Uploaded by Виктор Димитров

Rabinowich 27236 Dazwischen wir

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Zur Verfügung gestellt von der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen für das Leseprojekt „Seitenweise – Dein Projekt zum Buch“ 2022/23
Julya
Rabinowich
DAZWISCHEN:
WIR
Hanser
Zur Verfügung gestellt von der Zentralstelle
für das Auslandsschulwesen für das Leseprojekt
»Seitenweise – Dein Projekt zum Buch« 2022/23
Immer noch für alle Kinder und Jugendlichen,
die mir begegnet sind und ein Zuhause suchten.
Und für Naima.
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Ich habe heute im Garten gesessen und den Wolken beim Vorbeiziehen zugesehen. Wie sie sich dehnen und ausfasern und plötzlich weg
sind. Wie Papa. Oder sich verändern. Etwas Neues werden. Wie ich.
WV
Es ist absurd, Tag für Tag diese Einträge zu schreiben, als ob sich nichts
verändert hätte. Alles hat sich verändert. Ich zwinge mich trotzdem
dazu. Weil: Was soll ich denn sonst tun? Ich mach das, wie mein Vater
es gemacht hat: nach vorne schauen, nie nach hinten. Er hat es gemacht, solange wir auf der Flucht waren. Irgendwann hat er sich umgedreht. Und dann ist er nicht mehr herausgekommen aus diesem
Nach-hinten-Schauen, bis es zu spät war. Ich mach das nicht. Ich habe
von ihm gelernt.
Also. Nächster Tagebucheintrag. Auch wenn es wehtut.
Heute ist es sonnig.
Nachmittags gehe ich in den Wald. Laufen.
WV
Jetzt sind die Ferien zur Hälfte rum, dann geht die Schule wieder
los. Aber noch ist es schön heiß, und die Beeren reifen im Garten, und
wir gehen fast jeden Tag schwimmen, Laura, Markus und ich. Und am
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Abend bin ich so müde, so schön schwer wie ein Sack mit einer Tonne
Reis. Und dann kann ich meistens nicht schlafen gehen, weil Mama
irgendwas braucht. Meine Tante braucht nie etwas.
WV
Laura hat einen kleinen Hund gesehen. Nicht in echt. Auf der Website
eines Vereins. So ein kleines Baby ist das. Schwarz mit Fledermausohren. Und mit Kinderaugen. Jetzt geht sie ihrer Mutter auf die Nerven,
dass sie sich einen Welpen wünscht. Lauras Mutter hat viele schöne
Teppiche und ist gar nicht begeistert. Ja, ich finde den Welpen auch
süß. Aber meine Mutter hat Angst vor Hunden. Und sie findet sie
schmutzig. Ich dürfte nicht einmal im Traum dran denken, dass ich
mir so ein Fellknäuel wünschen könnte. Ich glaub, ich bekomme
nicht mal eine Schildkröte, wenn es hart auf hart geht. Laura hat nur
gelacht, wegen des Schildkrötenvergleichs. Und dann hat sie auch
noch gesagt:
»Ach, Madina, du hast ja den Rami.«
Na, vielen Dank. Wenn mein kleiner Bruder nur halb so gut auf
mich hören würde wie ein Welpe, wäre es schon klasse. Aber er hört
weder auf mich noch auf meine Mutter. Er ist eine echte Pest geworden. Vor einem halben Jahr war er mehr so eine Kinderpest.
Jetzt eine ausgewachsene. Und Mama macht gar nichts. Ich finde das
schlimm.
Ich hätte ihm schon längst die Ohren lang gezogen.
»Dann geh mal mit ihm Gassi«, habe ich Laura vorgeschlagen, und
sie hat sich zerkugelt. Ich schau ihr zu beim Zerkugeln und denk mir,
vor ein paar Monaten hätte ich noch mitgemacht. Aber jetzt ist alles
anders. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass ich sie überholt habe. Wie
bei einem Wettrennen. Sie ist jetzt einfach hinter mir. Auf der Nebenlaufbahn zurückgeblieben. Ich schieb den Gedanken immer weg,
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weil ich das nicht denken will. Ich will, dass wir immer zusammen
sind. Aber jetzt ist es so, dass wir im selben Raum sind und in derselben Freundschaft, aber nicht in derselben Situation.
Moment mal. Das war ja nie anders. Sie war nie in meiner Situation und ich nie in ihrer. Aber wir haben uns früher nicht jeden Tag
gesehen, fast rund um die Uhr. Und ich habe einfach so vieles nicht
gekannt und so vieles nicht gecheckt, dass es mir gar nicht auffiel.
WV
Unsere neue Wohnung ist gleich unter der von Laura. Auf der Wand
neben unserer Klingel sind noch vier Löcher zu sehen. Da hing früher
ein Schild. Von Lauras Vater. Seine Firma, sein Büro. Laura hasst ihn.
Ich hab sie gefragt, warum sie die Löcher nicht einfach zumachen.
Diese Löcher, die sie doch erinnern. Sie hat gesagt, dass sie es genau so
in Erinnerung behalten will, wie es ist. Ich verstehe das nicht. Ich will
nur schöne Gedanken an meinen Vater behalten.
WV
Laura möchte ein Hochbeet machen. Dabei ist es schon fast Herbst!
Hier wird es schnell kühl, nicht so wie bei uns zu Hause. Im damaligen
Zuhause. Eigentlich bin ich ja schon hier zu Hause. Nur die Jahreszeiten sind bei mir noch immer nicht umgestellt.
»Macht nix«, sagt sie. »Ein bisschen Blümchen werden wir wohl
noch schaffen.«
Saß da mit ihrem Tanktop auf gebräunter Haut und so hellen Härchen auf Unterarmen, Bauch und Schultern. Diese Härchen habe ich
immer so schön gefunden bei ihr. Aber auch bei Markus. Meine sind
schwarz und dick wie Fliegenbeine. Ich rasiere meine Waden wie eine
Irre. Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man nicht mehr
damit aufhören, weil sie noch fetter rauskommen als vorher. Und man
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sich schon an das Glatte der Haut gewöhnt hat. Meine Mutter hat leise
geschimpft, als sie es bemerkt hat.
Tina aus unserer Klasse hat mir gesagt, dass ich mich nicht rasieren
soll, weil Frauen alle Haare raushängen lassen können, so viel sie wollen. Mama hat mir gesagt, dass ich das ja nicht tun soll, weil ich mich
noch nicht rasieren darf. Sollen sie doch einfach machen, wie sie wollen, und mich in Ruhe lassen. Punkt.
Meine Tante hat mich zur Seite genommen und mir ein Rezept
mit Zucker verraten, das sie immer verwendet hat. Ich soll aber Mama
ja nichts sagen.
»Also«, sagt Laura und steht auf und dehnt ihre Beine und ihre Arme,
»wenn ich mich wieder spüre, dann holen wir die Erde und füllen das
Beet mal auf.«
Ihre Beine sind echt schön, so schmal und mit ein bisschen Speck
am Oberschenkel, gerade so, dass es eine schöne Rundung macht.
Meine sind sehniger. Ich mache viel Sport. Und Laura hasst Sport.
Laufen gehen wir aber schon. Das habe ich ja von ihr gelernt.
»Ich wollte noch mit Markus einen Film schauen«, sage ich.
»Er ist sowieso noch nicht da.« Laura hat immer eine Erklärung
parat, warum ich lieber mit ihr etwas unternehmen soll und nicht mit
ihrem Bruder. Ich weiß, dass sie das nicht mag. Vor allem, wenn sie
selbst gerade keinen Freund hat.
Ich bin aufgestanden und hab mir am Hintern die Blätter vom
Rock abgeputzt. So kurze Shorts wie Laura traue ich mich immer
noch nicht zu tragen, auch jetzt nicht, wo Papa weg ist. Meine Mutter
würde heulen, glaube ich.
»Es ist nicht wichtig, ob was dabei rauskommt«, sagt Laura mit weisem Gesichtsausdruck, während sie den Plastiksack mit der Erde darin
zum Hochbeet wuchtet. »Es ist wichtig, dass man es macht.«
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Also, ich weiß nicht. Ich würde schon gerne auch Früchte meiner
Arbeit sehen. Aber ich sag das nicht laut.
Wir wühlen in der Erde, und ich denke dran, wie ich mir früher
diesen Märchenwald errichtet habe, in meinem Kopf. Um Platz zu
haben. Um mich abzulenken. Um weitermachen zu können. Ich
habe ihn nicht mehr. Nicht, seit Papa weg ist. Nicht, seit Markus mein
Freund ist. Nicht, seit ich erwachsen sein muss wie noch nie in meinem Leben. Das ist Kinderkram. Ich bin jetzt zu alt dafür.
»Was machst du denn für ein Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht?«,
fragt Laura und streicht sich Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre
Hände sind dreckig, sie sieht nach kurzer Zeit aus wie ein Soldat im
Tarnmodus.
»Wegen nix.«
Ich schau weg. Ich will nicht darüber reden. Nicht schon wieder.
Es bringt nichts.
Es bringt Papa nicht zurück.
Sie legt mir die verdreckte Pratze liebevoll auf die Schulter. Dreck
und wohlige Wärme.
»Du weißt, du kannst immer mit mir reden. Ich bin da.«
Ich spüre schon wieder eine dieser fiesen Tränen in meinem Auge,
nur so im Augenwinkel, noch nicht startklar. Ich drück das Auge zu
und tu so, als wäre mir etwas reingeraten. Ist es ja eigentlich auch.
Meine Vergangenheit.
Ich nicke. Dann steh ich auf, wische die Hände an meinem Rock ab
und gehe ins Haus.
WV
»Komm doch raus«, bittet Laura vor der Klotür. Ich sitz drin und starre
die Wand an. Was wirklich cool ist: Wir haben jetzt ein eigenes Klo. In
dem kann ich sitzen, so lange ich will. Also fast. Meine Mutter ist mit
Rami spazieren gegangen, und Tante Amina ist in ihrem Kurs. Alles
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gehört mir. Unsere zwei Zimmer, unser Klo und unsere Küchenzeile,
das ganze Erdgeschoss.
»Ich hab Bauchweh«, lüge ich.
»Glaubst du doch selber nicht«, schießt Laura zurück.
Ich mache auf. Sie steht da und grinst.
»Willst du doch drüber reden?«
»Es ändert nichts«, sage ich und muss gleich darauf so heftig
schluchzen, dass mir die Luft wegbleibt, als würde ich in einem See
aus Rotz ertrinken. Sie umarmt mich. Rosenduft und Schweiß. Fast
wie meine Oma.
»Komm her«, sagt Laura und drückt mich Gesicht voran in ihre
Brust hinein, die weich und fest ist und so gar nicht wie die meiner
Oma. Ich kuschle mich in sie hinein und drücke die Augen zu, bis ich
Spiralen sehe im Dunkeln hinter meinen Augenlidern.
WV
Markus hat Freunde mitgebracht. Das hasse ich, wenn er das nicht
vorher sagt, sondern einfach macht und ich mich neu einstellen muss
auf wechselnde Gesichter. Früher war das aufregend. Aber da habe
ich ihn auch nicht jeden Tag gesehen. Mit Laura fühlt sich das richtig
an. Mit ihm nicht. Und mit seinen Freunden noch viel weniger. Einer
kommt auf einem roten Moped, bleibt ewig draußen vor unserem
Gartentor stehen und lässt den Motor laufen, vermutlich weil er hofft,
dass Laura ihn endlich bemerkt. Ich stehe entnervt auf und rufe sie,
weil mich der Gestank würgen lässt.
»Was hast du denn?«, fragt Markus, genauso genervt von mir wie
ich von ihm.
»Es tut mir leid«, sage ich. Und dann gehe ich raus.
WV
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Ich geh runter und gehe in mein Zimmer, das auch Ramis Zimmer ist.
Rami sollte schlafen, tut es aber nicht. Sein Bett ist leer.
»Wo ist Rami«, frage ich meine Mutter, die am Tisch sitzt wie so oft.
Das Kinn auf die Hände gestützt, den Blick starr auf ihre Teetasse gerichtet, den Rücken gebeugt. Früher hat sie immer gerade gesessen.
Ich muss noch mal fragen, weil sie nicht sofort reagiert.
»Weiß ich nicht«, sagt sie dann, und sie klingt erstaunt über die
eigene Hilflosigkeit.
»Sollte er nicht ins Bett?«
»Doch.«
»Ruf ihn doch.«
»Das habe ich schon.«
Ich seufze, ich weiß, dass sie keine Kraft hat, um aufzustehen und
ihn suchen zu gehen. Ich streife mir also fluchend meine Strickjacke
über und gehe in den Garten, in das Dunkel des Universums, in dem
die kleinen Planeten der Solarleuchten aufglühen. Wegen des Bewegungsmelders.
»Rami!«
Keine Antwort.
»Alter, das ist nicht lustig. Komm sofort her, oder es setzt was!«
Irgendwo raschelt etwas im Gebüsch. Eine Katze. Oder ein Dachs.
Oder mein verdammter kleiner nerviger Bruder. Ich gehe noch zwei
Schritte weiter.
»Du kleines Miststück«, schreie ich. »Mama macht sich Sorgen!«
»Na und?«
Das klingt sehr leise. Und gar nicht überzeugt. Es ist tatsächlich
eher eine Frage. Ich gehe in Richtung seiner Stimme. Da hinten sitzt
er zusammengekauert unter einem Fliederbusch. Mit hochgezogenen
Schultern.
»Wieso sitzt du da?«
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»So halt.«
»Komm rein.« Ich will nach ihm greifen, er weicht vor mir zurück,
die Äste, unter denen er Platz findet, sind mir im Weg.
»Was soll das?!«
»Geh weg«, sagt er und schiebt die Unterlippe vor. »Geh weg. Ich
höre nicht auf euch. Ich höre auf Papa.«
»Der ist jetzt nicht da«, sage ich ein paar Stufen freundlicher.
Und strecke die Hand nach ihm aus. Er beißt voll rein, ich lasse das
zu.
»Er wird zurückkommen! Er wird! Ich weiß das!«
Ich setze mich in einigem Abstand zu ihm auf den Boden.
»Ich habe Kaugummis da, willst du?«
Er schaut mich nur mit Kulleraugen an, in denen sich das Wasser
staut. Ich lege ihm einen Streifen Kaugummi hin, als ob er eine wilde
Katze wäre, die ich anlocken muss. Er verkriecht sich weiter ins Dickicht.
»Schau, Rami«, sage ich. »Ich weiß, es ist echt schlimm für uns.
Aber wir müssen weitermachen.«
Dann sitzen wir still da. Ich schaue ihn nicht an, ich schaue in den
Sternenhimmel. Bald werden die Perseiden kommen, und ich werde
mir etwas wünschen. Ich weiß, was ich bei jeder einzelnen Sternschnuppe wünschen werde. Irgendwann ist der Kaugummi, den ich
hingelegt habe, weg. Und irgendwann kommt Rami raus und lehnt
sich an mich. Und weint. Ich weine nicht. Ich habe ja jetzt etwas zu
tun.
WV
Als Rami endlich vor sich hin schnarcht, drehe ich sein Nachtlicht aus
und gehe in die Küche. Dort sitzt Mama immer noch. Meine Tante hat
sich schon hingelegt. Vielleicht, um Mama Ruhe und Raum zu verschaffen. Ich greife nach der Teekanne. Der Tee drin ist kalt. Und ihre
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Tasse immer noch voll. Ich setz mich zu ihr und greife nach ihrer
Hand. Sie senkt den Kopf ein bisschen, aber nicht schnell genug, ich
sehe die Tränen trotzdem.
»Mama.«
»Ich wünschte, ich könnte … ich wünschte, ich könnte mich zusammenreißen«, sagt Mama leise. »Ich versuche es doch jeden Tag. Ich
kann es einfach nicht besser.«
Ich schenke mir den kalten Tee ein und nehme einen Schluck. Er
hat zu lange gezogen, er schmeckt bitter und ist schwarz wie die
Hölle. Ich werfe ein Zuckerstück rein, das sich natürlich nicht auflöst.
Ich fühle mich jedes Mal so verloren in solchen Situationen. Jedes
Mal. Frau Wischmann sagt, dass Mama eine Unterstützung braucht.
Und diese Unterstützung nicht von mir kommen sollte. Wenn ich nur
an Frau Wischmann denke, freue ich mich schon auf das Ende der
Sommerferien, wenn ich wieder zu ihr gehen kann! Einmal in der
Woche habe ich bei ihr einen Zufluchtsort, an dem es echt nur um
mich geht. Und das ist sehr gut so, weil ich glaube, dass ich ohne diese
Ruheinsel schon längst durchgedreht wäre. Wegen allem. Bei unserem letzten Treffen hat sie es sogar noch ein bisschen deutlicher gesagt: »Deine Mama ist in ein tiefes Loch gefallen. Aber du kannst ihr
da nicht allein raushelfen.«
Das tiefe Loch, in das Mama gefallen ist, heißt Depression. Aber sie
möchte keine Frau Wischmann für sich allein haben wie ich. Sie will
mit niemandem Fremden sprechen. Und zwingen kann ich sie wohl
auch nicht. Sie spricht nur mit mir. Und mit meiner Tante. Und ab
und zu mit Lauras Mutter. Bei der wir jetzt seit ein paar Monaten wohnen dürfen. Nicht vorzustellen, wie es wäre, wenn wir immer noch im
Flüchtlingsheim leben würden. Ein Albtraum wäre das. Ich umarme
also Mama, so fest ich kann, und schiebe den Widerwillen weg, der
neben dem Mitleid in mir aufwacht. Weil es mir zu viel ist. Weil mir
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das alles verdammt noch mal zu viel ist. Mama braucht einige Zeit, bis
sie die Hände hebt und mich zurückumarmt. Aber als sie es tut, freut
mich das, trotz allem.
2
In der Früh weckt mich Laura mit Türenknallen und einem Bussi. Sie
riecht nach Zahnpasta und frischer Seife. Sie kommt gerade aus dem
Bad. Sie hat einen Korb, in dem gekochte Eier sind und Brötchen und
Butter und süße Marillenmarmelade.
»Selbst gemacht«, sagt Laura und grinst.
»Ich hab mitgekocht, ich weiß es«, sage ich. Ich bin so müde, dass
ich die Augen kaum aufkriege.
»Los, los, der frische Morgen wartet.«
Laura setzt den Kaffee in der Küche auf, wirft den Toaster an. Ich
setze mich im Bett auf. Die Sonne knallt zum Fenster rein, jemand hat
die Vorhänge zurückgezogen. Rami ist nicht da. Und die Sonne, die
da reinknallt, steht schon ziemlich hoch am Himmel. Ich habe monumental verschlafen.
»Wo sind denn alle«, gähne ich. Hoffentlich muss ich nicht schon
wieder irgendwas geraderichten, was irgendwer von diesen anderen
verbockt hat.
»Beim Jahrmarkt. Mit meiner Mama. Alle drei.«
Den Jahrmarkt habe ich komplett vergessen. Die Buden sind ja
schon gestern aufgebaut worden. Rami wird einen absoluten Ausnahmetag haben. Mit Karussell und Zuckerwatte. Hoffentlich macht ihn
das erträglicher. Wenigstens für ein paar Tage.
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Ich krieche im Pyjama in die Küche, ich fühle mich wie eine Mumie, die sich im Gehen einfach auflösen könnte. Laura knallt mir
eine Kaffeetasse vor die Nase. Er duftet. Die Brötchen duften auch. Die
Marmelade sowieso. Ich trinke den Kaffee mit einem Zug aus und
verbrenne mir die Lippen.
»Willst du noch einen?«
»Ja, bitte. Ich fürchte, ich brauche heute hundert.«
Ȇbrigens, ich glaube, ich krieg Mama doch noch rum. Wegen des
Hundebabys«
Laura steht mit dem Rücken zu mir und rührt in ihrem Kaffee. Ich
schleiche mich an und kuschle mich an sie. Manchmal weiß ich gar
nicht, was ich ohne sie machen würde.
»Wir gehen am Abend auch zum Jahrmarkt«, sagt Laura. »Und du
kommst diesmal mit. Keine Ausreden.«
Ich spüle mit dem Kaffee um meine Zähne herum wie beim Zähneputzen, damit ich nicht sofort antworten muss.
»Komm schon, Madina.«
Ich schlucke den Kaffee.
»Ist okay«, sage ich. Diesmal wird mir das wirklich keiner verbieten
können. Papa ist ja weg.
WV
Mama hat zwar versucht, mir zu widersprechen. Aber richtig durchgezogen hat sie es dann nicht. Also gehe ich heute aus. Mit allen anderen. Das ist das absolut erste Mal, das mir das gelungen ist.
»Markus kommt mit?«, hat sie nur gefragt.
»Ja«, habe ich gesagt.
»Das ist gut. Dann übertrage ich ihm die Verantwortung.« Sie hat
sich auf den Weg nach oben gemacht, um es Markus persönlich mitzuteilen, dass er auf ganz magische Weise bei Anbruch des Abends
verantwortlich für mich sein wird. Als ob ich eine verwunschene Prin20
zessin wäre, die sich bei Sonnenuntergang in ein Monster verwandelt,
das im Zaum gehalten werden muss, um mögliche Schäden abzuwehren. Sie hat auch noch von mir erwartet, dass ich brav mitgehe und
übersetze, wie immer. Ich bin die ersten paar Schritte mitgekommen.
Dann stellte ich mich ihr auf der Treppe in den Weg.
»Nein, Mama. Die Verantwortung trage ich. Sonst niemand.«
Sie hat sich am Treppengeländer festgehalten, ohne weiterzugehen,
mit sich gekämpft. Mich dann mit einem solchen Elend angesehen
wie selten.
»Das ist doch ganz furchtbar«, hat sie gesagt. »Ich wünschte, dein
Vater wäre noch hier. Ich wünschte, er würde mich beschützen. Ich
will doch nur, dass du es besser hast als ich …«
Ich hab gelächelt.
»Mir geht es gut damit«, habe ich gesagt. »Was ich selbst machen
kann, das kann mir niemand wegnehmen. Weißt du.«
WV
Später stehen wir in Lauras Zimmer und machen uns schön. Mein
Haar ist immer noch kinnkurz, und wenn die Luft feucht ist, wie jetzt
eben, dann ringeln sich die Strähnen zu einem dichten Medusenkopf mit sehr kurzen Schlangen. Ich mag meine Locken. Immer noch.
Laura hat die Haare knallrot gefärbt, man sieht die Farbränder noch
an ihrem Hals und an ihren Händen. Im Bad sieht es aus wie in einem
Schlachthaus. Das müssen wir später auch noch sauber machen. Sonst
wird es ganz sicher nichts mit dem Hundebaby. Denke ich mal. Laura
muss von dieser Notwendigkeit erst überzeugt werden. Manchmal
rafft sie echt nicht, wenn sie Dinge macht, die ihre Mutter ziemlich
verärgern könnten. Ein Blutbad zum Beispiel.
Laura zieht eine schwarze knallenge Shorts an, aus der ihre Pobacken ein bisschen raushängen. Ich finde das furchtbar. Nicht, weil
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mir die Pobacken nicht gefallen. Sondern weil mir das so was von
peinlich wäre, die bessere Hälfte meines Hinterns zur Schau zu stellen. Dazu will sie ein Top kombinieren, das aussieht wie die Unterwäsche ihrer Mutter.
»Es IST die Unterwäsche meiner Mutter«, klärt sie mich auf Nachfrage auf.
»Denk an das Hundebaby, Laura.«
Ich habe mein schönstes Sommerkleid an: hellgrün mit einem
kleinen Muster drauf, luftig, mit schönen schmalen Trägern, die sich
auf meinem Rücken überkreuzen. Nicht zu kurz. Aber auch nicht
zu lang. Wäre früher undenkbar gewesen. Ist jetzt meine kleine erkämpfte Änderung. Mama lernt, aber nur in klitzekleinen Schrittchen. Ich muss beständig Geduld mit ihr haben. Oder wir krachen
zusammen. Und dann weint sie, und ich weine dann irgendwann
auch. Wer will schon ständig weinen.
Laura muss solche Unterhaltungen nie führen. Laura nimmt die
Stöckelschuhe ihrer Mutter und den Lippenstift, ohne zu fragen.
Dann ist sie zwar manchmal böse, aber meistens doch noch gerührt,
weil Laura so lebenslustig ist, wie sie sagt. Aber als sie mir auch einen
Lippenstift schenken wollte, einen roten, da hab ich abgelehnt.
»Danke dir, Susi«, hab ich gesagt. Seit wir eingezogen sind, darf ich
sie Susi nennen. Am Anfang war das ganz komisch, aber mittlerweile
gewöhne ich mich daran. So, wie ich mich immer mehr an diesen Alltag hier gewöhne. An Gutes, Leichtes gewöhnt man sich verdammt
schnell. »Das ist total lieb von dir. Aber den werde ich nicht tragen. Ich
fühle mich verkleidet damit.«
Sie hat ihn in der Handfläche hin und her gerollt. Ein schwarz
glänzender Zylinder mit Schönheit drin. Aber eben nicht meine Art
von schön.
»Dabei würde er so gut zu deinem Teint passen.«
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»Danke, aber ich trage den wirklich nicht.«
Vielleicht eine Spur zu bockig. Vielleicht hätte ich irgendwo in
einem Winkel meiner Seele ja doch diesen roten Lippenstift tragen
wollen, obwohl er sich so gar nicht mit meinem Selbstbild gedeckt
hat. Sie hat geschaut. Wegen meines Widerspruchs. Früher habe ich alles genommen, was sie hergegeben hat. Vieles war wunderschön. Aber
eben nicht alles. Ich habe mich nie getraut, etwas abzulehnen. Weil
mir das frech erschienen wäre. Und undankbar. Ich will aber nicht
mehr lügen. Auch aus Höflichkeit nicht.
»An was denkst du?«, fragt Laura, die gerade den letzten Schliff mit
dem Lidstrichpinsel setzt, kühl und präzise wie ein verdammter Chirurg. Solche Routine habe ich noch nicht mal im Ansatz. Immer zittert dabei irgendwas an mir, und ich kleckere nicht, ich klotze.
»Warum?«
»Du hast schon wieder auf deine Unterlippe gebissen.«
»Das siehst du, während du ein Auge zukneifst und das andere bearbeitest?«
»Ich bin omnipräsent, Beste.«
»Omnipotent heißt das.«
Wir lachen. Es ist cool, wenn man jemanden hat, mit dem man sogar in Trauerphasen lachen kann. So jemanden sollte jeder auf Krankenschein bekommen, wenn er ihn nicht schon hat. Echt jetzt. Ich
würde mir Laura unbedingt verschreiben lassen, wenn ich sie nicht
hätte.
Unten hupt ein Auto. Es ist so ein intensives Hupen, ein langes,
lautes, ein Sehnsuchtshupen. Für Laura. Sie verdreht die Augen.
»Nicht der schon wieder …«
Ich weiß, wer. Der Typ aus dem Café, in das wir manchmal gehen,
um ein Eis zu essen oder ein Stück Torte. Der kellnert dort. Er kommt
von irgendwo aus der Umgebung, und jeden Tag pendelt er rein und
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macht dabei so einen Lärm mit seinem getunten roten Angeberauto,
dass jeder weiß, der Typ ist jetzt da. Und am Abend spielt sich Ähnliches ab. Ich und Laura wissen das ganz besonders genau, weil er bei
jedem einzelnen In-die-Stadt-Fahren an unserem Garten vorbeistinkt
und hupt. Seit ihm Laura aus lauter Langweile schöne Augen gemacht
hat. Obwohl ich sie mehr als deutlich davor gewarnt habe, weil ich
nicht einmal aus Todessehnsucht einem solchen Menschen schöne
Augen machen würde.
