehen läßt, sondern dabei Lust empfindet.
Dann besteht die Gefahr, daß er auch als Erwachsener penetriert
werden wi ll , was als Krankheit gilt.
In den Augen der Araber findet der Akt zwischen einem starken
MANN und einem schwachen, kranken NICHT-Mann statt. Diese
beiden unter einen Begriff – Homosexuelle – zusammenzufassen,
erschiene ihnen als ebenso eigenartig, wie von Einbrechern als „aktiven Kriminellen“ und von Opfern von Einbrüchen als „passiven
Kriminellen“ zu sprechen oder gar von beiden Gruppen
ununterschieden als „Kriminellen“.
28
29
Abdulhamid az-Zain, The Sacred Meadows, North Western University Press, 1974
Edvard Westermark, Ritual and Belief in Morocco I, London: Macmillan, 1926. p. 198
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
21
Ich halte es für sehr gefährlich, die Worte „Homosexualität“ oder
„schwul“ auf andere Gesellschaften zu übertragen (es wäre so blöd
wie der stalinistische Gebrauch von „feudal“ für alles und jedes).
Dabei ist natürlich nicht das Wort „Homosexualität“ das Gefährliche,
sondern der Vorstellungskomplex, nämlich daß man unbesehen auf
den ganzen Vorstellungskomplex schließt, so man auch nur ein
Element aus dem Komplex vorfindet. (Boswell)
Während im bürgerlichen Europa Liebe, Sexualität, Zärtlichkeit,
intime Nähe und Ehe als idealerweise verbunden gedacht wurden,
fielen sie in der Vorstellung der islāmischen Gelehrten auseinander.
Liebe wurde als nur selten erfüllbares Sehnen nach einer Frau – die
man gar nicht gesehen haben mußte – oder einem Knaben aufgefasst.
Liebe kann aber auch mit echter Freundschaft zwischen Gleichen
einhergehen.
Solche Freundschaft ist eine intime Beziehung, also ein gegenseitiges
Sich-Durchdringen, ein gegenseitiges Teil-Nehmen an der ganzen
Person des Anderen, eines autonom gewählten Anderen – gewählt
aufgrund persönlicher Werte. Freundschaft ist nicht wie Sex mit den
abgetrennten Frauen ein relativ unabhängiges, abgetrenntes Segment
des Lebens, sondern prägt die Gesamtattitüde.
Gewalt und Zudringlichkeit sind echter Freundschaft fremd.
Das für uns bemerkenswerte ist, daß wir heute intime Beziehung,
Liebe und Sexualität verbinden; der Muslim und der italienische
Patrizier der Renaissance verband eher Liebe und Freundschaft.
Diese Männer-Freundschaft schließt in der Regel Sex aus.
Während europäische Mittelstands-Homo-Sexualität durch Oszillieren
zwischen männlichen und weiblichen Rollen (Morgenthaler30) und
durch Sich-Erleben im Identischen (Ziehe31) gekennzeichnet ist, ist
die Normalform mann-männlicher Sexualität im islāmischen Kernraum Dominanzsexualität – was natürlich nicht heißt, daß keine
Identifikation mit dem Partner stattfindet, sondern „nur“, daß die
Fritz Morgenthaler, Homosexualität, Heterosexualität, Perversion, Frankfurt,
Qumran, 1984 (Sammlung veröffentlichter Aufsätze)
31 Thomas Ziehe, Ein Teil meines Rausches in Ästhetik und Kommunikation Nr.40,41,
Berlin, 1980
30
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
22
Oberflächenstruktur ganz klar einen Aktiven und einen Passiven
aufweist, einen Starken (männlich Aussehenden, in den besten
Jahren) und einen Schwachen. Handelt es sich bei dem Schwachen
um einen schönen Knaben, so wird er eventuell mit Geschenken
umworben, handelt es sich um einen älteren, der penetriert werden
w i l l , so muß dieser oft bezahlen.
Zum Schluß noch zwei Punkte: meine Quellen und eine Relativierung. Also:
Ich habe arabische Texte vom 7. Jahrhundert bis heute herangezogen
– wohl wissend, daß sie im Wesentlichen vom Standpunkt e i n e r
Klasse geschrieben sind. Darunter sind Rechtsbücher, genauso wie
Geschichtswerke, Bücher über Medizin und Philosophie,
Unterhaltungsliteratur und biographische Lexika, religiöse Schriften
und Gedichte aller Art. Ferner habe ich europäische Reiseberichte
und Abhandlungen benutzt. Ich habe Araber aus neun Staaten,
Türken, Perser, sowie zig Europäer befragt, die Sex mit Orientalen
hatten. Dabei tragen die neuen Daten zum Verständnis der alten
Texte bei und umgekehrt.