»Ist doch nur Spaß«, hat sie gesagt, und jetzt leiden wir täglich unter dem Huper, der mich mehr nervt als eine Pestbeule am Hintern.
Ich schlüpfe in meine Sandalen. Türkise, mit Riemchen und mit kleinem grünen Absatz. Ich fühle mich sehr erwachsen damit. Hat mir
Lauras Mutter zum Geburtstag geschenkt. Und ich habe mir geschworen, dass ich einen Job annehmen werde, um ihr zu ihrem nächsten
Geburtstag auch etwas Schönes überreichen zu können und nicht
bloß blöde Gutscheine und Wiesenblumen wie früher. Gutscheine
zum Staubsaugen. Gutscheine zum Wäschebügeln. Gutscheine zum
Einkaufengehen. Was ist denn das für ein Geschenk zum Geburtstag?
Eben. Aber dann passierte das mit Papa, und ich hatte überhaupt
keine Zeit mehr für einen Job.
Draußen ertönt wieder dieses nervenzerfetzende Geräusch. Und
er hupt wieder. Und hupt. Und hupt. Laura reißt das Fenster auf.
»Ich fahr euch zum Jahrmarkt«, brüllt er aus dem Angeberauto
heraus.
»Danke, aber nein danke!«, brüllt Laura hinunter.
»Komm runter!«
»Wir werden schon abgeholt!«
Er fährt das Fenster hoch wie so ein Scheißritterhelmvisier. Und
fährt mit quietschenden Reifen davon.
»Wie der nervt«, flucht Laura.
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»Wer holt uns denn ab?«, frage ich, etwas überrumpelt. Ich weiß
nämlich von nichts.
»Der Herr Niemand und der Sir Keiner«, lacht Laura.
»Das find ich doof«, sage ich. »Warum lügst du?«
Sie hakt sich bei mir unter.
»Weil es egal ist.«
»Sag ihm doch einfach, dass du nicht mit ihm fahren willst. Der
gibt ja sonst nicht auf.«
»Ach vergiss es doch«, lacht Laura.
WV
Die Nacht ist um. Und ich sitz immer noch da und schreibe. Es war
aufregend, das erste Mal spätabends mit Laura unterwegs zu sein, ich
hatte aber auch ein bisschen Angst so ganz allein mit ihr in dem Waldstück, die Bäume mit ihren Ästen und den Schatten dazwischen.
Ich versuchte, nicht in das Dickicht zu schauen. Ich dachte an den
Wald, in dem ich mich fast verlaufen hätte, meinen Märchenwald von
früher mit den schönen Paradiesvögeln und den gefährlichen Tieren
darin. Da habe ich mich doch auch hindurchgewagt. Und der hier ist
echt harmlos. Viel harmloser als der Krieg, durch den ich auch gewandert bin. Viel harmloser als die Schweine, die meinen Vater gezwungen haben, zurückzugehen in diesen Krieg. Viel harmloser als alles,
was in meiner Heimat zurückgeblieben ist. Ich legte den Kopf in den
Nacken und sah die Sterne über mir: eine riesige Landkarte fremder
Welten, leuchtend, blinkend, endlos. Laura erzählte mir einen Witz,
den ich mir nicht merkte. Ich lachte trotzdem. Je weiter wir in das
Dunkel hineingingen, desto lauter lachte ich.
»Wir haben einen coolen Abend vor uns!«, sagte Laura.
Da dachte ich mir, ja, das haben wir tatsächlich, und ich freute
mich drauf.
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Von Weitem kann man den anwachsenden Lärm hören: Leute
schreien, Leute lachen, aus den Lautsprechern tönt unterschiedlichste
Musik, die ineinanderschwappt. Es blinkt rot und grün und blau. Die
Leute sehen in diesem Licht aus wie in einem Horrorfilm. Junge und
alte, aufgetakelte und zerlumpte. Ich glaube, die gesamte Umgebung
ist hier und noch mehr. In der Mitte des Platzes steht eine Krake, auf
deren Armen Gondeln befestigt sind, die sich um die eigene Achse
drehen, während die Krake sich etwas gemächlicher ebenfalls dreht.
Hinter der Krake sind grell beleuchtete Buden mit Würstchen, Cocktails und Zuckerwattezeug, die alle Umstehenden zu Zombies färben,
und vor der Krake mehrere Bodenpizzas.
»Die Krake müssen wir ausprobieren!«, kreischt Laura.
»Vor dem Essen oder nach dem Essen?«, frage ich.
»Nachher natürlich.« Laura steuert die nächste Fressbude an.
»Wenn schon, denn schon!«
Wir stellen uns an. An uns vorbei fliegt ein Bierkrug. »Hoppla«,
sagt Laura und zieht den Kopf ein.
Wir holen uns Bratwürstchen und Pommes, fetttriefende, knusprige, so richtig heftige Pommes, mit Ketchup und Mayo und allem
Drum und Dran. Laura setzt sich in den Rasen. Ich setz mich daneben. Wir machen synchron unsere Limodosen auf. Haben wir schon
in der Schule so gemacht. Limotrinken wie ein Team!
»Wo ist Markus?«, frage ich.
»Der ist mit seinem Kumpel unterwegs, die Jungs von weiter weg
abholen. Sind bald da.«
Irgendwo in mir lauert das unangenehme, angespannte Gefühl,
der Huper könnte auftauchen. Aber wenn, habe ich mir vorgenommen, dann werde ich ihn vertreiben, wenn Laura es nicht schafft.
Auch wenn er viel älter ist als ich. Drauf geschissen.
Ein paar Mädchen gehen an uns vorbei, die wir aus der Schule ken26
nen. Wir grüßen, wir winken, wir quatschen ein wenig. Dann ziehen
sie ab. Es ist so unfassbar cool, dass sie mich genauso freundlich anreden wie Laura! Endlich ist es so, dass es normal ist, mit mir zu reden.
Ich bin kein seltsamer Fremdkörper mehr. Ich bin jetzt eine von ihnen. Jedenfalls glaub ich das. Es fühlt sich anders an als im Jahr davor.
Sehr anders. Letztes Jahr schwankten die meisten zwischen schweigen
und angespannt komisch mit mir reden. Ich habe im Flüchtlingsheim
gelebt, und ich kannte mich noch überhaupt nicht aus. Und irgendwann habe ich mich ausgekannt, jedenfalls mehr als meine Eltern.
Und dann waren meine Eltern deshalb auch noch sauer auf mich. Es
war eigentlich ein wirklich verrücktes Jahr. Aber Laura war immer an
meiner Seite, und das macht dieses Jahr erträglich. Und streckenweise
schön. Bis Papa verschwand.
Wir setzen uns in so eine Krakensaugnapfgondel.
»Sag deinem Würstchen auf Wiedersehen!«, kreischt Laura. Die
Gondel schwingt leicht an, schwingt leicht zurück, der Krakenarm
knarzt und knarrt, als er sich immer weiter in die Höhe schraubt und
an Geschwindigkeit gewinnt. Auf halber Höhe, als mir klar wird,
dass meine Schuhe schon sehr weit über dem Boden hängen, wird
mir kurz mulmig. Wir haben abgehoben, und alles dreht sich. Laura
schreit. Und lacht. Ich werde stiller. Mein Haar schlägt mir ins Gesicht,
ich hebe den Kopf, die Sterne kreisen um meine Stirn.
»Schrei mit mir!«, brüllt Laura. »Komm schon, Madina!«
Und sie krallt sich in meinen Arm, und das gibt mir Kraft, und ich
reiße den Mund ganz weit auf und schreie mit ihr mit, damit unsere
Stimmen in eine Stimme fließen und über die Krake steigen und über
die Buden, hoch hinauf zum Sternenhimmel, der sich immer rasender um uns dreht.
Ich hab übrigens natürlich gekotzt. Macht nix.
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Und als wir schon das halbe Taschengeld von Laura in Getränke
und Süßzeug umgesetzt haben, als ich mich so richtig entspanne und
sogar mit Laura ein bisschen herumtanze zu der Superlautdröhnmusik, als es echt, echt, wirklich echt Spaß macht, zu sein wie alle anderen, in dem Moment hör ich seine Stimme.
»Laura! Laura! Hey!«
Ich wusste es einfach. Der Huper würde sich nicht so schnell abwimmeln lassen von einem simplen »Wir sind mit anderen unterwegs«.
»Wo ist denn deine Begleitung, Laura?«
Er hat schon einiges getrunken, er schwankt, während er auf uns
zugeht. Er trägt ein cooles T-Shirt und eine Jeans mit Riss am Knie
und aufdringliche Cowboystiefel. Er hat knallblaue Augen, über denen die Lider jetzt auf Halbmast hängen. Er könnte sogar hübsch sein,
wenn er nicht so besoffen und gruselig wäre. So verdammt, verdammt
gruselig. Er stolpert auf uns zu. Laura grinst. Aber auch nur auf Halbmast.
»Du bist ja ganz allein hier!«, lallt er und streckt den Arm nach
Laura aus. Laura weicht zurück.
»Die kommen gleich.«
»Vielleicht seid ihr aber auch wirklich ganz, ganz allein hier.«
»Geht dich einen Scheißdreck an«, sagt Laura. Ihr Grinsen ist verschwunden. Sie schaut in die Menge. Markus ist immer noch nicht da,
und die Mädels von vorhin sind weg.
»Komm, tanz mit mir«, nuschelt er und will wieder nach ihr greifen. Ich spüre, wie meine Wut hochkocht. Ich kann gar nicht anders,
ich stelle mich vor Laura. Er verengt die Augen zu noch kleineren
Schlitzen.
»Sie will das nicht. Und sie wird das nicht.«
»Verzieh dich!«
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Ich spüre Lauras Atem hinter mir, schnell und warm in meinem
Nacken.
Ich stell mich noch breiter hin.
»Ich hab gesagt, verzieh dich, du … du …« Er scheint nach Worten
zu suchen. Es dauert, bis er sie findet. »Du Kameltreiberin!«
Ich kapiere zuerst gar nicht, was er meint. Ich hab noch nie ein
echtes Kamel gesehen.
»Zieh Leine«, sagt nun auch Laura.
Daraufhin wird er noch etwas lauter. Und geht auf mich zu.
»Du gehörst sowieso nicht hierher, Flüchtlingsgesindel.«
Ich muss schlucken. Ich habe solche Worte schon gehört, aber es ist
lange her. Und ich habe sie noch nie gehört, während ich in der Nacht
allein unterwegs war. Und noch nie so aggressiv. Ich sehe mich um, die
Menschen gehen an uns vorbei. Es bekommt offensichtlich keiner
mit, dass wir Hilfe bräuchten.
»Du hast einem von hier überhaupt nix zu sagen!«
Nun steht er schon recht nahe vor mir, seine Alkoholfahne schlägt
mir ins Gesicht.
Ich sehe mich panisch nach allen Seiten um. Wir weichen weiter
zurück, Richtung Zuckerwattebude, in der eine dicke Frau steht und
die bunten wolkigen Wattestückchen unermüdlich um die Holzstöckchen dreht, ihre Finger bewegen sich geschickt wie die Finger einer
Hexe über dem Zauberkessel.
»Na, so still auf einmal?«
Ich mach noch einen Schritt rückwärts und stoße an Laura, die
wiederum an die Holzwand der Bude stößt. Die Frau sieht auf.
»Bitte helfen Sie uns«, sage ich.
»Was ist denn hier los?«
In diesem Augenblick dreht sich der Huper um die eigene Achse,
wie die Zuckerwattebäusche um die Stäbchen, wie die Finger der
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Frau, dreht sich und neigt sich und entlässt dabei einen gewaltigen
Strahl gelber Kotze aus seinem Mund.
»Du hast wohl etwas über den Durst getrunken, junger Mann!«
Die Alte kommt heraus und wischt sich die klebrigen Hände an der
bunten Schürze ab. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
Wir nutzen die Gelegenheit und tauchen in der Menge unter. Die
Musik dröhnt.
Final Countdown.
»Wie schaut ihr denn drein?«, wundert sich Markus, der kurz darauf zu uns stößt. »Nicht gerade ausgeprägte Feierlaune.«
Laura fällt ihm um den Hals. Ich steh da und fühle mich wie versteinert. Bis Markus mich umarmt. Und mich an sich drückt.
Meine Knie zittern noch, als wir ins Bierzelt rübergehen. Markus
schiebt mir eine Limo rüber.
»Lass dir den Abend nicht versauen. Das war doch nur ein besoffener Trottel.«
Vermutlich hat er recht, aber das tröstet mich nicht wirklich. Der
besoffene Trottel hat sehr genau aufgezeigt, dass ich doch nicht so dazugehöre, wie ich es gerade noch gedacht habe. Er hat nicht nur den
Abend erschüttert. Sondern auch mein Gefühl von »ich bin hier richtig«. Ich weiß, dass es lächerlich ist. Dass der Typ ein komplexbehafteter Arsch ist. Trotzdem schmerzt das, was er gesagt hat, und schneidet
tief und reißt Nähte in meinem Herzen auf, die gerade gut verheilten.
Ich versuche zu lächeln. Ich habe immer alles weggelächelt. Und das
schaffe ich jetzt auch. Ich kenn mich.
»Komm, wir tanzen«, schlägt Markus vor, und ich lasse mich von
ihm und Laura auf die Tanzfläche ziehen und schließe die Augen und
versuche, den Sternenhimmel wieder zu spüren und die wilde Freude,
dass ich mir diese Nacht gestohlen habe, obwohl meine Mama dagegen war. Irgendwann lehne ich mich an Markus. Irgendwann küsst
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er mich. Irgendwann fühlt sich alles wieder halbwegs normal an. Das
heißt, so normal, wie es sein kann, wenn man bei der besten Freundin
wohnt, die Mutter depressiv ist und der Vater verschollen. Und die
Flucht nicht so lange her. Ich wische das alles beiseite, ich will mir
von der Erinnerung nichts kaputt machen lassen und auch von dem
Huper nicht. Der ist nach seinem Vulkanausbruch weg und bleibt
weg, und das ist gut so. Die Nacht gehört wieder uns. Ich tanze wie
Aschenputtel auf dem Ball. Nicht, weil ich meine Sandale verliere.
Sondern mit dem leicht unguten Gefühl, dass ich eigentlich gleich
wegmuss. Aber es ist grad so schön und so lustig, und sie spielen Lauras Lieblingsmusik, und wir singen laut mit, und die Zeit verrinnt so
schnell. Und plötzlich ist es schon fast in der Früh.
Wir wandern laut singend und grölend über die Landstraße nach
Hause. Die Sterne leuchten genauso wie auf dem Weg ins Dorf. Wir
gehen zu dritt untergehakt, ich in der Mitte. Das ist auch schön. Ganz
hinten aber lässt sich ein feiner silberner Strich am Horizont erkennen, weit hinter den Tannen. Irgendwo dort räkelt sich der Morgen
und will noch nicht aufstehen. Kenn ich. Warum soll es dem Morgen
anders gehen als mir.
Als ich die Tür vorsichtig öffne, haben die Vögel im Garten schon
losgelegt. Zarte Stimmchen und das Quietschen der Türangel. Ich
quetsch mich durch den Spalt, weil ich nicht will, dass jemand wach
wird. Und mitbekommt, dass ich viel später heimkomme, als ich versprochen habe. Ich streife die Sandalen ab, schleiche vorsichtig auf
Zehenspitzen in die Wohnung … und höre ein Rascheln. Zucke zusammen. Die Tür zur Küche ist offen. Alles klar. Ich gehe ganz normal
weiter. Mama sagt nichts.
Sie sitzt in dem riesigen braunen Kaftan, der mal meinem Vater
gehört hat, am Küchentisch. Sie ertrinkt darin, weil sie viel kleiner ist
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als er und nicht mehr so rundlich wie früher, sie hat viel abgenommen. Sitzt einfach in diesem Kaftan ertrinkend da. So, wie sie am Vortag gesessen hat und am Tag davor und am Tag davor.
»Hast du auf mich gewartet, Mama?«
»Natürlich.«
»Du hättest nicht müssen, wirklich. Wirklich.«
Sie nickt. »Natürlich musste ich.«
»Bist du böse, weil ich zu spät bin?«
Sie dreht mir ihr Gesicht zu, ein kleiner fahler Mond im Halbdunkel des aufdämmernden Morgens. Der Mond hat zwei dunkle Augenringe und keinen Mann. Es setzt ihr mehr zu als mir. Alles setzt ihr
mehr zu.
»Nein. Ich habe Angst gehabt, die Augen zu schließen.«
»Mama.«
»Ich hatte Angst, dass du nicht da bist, wenn ich sie öffne.«
Ich umarme sie. Sie lehnt sich ganz kurz an mich und fährt dann
zurück.
»Du riechst nach Rauch und nach Alkohol.«
»Ich habe weder geraucht noch getrunken, Mama.«
»Du kannst das nicht machen, Madina. Du kannst nicht feiern gehen, während … während …«
Sie fällt zu einem kleinen Häufchen Elend zusammen.
»Wenn ich ausgehe, ändert sich doch nichts daran, dass Papa weg
ist.«
»Du kannst nicht einfach so weitermachen, als ob nichts wäre!«
Jetzt schreit sie schon fast.
»Mama, du weckst alle auf.«
»Dann schleich dich nicht die ganze Nacht draußen herum!«
Jetzt weint sie, nicht mehr still und leise, sondern zornig. Ungewohnt ist das.
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»Dein Vater hätte das nie gewollt! Er hätte das nicht zugelassen!«
Ich antworte gar nicht. Ich beiße die Zähne zusammen und mache
schweigend den Kühlschrank auf. Er ist gähnend leer. Kein Frühstück
für Rami, geschweige denn für mich. Draußen wird es schon hell.
»Wer bringt Rami in den Kindergarten?«, frage ich.
Sie wischt sich mit trotzigem Ausdruck die Tränen aus den Augen.
»Deine Tante.«
»Hat sie nicht ihren Kurs?«
»Hat sie. Er fängt heute später an.«
Ich nehme sie an der Hand, wie ein Kind, das ich über die Straße
führen möchte.
»Mama. Da muss sich was ändern.« Sie senkt den Blick. »Rami hat
nichts zu essen. Das geht so nicht.«
»Ich wollte …«, fängt sie an. Und die Tränen steigen wieder in ihren Augen hoch. Ich hasse diese vertauschten Rollen. Es fühlt sich einfach nicht gut an. Und es sieht nicht so aus, als ob sich das so schnell
ändern würde.
»Mama, schau mal. Ob ich tanzen gehe, ändert gar nichts daran,
dass es so nicht geht. Ich geh tanzen, und dann bin ich wieder für euch
da. Aber ich kann nicht mehr so viel für dich da sein, wenn die Schule
wieder beginnt.«
Insgeheim hoffe ich inbrünstig darauf, dass alles anders wird und
besser. Wenn die Schule anfängt. Langsam erwische ich mich dabei,
dass ich mich schon ziemlich drauf freue, wieder in die Schule zu gehen. Und einfach nur für mich selbst da zu sein. Mehrere Stunden am
Tag wenigstens. Und Schülerin sein zu dürfen.
33
3
Ich war mit Laura und Markus im Café. Laura hat sich erst gar nicht
hingetraut wegen des Arschlochs. Aber Markus hat darauf bestanden,
dass wir hingehen. Es ist unser Revier, hat er gesagt. Da kann der Arsch
noch so viel hupen. Wir sind mit klammen Bäuchen hin und betont
lässig rein. Hab gar nicht gewusst, wo ich zuerst hinschauen soll, weil
die Worte »Kameltreiberin« und »Gesindel« in meinem Kopf gekreist
sind wie die Flugzeuge um King Kong, als er auf dem Hochhaus
hockte. Und King Kong, das war mein Gefühl, dass ich recht habe und
der Trottel nicht. Ich gehöre hierher. Und ich kann ihm sagen, was ich
denke. Punkt. Schluss. Aus. Basta.
Wir gingen also rein und gleich seitwärts zu einem der Tischchen,
ohne zur Theke zu schauen. Da war aber sowieso keiner. Und als ich
schon extra aufs Klo ging, um einen Blick ins Innere der Küche zu erhaschen, kam eine neue Kellnerin raus. So eine mit Löckchen und gezupften Augenbrauen und weißer Bluse. Was für eine Überraschung.
WV
Ach ja. Das Hundebaby. Morgen gehen wir es anschauen. Bin so aufgeregt.
WV
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Ich kann nicht mitgehen. Mama kommt mit Rami nicht klar. Ich will
einen Hund haben und keinen kleinen Bruder. Schlimm, dass ich so
was denke, oder? Es tut mir manchmal nicht leid.
WV
Manchmal sitz ich einfach nur im Garten und hol das Handy raus
und schau mir die Nummer von Frau Wischmann an. Das beruhigt
mich ein bisschen. Und auch, dass sie in zwei Wochen wieder da ist.
WV
Laura hat mir lauter Videos vom Hundebaby gezeigt. Er ist dünn
und schwarz und hat spitze, abstehende Ohren und einen weißen
Brustfleck. Und dunkle Kinderaugen, so schwarz wie unterirdische
Seen. Er sieht aus wie ein Fabelwesen. Ich will ihn haben. Sofort. Er
würde mir in der Nacht die Füße wärmen und ich ihm an kalten Tagen seine Ohren.
WV
Lauras Mutter will definitiv keinen Hund. Weil meine Mutter sich vor
ihm fürchten würde. Ich vermute, dass das eine Ausrede ist und der
Grund eher ihre Designersofas und Perserteppiche sind. Laura bleibt
am Ball. Ich hoffe weiter.
WV
Die sechs Wochen ohne Frau Wischmann sind die längsten sechs Wochen der Welt.
WV
Waren baden. Schwüler Gewittertag. Lagen auf den brennheißen
Holzplanken und sahen den dunklen Wolken zu, die sich mehr und
mehr zu türmen begannen.
»Ich sehe einen Drachen«, hat Laura gesagt.
»Das ist ein fetter Elefant«, hat Markus gesagt.
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Ich hab hinaufgestarrt und den Tag vor mir gesehen, an dem ich
und Papa im Wald spazieren waren. Und am Berggipfel gestanden
und ins Tal gesehen haben. In genauso eine pechschwarze Wolkenwand, aus der ab und zu ein drohendes Leuchten nach außen drang
wie glühende Ränder eines verbrennenden Briefes.
Der Tag, an dem er mir gesagt hat, dass ich lernen muss, meine
Ziele zu erreichen. Meine Füße bedacht zu setzen. Und ausdauernd
zu sein.
Auf dem Rückweg kommen wir in den heftigsten Regenguss, den
ich hier je erlebt habe. Das Wasser stürzt in braunen Fluten über die
Landstraße, und der Wind ist so stark, dass es mich mehrmals fast umwirft. Markus versucht, uns unter seiner Jacke vorm Regen zu retten,
was ziemlich misslingt. Mein helles T-Shirt wird vollkommen durchnässt, ich trage keinen BH, man sieht alles durch, ich geniere mich zu
Tode, und Markus hat auf einmal diesen Blick, der mich immer unruhig macht, weil ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Der
Donner reißt den Himmel und unsere Trommelfelle fast auf. Laura
lacht und wirft ihr rotes Haar, Regenspritzer überall. Wir rennen kreischend in die Einfahrt und stellen uns kurz unter, bevor wir das Haus
umrunden, um zur Eingangstür zu gelangen. Der nächste Blitz taucht
den Garten in ein zartviolettes Inferno. Der Donner setzt unmittelbar
darauf ein, der Sturm ist jetzt direkt über uns. Das Fenster im Erdgeschoss geht auf.
»Madina, bist du das?« Meine Mutter klingt wie immer: nervös.
»Ich komm gleich«, rufe ich.
Markus streichelt meine nasse, kalte Schulter.
»Kommst du später noch rauf?«, fragt er. Er fragt mich das ziemlich
oft in letzter Zeit. Und eigentlich könnte er schon wissen, dass die
Antwort immer dieselbe sein wird.
»Ich darf am Abend nicht zu dir, weißt du doch.«
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»Ja, schon. Aber das kann deine Mutter doch nicht ewig so durchziehen!«
»Doch, siehst du ja.«
»Aber das ist lächerlich! Wir wohnen im selben Haus! Und wie
lang kennen wir uns jetzt schon?«
Ich muss innerlich fluchen. Er lernt einfach nicht dazu. Warum
fragt er immer wieder?
»Das ist alles zu viel für Mama.«
Er steckt die Hände in die Hosentaschen. Er schluckt irgendwas
runter, das er sagen will. Ich bin nicht neugierig darauf. Dann seufzt
er. Und lächelt wieder.
»Ist schon okay. Ich verstehe es ja.«
Ich sag da nix drauf, weil alles unpassend wäre. Vielleicht hat er sich
vorhin ja dasselbe gedacht. Was soll man schon darauf sagen, wenn die
eigene Freundin keinen einzigen Abend in deinem Zimmer verbringen darf? Ich greife nach seiner Hand. Er zieht seine nicht weg. Das
wiederum ist schön. In diesem Augenblick.
WV
Laura hat eine SMS bekommen. »Es tut mir leid«, hat dringestanden.
Kein Name. Ich ahne, wer das war. Sie hat sie gelöscht.
WV
»Komm, wir gehen Erdbeeren jagen«, sag ich zu Rami. Er sitzt da mit
einem Flunsch und malt Flugzeuge, aus denen Bomben fallen. Das
hat er schon ewig nicht mehr gemacht.
»Im Wald sind Soldaten«, sagt er, und dann macht er mit seinem
Finger ein Gewehr und mäht mich und meine Mutter und meine
Tante nieder, begleitet von einem Rattergeräusch.
»Blödsinn. Im Wald sind bestenfalls Hasen.«
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»Wirklich?« Sein Gesicht hellt sich auf. »Franzi hat Hasen bekommen. Die sind süß.«
»Welcher Franzi?«
»Mein Freund aus dem Kindergarten.«
Er steht auf und nimmt mich an der Hand.
»Gehen wir! Ich will auch Hasen haben!«
»Ach, Rami. Das sind andere Hasen. Wilde Hasen.«
Er lässt meine Hand los. »Machen wir sie zahm?«
»Komm mal mit.«
Er folgt mir durch den Garten über die Wiese zum Waldrand. Auf
dem schmalen Streifen zwischen Wiesengras und Waldboden steht
ein Steinpilz. Ich nehme ihn mit und stecke ihn in die Bauchtasche
meines Kapuzenpullis, jetzt bin ich ein Känguru, das mit einem Steinpilz schwanger ist. Rami ist ziemlich übermotiviert. Unter jedem
Busch sieht er nach, ob die Hasen dort sind. Und er malt sich schon
aus, wo sie schlafen werden und was er ihnen zum Frühstück geben
wird. Wir finden nach über einer Stunde jede Menge wilder Erdbeeren und nicht einmal einen Hasenkötel.
WV
Es wäre wirklich gut, wenn Rami ein Haustier hätte. Echt wahr. Den
ganzen Nachmittag hat er nur noch Hasen gezeichnet. Keine Bomben
mehr.
WV
Flüchtlingsgesindel. Das Wort hat sich eingebrannt wie eine Wunde,
die von einem erhitzten Eisen stammt. Mit schmorenden Rändern.
Ich will es nicht zugeben, aber ich denke öfter daran, als mir lieb ist.
Scheißkerl. Beschissener Scheißkerl. Ich hätte ihn so nennen sollen.
Und nicht schweigen.