Diskussion der geschichtlichen Veränderungen bzw. Zähigkeit von
Veränderungen
Manche Leser meiner Kleinen Schriften meinten, es könne doch nicht
mein Ernst sein, daß sich vom 7. Jahrhundert bis zum 19. Jahrhundert
nichts Entscheidendes am orientalischen Modus der geschlechtlichen
Beziehungen zwischen den Geschlechtern geändert habe. Ich gehe
jedoch noch weiter: seit Alexander des Großen Nachfolgern im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis heute hat sich nichts Großes
geändert. Der kulturelle Kontinent, den Alexander von Griechenland
bis Nordindien begründete, in dem sich griechische, ägyptische, mesopotamische und iranische Vorstellungen und Haltungen anglichen,
wurde von den erobernden Arabern durch die Eroberung des byzantinischen Ägypten und Syrien und des sassanidischen Irak und Persiens wieder hergestellt. Handel und Wandel innerhalb der Winterregenzone des Alt-Welt-Trockengürtels verstärken sich wieder. Auch
die Produktionsweise hat sich in all den Jahrhunderten nicht groß
gewandelt – nach Stalins Schema handelt es sich um eine Sklaven-
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
23
haltergesellschaft mit feudalen Einsprengseln. Ebensowenig haben
sich die patriarchalischen Strukturen geändert. Dies sinnfällig zu
machen will ich ein paar Stellen aus Carola Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland (München 1989)
zitieren (pp. 36-39, 41-43).
„Männer konnten ihren Sexualtrieb außerhalb der Ehe ausleben....
Die Frauen durften nur mit dem Gatten verkehren.“ (78)
„die gültige Eheschließung [wurde] nicht zwischen Braut und
Bräutigam abgeschlossen, sondern zwischen ihrem Vater und dem
Bräutigam. [Es handelt sich dabei um] die Übereignung einer Person
aus der Rechtsmacht des einen in die eines anderen, ohne daß das
ursprüngliche Rechtsverhältnis ganz erlischt. ... Der Ehefrau stand
[nämlich] gegen unzumutbare Willkür ihres Ehemannes die Schutzmacht ihrer leiblichen Familie offen.“ (37)
„Die krasseste Verletzung des Besitzrechtes war der Ehebruch,
dessen sich bereits jeder verdächtig machte, der nur unerlaubt und in
Abwesenheit eines verheirateten Mannes dessen Haus betrat.“ (38)
„Wenn der Mann die Ehe auflösen wollte, mußte er lediglich die
Scheidung vor Zeugen aussprechen.“ (39)
„Die mangelhafte Ausbildung [der Mädchen] und die allzu frühe Verheiratung führen auf die Eingeschränktheit ihres späteren Daseins zu.
... Ganz unverhohlen wird [die Unreife] der Braut als Vorzug gewertet
und die Formbarkeit der jungen Frau als Tugend herausgestrichen.“
(41/2)
Mädchen, die vor der Ehe Geschlechtsverkehr gehabt hatten, konnte
der Vater in die Sklaverei verkaufen...“ (41)
Der „Argwohn wurde genährt durch die Vorstellung, Frauen seien
lüstern. ... Man hielt die Liebe ... für eine Art Krankheit, eine Raserei,
die Geist und Sinne verwirrte und die es wie andere Begierden zu
mäßigen galt.“ (42)
Nun wird mir entgegen gehalten, daß sich das im 20. Jahrhundert
alles geändert habe.
Ja und nein.
Ja in ganz wenigen Fällen besonders in Istanbul und Izmir.
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
24
Noch nicht in der übergroßen Zahl der Fälle: wenn ein Sohn nicht
mehr das väterliche Land, das er einmal erben will, bearbeitet, wenn
er nicht mehr im väterlichen Betrieb schuftet, sondern selbst 'was
verdient, ändert das nicht viel, solange er den Verdienst zuhause abliefert und solange er zuhause wohnt. Wieviel mehr gilt das für den
jungen Arbeitslosen. Auch die Lage der Ehefrau, die nicht mehr nur
für den patriarchalischen Haushalt tätig ist, sondern für einen Verleger
Teppiche knüpft, Kleider bestickt oder Plastikpuppen zusammensetzt,
ändert sich nicht groß. Drei Voraussetzungen müssen zusammenkommen, daß das alte Schema gebrochen wird: selbständige Arbeit,
freie Verfügung über den Lohn und getrenntes Wohnen.