WV
38
Ich spreche Laura auf den Huper an. Laura ist die Sache sichtlich
unangenehm. Wir machen Witze darüber, aber ihr Lachen klingt gestellt. Irgendwas ist da. Ich bohre nicht weiter nach.
WV
Susi hat uns zum Essen eingeladen. Das macht sie mindestens einmal
in der Woche. Dann tanzen wir alle bei ihr an, und Mama und Tante
Amina tragen ihre schönsten Kleider und bringen ihr Wiesenblumen
mit. Oder Pilze. Oder Brombeeren aus dem Wald. Was gerade da ist.
Dann gibt es ein herrliches Drei-Gänge-Menü und schöne Musik und
Kerzenlicht. Und ein bisschen das Gefühl von »alles wird gut«. Alles
ist normal. Ich liebe das. Und mehrmals schon hat sie gefragt, ob Mama
ihr nicht einmal ihre Rezepte zeigen will. Damit wir etwas kochen,
was sie immer zu Hause gegessen hat.
Der Tisch ist so feierlich gedeckt, als gäbe es mordswas zu feiern.
Mit schöner Tischdecke aus Leinen, mit einem silbern bestickten
Tischläufer, mit hohen zarten Gläsern und zum Pfauenschweif gefalteten Servietten. Und Blumen. Ich liebe Susis Tafeln. Man fühlt sich
wie eine Prinzessin, wenn sie sich um einen kümmert. Eine InstantPrinzessin. Das erste Mal habe ich mich so gefühlt, als sie mir mein
erstes Tagebuch geschenkt hat. Und jetzt schreibe ich schon in das
zweite. Das erste aus blauem Samt. Das hier aus rotem. Wie ein Königinnenmantel. Nicht mehr Prinzessinnenmantel.
Wir nehmen Platz, Rami macht Blödsinn wie üblich, Markus ist
lieb und aufmerksam und fischt ihn unter dem Tisch hervor und
gibt ihm eine Zeitschrift zum Anschauen, in der es um Autos geht. Ich
weiß übrigens wirklich nicht, warum ich manchmal so gereizt bin
und Markus mich so oft nervt. Eigentlich ist er sehr, sehr okay. Wirklich.
Wir sitzen, und Markus strahlt mich an, weil ich endlich zufrieden
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bin und von einem Ohr zum anderen grinse, und ich lächle zurück,
und es fühlt sich wirklich gut an, das alles. So ein Hauch von normal.
Und dann beugt sich Susi vor und klimpert dabei mit ihren knalltürkisfarbenen Ohrringen und erkundigt sich bei meiner Mama, was sie
denn mit ihr das nächste Mal kochen möchte. Vielleicht einen Eintopf, wie ich ihn mal erwähnt habe? Ich erinnere mich gut an diesen
Eintopf. Ich habe immer für drei gegessen, wenn Mama ihn gekocht
hat. Mit Auberginen und geschmortem Rindfleisch und Zwiebeln
und scharfen Chilischoten. Mir läuft beinah das Wasser im Mund
zusammen. Aber kaum hat sie das gefragt, sehe ich schon Tränen in
Mamas Augen hochsteigen. Alles tut weh, was mit früher zusammenhängt. Sogar das gute Essen. Dabei hat sie so gut und so gerne gekocht,
zu Hause. Für vierzig Leute! Und wir hatten oft Besuch. In unserem
Garten im Sommer. Schaschlik und würzige Suppen und Salate und
süße Torten, die vor Honig getrieft haben. Gebackene Zucchiniblüten und eingelegtes Gemüse. Und Fisch, oh war das ein guter Fisch, der
da auf dem Holzkohlengrill vor sich hin gebrutzelt hat, mit Zitrone
und Kräutern! Und die fetten Bratkartoffeln mit angebräuntem Rand!
Und Orangenkuchen und flambierte Äpfel mit Rosinen …
Und es liegen leider Welten zwischen der runden, lachenden Mama
von damals und der dünnen Augenringemama von heute. Keine schönen Welten.
Ich unterbreche also Susis Frageschwall. Ich lobe überschwänglich
den guten Rindsbraten und die herzhafte Soße, um das Thema zu
wechseln, und sage, dass ich lieber lernen will, wie man die zubereitet. Susi ist geschmeichelt und erfreut und schon mittendrin in der
reichhaltigen Aufzählung von Gewürzen und Garzeiten. Und meine
Tante, die schon etwas Deutsch gesammelt hat in ihrem Kurs, lehnt
sich vor Mama und schirmt sie mit dem Ellbogen ab und versucht,
unserem Gespräch zu folgen. Sie ist so konzentriert, dass sich eine
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ganz tiefe Falte auf ihrer Stirn bildet, aber ihr Blick ist so wach, wie er
schon lang nicht mehr war, bevor Papa wegging. Ihr geht es jetzt besser. Keiner hackt auf ihr herum. Und sie hat einen Deutschkurs und
eine Therapie, so wie ich. Was würde ich nicht dafür geben, dass
Mama auch endlich etwas unternimmt! Susi und Amina reden mit
Händen und Füßen. Ich ziehe mich zurück. Laura merkt es, kommt
rüber, setzt sich zu mir. Markus frisst weiter sein großes Stück Braten
in sich hinein und kleckert auf sein T-Shirt. So wie Rami, denke ich
unwillkürlich. So wie mein Vater. Habe diese Parallele nie an ihm
wahrgenommen. Er war immer etwas ganz anderes für mich. Wirklich.
Ich streichle Mamas Hand. Und Laura meine. Ich habe sie alle sehr
lieb.
WV
Am Abend sitz ich mit Laura in der Hollywoodschaukel, zwischen
uns eine Solarleuchtenkugel, die uns satanische Gesichter aufmalt.
Wir schaukeln ganz sachte hin und her, fast wird mir übel, aber nur
fast. Es ist weniger das Gefühl eines heftigen Seeganges, eher das Gefühl, das man vielleicht als Baby hat, wenn die Mutter mit einem im
Bauch spazieren geht und der Boden ist uneben. Es duftet nach Rosen, und die Grillen zirpen. Die Perseiden sind schon weg. Nicht genug Wünsche für mich.
»Hast du dich eigentlich gefragt, was du werden willst, wenn du
mit der Schule fertig bist?«
Laura hat die Augen zu und klingt verträumt und schläfrig. »Ich
will eine Weltreise machen. Oder ganz viel Ferien. Und dann schau
ich weiter«, sagt sie. »Und du?«
Seltsamerweise weiß ich es schon. Es ist keine Frage, die ich mir
stellen müsste. Es schwingt und klingt seit Langem in mir.
»Ich will Ärztin werden«, sag ich. Und weiß, dass ich das kann. Und
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dann denke ich daran, wie viele Menschen ich schon mitoperiert
habe. Papas Patienten im Bombenkeller. Ja, ich weiß, dass ich das
kann. Und ich weiß, dass ich es erreichen werde.
4
Es wird früher dunkel jetzt. Schöner Sternenhimmel. Jetzt können
wir noch länger in diesem Lichtspieltheater sitzen. Mein Lieblingssternbild ist die Große Bärin. Früher habe ich mit meiner besten
Freundin zu Hause in den Sternenhimmel geschaut und über das Leben nachgedacht. Eine, mit der ich viel länger befreundet war als mit
Laura. Seit wir ganz kleine Mädchen gewesen sind. Nur ist es leider so,
dass ich lebe und ihre Zeit stehen geblieben ist. Das ist so im Krieg.
Das passiert. Und ich habe fast gar kein schlechtes Gewissen mehr,
dass ich Laura so nah bin. Und mit Laura die Sterne ansehe und die
Milchstraße, die wie ausgeschütteter Sternenstaub über unseren Köpfen hängt. Und die Bärin.
Laura sagt Großer Wagen zu ihr. Das sagt man hier so. Für mich
wird sie immer die Große Bärin bleiben. Sorry.
WV
Laura und ich liegen auf einer bunten Decke im Garten und lesen.
Laura hat die Füße auf meinen abgelegt. Ihre Mutter bringt uns einen
Eistee raus und Gläser mit pinken Schirmchen und Eiswürfel. Dann
wirft sie das leichte Leinenkleid ab und legt sich zu uns, nur in einem
winzigen weißen Bikini. Sie hat eine schöne, goldene Farbe über den
Sommer gesammelt, wie eine Frucht, die dem Herbst entgegenreift.
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Nur auf ihrem weichen Bauch, für den sie sich nie geniert im Unterschied zu meiner Mutter, auf diesem weichen Bauch verlaufen weiße
Linien in einem unregelmäßigen Muster. Ein Narbengeflecht wie
Stacheldraht. Ich weiß, woher sie stammen, aber ich will jetzt nicht
daran denken. Ich sehe lieber ihre Füße an und die schön lackierten
roten Zehennägel mit der perfekt geschliffenen Rundung vorne. Sie
schlägt die glatten, eingeölten Beine übereinander, öffnet eine bunt
bebilderte Zeitschrift und bildet sich über Inneneinrichtung fort. Ein
Vogel sitzt über uns im Strauch und zwitschert. Die Bienen summen,
und ich lasse meine Arme ins Gras sinken und versuche, jeden einzelnen Grashalm wahrzunehmen, den Hauch des Windes auf meiner
Haut. So muss das Paradies sein. Das Paradies hört auf, als mein bescheuerter kleiner Bruder aus dem Hinterhalt die Eiswürfel auf unsere Hintern wirft. Und Lauras Kreischen aufnimmt, um es immer
und immer wieder abzuspielen. Demnächst kann er das Handy aus
seinem Rachen entfernen, sag ich ihm, und meine Mutter kommt
und regt sich auf, dass ich nicht so brutal sein soll. Er versteckt sich
hinter ihrem Rock und streckt mir die Zunge raus. Ich koche innerlich, bis Laura ihm die restlichen Eiswürfel in einem unbeobachteten
Moment hinten ins T-Shirt kippt.
»So macht man das, Madina.«
»Mama, Mama«, brüllt Rami, aber die knallt ihm die Türe vor
der Nase zu. Meine Tante ist Rad fahren gegangen. Hat ein Rad von
Susi bekommen. Ein ausrangiertes. Rami hat also keine weitere Unterstützung zu erwarten. Ha, ha.
WV
Wir radeln zu dritt ins Café, Markus, Laura und ich. Ich habe kein
Rad, weil meine Tante ihre Radfahrleidenschaft entdeckt hat und es
nur ein weiteres Rad gibt außer denen von Laura und Markus, und
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sitze hinten auf dem Gepäckträger. Es ist echt unbequem und macht
mir ein in die Haut gedrücktes Muster auf den Hintern. Das Café ist
schon viel voller, als es die letzten Wochen war, die Leute kommen alle
aus dem Urlaub zurück und sitzen braun gebrannt und erholt in den
Plastikstühlen herum und erzählen vom Meer und von Bergen. Vielleicht, denke ich, vielleicht fahren wir nächstes Jahr auch irgendwohin. Seit unserer Flucht bin ich nie woanders gewesen als hier, in unserem Ort. Das am weitesten Entfernte, das ich gesehen habe, war eine
Kleinstadt, die wir bei einem Schulausflug besucht haben. Dort haben wir uns ein Museum angesehen. Mit ausgegrabenen Scherbenstücken und Skeletten.
Christian kommt auch vorbei. Ist immer noch ein Freund von
Markus, obwohl Laura nicht gut auf ihn zu sprechen ist, seit er sie
so unschön versetzt hat. Na ja, dafür hat sie wiederum seinen besten
Freund geküsst. Er streckt seine elendslangen haarigen Beine neben
mir aus, ich rücke zur Seite. Er reckt sich und gähnt in der Mittagshitze und erzählt von seinem Urlaub. Italien. Strand und Cocktails
und Tanzen und gute Pizza. Ich liebe Pizza. Hab ich das schon mal
festgehalten? Nein? Dann spätestens jetzt. Das Erste, was ich hier richtig gern tat, nachdem wir angekommen sind und in das Flüchtlingsheim einzogen, war es, zu Laura zu flüchten und mit ihr Pizza zu
essen. Pizza war mein Bote einer neuen Welt. Ein sehr willkommener
Bote.
Er erzählt also von dieser wundervollen Pizza. Und dann erzählt
er noch von einer Stadt, die auf Wasser gebaut ist. Mit ganz vielen Kanälen und Palästen, die langsam im Wasser versinken. Er zückt sein
Handy und zeigt Fotos her. Ich bin ein bisschen enttäuscht, weil ich so
was wie Atlantis erwartet habe, aber da sind einfach Wasserwege statt
Straßen. Trotzdem: Die Stadt sieht aus wie eine Märchenstadt. Sie
hätte problemlos Platz gehabt in meinem Märchenwald. Nur ist sie
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ganz wirklich da. Man kann sie wirklich betreten. Venedig! Ich starre
das Foto mit dem Sonnenuntergang an, hinter goldenen schönen
Kuppeln. Ich wäre gerne sofort dort. So dreimal mit dem Absatz der
magischen Schuhe klacken und sich dorthin wünschen. Und Augen
aufmachen und dort stehen. Mitten auf der Brücke aus weißem Marmor. Cool.
Christian steckt das Handy weg.
»Wo warst du denn dieses Jahr, Markus?«
»Ich war hier.«
Christian zieht die Augenbrauen hoch. »Wieso denn das? Du bist
doch sonst immer den ganzen Sommer unterwegs gewesen.«
»Wollte nicht«, sagt Markus kurz angebunden.
Christian lacht. »Glaub ich nicht.«
»Ich fahr nicht ohne Madina.«
»Ja, dann fahr halt mit ihr!«
Markus winkt ab. »Vergiss es. Es geht jetzt nicht.«
Er seufzt, mir scheint, ein wenig genervt. Von mir oder von Christian. Ich will es gar nicht genauer wissen, eigentlich. Als Christian
schon weg ist, legt Markus mir den Arm um die Schultern. Und sagt
leise: »Wir werden wegfahren. Bestimmt.«
Ich sag gar nichts. Für mich ist das Wort »wegfahren« verknüpft
mit Angst und Sorgen. Das letzte Mal, als ich unterwegs war, ging es
um Leben und Tod.
»Es wird schön werden«, sagt Markus. »Wir werden in einen Zug
steigen. Und losfahren. Und irgendwo aussteigen und uns umsehen,
und wenn es uns nicht gefällt, fahren wir einfach weiter. Und immer
weiter. Bis ans Meer. Bis zu den Fjorden im Norden. Bis in die Berge in
Frankreich.«
Ich versuche, mir das auszumalen, dieses Reisen, um Freude zu
haben.
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»Hast du schon mal einen Sonnenaufgang auf einer Bergalm gesehen?«, fragt Markus. Ich schüttle den Kopf. Und irgendwo in mir spüre
ich, wie sich auch Neugier regt. Auf die Fjorde. Auf den Gletscherschnee. Ich habe so was noch nie, noch nie gesehen. Markus beugt
sich noch tiefer runter zu mir.
»Ich hab das schon mal gemacht. Interrail ist nicht so teuer. Und
wir nehmen nur kleine Rucksäcke mit. Und wir sind frei.«
Ich lehne meinen Kopf an ihn. Und stelle mir vor, wie der kühle
Bergwind in mein Gesicht bläst. Und der Himmel sich rot färbt und
lodert. Und eine Kuh vorüberzieht.
»Nur wir zwei«, sagt Markus. »Und ein Schlafsack.«
Er streicht meine Haare aus dem Gesicht, die jetzt ein bisschen länger geworden sind, ich kann sie schon fast wieder zusammenbinden.
»Weißt du, wie groß die Welt da draußen ist? Und wie schön?«
Ich möchte ihm das so gerne glauben.
»Ich will in diese Wasserstadt«, murmle ich. Und ich wünsche mir
diese Zauberschuhe. Dann müsste ich niemanden fragen, und mir
keine Sorgen machen, dass ich zu lange wegbleibe.
WV
Laura ist wütend, weil ich mich mit Christian, dem Verbotenen,
unterhalten habe. Verdammt noch mal, ich wollte doch einfach nur
freundlich sein. Ich starre also schweigend in die Landschaft, um mich
nicht mit ihr zu streiten. Und dann sehe ich einen roten Fleck auf der
niedrigen Mauer, die den kleinen Park am Hauptplatz umzäunt, damit Hunde nicht zu leicht ihr Geschäft dort verrichten können. »Wir
wollen keine« steht da und bricht dann unvermittelt mit einem Klecks
ab, als hätte der Schreiber plötzlich aufhören müssen. Ich will auch
einiges nicht. Mit Laura streiten, zum Beispiel. »Schau mal, da hat wer
was hingeschmiert«, sage ich, um das Thema zu wechseln.
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Und Laura sagt nur: »Das ist jetzt doch völlig egal.«
WV
Wir sind nie lange böse aufeinander, Laura und ich. Ich bin sehr froh
darüber. Wir sind laufen gegangen, um den Ärger verpuffen zu lassen,
sprinten über Waldwege, durch Licht und Schatten, Äste um unsere
Köpfe. Schneller. Schneller. Schneller. Bis die Luft in der Kehle brennt
und das Herz durch die Ohren schlägt. Und der Schweiß den Rücken
runterrinnt. Und dann dehnen wir uns und gehen entspannt zum
Gartentor, und schon aus der Ferne höre ich etwas, was ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört habe. Eine Frauenstimme, die leise singt. Ein
Lied, das ich als Kind öfter gehört habe, auf unseren Festen. Meine
Tante hat seit Jahren nicht mehr gesungen.
WV
Susi hat Amina ein schwarzes Kleid mit roten Blumen drauf geschenkt. In dem sitzt sie jetzt in der Hollywoodschaukel und schneidet Äpfel für den Kuchen auf. Ihre Fingernägel sind wieder rot und
ihre Zehennägel auch. Wie früher. Mama sitzt dafür in Papas braunem Kaftan schweigend im Haus bei hellem Sonnenschein. Es ist völlig verrückt, wie sich ihre Rollen vertauscht haben. Alles ist komplett
entgleist, seit Papa nicht mehr da ist. Ich weiß, dass meine Mutter jeden Tag zu unserem Briefkasten pilgert, in der Hoffnung, eine Nachricht zu erhalten. Es ist nie etwas drin. Als hätte sie Papas Aufgabe
übernommen, zum Briefkasten zu rennen, täglich. Damals, als wir auf
den Asylbescheid gewartet haben. Und so voller Hoffnung waren.
Und voller Angst. Manche Dinge ändern sich nie.
WV
48
Ich hab gelogen gestern. Natürlich schaut nicht nur Mama in den
Briefkasten. Ich schau auch. Immer wieder. Ich weiß, dass es verrückt
ist, auf Nachricht zu hoffen. Der Kontakt ist abgerissen, seit Papa ins
Auto stieg, das ihn über die Grenze brachte. Ich kann mich noch
genau daran erinnern, wie wir alle dastehen. An der Schwelle zum
Flüchtlingsheim. Mama mit Proviant für Papa, als würde er nur einen
Ausflug machen. Rami heulend an ihrem Rockzipfel. Und mein Vater, der ihm über den Kopf streicht und mir dann die Hand auf die
Schulter legt. So von Mann zu Mann quasi. Mich ansieht. Und dann
nickt und ins Auto steigt, und die Türe schlägt zu, und Staub auf der
Straße. Dieser Staub ist das Letzte, was ich mit Papa verbinde. Dieser
wirbelnde Staub, der sich langsam wieder absenkt. Lautlos. Und der
Motor, der immer leiser wird, je schneller sich das Auto von uns wegbewegt. Und der Geschmack von Eisen im Mund. Weil ich mir auf die
Lippen gebissen habe.
Damals ist ein Stück meines Herzens abgesplittert und steckt seither in meiner Kehle fest wie ein Spiegelbruchstück und schneidet ein.
Ich weiß genau, dass er dachte, er sieht uns alle nie wieder. Das Leben
kann echt scheiße sein.
WV
Der Huper hat schon wieder geschrieben. Ich weiß es aber nur zufällig, weil ich danebensaß. Laura will gar nicht darüber reden. Sie löscht
seine bescheuerten Nachrichten und schweigt. Ich sag dann auch nix.
WV
Ach ja, das Hundebaby. Laura hat ihre Mutter so lange gepiesackt, bis
diese sich bereit erklärt hat, zu diesem Tierheim zu fahren. Aber nur
zum Anschauen, meinte sie! Egal. Diesmal will ich mit, koste es, was
es wolle.
WV
49
Es wird immer früher dunkel. Ich will nicht, dass der Sommer geht.
Aber ich will, dass Frau Wischmann wieder da ist. Bitte.
WV
Das Hundebaby ist reserviert. Von wem anderen. Wir fahren trotzdem
hin, es wurde ja noch nicht abgeholt. Und Susi hofft, dass Laura sich
mit einer Katze zufriedengibt. Katzen sind auch super. Wir waren die
ganze Zeit am Waldsee. Keine Lust, viel zu schreiben. Sorry.
WV
Ich schau Frau Wischmanns Handynummer an, wie ein hoffnungslos verliebter Fan einen Star anschaut. Es nutzt mir nur nix. Ich habe
schon zweimal angerufen, weil ich es nicht mehr aushalte und sie gemeint hat, sie sei in der letzten Ferienwoche schon wieder erreichbar.
Aber es war nur die Mailbox dran. Beim zweiten Mal habe ich plötzlich furchtbare Angst bekommen, dass sie sich nie wieder meldet.
Und ich hab gewusst, wie hirnrissig das ist. Trotzdem. Ich kenne viele,
die einfach aus meinem Leben verschwunden sind. Nicht nur Papa.
Im Krieg sind viele verschwunden. Der Krieg ist ein dunkles Nebelfeld, das Menschen und Tiere und Häuser aufsaugt im Aufleuchten
von Explosionen. Und er ist die Stille danach. Diese Stille, in der man
noch nicht wagt, sich umzusehen, was noch da ist und was weggerissen. Immer noch bricht das, was ich früher kannte, in das rein, was ich
jetzt kenne. Ich hasse das. Ich hasse das. Ich will es aus mir raushalten.
Mit Grenzpatrouille und Stacheldraht und großen Drachen statt
Wachhunden. Die Drachen werde ich wirklich brauchen. Es soll wegbleiben, was mit mir früher war.
Das ist vorbei. Vorbei. Vorbei. Verdammt noch mal.
WV
50
Das Schicksal kann mich mal kreuzweise! Das Hundebaby ist abgeholt worden. Und ich habe es nicht einmal gesehen! Ich glaube, Lauras Mutter vollführt heimlich Freudentänze.
WV
Ich wär wahrscheinlich überfordert gewesen mit dem Hund. Sag ich
mir mal so. Zum Trost.
WV
Ich lieg in der Nacht wach, höre Rami ganz leise schnarchen und
schaue an die Decke. Hätte ich was besser machen können?
Nein.
Hätte ich es schlechter machen können?
Mit einiger Sicherheit.
Ich konnte Papa nicht aufhalten. Niemand kann das, wenn Papa
sich mal entschieden hat. Er ist genauso stur wie ich. Er hat sich entschieden zu gehen. Und ich habe mich entschieden zu bleiben. Trotzdem ist da diese kleine, verflucht süße Hoffnung, wir sehen uns irgendwann wieder. Und umarmen uns. Und wissen, wir haben uns
lieb.
Ja, ich vermisse ihn sehr. Und ich weiß gleichzeitig, dass ich, wenn
er geblieben wäre, Markus niemals treffen dürfte. Nie mit Laura ausgehen. Ich wäre eine ganz andere Madina. Ich glaube nicht, dass ich
sie mögen würde. Es ist eine ganz miese Auswahl, die da bleibt. Irgendwann hör ich meine Mutter in der Küche rumoren, stehe auf und
geh zu ihr.
»Ich möchte, dass du auch mal zu Frau Wischmann mitgehst«, sage
ich. Ohne Vorwarnung.
»Wozu?«, sagt sie.
»Weil ich nicht mehr kann manchmal«, sage ich.
Sie schweigt.
51
»Weißt du noch, wie du mir die Haare frisiert hast, jeden Abend,
vor dem Schlafengehen?«, frage ich. »Und mir vorgesungen hast?«
Sie muss sogar lächeln. »Ja. Natürlich.«
»Ich vermisse meine Mama von früher«, sage ich. »Du nicht?«
Sie lässt sich lange Zeit. Irgendwann sagt sie leise: »Ich vermisse
Eli.«
Eli. Den Namen meines Vaters hat sie so lange nicht mehr ausgesprochen.
WV
Man spürt schon, dass der Herbst bald da ist. Die Nächte sind kühler
und klarer, und meine Tante bekommt mehr Stundenpläne als zuvor,
und Rami muss im Kindergarten Igel mit Obst drauf malen. Sie sehen
alle aus wie Schildkröten.
WV
Ich nehme meine Tante zur Seite.
Ich sag ihr, dass ich mir Sorgen mache. Um Mama. Sie nickt. Und
dann sagt sie, dass sie oft mit ihr redet. Und nie will sie Hilfe annehmen. Nie. Vielleicht liegt das auch daran, dass meine Tante so tut, als
ob sie beide Witwen wären. Und meine Mutter wartet noch immer
auf meinen Vater. Der Mann meiner Tante ist ja eindeutig tot.
WV
Die letzte Ferienwoche ist schon halb rum. Bald ist es vorbei mit der
Freiheit. Laura und ich gehen Eis essen. Markus kommt nicht mit. Das
stört mich eigentlich nicht wirklich.
WV
52
Stunden habe ich mich durch Rauchschwaden und Halbdunkel gekämpft,
die Luft beißend in meiner Kehle, die Augen zusammengekniffen.
»Papa«, schrie ich. »Papa, wo bist du?«
Donnergrollen und Wind, aber keine Antwort. Mein Gesicht voller Ruß,
eine Wunde über die ganze Wange, die seltsamerweise gar nicht wehtat. Ich
kletterte große Steinplatten hoch, die einmal Hauswände gewesen waren,
jetzt verstreut wie Spielzeug eines tobenden Riesenkleinkindes. Schatten
und Feuer. Ich weiß, wie Leichen aussehen. Ich habe sie schon gemeinsam
mit Papa hochgehoben, habe sie in den Wagen gelegt, habe einzelne Gliedmaßen aufgesammelt, wie wir hier Pilze sammeln, mit ruhiger Konzentration, um nichts zu übersehen. Oder von Papas OP-Tisch gezogen, damit wir
schnell den nächsten Überlebenden versorgen konnten und keine Zeit verloren. Es geht um Zeit beim Überleben. Und um Glück. Irgendwo, ganz weit
weg, das Kreischen von Metall und ein lang gedehntes seltsames Geheul, wie
von einem riesigen Tier. Vielleicht ein Schiffshorn. Vielleicht ein Monster.
Unter meinen Füßen heißer Sand. Dieser Sand, den ich in meiner Kindheit
oft unter den nackten Fußsohlen gespürt habe. Rostroter Sand, der an
Hennahaar erinnert oder ein bisschen an Blut oder an ein scharfes Gewürz.
Meine Fußsohlen nackt. Wo hatte ich bloß meine Schuhe verloren in dem
Tumult …
»Mama«, rief ich. »Rami!«
Keine Antwort.
Die Sorge um sie schnitt fest ins Herz wie mit einem scharfen Obstmesser.
Der Himmel plötzlich taghell: Licht von einem Signalfeuer, das irgendwo
zwischen den Ruinen aufstieg und in der Finsternis verpuffte. Ich befand
mich in einem riesigen Trichter, den nur eine Urgewalt hatte in den Erdkörper reißen können, ein steinzeitliches Untier, das seine Zähne in sie geschlagen hatte und Stück für Stück aus dem Leib biss. Am Horizont ein Glühen und Ascheregen um meinen Kopf. Und in diesem Aufglühen konnte ich
erkennen: eine riesige leere Fläche hinter den Ruinen. Ich war allein. Auf
53
Kilometer und Ewigkeiten allein. Und als ich in mein Haar griff und plötzlich wieder meinen langen, dicken Zopf unter meinen Fingern spürte, den
ich früher bis zur Taille trug, da wurde mir klar, dass ich träumen musste.
Und dann wachte ich auf. Es war so intensiv und so tief, dass ich nach
dem Aufwachen nicht begreifen konnte, dass ich wirklich hier war, in
meinem Zimmer. In Lauras Haus. In diesem Land. In Sicherheit.
WV
Früher musste ich immer die Matratze neben den Lichtschalter schieben, um überhaupt einschlafen zu können. Im Flüchtlingsheim. Ich
musste immer sicher sein, dass ich jederzeit Licht machen konnte,
jederzeit. Und dann hatte ich trotzdem immer noch Angst davor, im
Dunkeln zu liegen. Bei mir liegt noch immer so viel im Dunkeln, da
hab ich selbst gar keinen Platz mehr. Manchmal.
WV
Laura freut sich auf den Schulanfang. Weil: Da bekommt sie ein neues
Outfit und eine neue Tasche und einen Friseurbesuch und Schminkzeug. Alles neu. Ich wäre beinahe neidisch, wenn ich nicht wüsste,
dass auch ihre Mama manchmal so tieftraurig ist wie meine und dass
manchmal Weinflaschen in der Küche rumstehen, die Laura unauffällig entsorgt. Und so tut, als wär nix. Und manchmal hör ich auch Lauras Mutter weinen. In der Nacht. Ich sage Laura nichts davon. Ich will
nicht, dass sie sich so viele Sorgen machen muss wie ich. Aber vielleicht hört Laura das genauso gut wie ich. Aber wenn sie nichts sagt,
lasse ich sie in Ruhe damit.
WV
54
Der erste richtig kalte Abend ist da. Wir sitzen mit dicken Socken auf
der Terrasse und schlürfen heißen Kakao. »Ich gehe heut aus«, sagt
Laura plötzlich.
»Ich muss dann Mama Bescheid geben«, sage ich.
Sie schaut so komisch und sagt: »Ich will allein ausgehen.«
Das hat sie noch nie gemacht. Noch nie.
WV
Ich frag nicht weiter nach, ich geh rüber ins Wohnzimmer und werfe
mich vor den Fernseher und schau mir mit Markus einen Film an.
Star Wars. Interessiert mich null. Ich kann der Geschichte nicht folgen, ich denk an Laura.
WV
Laura kommt früher zurück, als ich erwartet hätte. Und sie ist irgendwie aufgedreht. Und sie antwortet nur ausweichend auf meine Nachfragen. Ich werde zuerst böse und dann unsicher.
»Was ist mit dir, du hast doch Markus«, blafft Laura mich an.
Und ich kann nicht sagen, dass sie mir wichtiger ist. Wie sieht das
denn aus, wenn mein Freund mir nicht so wichtig ist wie meine
Freundin. Die auch noch seine Schwester ist.
WV
Es kommt ein Anruf aus dem Kindergarten. Und ja, klar, ich muss ran.
Meine Tante lernt zwar brav Deutsch, aber sie ist einfach noch nicht
gut genug. Und meine Mutter spricht manchmal nicht mal mehr
unsere Sprache, ganz zu schweigen von der deutschen. Die Nummer,
die offiziell im Kindergarten angegeben ist und bei allen Behördengängen auch – das ist meine Handynummer. Wann immer es etwas zu
klären gibt: Die rufen nicht die Erwachsenen an. Sondern mich. Letztes Jahr war ich noch stolz drauf. Dieses Jahr nervt mich das bereits to55
tal. Jedes Mal reißt es mich raus. Jedes einzelne Mal geht die Illusion
verloren, dass ich bin wie alle anderen. Bin ich nicht. Und es liegt
nicht nur daran, dass wir nicht von hier sind. Es liegt daran, wie unsere
Familie mit dem Nicht-von-hier-Sein umgeht. Und das ist nicht bei
allen anderen so. Lynne muss für ihren Vater beispielsweise gar nichts
tun, obwohl er auch nicht von hier ist. Nichts. Niente. Nada. Egal.
Sie rufen an und sagen, dass sie mit meiner Mutter sprechen wollen. Meine Mutter sitzt eingefallen am Tisch herum wie so eine Zimmerpflanze. Ich setz mich zu ihr.
»Es geht um Rami«, sage ich ihr. Sie reagiert nicht wirklich. »Es gibt
da ein Problem. Er geht recht oft nicht rechtzeitig aufs Klo«, sagt die
Kindergartentante. Und dann räuspert sie sich, weil es ihr sichtlich
unangenehm ist, mir diese Botschaft zu überbringen. Räuspert sich
und fügt an: »Und er zwickt andere Kinder.«
Meine Mutter schaut nicht auf. Sie sagt nur leise:
»Mein Junge ist nicht so.«
Na klar. Natürlich. Rami ist nie »so« bei meiner Mutter. Da kann
er noch so pestig sein, wie er will. Er ist das Goldschätzchen und ich
die Pechmarie. Wie mir das auf die Nerven geht! Nur weil er so schön
artig gucken kann mit seinen Kulleraugen. Nicht mit mir, Freundchen, denke ich.
Und ich lasse das einfach mit dem Übersetzen. Überhaupt keinen
Bock mehr drauf. Ich habe das für Papa gemacht, über zwei Jahre lang.
Immer die Worte von einer Sprache in die andere weitergereicht, von
einem Menschen zum anderen. Ich war nur heißer Draht, nur Überbringerin, nur Gefäß für diese Sprachen. Ich war nie ich. Und dann
war er auch noch angefressen, weil er von mir abhängig war. Ja. Er
hätte auch die Sprache einfach lernen können. Es wenigstens versuchen. Lynnes Vater hat es ja auch hingekriegt. Unmöglich ist das
nämlich nicht! Aber jetzt ist Papa weg, und meine Mutter will auch
56
nicht mehr Deutsch lernen. Nur meine Tante. Der kann ich keinen
Vorwurf machen.
Es reicht. Ich will das nicht mehr. Nicht für Papa, nicht für sie. Für
niemanden. Also habe ich mich von meiner Mutter weggedreht. Und
bei der Kindergärtnerin nachgefragt, seit wann das so ist. Und dann
sagt sie mir, so seit einem Monat. Und dann sagt die Kindergartentante auch noch: »Und er bellt wie ein Hund. Immer wieder. Lange.«
WV
Ich kann sagen, wer hier eigentlich Familienoberhaupt ist. Nur so viel:
Rami ist es nicht.
WV
Frau Wischmann geht immer noch nicht ans Telefon. Jetzt freue ich
mich auch schon auf die Schule, weil ich sie dann wiedersehe. Sie ist
der Lichtkegel in meiner Finsternis. Der Augapfel meiner Seele. Oder
so ähnlich.
WV
Laura ist so richtig angepisst, weil ich nachbohre wegen des Ausgehens. Sie findet das ungut. Sie findet das einengend. Und ich finde,
dass sie so was noch nie zuvor gemacht hat. Mich einfach auszusperren aus ihrem Leben. Ich komm aber nicht durch damit, weil sie mich
nicht versteht. Nein, weil sie mich nicht verstehen will. Die blöde
Kuh. Die mir so ans Herz gewachsen ist. Eine an mein Herz angewachsene ausgewachsene Kuh werde ich jetzt vermutlich beim Einschlafen
sehen. So eine Kuh mit großen braunen Flecken.
57
5
Ich packe meine Schultasche, als ob ich in den Krieg ziehen würde.
Oder auf Weltreise gehen. Mit Herzjagen und großer Konzentration.
Für den ersten Tag brauchen wir nicht viel. Meine Stifte sehen aus wie
eine bunt lackierte Armee im neuen Federmäppchen, das mir Susi geschenkt hat. Ich überlege Stunden, was ich anziehen soll. Etwas Cooles? Ich habe jetzt genug Cooles. Etwas Hübsches? Letztes Jahr hatte ich
wenig zu überlegen: Ich besaß nur das, was sie mir aus der Wühlkiste
gegeben haben. Und das passte oft nicht. Zu kurze Ärmel. Zu weite
Hosen. Und ich schämte mich ziemlich. Jetzt habe ich Unmengen: von
Laura, von Susi, von Lauras Freundinnen. Ich bin voll reich. Ich wasch
mir die Haare und dreh so Lockenwickler rein. Das macht richtig Löwenmähne. Ha.
WV
Die Löwenmähne ist etwas außer Kontrolle geraten. Ich sehe aus wie
ein dunkler Feuerball. Mach mir die Hände nass und fahre mir durch
die Lockenwirbel.
»Haha«, schreit Rami. »Du eitle Gurke.« Ich trete ihm im Vorbeigehen gegen das Schienbein. Er brüllt.
»Ich bin sportlich und nicht eitel. Merk dir das.«
Meine Tante steht mit mir auf und macht mir Frühstück. Sehr nett
ist das.
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»Erfolg und Glück«, sagt sie zu mir und winkt mir von der Türschwelle nach.
Mama sagt gar nichts.
»Hals und Beinbruch, Vogelscheuche«, schreit Rami aus dem Fenster.
»Selber Trottel«, rufe ich zurück. Aber wir lachen.
»Jetzt komm schon«, drängt Laura. »Markus kannst du später auch
noch abschmusen. Pfoten weg, Alter.«
Und sie zieht mich an ihrem Bruder vorbei, und wir laufen zur
Bushaltestelle. Die gleich ums Eck ist. Es ist ein ungewohnter, neuer
Schulweg für mich. Ich muss nicht mehr so verdammt früh aufstehen
wie letztes Jahr. Es ist und bleibt aufregend. Letztes Jahr musste ich
viel länger in die Schule fahren: zuerst zu Fuß laufen durch den Wald,
dann zum Bus. Das Flüchtlingsheim war am Arsch der Welt. Das war
mir gar nicht so klar, als ich noch dort wohnte. Wenn etwas nicht so
schön ist, erkennt man das ganze Ausmaß des Unschönen erst, wenn
man in schönerer Umgebung ist. Davor ist es irgendwie normal. Ich
will, dass es so bleibt, wie es jetzt ist. Ich will, dass es schön bleibt. Jeder
will doch, dass es schön bleibt, oder?
Als wir einsteigen, sitzt im Bus schon die halbe Klasse. Na gut,
nicht die halbe. Aber ein Viertel. Und ein Drittel der Schule. Kommt
mir jedenfalls so vor. Es geht zu wie in einem Vogelhaus. Mit sehr
lauten Vögeln. Der Busfahrer gibt es auf, uns zu ermahnen. Jeder hat
irgendwem irgendwas Superwichtiges zu erzählen. Am besten in voller Lautstärke. Rosa, die vor mir sitzt, dreht sich um und spricht mich
das erste Mal, seit ich in der Klasse bin, an.
»Coole Jacke.«
»Danke«, sag ich.
Die hat mir Laura zum Geburtstag geschenkt. So eine kurze Jeansjacke mit Bauchtasche und Kapuze. Ein bisschen wie eine Kreuzung
59
aus Känguru und Einbrecher und Filmheldin. Die sieht zu kurzen
und zu langen Röcken super aus. Und zu Jeans. Aber ich habe noch
immer keine. Das ist der nächste Zielpunkt, den ich erreichen möchte.
Dass Mama aufhört zu heulen, wenn ich eine Hose tragen will. Wer
eine weite Reise vor sich hat, will nicht nur Röcke tragen. Sage ich ihr
immer. Und sie heult und beklagt sich, dass Papa das nie erlaubt hätte.
Rosa hängt sich über die Rückenlehne und klimpert mit den blau getünchten Wimpern. Laura löst sich von ihrem Handy und macht sie
nach. Laura hat sich übrigens bemalt, als ob sie auf den Kriegspfad
aufbrechen würde. Roter Lippenstift, rosa Lidschatten, grüner Lidstrich. Und eine goldene Hühnerkralle im Ohr. Mit der winkt sie Rosa
zu, die kurz irritiert ist. Und dann spricht Rosa weiter. Als ob alles immer ganz normal zwischen uns gewesen wäre. Als ob ich nie nicht dazugehört hätte und für sie und ihre Freundin nur »die da, die stinkt«
gewesen wäre.
»Wie waren deine Ferien?«
Und ich kann durchatmen und voller Stolz sagen: »Wunderschön.
Wir haben echt viel Spaß gehabt.«
Und es ist so unfassbar großartig, diese Worte sagen zu können.
Wir. Spaß. Schön.
Und Laura legt mir ihren Arm um die Schultern und stinkt mich
voll mit ihrem unglaublich kotzsüßen Punschapfelparfum, und ich
liebe den Augenblick total.
WV
Und dann sitzen wir alle in der Klasse. Und da ist so eine Aufbruchstimmung. Wir sind ja jetzt in der Oberstufe. Und ich bin so gerührt
von alldem, dass ich mich sogar freue, als die King in die Klasse kommt.
Sie ist wieder unsere Klassenlehrerin. Schwarzes hochgeschlossenes
Kleid, wie immer und zu jeder Jahreszeit. Flache Lackschuhe mit
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Schnalle, schmale Beinchen in blickdichten Strumpfhosen. Jetzt, im
September. Lange Nase und spindeldürre Figur. Sie sieht aus wie eine
Trauerkrähe. Aber sie hat mir letztes Jahr geholfen, mit so vielem, und
ich bin ihr dankbar. Und sie hat es geschafft, mich die Klasse abschließen zu lassen: nach nicht einmal zwei Jahren hier. Und meine größte
Angst, Laura zu verlieren, weil ich durchfalle und wiederholen muss,
diese größte Angst hat sie mir genommen. Da kann sie noch so sehr
rummosern, das vergesse ich ihr nie. Nie. Mit Schaudern erinnere ich
mich allerdings an die endlosen Deutschstunden bei ihr zu Hause: an
den süßen Tee aus England und die staubtrockenen englischen Kekse
und an ihr unermüdliches Bemühen, mir die deutsche Sprache in die
Gehirnwindungen hineinzuarbeiten – mit dem Vorschlaghammer.
Und wenn es nicht klappte, mit der Knochensäge. Und dann fällt mir
auch das Foto ein, das da immer auf dem Tisch stand: ihr englischer
Ehemann, der nach ganz kurzer Zeit verstorben ist. Und die Erzählungen, wie sie sich danach ganz allein durchschlagen musste. In England. Sie ist streng, klar, und etwas eigenartig. Aber sie ist okay. Mit
dieser Meinung stehe ich in der Klasse ziemlich allein da, aber ich
schwimme gern gegen den Strom. Ich kann das mittlerweile. Ich halte
das aus.
Sollen sie doch den neuen Sportlehrer bewundern. Der so hübsch
ist, als ob er aus einer Sportwerbung in den Schulgang kommen
würde. Und die coole Musiklehrerin, die elektronische Musik mag.
Egal: Ich mag eben die King. Irgendwer muss sie ja mögen, oder? Nach
der üblichen Begrüßung bleibt sie kurz bei mir stehen und fährt mir
über die Schulter.
»Wie geht es dir?«, fragt sie.
Mir kommt es so vor, als ob sie mehr Falten hat als noch vor ein
paar Monaten. Und die Haut ist sehr blass, so eigenartig ausgedünnt.
Wie Pergament.
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Ich schlucke. »Gut«, sage ich.
Sie schaut mich an, mit ihrem aufmerksamen Vogelblick.
Und schon bricht alles Elend wieder über mich herein, das zu
Hause auf mich wartet. Und ich spüre die Tränen wieder in mir hochsteigen. Und ich hab Wimperntusche drauf, weil ich mich nicht lumpen lassen wollte neben Lauras Schminkorgien, und ich denke, dass
sie bald über meine Wangen laufen wird, und alle werden mich fragen, warum, und es eigentlich wissen, und ich bin wieder eine, die
ganz anders ist als alle in der Klasse, und ich will das nicht. Ich will
das nicht mehr. Ich lächle und schau zur Seite. Sie räuspert sich. Und
dann geht sie. Ich geh aufs Klo und tupfe die Tränen ab. Nichts ist verschmiert. Glück gehabt.
Wir fahren mit dem überfüllten Stinke-Bus zurück und beneiden die
Klassenkameraden, die einen Roller haben. Es gibt viel zu bereden.
In der Parallelklasse gibt es einen Neuen. So ein Wilder mit längerem Haar und Buckel auf dem Nasenrücken. Braun gebrannt und mit
schönen Oberarmen, die er auch sichtlich gern zur Schau gestellt hat.
Mit Tigertattoo! Laura hat sich die ganze große Pause auf dem Gang
vor seiner Klasse herumgetrieben, weil sie eine rettungslos neugierige
Nase ist. Nico heißt der. Will sie in Erfahrung gebracht haben. Leider
hat er sie komplett ignoriert, da half auch der pinke Lidschatten nix.
»Die King nervt schon jetzt«, nölt Laura, als wir das Gartentor öffnen. »Und das jetzt ein ganzes Jahr ertragen!«
Ich denke daran, wie kränklich sie gewirkt hat, aber ich sage nichts.
»Mama«, rufe ich. »Rami!«
Und es bleibt so still, dass ich mich so erschrecke, dass ich die Luft
anhalte. Und dann geh ich ganz vorsichtig zur Tür und mach ganz
langsam auf. Weil irgendwie kann ich mir in dem Moment echt vorstellen, dass irgendwas passiert ist. Ich geh durchs Vorzimmer, schau
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in mein Zimmer rein, also in mein und Ramis Zimmer, und in das
Zimmer meiner Mutter und meiner Tante – die Betten sind fein säuberlich gemacht und die Kissen aufgeschlagen. Keiner da.
Ich renn die Treppe rauf, in Lauras Wohnung.
»Du bist immer gleich so hysterisch«, sagt Laura, als sie meinen
Blick sieht. »Bitte. Relax. Ruhe. Om. Entspannung.«
Ich werde so böse, dass ich fürchte, die Wut lodert mir bei den
Haarspitzen raus.
»Deine Mutter spinnt auch nur halb so wenig wie meine!«, fahre
ich sie an.
Laura hält mir eine Limoflasche hin, als ob sie mir damit den Mund
stopfen wollte.
»Die machen einen Ausflug. In die Stadt. Da. Steht auf dem Zettel
auf dem Küchentisch. Mann, du übertreibst echt.«
Ich schau mir den Zettel an. Da steht es tatsächlich.
»Sind in die Stadt gefahren.«
Und Herzchen und eine lachende Blume sind auch dazu gemalt.
Und: »Susi.« Und meine Mutter hat es nicht für nötig befunden, mir
etwas dazulassen. Ich schiebe den Zettel weg, nehme einen großen
Schluck, der mir einen unangenehmen Kohlensäuredruck im Hals
macht, als hätte ich einen ganzen Elefanten verschluckt. Sag dann:
»Ich brauch Ruhe«, und geh in den Garten und rufe an.
Und es dauert zehn Klingeltöne, bis sie abhebt und fröhlich sagt:
»Hier Wischmann. Hallo?«
WV
Frau Wischmann heißt eigentlich Karin. Aber ich schaff es nicht, sie
Karin zu nennen. Es ist okay, wenn ich Lauras Mutter Susi nennen
darf. Aber sie ist nicht meine Therapeutin. Keine Beamtin. Keine Sozialarbeiterin. Was Frau Wischmann ganz genau ist, weiß ich eigent63
lich gar nicht. Es ist mir auch egal. Ich weiß nur, dass sie mein Rettungsring in der stürmischen See des letzten Jahres war. Und mein
Anker im neuen Hafen. Meine ruhige Stimme der Vernunft. Und einfach jemand, der immer da war, wenn ich sie gebraucht habe. Sogar
mit meinem Vater hat sie zu verhandeln versucht. Ja, mit zweifelhaftem Ergebnis, weil erstens hat er nicht auf sie gehört. Und zweitens
weiß ich jetzt nicht einmal, ob er noch am Leben ist. Und in dieser
Lage wäre er nie gewesen, wenn er auf sie gehört hätte. Aber, wie gesagt. Mein Vater hört auf niemanden. Schon gar nicht auf eine Stimme
der Vernunft, wenn diese Stimme eine Frauenstimme ist.
Und die beste Nachricht des Tages ist: Ich kann sie nächste Woche
wiedersehen. Am Donnerstag. Das sind zehn Tage.
WV
Der erste Tag ist rum. Noch neun Tage.
WV
Acht.
Sieben!
WV
WV
Gestärkt von der Aussicht auf Frau Wischmann, hole ich mir Papier
und einen Stift und setze mich zum Fenster im Wintergarten und
sehe zu, wie man die Bäume immer weniger unterscheiden kann, wie
die Nacht den Himmel und alles, was auf der Erde ist, in ein großes, undurchdringliches Dunkel zusammenwachsen lässt. Und dann
knipse ich die Tischlampe an und schreibe. Ich mache das mittlerweile echt selten, weil nie eine Antwort kommt. Aber ich will einfach
ab und zu schreiben, so tun, als wäre einfach alles so normal, so in
Ordnung. Wenn ich mich stark fühle, so stark, dass ich diesen Gedan64
ken aushalten kann, dass meine Großeltern vielleicht noch leben.
Mein Vater. Mein Onkel. Ich schreibe meiner Großmutter vom Hundebaby. Ich schreibe ihr von Laura. Ich schreibe ihr, dass ich sie vermisse. Ich schreibe, dass ich noch ganz genau weiß, wie ihr Morgenmantel riecht: nach Rosen und nach Schweiß. Und wie ihre runzeligen, braun gebrannten Hände sich auf meinem Kopf anfühlten. Und
ihr Lachen in meinem Ohr. Und ihre Stimme, wenn sie mir GuteNacht-Geschichten zuflüsterte über die flackernde Wachskerze hinweg, die nach Honig duftete, flüsterte, bevor ich meine Bettdecke
mit den Rosen darauf über meine Nasenspitze zog und ihre getigerte
Katze mit dem weißen Schwanzspitzchen sich an meinem Fußende
zusammenrollte, um über meinen Schlaf zu wachen. Und an den Apfelkuchen mit Honig erinnere ich mich, gefüllt mit den zuckersüßen
Äpfeln aus ihrem Garten. Jedes Jahr trugen die Bäume die herrlichsten roten Äpfel, bevor sie niedergebrannt sind.
Ich versuche mich an all das zu erinnern, ohne dass es mich zerreißt. Es einfach anzuerkennen, wie Frau Wischmann sagen würde.
Sie liebt solche Ausdrücke. Etwas, das mein Leben war. Etwas, das
schön war in meinem Leben. Ja. Das alles war schön.
WV
In der Früh gehe ich zu unserem Briefkasten und finde dort nur Werbung vor. Bescheuerte Möbel. Ich zerreiße den Prospekt.
WV
Noch einen Tag. Dann sehe ich Frau Wischmann wieder. Ich hab jeden Tag einen Strich gemacht wie so ein beschissener Häftling.
WV
65
Frau Wischmann setzt ihre pinke Brille ab und lächelt. Dabei legt sich
ihr Doppelkinn in dreifache Falten, ein bisschen wie eine Ziehharmonika, aber ich finde sogar das hübsch an ihr. Sie hat über den Sommer
zugenommen. Wenn sie meiner Mutter was abgibt, sind sie beide wie
früher, denke ich. Sie hat die Haare hochgebunden, in ihnen steckt
ein Bleistift, und sie trägt ein grünes Kleid mit roten Katzen drauf.
Sie hat immer so Kleider an, die echt wild aussehen. Mein Vater war
geschockt von ihr. Sie war vermutlich auch ein bisschen geschockt
von meinem Vater.
»Wie waren die Ferien? Viel passiert?«, fragt sie. Ich nicke. Der Asylbescheid, der Umzug, Markus, Laura, Rami, meine Mama, Amina …
wo soll ich da anfangen?
Ich erzähle, bis der Wecker schrillt, weil die Stunde um ist. Und
dann seufzt Frau Wischmann und pfeift auf ihre Kaffeepause, und ich
erzähle noch ein bisschen weiter.
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6
Die Schule fängt ziemlich rasant an, stressig zu werden. Sie werfen
mit Ansagen um sich und mit Forderungen. Wie richtige Geiselnehmer. Susi wird uns die neuen Schulsachen kaufen. Puh. Dieses Jahr
bin ich so richtig aus dem Schneider. Ich muss keine Angst haben,
dass die Leiterin vom Flüchtlingsheim, in dem wir gewohnt haben,
einfach unser Geld nicht rausrückt. Und ich deswegen keine Hefte
habe. Und dann immer irgendein Lehrer da ist, der sagt, dass ich
schlampig war und nicht aufgepasst habe. Dieser leicht misstrauische
Blick, der sich wie Klebefolie um mich legt, auf der normalerweise
die Fliegen verrecken. Dieser Blick, der sagt: Du bist nichts, aus dir
wird nichts. Dieser Blick, der sich an dir festklebt, um dich zu überführen. Weil du sowieso schuldig bist. Im Geheimen. Diesen Blick
habe ich gut studiert. Im Bus. In der Schule. Bei Behörden. Im Flüchtlingsheim.
Und ich habe gelernt, mich ganz groß zu machen. Und den Blick
zu erwidern. Mit gestrafften Schultern. Wie Tiere das tun. Die machen
sich auch nicht klein. Sonst werden sie gleich gefressen.
WV
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Markus hat jetzt das letzte Jahr Schule. Und ist dann frei. Allerdings
hat er jetzt davor den Megastress. Verglichen mit unseren Schulsorgen. Ich bin fast froh, dass wir noch ein bisschen abhängen können.
WV
Es ist unendlich öde, Briefe voller Gefühle und Hoffnungen zu
schreiben und nie eine Antwort zu erhalten, sondern immer nur das
ganz große Schweigen. Ich sage jetzt mal öde dazu. Aber eigentlich ist
es gar nicht öde, wenn ich ehrlich bin. Es ist unglaublich traurig und
grausam. Und ich werde mich trotzdem nächste Woche wieder dazu
aufraffen, einen Oma-Brief zu schreiben. Und mich zwingen, fest daran zu glauben, dass mal eine Antwort kommen wird. Aufgegeben
wird nur ein Brief, hat Laura mal gesagt. Recht hat sie. Ich gebe die
Briefe auf. Nicht die Hoffnung. So.
WV
Der Hund ist wieder da. Auf der Website der Tier-Vermittlung. Jemand hat ihn offenbar zurückgebracht. Ich stelle mir vor, wie er sich
fühlen muss. So ganz kurz ein bisschen Hoffnung und ein Zuhause
und dann wieder raus in die Kälte.
Sorry.
Doch nicht.
Du passt leider nicht hierher. Tschüss.
Es hätte mir genauso passieren können. Manchmal hab ich Angst,
dass es mir doch noch passiert. Immer wieder. Diese Angst, die auch in
jedem Straßenhund schlummert. Ich sollte jetzt eigentlich mit meiner Mutter reden. Die Schulsachen vorbereiten. Mit Markus laufen
gehen. Ich sitz aber nur da und sehe dauernd dieses Foto an. Die dunklen Augen. Die spitzen Ohren. Laura und ich fahren hin. Auch ohne
Erlaubnis. Haben wir uns versprochen. Ich mach dem Hund einen
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eigenen Hundemärchenwald. In dem kann er sich erholen. So wie ich
letztes Jahr.