Doch langsam: die Bedingung selbständige Arbeit ist nicht so leicht
zu erfüllen, wie man meinen könnte. In den meisten Ländern liegt
die Arbeitslosenzahl sehr hoch und an Stellen kommt man nur ran
mit Beziehungen. Und Beziehungen heißt in den meisten Fällen:
Familie. D.h. sogar sehr viele Männer mit einem scheinbar
selbständigen Einkommen verdanken dies der Familie.
Auch der Erdölreichtum ist eine zweischneidige Sachen: einerseits
verändert er die Konsumgewohnheiten; andererseits verstärkt er
patriarchalische Patron-Klient-Verhältnis, weil das Geld von oben
nach unten – Wohlverhalten vorausgesetzt – sickert.
Andererseits
Relativierung: Ich habe bisher ziemlich pauschal von den Orientalen
gesprochen, habe dabei vernachlässigt, daß ein Teil der im Orient
lebenden Menschen nicht mehr voll an der heimischen Kultur und
am örtlichen Lebensstil teilhaben. In manchen Familien der Oberschicht spricht man Französisch oder Englisch, schickt die Kinder auf
eine Missions- oder Diplomatenschule oder auf ein Internat im Vereinigten Königreich oder auch noch Vieles, von dem was ich gesagt
habe, gilt, so funktionieren sie doch teilweise schon wie Europäer.
Und auch die Männer der Unter- und Mittelschicht sind Jeans, Coke,
Dallas, Village People und ABBA ausgesetzt – via Touristen, Fernsehn, Radio und Kino. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
25
wie Industrialisierung, Eintritt der Frau in die Öffentlichkeit, Zerfall
des Mehrgenerationen-Haushalts bewirken unter anderem eine Veränderung der Beziehung Mann-Frau und damit auch der sexuellen
Beziehung zwischen Männern und Knaben. Überhaupt bin ich der
Ansicht, daß die (normative) Struktur der Beziehungen zwischen
Männern und Frauen die Natur der Beziehungen zwischen Männern
weitgehend bestimmen: nur wo es zwischen jenen relativ frei und
gleichberechtigt zugeht, wird es auch bei diesen so sein.
Die Ersetzung von Körperkraft durch Maschinen führt zu einer
Entwertung körperlicher Stärke, die allmähliche Durchsetzung eines
staatlichen Gewaltmonopols bedeutet die Entwertung ständiger
Kampfesbereitschaft.
Ich habe den Eindruck als gleiche sich das mann-männliche
Verhalten der Männer des Orients dem der Abendländer an und
umgekehrt; bei uns sind die Männer heute körper- und publikumsbewußter als früher, sie sind viel stärker darauf aus, für schön
befunden zu werden – sowohl von Frauen als von Männern. Auch
gab es zumindest bis zur Verbreitung des HIV eine Tendenz, es mit
einem Mann zu treiben ohne deshalb gleich schwul zu werden.
Zurück zu den neueren Entwicklungen im Orient:
Die relative Leichtigkeit, bei Touristinnen zum Zuge zu kommen,
dürfte das Alter, bis zu dem man sich penetrieren lassen muß, um
überhaupt Geschlechtsverkehr zu haben, senken.
Aufgrund heller und – durch Nicht-Arbeit und/oder Pflege – feiner
Haut erscheinen auch viele Touristen als relativ weiblich. Viele von
ihnen lassen sich penetrieren. Dies ist psychologisch besonders
attraktiv, weil sie einerseits den starken, reichen fortschrittlichen und
sie ausbeutenden Westen symbolisieren, sie andererseits besiegbar
sind (als Fremde kennen sie sich nicht aus, sie kennen weder Sitten
und Gebräuche, noch beherrschen sie die Sprache).
Der Orientale gilt dabei als eine Dienstleistung erbringend, für die er
in der Regel bezahlt werden muß. Selbst wenn er nichts tut, sondern
nur seinen Penis ablutschen läßt, gilt er als aktiv, denn Einführung –
ob in den Mund oder in den Hintern – ist die einzige Aktivität, die
zählt. Außerdem verausgabt er ja kostbaren Samen.
Arno Schmitt Vorlesung zu mann-männlicher Sexualität/Erotik
26
Doch bietet der homosexuelle Tourist dem Orientalen auch die
Gelegenheit sich gefahrlos penetrieren zu lassen: erstens ist der
Tourist durch das Zuerst-Penetriert-Worden-Sein weniger bedrohend, sein Akt ist weniger demütigend, zweitens kann der Tourist
aus dem einmaligen Akt kein Recht auf allzeitigen Gebrauch des
Hintern durch ihn und all seine Freunde ableiten, wie es bei einem
Landsmann der Fall wäre, drittens kann der Tourist ihm durch Gerede
nicht die Ehre rauben – weil er kaum Kontakt zur Gruppe des
Sexualpartners hat, weil er sich ihnen sprachlich nur mit Schwierigkeiten mitteilen könnte, und weil ihm „das“ eh keiner glauben
würde. Zusätzlich kann der Orientale auch diese Rolle als
Dienstleistung ausgeben, für die er bezahlt werden muß.
Also es gibt: mann-männliche Akte
Transvestiten
mann-männliche Prostitution
Päderastie
Männer, die Männer ficken
Es gibt nicht:
Männer, die „auf“ Männer „stehn“, „unabhängig“ von der Rolle im
Akt, die also weder lu<ī noch ma‫ء‬bun sind.
Männer, die ausschließlich auf Männer stehn, also unbefraut sind,
ohne Tunten oder Transis zu sein,
ein Gemeinschaftsgefühl der Männer-Sex-ler.
Es gibt also keine männerliebende sexuelle Identität außer der von
Transis.
Statt dessen gibt es:
ein starkes Familiengefühl
den Wunsch, Vater zu werden
den Wunsch nach Köchin und Altenpflegerin
ein Gefühl, in der Jugend verantwortungslos zu sein und über die
Stränge hauen zu dürfen; Stränge, die man im Prinzip als verbindlich
anerkennt.
Arno Schmitt
ad Marcum Thielum
27
ad Marcum Thielum
Marc Thielen attestiert 2009sq. meiner Vorlesung Rassismus. Dass
diese in einem anderen Fach (Islamwissenschaft und nicht Migrantenpädagogik) angesiedelt ist und dass sie 1985 gehalten wurde,
ignorierte er.
Meinen Hauptpunkt (liwā< ist nicht Homosexualität, sondern Arschficken) übergeht er einerseits und setzt es selbst ganz selbstverständlich bei der Darstellung des iranischen Strafrechts voraus. Heute
weiß kaum noch jemand, dass 1985 alle Wörterbücher, Enzyklopädien und Fach-Abhandlungen liwā< als Homosexualität/ Knabenliebe
wiedergaben (was nicht bedeutet, dass Rosenthal, Mez, Ritter nicht
schon Einiges richtig dargestellt hatten). Die Lage in meinem Fach
war so desolat, dass ich im antiken Griechenland und Mexiko nach
Brauchbarem Ausschau halten musste (und in der Diss. von Joseph
M. Carrier fündig wurde; Artikel und Monographien gab es keine).
Prof. Steppat lachte den kleinen Studenten aus, der behauptete, die
Ordinarien schrieben Unsinn, las dann aber ein paar Stellen
probeweise mit meiner Übersetzung und leiste Abbitte.
Als 20 Jahre später Khaled ar-Rouayheb sein „Before Homosexuality“
verfasste, war meine Übersetzung schon so selbstverständlich, dass
die alte falsche und der Held, der diesen Drachen bezwungen hatte,
schon gar nicht mehr erwähnt werden mussten.
Dass Marc Thielen meine Vorlesung nicht gelesen hat oder zumindest nicht verstanden, wird deutlich, wenn er mich so referiert als
gäbe es im Osten „mann-männliche Sexualität“ und im Westen
„Homosexualität“, dabei lege ich ad nauseam dar, dass es GleichGeschlechtlich-Keit nirgends gibt, dass zwischen-weiblich und
zwischen-männlich politisch verbündet sein können, aber real und
psychologisch einander fremd sind, dass ich das in einen (Begriffs-)
Topf werfen des Penisträgers in Kittelschütze und des Bartträgers in
Chaps nicht nachvollziehen kann. Seine Behauptung ich halte
Gleichgechlechtlichkeit in „westlichen Gesellschafthontexten“ für
berechtigt, entbehrt jeder Grundlage in meinen Texten.
Arno Schmitt
ad Marcum Thielum
28
Ich denke, kaum jemand ist weiter davon weg, völlig Disparates (wie
LGTIASMFPQ) „zu konsolidierten Kollektiven zu verdinglichen“ als ich;
ich beharre darauf, dass die meisten in sexualibus „a minoriy of one“
sind.
Thielen ist akademisch genug, meine Texte nicht völlig zu entstellen,
so zitiert er „Mittelstands-XX“ und „DurchschnittsYY“ , bemerkt,
dass ich von Verwestlichung im Orient spreche. Dass mir Studien
über westdeutsche Unterschichtsstricher in der 1950ern, Proletarier
in New Yorker Steamhouses und Marinesoldaten in den 1960ern
durchaus bewusst sind und deshalb als Gegenbild zum typischen
Orientalen, der Sex mit Männlichen hat, den Mittelstandsschwulen
konzeptualisiere, ist ihm nicht klar.