WV
Nach der Schule sind wir wieder ins Café am Dorfplatz gegangen. Es
kostet mich immer noch etwas Anstrengung, nicht an den Scheißkerl
zu denken, der uns auf dem Jahrmarkt belästigt hat. Aber jedes Mal,
wenn wir hingehen und er ist nicht da, ist dieses Unbehagen das
nächste Mal ein bisschen kleiner. Wie die Schatten, die langsam unter
Gegenstände kriechen, wenn die Sonne steigt.
»Scheiß dich nicht an«, hat Laura noch jedes Mal an der Schwelle
zum Café gesagt und dabei unter den Tisch fallen gelassen, dass sie
sich auch angeschissen hat. Damals. Ich habe sie nicht erinnert. Es
reicht, wenn ich es weiß.
Die neue Kellnerin war da und hat uns lächelnd bedient. Sie ist
nett, aber eine Quatschtante. Sie redet mehr mit den Gästen, als dass
sie bedient, und man muss höllisch aufpassen, dass man seine Bestellungen auch bekommt. Und wenn man zahlen will, dauert das meistens superlange. Wenn grad wer da ist, mit dem sie ins Gespräch versunken ist. Und ich bin trotzdem froh, dass der Huper weg ist. Und
hab das Laura auch gesagt, in einer ruhigen Minute. Und Laura ist
immer noch eine neugierige Nase und fragt, als die Kellnerin sich von
ihrer Unterhaltung losreißen kann und zu uns zum Kassieren kommt,
ob sie weiß, was aus ihrem Vorgänger geworden ist. Sie schaut ein bisschen komisch.
»Der wurde fristlos entlassen«, sagt sie. Und dann senkt sie verschwörerisch die Stimme und haucht: »Das darf aber keiner wissen!
Er wurde so kurzfristig entlassen, dass ich sofort einspringen musste,
dabei hätte ich eigentlich erst nach dem Sommer anfangen sollen!«
Laura senkt ihre Stimme auch um mehrere Oktaven. Und schaut
wie ein Detektiv drein. Und fragt: »Du weißt doch bestimmt, warum?«
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Und die Kellnerin guckt zur Seite, ob keiner zuhört, und flüstert:
»Nein! Aber ich hab so Sachen gehört.«
»Welche?«, haucht Laura verschwörerisch, aber da ruft ein Kunde
von der Bar, und die Kellnerin schnappt unsere Gläser, richtet sich
die Locken, und schon ist sie weg. Der Kunde muss ihr sehr, sehr laut
einen anzüglichen Witz erzählen, der bis zu uns hinübertönt. Der
Witz ist grässlich. Ihr Lachen etwas zu schrill. Ich kenn den Kunden.
Der ist unser Nachbar und hat eine Frau, die genauso komisch ist wie
er. Es tut mir trotzdem leid, dass ihr Mann eine junge Kellnerin anbaggert, während zwei Schülerinnen dabei zusehen müssen.
WV
»Ich will einen Hund«, sage ich zu Mama. Sie zuckt zusammen.
»Die sind nicht sauber.«
»Ich wasch ihn jeden Tag!«
»Das arme Vieh«, sagt meine Tante.
»Au ja! Au ja!«, kreischt Rami. Und bellt. Und bellt.
Und meine Mutter schaut ihn an. So richtig nachdenklich.
WV
Ich geh zu Susi und verhandle mit ihr den ganzen Abend. Und erzähle,
was man mir im Kindergarten gesagt hat. Susi hat versprochen, sich
etwas zu überlegen.
WV
»Wir müssen es tun, für Rami«, sage ich zu Laura.
Laura schaut mich an und schüttelt den Kopf. »Wir müssen das für
uns tun. Aber meine Mutter erlaubt das ja doch nie.«
Mein Lächeln ist ein fetter Triumphbogen.
»Doch, sie erlaubt uns das. Wenn wir wirklich für ihn sorgen. Ja, du
auch, Laura. Auch in der Nacht.«
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»Mir hat sie letzte Woche noch abgesagt!«
»Jetzt hat sie umdisponiert. Und meiner Mutter sagen wir erst was,
wenn alles in trockenen Tüchern ist. Sonst geht es sicher nicht.«
»Du betrügst deine Mutter?«, fragt Laura, als ob sie mir das nie zugetraut hätte.
»Ich mache es zu ihrem eigenen Besten. Na ja, zu Ramis Bestem.«
Und ja, das stimmt. Letztes Jahr hätte ich meine Mutter nie angelogen. Nie. Ich hätte nie falsch übersetzt. Ich hätte mich nie von ihr
weggedreht und die wichtigen Gespräche allein erledigt. Aber, verdammt noch mal, irgendwer muss hier die Kontrolle behalten. Und
dieser irgendwer bin sowieso ich. Harte Zeiten, harte Maßnahmen.
WV
»Ihr seid wahnsinnig«, hat Markus festgestellt, als wir ihn heute Morgen angefleht haben, mit uns in die Stadt zu fahren. Zum Hund.
»Wir folgen nur unserem Schicksal«, hat Laura gesagt.
Er hat die Augen verdreht. Und dann meinen Gesichtsausdruck
gesehen. Und »Also gut« gesagt.
Susi kommt mit.
WV
Wir sitzen im Auto und pinkeln uns fast an vor Aufregung. Markus
lässt cool den Arm hinaushängen aus dem offenen Fenster. Seine
Haut hat noch diesen hellgoldenen Ton, den ich schon immer so umwerfend sexy fand, von Anfang an. Im Sommer ist er am allerschönsten. Im Winter wird er ein bisschen wattefarben. Leider. Heute ist es
warm. Und wir fahren über die Landstraße, da macht Lauras Handy so
ein Geräusch, das es immer macht, wenn eine Nachricht eintrudelt.
Und sie schaut ganz erschrocken drauf und steckt es in die Hosentasche. Statt zu lesen oder zu antworten. Ich schieb das sofort weg, wir
fahren zum Hund. Aber es lässt sich nicht ganz wegschieben.
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Diese Zwinger voller wartender Tiere sind das Traurigste, das ich
hier bis jetzt gesehen habe. Ich weiß wirklich nicht, warum gerade das
mich so traurig macht. Vielleicht, weil es mich an unsere Flüchtlingsunterkunft erinnert. Ein großes, endloses Warten vieler Tage, die ineinander übergehen und verwischen, und dieses Hoffen. Hoffen, Hoffen inmitten der bohrenden Angst. Diese Blicke hinter den Stäben,
diese Anspannung. Dabei ist es doch gut, dass sie nicht auf der Straße
leben wie bei uns und auch keiner sie tötet. Der Zwinger, in dem sich
unser Prachtstück befindet, ist ungefähr in der Mitte. Und schon als
wir näher kommen, sehe ich, der ist größer als auf den Fotos. Um einiges. Auf den Fotos sah er wie ein Schoßhündchen aus. Egal. Ich würde
ihn auch haben wollen, wenn er ein Drache gewesen wäre. Oder ein
kleines Monster. Versprochen ist versprochen. Der Blick nämlich, dieser fragende Blick, ist exakt der gleiche.
Auf der Heimfahrt halte ich den Hund im Arm, der ganz, ganz zart
vor sich hin zittert. Er hat warmes, weiches schwarzes Fell und eine
grässliche Kruste hinter dem rechten Ohr, und sein Schwanz ist so nah
an den Körper gezogen, dass man ihn nicht sehen kann. Er zittert und
zittert, und irgendwann legt er den Kopf ganz, ganz sachte auf meine
Schulter und macht die Augen zu. So gottergeben, wie ich es auf meiner ganzen Reise in dieses Land nie gewesen bin.
»Alles wird gut«, sage ich ihm und versuche mit meiner Hand das
Zittern zu stoppen, das mir so vertraut ist. »Alles wird gut.«
Und dann muss ich sofort wieder an Papa denken. Und ich schiebe
den Gedanken weg und sage mir: Ich werde dableiben und für diesen
Hund da sein. Auch wenn mein Papa das für mich nicht konnte. Ich
bin nicht Papa. Ich bin nicht Mama. Ich bin anders.
WV
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Und gleich am nächsten Tag hat Susi einen so wohlriechenden Kuchen gebacken, dass jedem auf dieser Welt das Wasser im Mund zusammenlaufen könnte, und grade als sie ihn mir anbietet, ruft mich
meine Mutter, die seit Ewigkeiten nichts mehr auf die Reihe bekommen hat, kulinarisch betrachtet. Und bittet mich, dass ich sie zum
Kindergarten begleite, weil sie sich nicht allein traut, und ich rolle einmal mit den Augen, weil ich finde, sie könnte es langsam wenigstens
mal versuchen ohne mich. Aber ich gehe natürlich mit. Was soll ich
denn sonst tun? Und ich ärgere mich gleichzeitig maßlos über sie,
weil einfach nichts funktioniert, was funktionieren sollte, ja, obwohl
sie mir auch leidtut. Weil verdammt noch mal, ich verstehe alles, es ist
schlimm für sie, aber wer denkt denn mal an mich? Keiner. Niemand.
Und Laura sagt oft, ich übertreibe und meine Mutter ist ja auch
lieb. Ja, ist sie. Aber Laura soll mal eine Woche bei uns unten wohnen.
Und dann reden wir weiter! Sie bekommt ihr Frühstück, ihr Mittagessen, ihr Taschengeld, ihre Streicheleinheiten, auch die, die ihr eigentlich zu viel sind. Sie ist nie, ich wiederhole: nie für irgendwas verantwortlich oder zuständig. Da kann man ganz großzügig Mitleid haben.
Echt.
Wir gehen also raus, und meine Mutter hat schon wieder diesen
furchtbaren langen Rock mit hässlichem Muster an, der ihr nicht
passt und der peinlich ist und wo man zehn Meter gegen den Wind
sofort erkennt, dass sie nicht von hier ist. Und so noch peinlichere
Sandalen, die ihre Füße vollkommen unförmig aussehen lassen. Sie
hat sehr wohl schönere Sachen von Lauras Mutter bekommen. Aber
die zieht sie partout nicht an. Aus welchem Grund auch immer. Vermutlich, weil sie glaubt, das gehöre sich nicht für eine trauernde Ehefrau. Wir gehen also los zum Kindergarten, und ich zähle die Blicke,
die uns treffen, so ein bisschen abschätzige Blicke, und geniere mich
in Grund und Boden. Schritt für Schritt.
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Ich achte drauf, nicht aufzufallen. Achte drauf, dass mein Haar
nicht so aussieht und meine Röcke nicht, auch wenn ich lange Röcke
tragen muss. Ich will so sein, wie alle hier sind. Und ich bin echt nah
dran, so nah dran. Und dann macht mir immer irgendwer aus meiner
Familie so einen fetten Strich durch die Rechnung. Zuerst Papa, weil
er vor meiner Schule rumgetobt hat und mich dort auch noch vor allen Leuten geschlagen hat, nur weil ich bei Laura übernachtet habe,
bis die Polizei kam und er abtransportiert wurde wie so ein Scheißpaket und erst am Abend wiederkam. Und wochenlang war ich danach der Gesprächsstoff Nummer eins. (Aber – das einzig Gute
dran – dann ist auch Frau Wischmann wegen der ganzen Sache in
mein Leben getreten.) Dann meine Mutter, weil sie sich komplett gehen lässt. Sie lässt sich nicht nur gehen, sie lässt sich fallen. Und ich
reiß sie dauernd zurück, und sie hängt mit ganzem Gewicht an mir.
Ich bin furchtbar wütend, und als wir beim Kindergarten ankommen, scheiße ich Rami bei der erstbesten Gelegenheit zusammen
und weiß genau, dass ich unfair bin. Und es tut mir bald darauf auch
leid, aber nicht so sehr, dass die Wut verfliegen würde. Die Wut ist wie
so ein muffiger Geruch in Kleidern, die man im Keller gelagert hat.
Sie bleibt ewig.
Ich lenke also ein und versuche freundlich zu sein, als wir wieder
zu Hause sind, und werde noch wütender, und dann habe ich vollends
das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt zwischen unserer
Küche und unserem Schlafzimmer. Ich muss da raus.
Der noch namenlose Hund wartet ja sowieso auf mich. Von dem
weiß Mama noch nichts, ich bin im Moment viel zu wütend, um sie
einzuweihen.
Ich sag meiner Mutter gute Nacht und sage, dass ich bei Laura
schlafe. Meine Mutter nickt. Aber nicht bei Markus, sagt ihr Blick.
Meiner sagt: Ich weiß.
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Wenn ich nicht wüsste, dass in Lauras Zimmer der Hund wartet,
würde ich mich jetzt noch mehr ärgern.
WV
Ich habe also mein Nachthemd genommen und schleiche barfuß die
Treppe rauf.
Laura öffnet ihre Tür einen Spaltbreit und zieht mich rein. »Leise«,
sagt sie. Ich mach einen Schritt ins Halbdunkle und stehe plötzlich
auf feuchten Tüchern. Sehr feuchten Tüchern. Barfuß.
»Igitt.«
»Ja, hat hingemacht.« Laura legt noch ein Handtuch auf den Boden. »Und Durchfall hat er auch.«
Der Hund ist nirgendwo zu sehen.
»Unter dem Bett ist er.«
Ich knie mich hin. Unter dem Bett sehe ich im Schatten zwei glänzende dunkle Augen. Ich strecke die Hand aus. Die Augen kommen
näher und näher. Und dann spüre ich eine kleine feuchte Zunge an
meinen Fingern. Das besiegelt unsere Verbindung für immer. Fester
als ein mit Blut unterschriebener Teufelspakt. Einfach so.
WV
Keine Zeit. Bis später.
Immer noch keine Zeit.
WV
WV
Wir haben uns mit dem Hund im Fahrradkorb rausgeschlichen
und haben ihm den Fluss gezeigt und den Teich und den Wald.
Den Joggingweg, wie wir ihn nennen, der hinter unserem Haus beginnt und der direkt zum Badeteich führt, quer durch den Wald.
Da habe ich mich früher nie hingetraut. Allein. Vielleicht schaff ich
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das jetzt mit unserem Hund. Mit einem Hund ist man nie allein.
Nie.
Sogar auf dem Klo nicht. Da schiebt er mit der Pfote die Tür auf,
und jeder kann dich beim Pinkeln sehen. Das war ein absoluter Höhepunkt des Sonntags. Laura lacht heute noch drüber. Wir haben auf
dem großen umgefallenen Baumstamm gesessen wie immer und
haben den Hund von der Leine gelassen. Alles war auf einmal aufregend. Auch für uns. Der Teich. Der Weg. Die raschelnden braunen
Gräser beim Wasser. So aufregend, wie der Hund sie fand. Zuerst hat
er sich gar nicht von uns weggetraut. Irgendwann ist er mutiger geworden.
»Was machen wir denn jetzt?«, habe ich gesagt. »Wir können ihn
doch nicht ewig vor meiner Mutter verstecken.«
Laura hat geschwiegen
Ich hasse Lügen. Es ist nicht nur nervig für alle, die dann draufkommen, dass sie hintergangen worden sind. Es ist auch ziemlich
nervtötend, weil man sich die ganze Lügengeschichte gut merken
muss und jedes Mal korrekt wiedergeben, und das strengt so an, dass
ich schon deswegen lieber ehrlich bin. Das kann allerdings auch sehr
anstrengend werden. Keine Frage.
»Schauen wir mal«, sagt Laura.
»Schauen ist keine Lösung«, sage ich. Sie seufzt.
Der Hund hat seinen Kopf auf meinen Oberschenkel gelegt. Und
sich dann zum Wasser verabschiedet. Wie zart er die ersten Schritte ins
Wasser gesetzt hat! Diese kleinen Wellen, die seine Tatzen auslösten,
als er sie vorsichtig im dunklen Wasser verschwinden ließ wie in Tinte.
Pure Magie. Und dann, als wir wieder zurückmussten, hat er sich einfach auf den Waldweg gestellt und die Beine auseinandergegrätscht.
Nicht mehr ganz so elegant. Und war nicht einen Schritt weiter zu bekommen. War definitiv der Meinung, dass der Ausflug noch nicht zu
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Ende war. Leider hat Susi mit dem Abendessen auf uns gewartet. Wir
haben den Hund in Lauras Zimmer eingesperrt. Er hat an der Tür gekratzt. Lang geht das nicht mehr gut.
WV
War beim beschissenen Briefkasten. Schon wieder nix.
Auf dem Weg in die Wohnung bin ich mit Mama zusammengestoßen. Sie hat mein Gesicht gesehen und ist wieder in die Wohnung
zurückgegangen. War ja alles klar.
WV
Die vom Kindergarten haben wieder angerufen. Rami braucht mehr
Betreuung, sagen sie.
»Hat er Freunde?«, frag ich, weil Frau Wischmann mir das geraten
hat.
»Ja«, sagen sie, »einen.«
77
7
Rami hat seinen Freund mitbringen dürfen. Das erste Mal überhaupt.
Er ist unglaublich stolz und nervös. Mama auch. Später soll die Mutter von Franzi kommen und ihn abholen, und Mama putzt schon hysterisch seit in der Früh herum, damit sie einen besonders guten Eindruck macht. Das ist das erste Mal, dass Rami jemanden mitbringt,
der von hier ist. Alle seine früheren Freunde sind im Flüchtlingsheim
geblieben. Meine Tante hat für den Anlass echte Mamoulkekse gebacken. Mit Dattelfüllung. Es duftet im ganzen Haus. Wie früher einmal. Sie hat sich herausgeputzt und auch für Mama ein nettes Kleid
herausgelegt.
»Mach dich doch mal schön«, hat sie gesagt und sie umarmt. »Als
Ehrung der Gäste.« Und jetzt schminkt sich meine Tante die knallgrünen Katzenaugen, und Mama frisiert ihr langes Haar, das in diesem
einen Jahr fast völlig grau geworden ist. Als ob das dunkle Rabenschwarz aus ihnen ausgelaufen wäre wie verschüttete Milch, nur umgekehrt, von dunkel zu hell. Es ist eben nur fast so, wie es früher einmal war.
WV
Franzi, Ramis Freund, ist wirklich lieb. Ein Hasenzüchter und ein
Radfahrer. Es ist von nichts anderem die Rede als von den Hasen, und
ich weiß schon jetzt, wie es weitergeht, Rami wird mindestens eine
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Woche stündlich nach einem Haustier nölen. Die beiden spielen im
Garten, bis es dunkel wird, dann kommt Franzis Mama, und meine
Mutter serviert feierlich Tee und die Dattelkekse. Die Mutter von
Franzi steht im Vorzimmer und knetet am Gurt ihrer Handtasche
herum. Sie ist schon etwas älter und hat ihre Haare streng zurückgekämmt. Noch traut sie sich nicht, bis in die Küche vorzudringen, aus
der Lockrufe meiner Tante ertönen – auf Deutsch, mit viel Akzent,
aber klar verständlich. Das ist das erste Mal, dass ich meine Tante so
lange Deutsch reden höre. Ungewohnt. Aber auch – verdammt gut zu
hören. Franzis Mutter ist etwas unsicher, so ein bisschen ängstlich, sie
weiß noch immer nicht, wohin mit ihren Händen, und lächelt einen
Tick zu viel.
»Kommen Sie nur rein«, sage ich zu ihr und grinse sie auffordernd
an. Eisbrechen. Kann ich. Ich kenn das schon. Die Leute wissen nicht
wirklich, wie sie sich verhalten sollen, weil sie so was wie uns zuvor nie
privat getroffen haben. Als wären wir ein bisschen wie Raubtiere aus
fernen Ländern, die man mit einiger Vorsicht behandeln muss und
von denen man nicht recht weiß, wie die sich verhalten, auch wenn sie
zugänglich scheinen. Ich bin nicht böse deswegen. Ich weiß auch
nicht, wie ich mich verhalten hätte. An ihrer Stelle. Ich kannte hier ja
gar nichts. Am Anfang. Und es war nicht die Zeit herumzuüberlegen.
Herumüberlegen kann man erst, wenn man in Sicherheit ist. Angekommen. Wirklich da.
Und es ist immer ein bisschen peinlich, aber oft auch lustig, den
Menschen dabei zuzusehen, wie sie uns behandeln wie seltsame rohe
Eier. Eine interessante Mischung aus lustig-peinlich. Susi war am Anfang auch nicht anders. Und jetzt leben wir hier, und es ist gut. Laura
war übrigens nie so. Laura scheißt sich einfach nix. Laura ist Laura ist
cool.
Zur Verabschiedung lacht Franzis Mama sogar nicht mehr gequält,
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sondern echt. Und meine Mutter drängt ihr Kekse in einer Serviette
auf. Wirklich so wie früher.
WV
Heute war’s in der Schule erstickend langweilig. Nicht mal Musik hat
mir Spaß gemacht. Habe allerdings diesen Niko, von dem Laura mal
geschwärmt hat, gesehen. Und sein Tigertattoo. Ja, der Oberarm war
wirklich schön. Und der Tiger auch. Habe es Laura erzählt. Laura hat
erstaunlich uninteressiert reagiert. Als ob schöne Männerarme plötzlich das Unwichtigste der Welt wären.
WV
Laura hat irgendein Geheimnis. Ich hasse das. Sie lässt ihr Handy
nicht mehr unbeobachtet liegen. Und sie tippt herum. Erzählt mir
aber nichts, wie sonst, wenn sie irgendeinen Jungen kennenlernt und
mit ihm hin- und herschreibt. Das macht mich fertig. Fertig. Wieso
verheimlicht sie mir etwas? Wir sind doch beste Freundinnen. Ich
schaffe es nicht, sie anzusprechen. Noch. Irgendwann platzt diese
Sorge so fett in meinem Kopf, dass ich sie ausspeien muss. Aber noch
ist es nicht so weit. Noch.
WV
Ganz kurz habe ich den absurden, ganz entsetzlichen Verdacht, dass
Laura mit dem Huper herumtexten könnte. Das würde sie nie machen. Sag ich mir. Oder? Oder?
WV
Nein. Das könnte sie mir nicht antun. Nie.
WV
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Schlafe heut wieder bei Laura. Meine Mutter schaut schon komisch.
Sie hat den falschen Verdacht. Ich geh nicht wegen Markus so oft rauf.
Haha, wenn sie wüsste.
WV
Der Hund hat die ganze Nacht gejault. Laura hat null reagiert drauf.
Ich bin aus unserem Bett geklettert, die warme, duftende Laura hat
geschnarcht wie ein Berglöwe. Ich hab sie an der Schulter gerüttelt, sie
hat sich umgedreht und in die Decken vergraben. Ich hab wieder gerüttelt.
»Lass mich, Sophie«, hat Laura gesagt. Sophie? Ich kenn gar keine
Sophie. Vielleicht hat sie etwas geträumt. Der Hund hat einen langen
Jauler losgelassen. »Ruhe«, habe ich geflüstert. Klappe. Kusch. Aus.
Jedenfalls wollte ich nicht noch mehr Zeit verlieren. Ich hab geflucht
und den Hund unter meinen Pullover gestopft und habe mich wie so
ein Einbrecher die Treppe runtergeschlichen. Ich bin mit ihm in den
Garten geflüchtet, damit keiner aus meiner Familie draufkommt, dass
er da ist, und habe mit ihm in der Hollywoodschaukel gesessen und
mir den Hintern abgefroren. Er hat sich an mich gelehnt und irgendwann aufgehört zu jaulen, als hätte ihn die frische Luft beruhigt und
mein Atem und meine Hand auf seinem Kopf. Er hat die langen Ohren angelegt und die Schnauze unter meiner Achsel vergraben. Und
gegen fünf Uhr früh hat er gekotzt, weil ihm die Schaukelei zu viel geworden ist.
»Laura«, habe ich leise gerufen. »Laura!«
Und sie hat natürlich immer noch rein gar nichts gehört, weil sie
im Unterschied zu mir schläft wie ein abgearbeiteter Müller, der Hunderte Säcke Mehl am Tag schleppen muss. Ich schlaf ja eher so wie ein
Drache auf seinem Hort, mit wachsamen Ohren, immer bereit, sofort
aufzuspringen und meine Schätze zu verteidigen. Wenn ich eine Wohnung wäre, würde man mich unter »hellhörig« inserieren. Aber Rami
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hat mich gehört. Kurz darauf ist die Tür quietschend aufgegangen,
und er ist in seinem blau gestreiften Schlafanzug rausgestolpert, ein
kleiner Kobold. Halb ängstlich, halb neugierig. Ich hab meinen Pulli
über den Hund geworfen. Rami kam näher.
»Was schreist du denn so?«, hat er gesagt und sich verschlafen die
Augen gerieben.
»Geh wieder ins Bettchen«, habe ich geflötet. Auf das Flöten hin ist
er erst recht total misstrauisch geworden. Weil: Er ist zwar nervig, aber
dumm ist er nicht. Ganz und gar nicht. Ist ja auch mein Bruder.
»Warum sitzt du denn hier draußen?«, hat er gefragt und ist noch
näher gekommen und hat gegähnt. »Wartest du?«
Ich habe gar nichts gesagt, weil die Frage so seltsam war. Und dann
ist er neben mich geklettert, die bloßen nassen Füße schwebend über
dem Boden.
»Wartest du auf Papa? Dann warte ich mit.«
Wir haben kurz schweigend dagesessen. Dann habe ich nicht mehr
schweigen wollen. Das war fast wie lügen, jetzt nichts zu sagen. Und,
wie gesagt, ich kann Lügen nicht leiden.
»Nein, ich habe nicht auf Papa gewartet«, sagte ich. »Ich hab …«
Der Hund ist superunruhig geworden unter dem Pullover.
Ich habe den Pulli fester auf den Hund gedrückt, das mochte er gar
nicht, hat gestrampelt und geknurrt, und Rami ist vor Erstaunen fast
von der Schaukel gefallen. Dann ist ein spitzes Ohr hervorgekommen.
Und dann die Schnauze. Und dann der ganze Hund. Ramis Augen
sind groß und größer geworden und so rund wie zwei fliegende Untertassen. So schnell habe ich gar nicht hinsehen können, hat er schon
die Hand ausgestreckt und dem Hund über den Kopf gestreichelt.
»Wie heißt er?«
Das war alles, was ihn interessierte. Weder, warum der Hund da
war, noch, wieso er geheim war.
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»Er hat noch gar keinen Namen.«
»Das geht nicht«, Rami war empört. »Der braucht einen Namen!
Er muss doch einen Namen haben.«
Der Hund schüttelte den Pulli ab und setzte sich zu Rami. Weg von
mir. Lehnte sich an ihn an. Ich wurde irgendwie ziemlich eifersüchtig.
Dabei war der Hund erst so kurz bei mir. Rami umarmte ihn.
»Ich werd dir schon sagen, wie du heißen wirst.«
Bei uns ging Licht an. Jemand kam in die Küche geschlurft. Meine
Mutter vermutlich.
»Mama«, schrie Rami ganz begeistert.
»Bist du jetzt still«, zischte ich. »Mama weiß nichts davon.«
Das Licht blieb an, und das Fenster ging natürlich auch noch auf.
Und der Kopf meiner Mutter erschien in einem Heiligenschein, den
die Küchenlampe hinter ihr gezaubert hat, im Fensterrahmen. Epische
Erscheinung.
»Seid ihr verrückt geworden? Schnell rein mit euch! Ihr holt euch
da draußen noch den Tod!«
Immer. Wirklich. Immer. Immer ist es ein Drama. Nie kann sie
sagen: Dann holt ihr euch eine Rotznase. Oder Husten. Oder ein
bisschen Halszwicken. Nein. Unter Pest und Cholera läuft da gar
nichts.