Befremdlicherweise unterschlägt er, dass ich Idealtypen gegenüberstelle und nicht die Realität in Europa der Realität im Orient. Drei
mal in wenigen Zeilen referiert er meine Position mit dem Wort
„grundsätzlich“. Er scheint nicht zu wissen, was das heißt oder er
spekuliert darauf, dass es seine Leser falsch verstehen. Es heißt ja,
dass es prinzipiell so ist aber nicht in der Realität, dem Grundsatz
nach, aber nicht dem Einzel-Satz nach (schon gar nicht in allen
Nebensätzen). Ich habe Fakten hier so und dort anders gefiltert,
betone aber immer wieder, dass in erster Linie nicht das reale Tun,
sondern das Denken darüber und noch mehr das öffentlich darüber
Sprechen anders sind, dass die Vorstellung dessen, was normal ist
anders ist. Übrigens bestätigen seine Interviews meine Thesen zu
300%. Denn obwohl er nicht mit Iranern aus dem Volk auf Persisch
in Persien Interviews führt, sondern mit Asylanten aus der oberen
Mittelschicht in Deutschland auf Deutsch, bestätigen diese weitgehend
das, was ich geschrieben habe. Nur weil er es nicht selbst sagt,
sondern die Befragten, während ich zu Thesen verdichtet habe, sind
meine Thesen nicht rassistisch.
Wenn Thielen schreibt, ich konstruiere den arabischen Mann „als
übersteigert triebhaft und animalisch“ mit „wilde[m] und unzivilisierte[m] Trieb“ dann verrät er seine Vorstellung, nicht die meinen.
Während ich auf archaische Produktionsweisen und patriarchale
Strukturen verweise, während ich von einem gemeinsamen
Arno Schmitt
ad Marcum Thielum
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kulturellen Wurzel im antiken Griechenland ausgehe, die zuerst in
Amsterdam und London, später Paris und Berlin aufgebrochen
wurde, während ich davon ausgehe, dass Auflösung des DreiGenerations-Haushalts, eigenständiges Wirtschaften der Jungen und
Migration unweigerlich Veränderung bewirken, referiert mich
Thielen, als halte ich den Orientalen für angeboren archaisch und
den Europäer für von Geburt an modern. Was für ein Unsinn. Aber
ich homogenisiere nicht nur Europäer und Araber nicht, ich halte
den katholischen Bauern aus Niederbayern für anders als den
katholischen Bergmann aus Schlesien, den protestantischen
Pfeffersack aus Hamburg und die Klavier spielende Frankfurter
Buchhändlerswitwe. Auch weil mir Geige und Rilke nicht in die
Bürgerwiege gelegt wurden, komme ich gar nicht auf die Idee „die
Deutschen“ zu homogenisieren, es gab nicht nur Landjuden und
Ostjuden, es gab auch Pietisten und Mennoniten, Kleinbauern und
Großbauern, Handwerker und Proletarier. Man muss meine
Vorlesung schon sehr oberflächlich gelesen haben, um auf die Idee
zu kommen, ich habe Idealtypen und reale Menschen verwechselt.
konzeptualisiert zwei gegensätzliche, jeweils in sich geschlossene
Modelle von gleichgeschlechtlicher Sexualität, die sich unversöhnlich
gegenüberstehen.
SCHMITT
Ich glaub, ich spinne. Ja, ich konzeptualisiere zwei gegensätzliche
Modelle – darauf angelegt, sich markant zu unterscheiden. Sie sind
weder versöhnlich noch unversöhnlich. Es handelt sich um
heuristische Modelle, die etwas klar machen.
Übrigens konzeptualisiere ich nicht zwei homogene Welten, sondern
zwei Pole: an einem Ende steht ein sozialdemokratisches, urbanes,
egalitiäres, skandinavisch/niederländisches, wohlfahrtsstaatliches,
rechtsstaatliches, anti-autoritäres Bild, am andern Ende ein mittelmeerisches, patriarchales mit mächtigen Familien, schwachem Staat,
mit dem Florenz der Renaissance, dem Guadalajara der 1960er und
den Slums von Kairo. Minnesota, Palermo, Beirut, Izmir, Sevilla und
Texas stehen irgendwo in der Mitte. Und die soziale Lage – die der
Eltern und die aktuelle eigene – spielen auch noch eine Rolle.
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