»Mama, Mama«, brüllte Rami, obwohl ich ihm mit aller Kraft gegen sein verdammtes Schienbein getreten habe. »Schau mal!«
Der Hund sprang von der Schaukel, weil Rami so brüllte, und legte
die Ohren an und startete los.
»Nein«, schrie ich. »Stopp! Steh! Platz!«
Schön blöd, dass wir nichts von diesen Sachen mit ihm geübt haben. Wann denn auch. Der Hund drehte sich kurz nach mir um, so ein
bisschen aufmunternd, so auf »Entspann dich mal, ich hab das alles
im Griff«, und sprintete ins Haus zurück. Rami vor Glück schreiend
83
hinterher. Dann ging auch oben bei Susi das Licht an. Hundert
Punkte, echt.
»Was ist das für ein wildes Tier«, kreischte meine Mutter und sprang
auf den Küchenhocker, so geschickt, wie ich sie noch nie springen
gesehen habe. »Madina! Madina! Was soll das?«
Meine Tante kam angerannt, stolperte fast über ihr Nachthemd,
das ihr bis zu den Fersen reicht. Sah aus wie ein langes Nachtgespenst.
Der Hund drehte als wilder Kreisel Runden um den Küchentisch
und um den Hocker, auf dem meine Mutter stand. Und hinter dem
Hund drehte Rami fast ebenso schnelle Kreise, im Versuch, ihn einzufangen. Dann kam Susi auch noch runtergerannt. Und Markus. Die
Einzige, die noch immer gepennt hat wie erschlagen, war Laura. Toll,
Laura. Echt toll.
WV
Was soll ich sagen. Einfach nur Totaleskalation.
WV
Sorry. Es geht so rund, ich kann nix schreiben. Vielleicht am späten
Abend.
WV
Ich hab überhaupt keine Kraft mehr, um zu schreiben. In aller Kürze.
Nur so viel: Der Hund kann bleiben. Susi hat Mama überzeugt.
Ah ja, und er heißt Kassandra. Er ist nämlich eine Hündin.
WV
Es ist so schön, wenn der Hund sich zu meinen Füßen zusammenrollt.
Und ich ihn streicheln kann. Sein Fell ist ein Mittelding zwischen
struppig und weich. Mittelstruppig. Ihr. Ihr Fell. Kassandras Fell.
WV
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Aus lauter Sorge (und ja, ich gestehe es, auch Eifersucht) jage ich Lauras Handy nach wie ein drittklassiger Spion. Sie ist ein besserer Spion
als ich, bemerkt das und versteckt es noch besser. Und als ich es ausnahmsweise nach mehreren Runden doch finde, hat sie den Code geändert. Wir kennen unsere Codes, seit wir zusammenwohnen.
WV
Vielleicht frag ich sie einfach. Ob das der Huper ist. Das ist der einzig
sinnvolle Grund, warum sie mir nicht die Wahrheit sagen würde. Es
ist jedenfalls der einzige Grund, den ich mir ausmalen kann in einem
Wasserfall anderer, völlig unlogischer Erklärungen.
WV
Markus hat es aufgegeben, mich zu fragen, ob ich raufkomme zu ihm.
Aber er ist auch sonst eher distanziert. Ich hasse den Herbst. Ich hasse
alle.
WV
Die Hündin hasse ich nicht.
WV
Ich hasse wirklich alle außer Kassandra. Ich könnte die ganze Welt anzünden. Würde Laura in solchen Momenten sagen. Aber ich weiß ja,
wie es sich anfühlt, wenn die ganze Welt brennt. Ich möchte das nicht
mal im Scherz sagen.
WV
Ich geh am Nachmittag ganz allein eine Runde mit Kassandra Gassi,
recht unsicher, weil sie mittlerweile viel sicherer und deswegen eine
wilde Hummel ist und ich mich mit jungen Hunden genauso gut auskenne wie mit Jungelefanten. Ich klammere mich an der Leine fest
wie eine Ertrinkende. Aber es ist echt schön, so ganz legal eine Leine
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in der Hand und einen Hund am anderen Ende der Leine zu haben.
Fühlt sich ein bisschen wie ganz absurdes Händchenhalten an.
WV
Apropos absurdes Händchenhalten: Laura spinnt immer noch und
Markus fängt auch schon damit an. Es dürfte eine familiäre Veranlagung sein.
WV
Das ist sehr gemein, was ich da schreibe. Echt. Weil wenn die spinnen,
was tut denn dann meine Familie. Da ist ja jedes einzelne Mitglied
komplett wahnsinnig. Nur Kassandra ist normal.
Laura ist immer noch komisch. Bin zu ihr hin und hab gesagt, dass
ich supertraurig deswegen bin. Sie hat gelächelt und mich umarmt,
aber alles war irgendwie anders. Nicht so luftig-leicht.
WV
Vielleicht liegt das ja auch einfach nur an mir, dass gerade alles komisch ist. Sogar mit Jonas aus der Klasse gegenüber bin ich aneinandergeraten, dass die Fetzen flogen. Ich streite normalerweise so gut
wie nie mit anderen.
WV
Und was, wenn es doch … der ist. Das wäre furchtbar.
WV
Mit Kassandra rauszugehen bedeutet, gnadenlos alle Menschen der
Umgebung kennenzulernen, die Hunde lieben. Es sind verdammt
viele. Und es dauert dadurch jedes Mal länger als geplant, bis wir wieder zu Hause sind. Alle wollen sie streicheln. Alle finden sie süß. Ja,
was sonst.
WV
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Rami ist ganz stolz, weil er jetzt der Kassandra-Aufpasser wird. Mich
erinnert das leider ein bisschen an letztes Jahr. Als mein Vater ihn gezwungen hat, auf mich aufzupassen. Weil zweiter Mann der Familie.
Weiß gar nicht, für wen das schlimmer war, für mich oder für Rami.
Wir haben uns gehasst. Und Rami hat nur noch geheult. Mitgehen
mit mir musste er dann trotzdem. Überallhin.
Da war Papa eisern.
Unerbittlich.
Sogar auf Lauras Geburtstagsparty musste er mit. Sonst hätte ich
nicht hingehen dürfen. »Kein Rami, kein Fest«, hat mein Vater Susi
seelenruhig mitgeteilt, und ich musste es auch noch übersetzen für
ihn. Alles musste ich damals übersetzen. So was von peinlich. Und
wenn Markus mir da nicht geholfen und Rami vor der Playstation
geparkt hätte, wäre die ganze Party für mich gelaufen gewesen. Ich erinnere mich, wie wir da unter den Lampions stehen, die aus den Ästen
der Apfelbäume hängen mitten in warmer Frühlingsnacht, Markus
und ich. Die Sterne über uns und sein Arm so ganz zufällig an meiner
Schulter, das erste Mal. Das ist so verdammt lange her, denke ich, und
erinnere mich dann: Nein, stimmt ja gar nicht, nur ein paar Monate.
Ich vergesse das ganz gerne, weil ich mich an die schönen Papasachen erinnern will und nicht an die schlechten. Ich will mich erinnern, wie er mit mir in den Wäldern wandern geht und mich
anspornt, bis auf die Bergspitze mit ihm zu steigen. Wie wir da oben
stehen und unsere Flüchtlingsunterkunft sehen von ganz weit weg,
den Berg gegenüber, die Gewitterwolken, den Fluss, wie eine braune
Schlange durch das Tal, der Wind frisch und nach Tannennadeln duftend in unseren Gesichtern. Wie er zu mir »Ich will, dass du weißt, wie
du Ziele erreichst« sagt. Und ich das sehr, sehr ernst nehme.
Wie wir Brot und Käse essen, mit Blick ins Tal, angelehnt an das
von der Sonne aufgewärmte Gipfelkreuz. Schmeckte dreimal so gut
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wie in der hässlichen Unterkunftsküche, in der sich alle ständig gestritten haben und die Köchin unser Essen eingepackt hat, um es mitzunehmen, bevor wir überhaupt damit fertig waren. Das alles kam
mir damals noch ganz normal vor. So war das eben damals. Exakt das
gleiche Brot, das wir über vier Stunden zum Gipfelkreuz getragen hatten, schmeckte so toll wie nie. Dazu frisches Wasser aus dem Bergbach. Ich erinnere mich gern daran.
Wie ich mich an ihn anlehne und mich geborgen fühle, und sein
Pullover riecht nicht nach Rauch, wie später, als er ging, sondern vertraut nach Papa.
Wie er mir einschärft, dass ich Dinge schaffen kann, wenn ich will.
Noch früher: wie er mich lobt und stolz auf mich ist. Wie er mir so
weit vertraut, dass er mich zu seiner Assistentin macht. Wie … ja, eigentlich war das mit Assistentin sein auch ziemlich furchtbar. Aber
im Krieg fragt man sich nicht, wie es einem geht. Da tut man. Und
man ist froh, dass man nach dem Tun noch lebt.
Ja, Papa war nicht immer fair zu mir. Und wenn ich ehrlich bin
und mich korrekt erinnere, schon gar nicht zu meiner Tante. Da war
er richtig bösartig. Weil Amina im Unterschied zu meiner Mutter
einen sehr sturen eigenen Kopf gehabt hat. Weil sie sich nichts sagen
ließ. Weil sie sich schminkte und Stöckelschuhe anzog. Das war für
mich normal. Damals. Und ich sehe das alles von dem Punkt der Wanderung aus, auf der ich jetzt bin, wenn ich zurückschaue ins Tal meiner Papavergangenheit, und ich sehe es nun deutlich. Ich sehe, dass es
einfach nicht okay war. Es ist nichts schlimm daran, so zu sein, wie
meine Tante ist. Es ist ihre Entscheidung. Ihr gutes Recht. Punkt. Allein diese Aussage hätte er mir nie verziehen. Nie.
WV
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Und trotz alldem: Ich wache in der Früh auf, und er fehlt mir. Und
beim Schlafengehen fehlt er mir auch. Am Tag ist dieses Gefühl schon
etwas abgestumpft wie eine Klinge, die man immer und immer wieder in sehr hartes Holz bohrt.
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8
Die King hat mich heute in der Schule gelobt. Für meine Bemühungen. Dieses Jahr muss ich nicht mehr wöchentlich zu ihr nach Hause,
nachsitzen und lernen. Dieses Jahr komme ich schon mit allen anderen mit. Ganz klein wenig stolz bin ich schon.
WV
Zu früh gefreut. Nur zwei Tage später will die King auf einmal doch,
dass ich einmal im Monat zu ihr komme. Zum Wiederholen und
Überprüfen. Ich werde wieder ihre Kekse, die trockener sind als der
Staub in einem Mumiensarkophag, bekommen und den Tee. Und Anfälle. Ich bin schon wieder nicht wie alle anderen. Da kann ich mich
noch so sehr anstrengen. Und ich weiß, dass es echt unfair ist, auf die
King wütend zu sein, weil sie es wirklich nur gut meint. Trotzdem.
WV
Seit fünf Wochen ist schon wieder Schule. Ich komme gar nicht mehr
richtig zum Schreiben, jedenfalls nicht so viel wie in den Ferien. Aber
die Tage sind noch immer sonnig, und die Kürbisse liegen orangerot
wie kleine untergehende Sonnen auf den Feldern rum.
WV
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Laura und ich tun so, als ob alles normal wäre, und wir wissen beide,
dass das nicht stimmt. Aber ich hab solche Angst vor dem Streit, dass
ich mich kleinmache. Ich kann sie jetzt nicht verlieren. Nicht jetzt.
Markus und ich tun auch so, als ob alles normal wäre. Wir sehen
uns weniger, weil Markus kaum Zeit hat und ich auch nicht. Wir wohnen im selben Haus, das ist gut, weil wir wenigstens gemeinsam essen
können und im Garten abhängen, wenn wir Pause machen. Irgendwann frag ich ihn, ob er weiß, was mit Laura ist, und er zuckt die
Schultern und sagt: »Komisch ist sie.«
Damit ist das Thema für ihn abgehakt.
WV
Endlich Wochenende! Ich hoffe auf etwas Ruhe.
Daraus wird nix, weil Lynne auftaucht, wie immer ohne Vorwarnung, wie immer beladen mit türkischen Süßigkeiten von ihrem Vater. Sie hat sich die Haare an den Schläfen abrasiert. Und oben orangerot gefärbt. Sie flammt wie der Mars. Wenn der Mars explodiert. Laura
bleibt der Mund vor Neid offen stehen.
Lynne deklamiert gleich ein bisschen Zeug aus dem neuen Theaterstück ihres Vaters. Ich hab ja noch nie was von ihm gesehen. Aber
dieses Jahr spielt Lynne mit! Da muss ich dann dabei sein. Unbedingt.
»Proben sind noch ein paar Monate«, sagt sie und spuckt Apfelkerne auf unsere Veranda. »Und im Frühjahr geht’s los. Bekommst
eine Karte von mir. Erste Reihe, mit Beinfreiheit. Geht klar.«
»Ja, so wie letztes Mal«, ätzt Laura. »Da haben wir nur eine Stehkarte bekommen! Auf den hinteren Rängen!«
»Da war ich nicht mit auf der Bühne. Jetzt darf ich mitentscheiden,
Schätzchen.«
Lynne ist so randvoll angefüllt mit Stolz, dass er ihr bald aus den
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Ohren quellen wird wie Ohrenschmalz. In Gold gestrichen. Ich bin
verdammt froh über Lynnes Auftauchen, weil das meine Spannungen
mit Laura übertüncht. Zu dritt sind wir lockerer und lauter und blöder. Auf eine lustige Art blöd. Am Ende hängt Lynne kopfüber im
Apfelbaum und rezitiert Texte aus dem letzten Theaterstück ihres Vaters – auf Deutsch und auf Türkisch. Und erzählt diesmal ausnahmsweise nicht von den Theaterabenden in Istanbul. Und über die vielen,
vielen Umwege, auf denen ihr Vater hier gelandet ist. Ja, sehr anders
gelandet als mein Vater. Wäre schön gewesen, wenn meiner das auch
hinbekommen hätte. Wirklich schön.
Vielleicht, sagt Laura hoffnungsvoll, vielleicht kann sie ja mal beim
Theater mitmachen.
»Ja, warum auch nicht«, sagt Lynne. »Die ganze Welt ist ein Theater.«
Vermutlich hat sie recht. Manchmal sogar eine Komödie. Ich mag
Komödien. Da kann man seinen Kopf wunderbar auslüften. Die unschönen Dinge kommen sowieso ungefragt zurück. Immer. Ich habe
sie jedenfalls noch nie persönlich zurückgebeten.
»Wir machen wieder ein Atelierfest im Frühjahr«, sagt sie noch.
»Ihr seid natürlich eingeladen.«
Ja, und die halbe Welt auch. Diese Feste bei Lynnes Eltern sind
immer ein Wirbelsturm voller Begegnungen und hervorragendem
Essen. Jeder reißt sich darum, da kommen zu können, und sie haben
noch nie jemanden an der Schwelle der alten Halle, in der das Atelier
eingerichtet worden ist, abgewiesen. Das gegrillte Fleisch und Gemüse duften durch die ganze Straße, das zieht eine Menge Nachbarn
an. Und der Wein ist hier auch immer vorzüglich, hat Susi uns oft gesagt. Zum Wein reichen Lynnes Eltern riesige Käselaibe, die man mit
einem Hobel innen aushöhlt, nach und nach. Und Feigensenf, der auf
der Zunge brennt. Und Weintrauben aller Farben und Größen. Und
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Walnussbrot. Ach. Ich habe gleich so ein bisschen Sehnsucht nach
dem riesigen dick eingeölten Holztisch, an dem locker zwanzig Menschen Platz haben. Na gut, wenn sie sich zusammenkuscheln.
Und kaum ist Lynne weg, ist es wieder nicht ruhig.
Susi möchte tanzen und dreht die Musik so richtig laut auf, bis der
Nachbar anruft. Sie hat ein bisschen zu viel über den Durst getrunken
und wirft die Schuhe ab und schwenkt ihr verschwitztes lockiges
Haar, das Gesicht mit den geschlossenen Augen feucht und gerötet.
Laura geht rüber zu dem Nachbarn und beschwichtigt ihn. Ihr Job.
Und dann tanzen wir noch eine Runde mit. Einfach so.
WV
Markus trifft seine Freunde in einem Keller. Er möchte mich mitnehmen. Es sind coole Freunde, sagt er. Die muss ich unbedingt kennenlernen, sagt er. Er ist stolz darauf, dass sie uns eingeladen haben. Mir
geht das voll auf die Nerven. Ich hasse Typen, die sich zu Rudeln zusammenrotten und grölen. Markus ist sanfter, wenn er nicht so ist. Ein
sanfter Markus war das, was mich für ihn begeistert hat.
»Ich habe keine Lust auf Keller.«
»Wieso denn, wir können die Musik voll laut aufdrehen und tanzen, und keiner stört.«
Für mich bedeutet Keller Putz, der von den Wänden rieselt, weil
über uns Bomben einschlagen, bedeutet Mamas Stimme, die immer
dünner wird, während sie lustige Kinderlieder für Rami singt, damit
er abgelenkt wird, die Arme meines Vaters, die sich um mich legen,
um mein Zittern zu stoppen. Bedeutet, die Augen zu schließen und
wegzugleiten, an einen anderen Ort, an dem ich sicher bin. Urwaldbäume und Paradiesvögel mit prächtigen Federn im Schweif. Die
nicht fürchten, dass die Sonne untergeht. Sie fliegen auch im Mondlicht gut.
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»Na, dann nicht«, seufzt Markus. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck schon.
»Geh doch«, sage ich zu ihm. »Es ist okay für mich. Ich habe sowieso noch was zu tun.«
»Wirklich?«
»Ja, echt.«
WV
Markus erscheint spät in der Nacht und grölt im Garten Lieder. Ich
ziehe mir das Kissen über den Kopf.
WV
Rami ist mit nasser Hose aus dem Kindergarten gekommen. Erstens
war ihm das peinlich, und zweitens müssen wir, glaube ich, wirklich
was unternehmen mit ihm. Ich werde Frau Wischmann fragen.
WV
Wieso eigentlich immer ich. Ja, ich weiß. Weil. Einfach nur weil.
WV
Frau Wischmann meint, meine Mutter müsste dann auch in Therapie.
Ja, das wäre mein absolutes Traumziel. Meine Mutter bockt. Wie Rami.
WV
Laura wird morgen nach der Schule heimfahren, und ich muss das
erste Mal in diesem Schuljahr zur King. Ich könnt jubeln.
WV
Im Nachhinein betrachtet war es gar nicht so schlimm. Die King war
ganz erträglich: vielleicht, weil sie wirklich mit mir zufrieden war. Ich
konnte alles, was sie abgeprüft hat. Und sie hat uns den Tee gemacht
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wie immer. Nur irgendwie langsamer. Alles an ihr. Normalerweise
sind ihre Bewegungen schroff und schnell, so, wie eine Krähe nach
Beute pickt. Heute nicht. Und zwischendurch ist sie in ihrem Lehnstuhl fast eingeschlafen. Das war auch seltsam. Die Tasse mit ihrem
englischen Tee hielt sie nicht, sie suchte eher Halt an ihr. Normalerweise sitzt sie immer kerzengerade neben mir, eine aufmerksame
Wächterin über meine Erfolge und Misserfolge.
WV
Lynne ruft an und verspricht Laura eine Minirolle. Aber nur, wenn sie
den Mund hält. Stumme Rolle nennt man das. Ich glaube, das schafft
Laura nicht mal zehn Minuten. Keine Chance.
WV
Heute war im Briefkasten: eine Postkarte von Sabine. Mit Grüßen
aus dem Sommerurlaub. Die Karte war über zwei Monate unterwegs.
Sonst nichts.
WV
Markus und ich gehen essen. Er lädt mich ein. Er möchte es schön
haben mit mir, sagt er. Ja, ich will es auch schön haben. Ich bemühe
mich. Ich habe mir eine hübsche Bluse angezogen und meine schönsten Stiefel. Markus ist ein wenig schweigsamer als sonst. Aber vielleicht ist er auch nur müde. Als wir auf das Essen warten unter dem
chinesischen roten Lampion und ich an meinen Stäbchen drehe, weil
die Stimmung doch eher angespannt ist, sagt er plötzlich: »Vielleicht
gehe ich ja in die Stadt. Studieren.«
Ich versuche, mich für ihn zu freuen. Für ihn ist das alles greifbar
nahe. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie ich dieses Schuljahr abschließe. Ob ich es schaffe. Die Vorstellung, meine Mutter, Rami und
meine Tante zu verlassen, ist überhaupt ganz absurd. Ich kann nicht
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gehen. Das hat schon mein Vater für mich erledigt. Ich bin auf ewig
gebunden wie so ein verfluchter Geist. Ich habe mich schon fast daran
gewöhnt. Er lächelt, es wirkt ein wenig unsicher.
»Und du kommst mich dann besuchen …«
Unser Essen kommt, ich schnappe mir die Stäbchen und wische
mein Lächeln mit der Sojasoße weg.
Chinesisches Essen liebe ich. Es ist anders als alles andere, das ich
kenne. Es schmeckt, wie ein verrücktes Gedicht klingen würde, in
dem die Worte auf seltsamste Weise ineinandergemischt sind. Bambus
essen. Auf die Idee muss man auch erst einmal kommen. Ich stopfe
den Bambus in mich rein und fühle mich wie ein Panda. Das ist gut,
weil Pandas auch nicht sehr gesprächig sind. Üblicherweise. Auf dem
Weg nach Hause halten wir Händchen. Früher war ich stolz auf so
was.
WV
Die Tage werden immer kürzer, meine Tante hat die Kerzen in die
Fenster gestellt und zündet sie an, sobald es dunkel wird. Damit die
guten Geister einen sicheren Hafen bei uns finden.
96
9
Ich und Laura gehen heute aus. Nur kurz, weil mitten unter der Woche, und meine Mutter würde sonst durchdrehen. Das, was da seltsam
ist zwischen Laura und mir, tut uns offenbar beiden leid. Laura ist
extralieb und extraaufmerksam. Ich freu mich drüber. Verstehen tu
ich es nicht. Weder, warum sie vorher so seltsam war, noch, warum sie
jetzt so bemüht ist. Aber, denk ich mir, besser als ein Stein am Schädel.
WV
Wir sind ins Café am Hauptplatz gegangen. Von Weitem schon leuchteten uns die Fenster entgegen. Die Kellnerin hat Strohkränze und
Äpfel auf den Fensterbrettern dekoriert. Ich mag dieses Licht, das
man in den Fenstern sieht, während man im Kühlen und Dunkeln
über die Straße geht, dann weiß man, es gibt da ein warmes Plätzchen
und jemand ist zu Hause hier. Es ist ein wenig wie so ein Leuchtturm,
der etwas Schönes verspricht.
Und dann hören wir es: Stimmen. Nicht viele, aber laute. Gegenüber steht eine kleine Gruppe Menschen. Einer hält ein Plakat hoch.
Ich erkenne ihn sofort. Der Huper.
In der einen Hand hält der die Holzstange mit dem Karton drauf,
in der anderen eine halb volle Bierflasche. Mir wird sofort schlecht.
Ich greife nach Lauras Hand. Ihr Händedruck ist sehr fest. Und ihre
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Handfläche sehr feucht. Wir gehen weiter. Das ist unser Revier, hat
Markus gesagt. Da lassen wir uns nicht vertreiben, hat er gesagt. Ja,
leichter gesagt als getan, lieber Markus. Die sind zu viert, und wir sind
zu zweit. Und die sind ausgewachsene Männer. Je näher wir kommen,
desto größer erscheinen sie mir. Wir werden immer langsamer. Dabei
haben die uns noch gar nicht entdeckt. Sie lachen laut. Laura geht
noch ein paar Schritte. Dann sagt sie: »Scheiße.«
»Was ist?«
»Madina, wir gehen.«
»Wieso?«
»Wir gehen«, wiederholt sie. Da dreht sich der Huper seitwärts, und
ich kann sein Plakat sehen.
»Ausländer sind Gesindel« steht da drauf. Und daneben: »Holen
wir unser Land zurück.«
»Laura!«, ruft er, eigentlich erfreut. »Komm doch her!«
Dann sieht er mich. »Immer noch mit der unterwegs?«
Wir laufen. Drehen uns um und laufen. Es ist eine Kapitulation,
das wissen wir, und er weiß es auch. Er lacht so laut hinter uns her, dass
ich glaube, die Fenster würden zerspringen. Und dann hören wir
noch, wie eine Tür zuschlägt. Und die Stimme vom Cafébesitzer.
»Macht, dass ihr hier wegkommt, ihr habt hier vor meinem Lokal
nichts verloren. Los, verschwindet!«
Sie buhen und schimpfen.
»Ich gebe euch drei Minuten. Sonst hole ich die Polizei.«
Wir laufen so schnell, dass wir nicht mehr hören, was dann passiert.
WV
Heute Nacht liege ich das erste Mal seit so langer Zeit wieder in meinem Bett und denke an den Märchenwald. Und ich weiß, wenn ich
ihn betreten würde, wäre er ganz anders. Gefährlicher. Die Welt da
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draußen hat sich verändert. Und die drin ebenfalls. Wir spiegeln
einander, der Wald und ich. Das hat mir Frau Wischmann mal erklärt.
WV
Donnerstag ist Frau-Wischmann-Tag.
»Viel los?«, sagt sie. Ich nicke.
Ja, so kann man das zusammenfassen.
»Dann fangen wir einmal an, ein wenig zu ordnen.«
Ich bin so glücklich, so unendlich glücklich, dass jemand sagt, man
kann diese ganze irre Schweinerei, die mein Leben gerade ist, wieder
ordnen. Und so, wie sie es sagt, glaube ich es ihr sogar. Na ja. Fast. Wir
machen mehrere Spalten. Familie steht über der einen. Schule über einer anderen. Liebe über der dritten. Ich bin kurz nicht sicher, wen ich in
der dritten Spalte eintragen sollte. Laura oder Markus. Oder Kassandra.
Wäre Frau Wischmann eine Magierin, würde sie mit ihren Händen
alle scharfkantigen Bruchstücke meines Lebens auf einem Tisch aus
reinem Kristall herumschieben und mit einem gehauchten Zauberspruch wieder in eine sanft glühende Fläche schmelzen lassen. Bis der
nächste Patient läutet und ich meine Siebensachen packe und mit der
Liste, die wir erstellt haben, wieder rausgehe. Auf die Straße. In den
Regen. Und dann in den Bus.
Im Bus schaue ich immer wieder nach, ob die Worte, die wir geordnet haben, noch immer da sind. Ich halte mich an dieser Liste fest.
Vielleicht ist sie ja wirklich magisch, und alles löst sich in drei einfach
zu ordnende Spalten auf und ist in perfektem Gleichgewicht. Es
schaut so einfach aus, wenn Frau Wischmann ordnet.
Und es ist so viel schwieriger umzusetzen.
»Familie: Mama in Therapie«, steht da.
So simpel. Und ich habe keine Ahnung, wie ich es zustande bringen soll.
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»Familie: Rami in Therapie.« Das wäre schon leichter.
»Schule: Was braucht Madina, um sich gut für die Schule vorzubereiten?« Ruhe brauche ich. Und Mama in Therapie. Seufz. Mit dem
Bild einer Katze, die sich in den Schwanz beißt, steig ich aus. Wenn es
dunkel ist, steige ich immer am Hauptplatz aus, weil von hier der Weg
zwar etwas länger ist, aber dafür gut beleuchtet. Ich mag dunkle Wege
immer noch nicht. Das kann man nicht so leicht abschütteln, auch
wenn man weiß, dass hier nichts passiert. Mich keiner überfällt, kein
Scharfschütze zwischen den Bäumen herausfeuert, keine Bomben
fallen, die Häuser auseinanderreißen und Menschen und Tiere. Lauras Haus steht nicht mitten im Ort, ist aber auch nicht so abgelegen
wie unsere Flüchtlingsunterkunft früher. Das ist eigentlich eine totale
Verbesserung, und ich genieße sie. Ich steig also mit dem immer noch
zufriedenen Gefühl, um wie viel besser wir es jetzt haben und was
für ein Glück es ist, Laura zu kennen, aus und gehe an der Statue am
Hauptplatz vorbei. Irgendein Held der Gegend mit wehendem Mantel aus Stein, ein paar Blätter treiben über den Asphalt, es regnet nicht
mehr. Ich geh an der Statue vorbei und bemerke aus dem Augenwinkel, dass jemand einen Spruch mit roter Farbe auf den Granit gesprüht hat.
AUSLÄNDER RAUS.
WV
»Was machst du denn für ein Gesicht?«, hakt Markus nach. Ich habe
den ganzen Abend nichts gesagt. Dieser Spruch brennt sich in mich
ein wie ein böser Fluch. Er beschmutzt mich. Ich trau mich nicht,
Markus etwas davon zu erzählen. Es ist mir peinlich. Es sollte eigentlich dem Idioten peinlich sein, der das verfasst hat. Und nicht mir.
Aber: Da ist dieses Gefühl, und es geht nicht weg.
»Ist es wegen deiner Mutter? Oder wegen Rami?«
Ich schüttle den Kopf. »Ist es wegen mir?«
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Ich lächle. »Nein …«
»Oder wegen Laura? Lass sie spinnen. Sie beruhigt sich schon wieder.«
Ich blicke hoch. Er lächelt wirklich süß. Er IST süß. Wirklich. Ich
bin in diesem Augenblick so froh, ihn zu haben, wie selten zuvor.
Es macht mich ein bisschen ruhiger. Stärker. Ich lehne mich an seiner Schulter, um mir Kraft zu holen. Ich will ihm vertrauen. Das sollte
man doch, wenn man zusammen ist. Da sollte man sagen, was scheiße
ist, sogar das, was einen innerlich vergiftet und erniedrigt und sich anfühlt wie Kackespritzer im Gesicht, die man abbekommt, wenn man
mit dem Fahrrad durch einen Kuhfladen brettert, und man hat keine
Schutzbleche am Fahrrad dran. Ich erkläre jetzt nicht genauer, warum
ich weiß, was dann passiert. Lauras Rad hat nämlich keine. Und ich
sag dann endlich trotz all meiner Widerstände:
»Auf die Statue am Hauptplatz hat jemand ›Ausländer raus‹ geschrieben. Ich hab es beim Vorbeigehen gesehen.«
Er ist vollkommen unbeeindruckt. Er fischt in der Packung Popcorn nach besonders schönen Stückchen.
»Das entfernen sie in ein paar Tagen sowieso wieder«, sagt er und
stopft sie sich in den Mund. »Das ist doch egal. Nimm es dir nicht so
zu Herzen. Das ist doch reine Energieverschwendung.«
Und er greift nach der Popcornpackung und hält sie mir hin.
»Magst du?«
Ich rücke ab. Ob er das wirklich so meint, wie er es sagt? Ich kann
es nicht glauben.
»Ich kotz mich an, wenn ich das jetzt esse.«
Er sieht mich an, zweifelnd, ob er das Richtige gesagt hat, ein bisschen hilflos.
»Denk doch nicht mehr dran. Wenn es dich kränkt, dann haben
die ja ihr Ziel erreicht. Steh einfach drüber.«
101
Und er umarmt mich und zieht mich wieder zu sich hin, will mir
ein Bussi auf die Stirn drücken, sein Atem riecht nach Popcorn. Mich
ekelt es plötzlich. Es ist nicht mehr so wie vorhin zwischen uns. Irgendwann, denke ich, irgendwann erzähle ich ihm, was diese roten
Worte auf grauem Stein für mich wirklich bedeuten. Es ist immer etwas anderes, wenn du »Ausländer raus« liest und du bist einer, der von
hier kommt. Und nicht mitgemeint.
Ich stehe auf und gehe rüber zu Laura. Laura hängt vor dem Fernseher mit einem fast leeren Rieseneisbecher in der Hand und einem
großen Löffel und so verdächtig geröteten Augen. Ich klettere zu ihr
ins Bett. Sie ist schön warm und riecht gut. Sie rückt näher, und in
dieser Wolke Vertrautheit habe ich nicht mehr das Gefühl, dass ich
weinen will. Ich seufze, sie seufzt auch. Wir müssen nicht reden. Wir
wissen einfach, dass wir uns nah sind.
Nach ein paar Minuten hält Laura mir den Becher hin.
»Magst du auch?«
»Das Eis ist geschmolzen.«
»Es schmeckt noch okay.«
»Ich mag kein geschmolzenes Eis. Wieso wollt ihr mich eigentlich
dauernd mit etwas füttern.«
Sie schaut in den Becher und fährt nachdenklich mit dem Finger
in der Creme herum.
»Wer?«
»Na, du und dein Bruder. Ich bin kein Haustier.«
»Stimmt, du gehst selbst aufs Klo, und ich muss nicht mit dir Gassi
gehen.«
»Ich scheiß dich gleich an.«
Da lacht und weint sie plötzlich gleichzeitig. Und sagt dann: »Ich
hab dich so lieb.« Und als ich nichts darauf sage, fügt sie noch hinzu:
»Liebe ist scheiße.«
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Also doch ein Typ, denke ich mir. Warum macht sie denn so ein
Theater draus, das hatten wir doch schon ein paarmal, und es hat
nichts an unserer Freundschaft verändert.
WV
»Es ist besser, wenn wir eine Pause machen.«
»Ich möchte vielleicht eine Pause machen.«
»Es tut mir leid, aber ich brauche mal Zeit für mich.«
Alle drei Zettel habe ich zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen.
103
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Wir fahren Bus, es regnet, wir teilen uns ein Paar Kopfhörer und stecken unsere Köpfe zusammen, damit das Kabel sich nicht spannt. Die
Regentropfen malen ein Labyrinth auf die Fensterscheibe, das vom
Wind in wegstiebende Streifen hinter den Bus verschoben wird. Neben uns sitzt diesmal keiner, der zuhören könnte.
Und ich frage Laura endlich: »Wer war denn das, mit dem du ausgegangen bist?«
Sie wird bleich. Ich sehe förmlich, wie die Farbe um ihre Nasenspitze herum verschwindet. Es tut mir fast leid, sie so erschreckt zu haben. Sie sieht aus dem Fenster. Schluckt und sagt dann: »Ach, jemand
wirklich Unwichtiges.«
Dann schließt sie die Augen kurz. Als ob sie zweifeln, als ob sie
überlegen würde.
»Wir haben doch so viele blöde Jungs schon erlebt«, muntere ich
sie auf. »Den überleben wir auch noch. Es muss dir nicht peinlich
sein, Laura, echt. Kein Grund zur Sorge!«
Da dreht sie sich weg und sagt nichts mehr, bis der Bus vor der
Schule hält.
WV
104
In der Nacht träume ich wie schon oft. Von Asche und Feuer, und von
Nebel. Ich irre in einem Labyrinth umher, auf aufgeheizten Steinquadern,
die durch meine Sohlen brennen, ich verliere meine Schuhe und laufe in
Socken weiter, die Wände verschieben sich ständig, es ist unmöglich, einen
Ausweg zu finden. Ich irre umher, und irgendwo in den Tiefen der verworrenen Gänge heult ein verängstigter Hund, und ich weiß, dass er mein Herz in
seiner Brust trägt. Ich will es ihm aber nicht wegnehmen müssen, ich halte
meine Handflächen gegen meine Brust und spüre kein Pulsieren. Ich will
ihn finden. Aber nur, um ihm zu helfen. Mein Herz kann er behalten. Als
die Hitze vom Boden bis in meinen Kopf gestiegen ist und ich befürchte,
bald zu glühen, wache ich auf. Meine Stirn ist klatschnass. Ich habe Fieber. Mein Gesicht fühlt sich an wie ein Pfannkuchen, den man auf
dem Herd vergessen hat.
»Mama«, rufe ich leise, bevor ich noch so richtig wach bin. »Mama,
hilf mir.«
Dann bin ich ganz wach und weiß, ich muss jetzt selbst aufstehen
und mir Wasser holen. Oben im ersten Stock hat Kassandra mich gehört und bellt, aber sie kommt nicht raus, Laura hat die Tür fest zugemacht.
WV
Ich verpenne. Mein Wecker reißt mich erst bei der dritten Runde aus
dem Schlaf. Draußen rezitiert meine Tante ihre Hausaufgaben mit der
Hingabe einer Priesterin – laut, melodisch, unglaublich leidenschaftlich.
»Anna geht einkaufen«, dröhnt es aus dem Bad, vermutlich
schminkt sie sich gerade. Früher hat sie sich stundenlang im Bad eingeschlossen und sich die Haut blutig gekratzt. Seit wir hier wohnen,
nicht mehr.
»Peter wohnt in einer großen Stadt.«
Ihr »Peter« klingt ganz seltsam, daran sollte sie noch feilen, denke
105
ich und schlafe wieder ein. Meine Mutter steckt nur kurz den Kopf in
unser Zimmer rein, weil Rami aufstehen muss. Ich sag, dass ich mich
krank fühle. Meine Tante fragt mich, ob ich etwas brauche.
»Nein«, sage ich. Ich brauche nichts. Ich will nur ein bisschen schlafen. Laura klopft nur wenig später an.
»Ich bin krank«, nuschle ich ihr durch die Tür zu. »Bleib bloß weg
von mir.«
»Willst du Kassandra haben?«
Was für eine Frage. Ich will immer Kassandra haben, wenn es geht.
Sie legt sich zu mir und wärmt mir die klammen Füße. Meine Tante
hat immer noch einen Mordsrespekt vor ihr. Susi wird später die
Gassirunde machen müssen. Das kriegt meine Tante einfach nicht
hin. Kurs hin oder Therapie her. Markus meldet sich gar nicht.
Laura fährt in die Schule, und meine neu aufblühende Tante geht
mit Rami in den Kindergarten. Er ist ein bisschen besorgt, ich sehe
eine kleine steile Falte auf seiner Stirn, er rennt noch mal zurück und
sagt: »Ist es schlimm, wenn wir weggehen, Madina?«
Ich schüttle den Kopf. Rami verschwindet wieder. Um gleich darauf beim Fenster aufzutauchen wie so ein Clown aus der Schachtel.
»Wirklich wirklich?«
»Wirklich.«
Er kommt ein drittes Mal zurück: »Gib Kassandra ein Bussi von
mir.«
Einen Augenblick später erscheint sein Kopf schon wieder im
Fenster. »Nein! Besser gib ihr keines! Du steckst sie noch an!«
Sogar mein kleiner verrotzter Bruder macht sich mehr Sorgen um
den Hund als meine Mutter um mich. Ich werde plötzlich wahnsinnig wütend. Es sollte alles nicht so sein, sondern ganz anders. Ich höre
zu, wie sich der Lärm draußen legt, und versuche zu dösen. Mein Kopf
ist eine große, sehr heiße Glocke. Alles ist nebelig. Es ist echt schlimm,
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ganz allein damit zu sein. Aber ich will Mama nicht rufen. Meine
Mutter hat wohl wieder ihre Pseudo- Toten-Wache in der Küche begonnen. Ich höre jedenfalls nichts von ihr. Ich fühle mich elend. Elender
als elend.
WV
Am Nachmittag kommt Rami, um Kassandra abzuholen, und bringt
mir ein selbst gemaltes Bild mit. Eine Figur mit schwarzen Locken in
einem Bett voller Blumen. Mit einem goldenen Topf darunter.
»Das bist du«, sagt er. »Du magst doch Blumen und so.«
»Danke, Rami«, krächze ich. Mein gemaltes Ich schaut ein bisschen
aus wie eine aufgebahrte Leiche. Ich kann nichts dafür, diese Bilder
von früher kommen einfach ungefragt hoch, wenn ich sie am wenigsten brauchen kann, und schieben sich wie eine beschissene Folie zwischen das Jetzt und das Heute.
»Und was ist das für ein Topf da?«
»Das ist, wenn du kotzen musst.«
»Und warum ist der aus Gold?«
»Weil wir jetzt reich sind.«
WV
Als ich in der Nacht wach werde und mein Mund trocken ist wie
Schleifpapier und ich vorsichtig aus dem Bett steige und in der Küche
stehe, wird mir plötzlich so schwindlig, dass ich das Gleichgewicht
verliere, mich am Tischtuch festkralle und alles mit mir reiße, als ich
falle. Es macht einen Höllenlärm. Meine Tante stürzt mit fliegendem
Haar aus ihrem Zimmer, hinterher meine Mutter mit artig geflochtenem Zopf, den sie sich jede Nacht macht, weil anständige Frauen
nicht mit offenem Haar herumrennen, nicht einmal in der Nacht aufs
Klo. Alles, was in mir drin ist, drängt mit aller Gewalt plötzlich nach
außen.
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Ich liege in den Scherben des Wasserglases und kotze. Ganz ohne
Ramis goldenen Topf.
Meine Mutter stürzt zu mir hin in einer Geschwindigkeit, die ich
schon lang nicht mehr gesehen habe. Ihre Hände sind kalt, ihre Arme
weich. Sie hebt mich an, ich lasse mein glühendes Pfannkuchengesicht in ihren Busen sinken, der irgendwie viel flacher ist als früher,
weil sie so dünn geworden ist.
»Ich bin so müde«, sage ich. »Ich kann nicht mehr.«
Und sie sagt: »Alles wird gut.«
WV
Am Nachmittag kommt Laura mit Kassandra, und Kassandra schleckt
mir über das ganze Gesicht, und ich fühle mich gleich um mehrere
Stufen besser. Dann rollt sie sich zu einem dunklen Kringel bei meinen Füßen zusammen und bewacht mich. Als Rami kommt, will sie
ihn nicht ins Zimmer lassen. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass mein
Hund viel von Privatsphäre hält. Davon kann man nie genug haben.
Echt. Und das sage ich auch.
»Das ist nicht dein Hund!«, brüllt Rami aus dem Vorzimmer. »Das
ist unser Familienhund!«
Und dann stampft er mit seinem Fuß derart heftig auf, dass Rumpelstilzchen vor Neid erblassen würde über die Intensität. Kassandra
springt hoch und wieselt zu ihm raus. Und er drückt sein Gesicht in
ihr Fell und sieht in diesem Augenblick so glücklich aus wie noch nie
zuvor. Jedenfalls so glücklich wie seit Jahren nicht. Seit der Krieg begonnen hat. Und da war er noch ein Baby. Dann sieht er ganz kurz
hoch und sagt etwas, das durch das Fell durch ganz gedämpft rauskommt: »Wir sind jetzt alle eine Familie. Alle.«
WV
108
In der Früh bringt meine Tante Rami in den Kindergarten. Als sie zurück ist, unterhalten sich Mama und Susi intensiv, ich höre sie bis runter. Amina gibt sich die größte Mühe zu übersetzen. Dann ziehen sie
sich sehr seriös an und fahren weg. Scheint etwas Wichtiges zu sein.
Laura schwänzt Schule und spielt Krankenschwester. Ich genieße das.
WV
Ich wickle mich in einen Kuschelpulli und wanke zum Briefkasten.
Wie immer ist da dieses Herzklopfen, bevor das Türchen aufschwingt.
Und dieser Stich, wenn kein Brief drin im Halbdunkel liegt. Jedes
Mal, wenn ich diese Tür verschließe, verschließe ich mein Herz mit.
Mama und Susi kommen zurück. Meine Mutter ist sehr aufgeregt, sie
hat gerötete Wangen. Sie waren auf dem Amt. Mama war das erste
Mal ohne mich auf dem Amt.
WV
Mama ist irgendwie verändert. Sie kommt zu mir und bringt mir Tee
und Zwieback, und sie legt die Hand auf meinen glühenden Kopf,
den Laura die Glühbirne nennt. Laura kommt vom Gassigehen zurück und hat schwarze scheußliche Farbflecken auf der Jeans, die sie
am liebsten trägt.
»Was ist das denn?«, frage ich.
»Keine Ahnung«, sagt Laura.
»Geht das wieder raus?«
»Keine Ahnung.«
WV
Am Abend höre ich Mama und Amina in der Küche über ihrem Tee
reden.
Meine Tante sagt: »Du wirst sehen, das wird dir guttun. Die Seele
braucht genauso Medizin wie der Körper. Schau mich an.«
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Und meine Mutter sagt nur: »Danke.«
WV
Zwei Tage später geht’s mir so weit gut, dass ich in die Schule kann.
Heute ist noch Sport am Nachmittag, es wird schon dunkel beim
Heimfahren, und wir steigen am Hauptplatz aus. Jemand hat den
Spruch »Ausländer raus« mit schwarzer Farbe übersprüht. Nur unten
rinnt noch etwas rot wie Blut unter der dunklen Farbwolke raus. Dasselbe Schwarz wie das auf Lauras Hose. Ich schiele hin und muss grinsen. Laura grinst auch. Sie hat mir ihre Lieblingsjeans geopfert.
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Im Sportunterricht klettern wir am Seil hoch, und ich bin die Beste.
Und ich muss mich nicht mehr schämen, weil meine Sporthose zu
groß ist und über meinen Hintern rutscht. Alles sitzt, alles passt, ich
habe einen Körper, der sich nicht mehr unterscheidet von all den anderen. Also, nur ein bisschen in der Farbskala.
»Du siehst aus wie dieses Model da«, sagt Sabine und zeigt mir
ein Foto auf dem Handy. Sie klingt etwas neidisch. Ich kenne diese
Models aus dem Fernsehen nicht. Und sie sind mir eigentlich egal.
Aber Sabines Lob ist mir wichtig. Noch kenn ich das nicht, dieses
Gelobtwerden. Nicht gut genug jedenfalls. Meinetwegen soll sie mich
mit einer Armee von Models vergleichen, auch wenn ich nicht eine
einzige Frau darunter kenne. Egal.
WV
Heute waren wir alle drei bei Frau Wischmann in der Praxis. Rami
hat, während wir gesprochen haben, alle Regale durchsucht, unter
dem Sofa eine Spielkiste gefunden und alle Spielsachen rausgeworfen. Und ich: habe wieder übersetzt. So wie bei Papa. Meine
Mutter ist definitiv anders drauf, sie hört zu, zumindest versucht
sie es. Nie würde sie allerdings zugeben, dass etwas bei uns nicht
stimmt.
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»Alles ist ganz wunderbar«, wiederholt sie ein ums andere Mal und
weint dabei fast. »Es ist schön. Ich bin dankbar.«
»Ich muss aufs Klo«, schreit Rami, und meine Mutter rennt mit
ihm raus. Zu spät. Rami, Klopapier in der Hose, hat ein rotes Auto
mitnehmen dürfen und einen Termin. In einer Spielgruppe. Meine
Mutter hat zugesagt. »Ich habe jetzt zwei Kindergärten«, gibt Rami
an. »Und du nur eine Schule.« Das klingt wie Zweitauto oder Zweitwohnung.
WV
Bei der King ist der Tee vorbereitet, wie beim letzten Mal. Wir üben
Englisch. Da bin ich immer noch die Schwächste von allen. Meine
ganze Energie ist draufgegangen, in Deutsch aufzuholen, und es fällt
mir immer noch sehr schwer, eine dritte Sprache in mein Hirn zu
hämmern, als ob dort nur Platz wäre für zwei. Die King ist streng. Sie
hat sich in ihren Schal gewickelt wie eine karierte Mumie und hört
jedem meiner gestammelten Sätze mit verhängnisvollem Schweigen
zu. Schließlich legt sie das Buch hin und steht auf.
»Das ist immer noch viel zu schwach. Du musst dich anstrengen.«
Ich würge die Wut hinunter. Sie will mir ja helfen.
»Ich kann nicht so viele Sprachen auf einmal lernen«, rutscht es
mir raus. »Ich hab da einfach nicht genug Raum dafür. Mein Kopf ist
voll. Das geht nicht.«
Die King beugt sich vor. »Doch, hast du. Hatte ich auch. Es gibt
Menschen, die zwei Dutzend Sprachen sprechen. Du musst den Platz
nur schaffen.«
Sie steht auf, nimmt ein in Leder gebundenes Buch aus dem Regal
hinter uns und bringt es zum Tisch. Ein altes Fotoalbum.
Ein dicker Herr in feinem Anzug mit Stecktuch und Ledertasche.
Und eine sehr dünne junge Frau, untergehakt an seinem Arm. Kleid
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mit Karo. Hochgestecktes Haar, pferdelanges Gesicht, hängende Spitznase. Die King.
»Schau mal, mein Mann war Dolmetscher. Er hat sieben Sprachen
beherrscht.« Sie streichelt über das Foto. »Es ist möglich. Drei Sprachen sind möglich.«
»Sie haben ein schönes Kleid an auf dem Foto.«
Sie streicht den Schal glatt. »Das ist echter Tartanstoff«, fügt sie
stolz an. »Wenn du dieses Schuljahr gut abschließt, schenke ich dir
auch so einen.«
Ich lächle. Ich finde den Schal schön an ihr – an mir würde er
ziemlich seltsam aussehen.
»Weißt du, was du nach der Schule machen willst?«, fragt sie mich.
Das hat sie mich schon mal gefragt und nicht geglaubt, dass ich es
ernst meine. Trotzdem nicke ich und bleibe dabei: »Ja. Ich will Medizin studieren.«
Die King runzelt ganz leicht die Stirn. »Ach, Medizin … na ja«,
seufzt sie und schiebt mir die nächste Teetasse zu. »Und jetzt – noch
einmal von vorne bitte.«
Am Ende der Stunde hat sie mich sogar mit Lob überschüttet und
ein bisschen mit dem heißen Tee, weil ihre Hände die Teekanne nicht
gut halten konnten. Sie hat sich entschuldigt und mich mit einer bestickten Serviette abgetupft. Und mich mit deutlich weniger Zusatzübungen als letzte Woche nach Hause entlassen.
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Am Abend lehnt sich Rami plötzlich an mich, wie er es schon lang
nicht mehr gemacht hat. »Glaubst du, Papa kommt zurück?«
»Vielleicht«, sage ich. Und ich glaube es in diesem Moment sogar.
Vielleicht.
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Ich erwische meine Mutter dabei, wie sie in der Früh Tabletten einnimmt. Meine Mutter hat noch nie Medizin gebraucht. Fast nie. »Was
ist das?«, frage ich.
Und sie sagt: »Das ist zur Stärkung.«
WV
Am glücklichsten bin ich eigentlich, wenn ich mit Kassandra im Wald
herumstreifen kann. Allein. Und ohne erklären, lernen oder trösten
zu müssen.
WV
Und ich liebe es, wenn ich, Laura, Markus und Kassandra auf dem
Sofa in Susis Wohnzimmer abhängen, das so weich ist, dass man
glaubt, es würde einen verschlingen. Und einfach blöd fernschauen.
Ja, und ein bisschen Kekse oder Chips sind auch fein.
WV
Mama hat die ganze Nacht durchgeschlafen. Das war schon lange
nicht mehr so.
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Die ganze Woche war richtig schön. Könnte öfter so sein. Ich würde
mich gern daran gewöhnen. Echt.
Aber diesen Donnerstag bin ich wieder allein bei Frau Wischmann, und als ich mit dem Bus nach Hause fahre, ist da plötzlich
wieder so eine Versammlung auf dem Hauptplatz. Mit Plakaten. Und
diesmal sind sie nicht mehr vier, sondern sechs. Eine junge Frau mit
dottergelb blondiertem langen Zopf ist auch dabei. Ihr Haaransatz ist
fast so schwarz wie meiner. Sie sind etwas lauter als in der Vorwoche,
weil sie zwei Stimmen mehr haben. Sie sind auch im Bus noch gut zu
hören. Sie haben auch ein größeres Transparent dabei als letztes Mal.
Ich sehe sie aus dem Busfenster und steige nicht aus. Ich ducke mich,
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damit sie mich nicht sehen, während der Bus an der Haltestelle steht.
Die paar Minuten Wartezeit fühlen sich an wie eine verdammte kleine
Ewigkeit, und mein Herz dröhnt in den Ohren. Gleich sehen sie mich
hier drin sitzen. Und dann … Aber wegzusehen schaffe ich auch nicht.
Sonst habe ich endgültig das Gefühl, dass mir die beschissene Scheißsituation komplett entglitten ist. Ich stelle die Schultasche also aufrecht und schiele hinter der Tasche hervor. Der Cafébesitzer geht wieder raus, und ich höre ihn wahnsinnig laut schreien. Er will sie nicht
hierhaben, verdammt noch mal. Und er droht erneut mit Polizei. Ich
balle so fest die Fäuste, dass die Knöchel ganz weiß werden. Als wir
weiterfahren, endlich, traue ich mich erst, zum Handy zu greifen. Ich
rufe Laura an. Ich weine nicht. Laura sagt, dass sie da ist, wenn ich
nach Hause komme. Ich komme nicht auf die Idee, sie zu bitten, mich
abzuholen, und als mir das einfällt, ist es schon zu spät, und ich müsste
im Dunkeln auf sie warten, was mir ebenso schwerfallen würde, wie
allein zu gehen. Ich laufe also durch die Dunkelheit nach Hause und
könnte schreien vor Wut, aber ich trau mich nicht zu schreien. Laura
wartet auf mich vor dem Haus. Kassandra springt auf und rennt mir
entgegen.
»Ich hab sie gesehen«, sagt Laura grimmig. »Diese Arschlöcher. Das
kann doch nicht so weitergehen.«
Ich schweige. Markus kommt dazu und versucht uns aufzumuntern. Über der Schulter trägt er eine Tasche, in der etwas klirrt.
»Ach, die nimmt doch kein Schwein ernst. Das sind Loser, die zu
viel Freizeit haben«, sagt er. Und als er meinen Blick sieht, der allen
Zweifel dieser Welt in den Pupillen fokussiert, wiederholt er das einfach noch mal, noch überzeugender.
»Du kannst es noch dreimal sagen. Ich glaub es nicht.«
»Und wir können auch sprayen.«
»Und was, wenn die Polizei nicht die erwischt, sondern uns?«
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»Wir korrigieren ja nur deren Schweinereien.«
Das überzeugt mich nicht. Wenn ich jetzt Ärger mit der Polizei
bekäme, wäre das so ziemlich das Letzte, was meine Familie brauchen
könnte. Echt. Warum kann der Idiot nicht einfach kotzen und verschwinden, wie beim ersten Mal. Auf dem Jahrmarkt. Es fühlt sich wie
eine Ewigkeit an, seit der Sommer zu Ende ist, und all seine Leichtigkeit ist verschwunden. Nicht, dass sie sehr groß gewesen wäre, diese
Leichtigkeit. Jedenfalls für mich.
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Man soll nie sagen, etwas ist ganz übel. Weil das Schicksal sich in den
nächsten Stunden mit Sicherheit darum bemühen wird, dir zu beweisen, dass es noch viel schlimmer geht. Es ist irgendwie so eine Versuchung, der das Schicksal nie widerstehen kann. Wenn du glaubst,
das war schon der Schicksalshintern mitten im Gesicht, dann kommt
gleich danach der ganze in voller Pracht, damit du erkennen kannst:
Das davor war nicht mal die Hälfte.
In der Schule war eine Stunde quälender als die andere. Und die
King, die King hat offenbar beschlossen, mir das Leben wirklich zu
vermiesen nach Leibeskräften. Dreimal so streng war sie auf einmal.
Nie gelobt hat sie mich, egal, wie viele richtige Antworten ich ihr
gab. Und nach der Deutschstunde hat sie mich auch noch ins Lehrerzimmer beordert, als wäre ich eine Verbrecherin.
»Wir haben noch viel vor uns«, hat sie gesagt.
Ich hab gequält gelächelt und mir gedacht: Du vielleicht. Ich
nicht.
»Viel vor und wir haben nicht mehr viel Zeit. Hier.«
Und sie hat mir einen ganzen Stapel Extraaufgaben in die Hand
gedrückt. In Deutsch und in Englisch auch noch. Schluss mit lustig.
Jetzt gibt sie Vollgas. Wär sie ein Rennfahrer, wär sie so einer, der alle
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anderen an die Wand drückt beim Überholen, bis die Funken fliegen.
Wir haben doch erst Schulanfang, verdammt noch mal!
»Ich will diesen Stapel in zwei Wochen abgearbeitet sehen«, beschied sie mir. Und sah mein Gesicht und wurde noch ruppiger. »Und
ich will keine Ausreden hören. Keine. Verstehst du?«
Und was noch, hab ich mir gedacht und nichts gesagt und mich
auch noch über mein Schweigen geärgert. Stroh zu Gold spinnen vielleicht? Mach ich. Ist ganz easy, wirklich. Ich hab mich so geärgert, dass
ich erst gegen Ende des Gesprächs gemerkt habe, wie dünn sie geworden ist. Als sie sich umwandte und das sonst immer perfekt sitzende
Kostüm verrutschte und Falten schlug.
»Gehen wir ins Café?«, hat mich Markus am Abend gefragt. Und
ich wäre wirklich gern gegangen. Aber nein. Ich hatte ja die schönen
Zusatzaufgaben zu bewältigen.
»Ich helfe dir«, hat Markus gesagt. »Englisch mag ich.«
Und als wir so im Wohnzimmer geübt haben, hatte ich wieder das
Gefühl: Es wird schon wieder zwischen uns. Und dann, als wir fertig
sind mit dem ersten Blatt, fragt er mich wieder. Ob ich raufwill. Und
ich raffe mein Zeug und steh wortlos auf und gehe raus. Manchmal
kann mich die ganze Welt mal. Heute zum Beispiel.
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Und es ist natürlich ganz mein Glück, dass ich immer donnerstags bei
Frau Wischmann bin. Weil die Vollärsche offenbar jetzt auch immer
am Donnerstag aufmarschieren. Als ich nämlich heute heimgefahren
bin, habe ich sie bereits von Weitem gehört. Und sie waren bereits zu
zehnt. Und als der Cafébetreiber rausgerannt ist, um sie wie üblich
zu beschimpfen und wegzujagen, hat der Huper gesagt: »Verpiss dich.
Wir sind eine angemeldete Demonstration«, und der Wirt musste
zum Rückzug blasen.
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Ich sehe ihn immer noch ratlos auf der Straße stehen, als der Bus
anfährt.
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Komme aus der Schule heim und will ins Bad, um mir den Turnschweiß abzuwaschen. Die Tür ist zu. Ich reiße an ihr, mehrmals. Bis
meine Tante aus dem Bad raus flüstert: »Ich brauche noch etwas Zeit.«
Wie früher im Flüchtlingsheim. Und als sie rauskommt, sehe ich, dass
ihre Haut wieder aufgerieben ist und feuerrot glüht. An den Händen,
am Hals. Sie duckt sich vor mir weg in den Schatten, ich sehe es trotzdem. Alles, was wir abschütteln wollen, kommt ungefragt zurück.
Immer wieder. Man muss die Welle über sich rollen lassen. Und dann
wieder aufstehen.
Und dann denk ich mir: Unsere Geheimnisse voreinander machen
unser Gemeinsames kaputt. Ich will nicht sein wie meine Eltern. Ich
will Dinge ansprechen können.
Ich muss mit Laura reden. Es geht nicht so weiter. Sie ist mein Anker hier. Mehr als alle anderen. Ich vertraue ihr. Ich möchte, dass es ist
wie früher. Ich muss mich motivieren wie so ein Skispringer vor dem
Start. Ja, vielleicht segle ich jetzt gleich auf die Schnauze. Aber vielleicht gewinne ich auch Gold! Laura reagiert nicht auf mein »Laura,
Laura!«-Geschrei von unten. Ich geh also hoch. Ich mach Lauras Tür
auf, ohne anzuklopfen. Sie sitzt über ihren Schreibtisch gebeugt, sie
fährt zusammen, sie hat mich nicht kommen hören. Springt auf,
schnappt ihre Lederjacke, die über dem Sesselrücken hängt, und wirft
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sie über den Tisch. So unauffällig. Echt wahr. Ich könnte lachen, wenn
das alles nicht so absolut schrecklich wäre. Ich kann keine Witze darüber reißen, dass sie mir nicht mehr vertraut. Und ich habe auch gar
keine Ahnung, warum. Ich habe doch nichts getan! Nein, jetzt kann
ich gar nicht mehr dazu schweigen. Ich will sie nicht verlieren, will
nicht, dass unser Gemeinsames unter den Händen zergeht wie Schnee
im warmen Sonnenlicht und davonfließt.
»Ich möchte, dass du mir endlich sagst, was verdammt noch mal
los ist«, sage ich und stelle mich Laura in den Weg. Ich will eigentlich
schreien, aber das gelingt mir vor lauter Angst nicht, meine Stimme
wird eher seltsam hoch und fipsig. Es ist so lächerlich, ich hab so viel
erlebt und so viel gemacht, und bei einem simplen Gespräch versagt
mir plötzlich die Stimme. Vielleicht, weil Laura das ist, was den Mittelpunkt meines Hier-Ankommens ausmacht. Ohne Laura als Epizentrum der neuen Madina, wer wäre ich dann? Die noch neuere
Madina, die einsam ist? In diesem Augenblick wird mir auch mit echt
schmerzhafter Genauigkeit endgültig klar, dass Markus mir nie so
wichtig war wie Laura. Nie so wichtig sein wird. Mir ist ab sofort eigentlich klar, dass wir nicht mehr lange zusammenbleiben werden.
Aber ich schiebe das weg. Augenblicklich.
»Laura!«, schreit Susi von unten. »Du hast gesagt, du kommst jetzt
und gehst mit Kassandra! Vor zehn Minuten schon!«
Laura hat ein Gesicht wie ein Tier, das in die Ecke getrieben wurde,
wenn ich noch näher komme, weiß ich gar nicht, was sie macht. Mich
wegstoßen. Mich beschimpfen. Gleich knurrt sie und fletscht die
Zähne wie ein Tiger in der Falle.
»Jetzt komm endlich«, ruft Susi noch mal. Laura packt ihre Lederjacke.
»Laura! Was dauert denn so lange?«
»Wir reden später drüber«, sagt Laura, wirft die Lederjacke über die
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Schulter, und schon hat die Tür hinter ihr zugeschlagen. So, dass der
ganze Türrahmen wackelt und die Farbe von der Wand bröselt. Der
Schlüssel fällt aus dem Schloss und auf den Teppich. Dort, wo Lauras
Jacke war, steht die Schublade offen. Da hat sie offenbar die Jacke
drübergelegt, damit ich diese offene Schublade nicht sehe und das
aufgeschlagene Tagebuch, das sie gerade noch in den Händen hielt.
Ich weiß, dass man das in einer Freundschaft nicht tun darf. Ich
weiß es. Und ich kann trotzdem nicht anders, als Lauras Tagebuch aus
der Schublade zu ziehen. Das ist ein totaler Vertrauensbruch zwischen
uns. Ich würde es hassen, wenn jemand mein Tagebuch hinter meinem Rücken öffnet. Ich habe meines auch immer gut versteckt, vor
allem, als wir noch in einem Zimmer gelebt haben: alle, mein Vater,
meine Mutter, Rami, meine Tante. Rami hat sich immer um mein
nachtblaues Samttagebuch herumgeschlichen, und ich habe es in all
der Zeit geschafft, es vor ihm versteckt zu halten. Glaube ich jedenfalls. Weil: Wenn er sich sehr geschickt verhalten hat, hätte ich es gar
nicht mitbekommen. Wobei Rami sich eigentlich nie geschickt verhält, weder damals noch jetzt. Nein, ich kann da recht sicher sein, dass
Rami nie das getan hat, was ich hier tue. Allein die Vorstellung, dass
da jemand gegen meinen Willen in meine innersten Gedanken blickt,
bereitet mir Übelkeit. Und darum tut es mir echt leid. Es tut mir leid.
Aber ich kann mich nicht stoppen. Meine Hände zittern, die Seiten
zittern mit. Ich habe solche Angst, dass sie wiederkommt und mich in
flagranti erwischt, quasi am Ort des Verbrechens mit Blut an den Händen, dass das Buch mir fast aus den Fingern gleitet.
Unten bellt Kassandra, und ich höre Schritte.
Schnell. Der letzte Satz ist noch nicht fertig geschrieben.
»Haben uns doch noch wieder versöhnt! Endlich. Treffe S gleich
beim Teich. Ich bin so aufgeregt, dass …«
S. Dieser mysteriöse S, wegen dem unsere Freundschaft plötzlich
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verblasst und unwichtig geworden ist. Ich kenne den noch gar nicht,
und schon hasse ich ihn. Er macht alles kaputt, was für mich neues
Zuhause ist, dieser beschissene S.
Möge ihn der Blitz beim Kacken treffen.
Und mit der Wut kommen auch blöde Ideen. Sie will mir also alles
verheimlichen und lügt mich an? Obwohl ich immer alles mit ihr
geteilt habe?! Gut. Dann sehe ich mir das eben ohne ihre Einwilligung an. Pech gehabt, Laura. Mit der besten Freundin geht man nicht
so um. Tut man einfach nicht. Ich lege das Buch vorsichtig wieder
zurück und versuche, es so zu positionieren, dass Laura nichts bemerkt.
Und dann passiert es einfach, ohne dass ich wirklich eine Entscheidung getroffen habe, während ich das hier schreibe: Ich beschließe,
Laura zu folgen … In einem Winkel meiner Seele ist mir das echt
peinlich. Aber meine Wut ist so viel lauter als diese kleine Stimme, die
mich darauf aufmerksam macht, dass das, was ich vorhabe, ganz, ganz
schrecklich ist.
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Ich gehe aus der Haustür hinaus und zügig in den Wald. Auf den Weg,
der zum Teich führt.
Da liegt ein frischer Hundehaufen.
Hier ist sie also grad durchgekommen mit Kassandra.
Es wird langsam dunkel. Gut geplant, Laura. Ich zwinge mich weiter. Die Wut ist größer als die Angst. Der Wald wird kurzfristig zum
Märchenwald, in dem hundert Augen meine Bewegungen verfolgen.
Vielleicht schleichen gerade Riesenaffen über meinem Kopf und geflügelte Monster warten nur auf eine Gelegenheit, auf mich herabzustoßen. Das alles wegen S. Ich beeile mich. Von ganz weit weg höre ich
Kassandras Gebell und Lauras Lachen. Laura ist also beim Teich, wie
vermutet. Jetzt die Paradiesvögel mit den bunten Federn im Schweif,
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die mich im Märchenwald begleitet haben … nur ein paar! Ach, wäre
das schön. Aber nein, stattdessen sinkt die Sonne langsam. Der Teich
ist schon in Sichtweite. Es dämmert, und bald werde ich die Hand vor
Augen nicht mehr sehen können, und dann war alles umsonst. Ich
sprinte los. Ich steige gleich darauf auf einen Zweig und fahre zusammen. Langsam, langsam. Ich schleiche mich wie ein schäbiger Detektiv an den Teich heran. Die Sonne ist fast ganz weg. Mein lang gezogener Schatten auf dem Waldweg reicht fast bis zu dem Pärchen beim
Wasser, gleich werden sich unsere Schatten berühren und vermischen,
während die beiden immer noch keine Ahnung von meiner Anwesenheit haben. Eine Mischung aus creepy und romantisch.
Da steht Laura. Mit dem Rücken zu mir. Und Kassandra schnüffelt
im Gebüsch herum. Und hinter Laura steht jemand. Irgendwas ist daran komisch.
Das ist also der verfluchte S, denke ich mir. Endlich seh ich ihn.
Und ich schleich mich noch näher. Und als ich nah genug bin, sehe
ich, dass S kleiner ist als Laura und etwas dicker. Und lange kupferfarbene Haare hat. Und ein Kleid trägt.
Dann trete ich wieder auf einen Zweig, weil so ein Waldweg viele
Gelegenheiten dazu bietet, auf Zweige zu steigen, und Kassandra stellt
die Ohren auf und schnüffelt und wedelt, und ich trete mit einem intensiven Schweißausbruch den Rückzug ins Gebüsch an, bevor sie
Laura auf die richtige Spur bringt. Aber Laura ist sowieso viel zu sehr
damit beschäftigt, S zu küssen.
S wie Sophie. Die Sophie aus Lauras Traum.
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Wir sitzen im Schulbus. Laura hört Musik und bietet mir keinen Ohrstöpsel an wie sonst. Ich dreh mich von ihr weg. Ich kann ihr nicht ins
Gesicht schauen.
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Wieso kann sie mir nicht sagen, dass sie ein Mädchen küsst? Wieso?
WV
Ich habe Markus geküsst, seit langer Zeit wieder. Was Laura kann,
kann ich schon lang. Es hat seltsam geschmeckt.
WV
Heute hat es das erste Mal geschneit. Kassandras Pfotenabdrücke
schmelzen im Garten.
WV
Ich schleiche mich wie üblich zum Briefkasten. Heute ist alles anders.
Heute ist er nicht leer. Drin ist ein Brief. Er sieht nicht aus wie ein Behördenbrief. Weitergeleitet vom Flüchtlingsheim. Mit vielen Briefmarken. An uns adressiert. Ich hol ihn mit zitternden Händen raus. Er
kann nur von zu Hause sein. Ich verstecke mich im hintersten Winkel
des Gartens. Ich will ihn Mama nicht zeigen. Ich will das nicht noch
mal, dass so ein harmlos wirkender Brief mein ganzes Leben auf den
Kopf stellt wie der, den wir letztes Jahr bekommen haben. Dieser
Brief, in dem verlangt wurde, dass Papa in den Krieg zurückgehen soll.
Um meine Oma und meinen Onkel zu retten. Und diese Zeit, bevor
er sich entschieden hat. Obwohl ihn alle gewarnt haben, alle. Meine
Mutter. Meine Tante. Sämtliche Freunde.
»Du verschwindest dort, und niemand wird im Gegenzug überleben«, hat meine Mutter zu ihm gesagt. »Das ist eine Falle. Eine miese
Falle. Du stirbst ganz umsonst. Und du lässt deine Kinder im Stich.«
Das war das erste Mal, dass sie ihm offen widersprochen hat. Das erste
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Mal in meinem ganzen Leben. Und dann diese endlosen nächtlichen
Diskussionen in der Flüchtlingsunterkunft. Wo sie wirklich beide geglaubt haben, alle schlafen und keiner hört ihnen zu. Natürlich nicht.
Ich bin im Dunkeln gelegen mit zwei Ohren, so groß wie Satellitenschüsseln. Und das, was sie geredet haben, kam mir so unverständlich
vor, dass es auch Botschaften von Außerirdischen hätten sein können.
Es gibt so ein Programm auf der Erde, bei dem Menschen versuchen,
Botschaften von denen aufzufangen. Haben wir letztens in der Schule
durchgenommen. Tag und Nacht horchen diese Riesenohren ins All
hinaus auf der Suche nach Kontakt und nach Hoffnung. So wie ich
damals.
Und jetzt: wieder ein Brief. Wieder das Ungewisse. Wieder die
Hoffnung. Ich sitz mit dem Brief in der Hand da und friere und traue
mich nicht, ihn zu öffnen. Dabei habe ich seit Monaten täglich nach
diesem Brief gesucht. Auf ihn gewartet.
Vor meinem Kopf flirren Bilder.
»Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann verstorben ist«,
könnte zum Beispiel drinstehen. Oder: »Liebe Madina! Ich bin schon
auf dem Weg zu euch! Halte durch!«
Alles ist möglich. Das Schrecklichste und das Schönste. Solange
ich den Brief nicht aufmache, ist Papa vielleicht tot und vielleicht lebendig. Schließlich gebe ich mir einen Ruck, beiße mir auf die Unterlippe und öffne den Umschlag. Drin ist nur ein Blatt Papier. Und auf
ihm stehen nur zwei Sätze.
»Reise wird vorbereitet. Wir melden uns.«
Welche Reise? Wessen Reise? Wer ist »wir«? Ist das eine Betrugsmasche, oder werde ich verrückt? Oder erlaubt sich jemand einfach nur
einen schlechten Scherz? Mama ist nicht in der Verfassung, so etwas
zu lesen. Ich ruiniere in Sekunden alle ihre Fortschritte, wenn ich ihr
das zeige. Und meine Tante kann ihren Mund nicht halten. Die fällt
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also als Ansprechperson auch aus. Ich will den Brief niemandem zeigen, bevor ich nicht mit Frau Wischmann geredet habe. Frau Wischmann wird wissen, was zu tun ist.
WV
Ich kann die ganze Nacht nicht schlafen und drehe mich umher wie
so ein Grillhähnchen am Spieß.
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In der Früh ist meine Tante aufs Klo gegangen und hat mich im Bett
sitzen gesehen.
»Alles in Ordnung?«
Ich nickte.
»Schaut nicht so aus«, hat sie folgerichtig festgestellt. Weil wenn
sich jemand mit verzweifeltem Wachen in der Nacht auskennt, dann
ist es meine Tante. Die hat die letzten zwei Jahre so verbracht, nachdem mein Onkel ermordet worden ist. Nacht für Nacht am Fenster
des Flüchtlingsheims. Den Mond herbeirufend. So bewegungslos, als
wäre auch sie tot. Und wenn ich in der Nacht aus dem Schlaf hochgefahren bin wie jeder von uns am Anfang hier, habe ich sie vor dem
Fenster sitzen sehen: um Mitternacht oder um zwei Uhr morgens
oder um vier. Und nur das Mondlicht hat mir damals verraten, dass
sich ihre Brust hob und senkte, dass sie noch am Leben war. Deswegen
mochte ich es, wenn der Mond hinter den Wolken hervorkam. Ich
mochte den Mond. Ich mag ihn noch immer. Aber jetzt verrät er
mich. Ja, sie weiß, wenn jemand verzweifelt ist. Ich hab mich schnell
wieder hingelegt. Nur noch ein halber Tag, dann bin ich bei Frau
Wischmann.
WV
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Habe den Brief hergezeigt. Ich habe ihn x-mal zusammengefaltet, damit meine Mutter ihn ja nicht sieht. Oder Rami. Meine Tante würde
nie an meine Sachen gehen. Da wähnte ich mich in Sicherheit. Meine
Hände haben gezittert wie in der Geisterbahn. Habe ihn nicht festhalten können, und er ist als trauriger Flieger hinuntergesegelt auf
den bunten Teppich der Wischmannpraxis. Habe ihn hergezeigt und
übersetzt, und sie hat ratlos geschaut. Eigentlich das erste Mal so richtig ratlos. Was soll man auch darauf sagen? Frau Wischmann hat den
Wisch angesehen, zur Seite gelegt und mir ein Glas Wasser angeboten,
vermutlich, damit meine Hände, die auf dem Sofa und auf meinem
Kleid herumgeflogen sind, wieder etwas zu tun und zum Stillhalten
haben.
»Ist das echt?« Sie hat sich den Umschlag noch mal angesehen.
»Der Umschlag sieht jedenfalls echt aus.«
»Wer könnte das geschrieben haben? Mein Papa würde doch nie
so schreiben, wenn er vorhätte, zu uns zurückzukommen. Oder?
Oder?«
Frau Wischmann hob etwas hilflos die Schultern. »Vielleicht ist das
jemand, der nicht riskieren möchte, dass er erwischt wird.«
»Und was machen wir jetzt?«
Frau Wischmann runzelte die Stirn, die Brille rutschte aus dem
Haar und ploppte auf ihre Nase. Ich würde das im Normalfall lustig
finden, aber nicht jetzt und heute. »Ich muss gestehen, das ist nicht
einfach zu beantworten.«
Am Ende der Stunde sind wir nicht wirklich weitergekommen.
Warten hat sie mir vorgeschlagen. Warten, ob noch etwas kommt.
Ich hatte so gehofft, ich würde mit klaren Erkenntnissen nach
Hause kommen! Das ist ein bisschen enttäuschend, ja beängstigend.
Ich dachte, sie würde immer wissen, was zu tun ist. Aber das gilt nur
für hier. Alles, was sich dort abspielt, was hinter mir geblieben ist, ist
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nicht ihr Fachgebiet. Wäre sie eine gute Zauberin, würde man da sagen: Sie hat keine Macht über dieses Reich.
Und dann musste ich auf dem Heimweg aus dem Busfenster heraus wieder diese Idioten beim Demonstrieren sehen. Fünfzehn waren es heute schon.
WV
Tigere jetzt mehrmals am Tag zum Briefkasten.
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Prompt werde ich von meiner Mutter erwischt, die mich misstrauisch
mustert. Aber bevor sie mich blöd fragen kann, läutet Franzis Mutter
an der Wohnungstür, und sie rennt hin, um zu öffnen und Hausherrin
zu spielen. Es duftet aus der Küche, wie immer, wenn Franzis Mutter
kommt, um ihn abzuholen. Freundschaft geht wohl wirklich durch
den Magen. Dattelkeksfreundschaft.
WV
Zwinge mich, nur noch zweimal zu gehen und zu Zeiten, wenn meine
Mama nicht da ist. Sie ist eigentlich durchgehend da, es ist echt eine
Herausforderung.
WV
Ob Laura wohl ahnt, dass ich etwas weiß? Ich habe keine Ahnung. Sie
ist so, wie sie in letzter Zeit gewesen ist. Vorsichtig. Verunsichert. Ich
würde sie am liebsten schütteln. Und mich auch. Weil mir lauter
blöde Fragen im Kopf rumschwirren.
WV
Ich bin mit Markus ins Kino gegangen. Ich habe im Dunkeln nach
seiner Hand gefasst. Wir haben so lange nicht mehr Händchen gehalten. Ich habe zu laut an den nicht ganz passenden Stellen gelacht. Und
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eigentlich war mir die ganze Zeit über eher zum Weinen zumute.
»Gehen wir nächste Woche wieder her?«, hat Markus gefragt, und ich
habe genickt.
WV
Mama sitzt in der Küche und rollt Teig aus. Für die Dattelkekse. Sie
summt etwas dazu. Rami ist nicht da: Er ist bei Franzi. Franzis Mama
wird ihn am frühen Abend heimbringen. Neben seinem Bett hängt
jetzt ein Foto an der Wand, er und Franzi, die beide zwei Hasen hochhalten. Einer ist so groß, dass sein breites Schlappohr das halbe Ramigesicht verdeckt. Er strahlt mit der anderen, sichtbaren Hälfte. Meine
Tante hat eine CD ziemlich laut aufgedreht. Ihre Lieblingssängerin
von früher dröhnt durch Susis Haus. Die Kerzen in unserer Wohnung
duften nach Weihnachtsgewürz, nicht nach unseren Gewürzen. Es ist
so schön, dass sie alle langsam, langsam hier ankommen. Trotz aller
Hindernisse. Auf diesem Kontinent namens Hierbleiben, auf dem ich
schon so lange auf sie warte.
WV
Ja, und weil sie eben alle ein wenig ankommen, kann ich nichts sagen
über den Brief. Weil wenn er nur eine Verarschung ist, ein grausamer
Scherz, dann geht alles von vorne los mit Mama. Ich muss schweigen,
bis ich Sicherheit habe.
WV
Ich fürchte, ich könnte noch ziemlich lange schweigen müssen. Bis
zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
WV
»Du kannst mir echt alles sagen.«
»Ich mag dich, egal wie du bist.«
»Ich vertraue dir.«
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Alle drei Versuche habe ich wieder zusammengeknüllt und in den
Mülleimer geworfen.
WV
»Ich muss heute noch raus«, sagt Laura und wirft mir die Tür vor der
Nase zu, als ich wie üblich am Abend zu ihr raufwill. Und ich nicke
nur. Und denke: Ich verliere sie. Das wäre schlimm.
WV
Im Briefkasten war: Überraschung, nichts.
WV
Frau Wischmann findet das mit Laura im Unterschied zu dem Brief
gar nicht so schlimm. He, es ist auch nicht IHRE beste Freundin, die
offenbar lesbisch geworden ist und nix erzählen will und sie vielleicht
einfach nur ersetzt mit dieser S, der geheimnisvollen Sophie mit den
schönen kupferroten Haaren. Bin total wütend geworden. So wütend
hat Frau Wischmann mich eigentlich noch nie gesehen. Ihre Augenbrauen sind hochgegangen wie in dem Gespräch mit meinem Vater.
Und die Brille ist fast mitgerutscht.
»Das ist sehr wohl sehr schlimm!«, habe ich gebrüllt.
»Es ist nun mal ziemlich normal, dass man in diesem Alter herumexperimentiert. Das ist auch okay so.«
»Mich anzulügen ist aber nicht okay!«
»Wenn wir da sehr ehrlich sein wollen, ist auch Ausspionieren nicht
wirklich die noble Art.«
Ich hasse es, wenn sie mir widerspricht. Wieso ist sie auf einmal auf
Lauras Seite und nicht auf meiner?! Ich bin aufgesprungen.
»Wohin willst du?«, hat Frau Wischmann gefragt. Zuerst noch erschrocken, ich sah es an ihrem Gesicht. Sie hat sich allerdings sehr
schnell wieder im Griff gehabt, das Lächeln war wieder da.
130
»Mir reicht es«, habe ich gebrüllt. »Ich habe es satt, dass nie etwas
passt und nie alles in Ordnung ist!«
Und dann bin ich rausgerannt und habe die Tür so fest hinter mir
zugeschlagen, dass der Putz rieselte. Fast wie Laura.
WV
Die Idioten waren auch wieder am Hauptplatz. Ich war so wütend,
dass ich keine Angst spürte. Ich bin aber trotzdem lieber nicht ausgestiegen und wieder eine Haltestelle weitergefahren. Irgendwann
bin ich so weit. Irgendwann.
WV
Ich sitze in der Schule neben Laura und tu so, als ob alles in Ordnung
wäre. Das macht mich so müde, dass ich am Ende des Schultages völlig erledigt bin. Das kann doch nicht endlos so weitergehen, oder?
WV
Ich gehe jetzt nur noch einmal am Tag runter zum Briefkasten. Manchmal ist mir danach so schlecht, dass ich nichts mehr essen kann.
131
13
Wir gehen in die Mensa und hauen schweigend Geld in den Getränkeautomaten. Die Colaflaschen fliegen raus wie Geschosse. Laura
nimmt sie und reicht mir eine rüber. Ich trinke, damit ich meine
Worte hinunterspüle und den Geschmack von Angst. Nachdem die
Flasche leer ist, sag ich: »Ich will mal wieder mit dir laufen gehen. Haben wir lange nicht mehr getan.«
Und sie lächelt sogar und sagt: »Ich dachte, du würdest nie fragen«,
und grinst, aber mir ist nicht nach Lachen zumute. Und noch im Bus
nach Hause bimmeln unsere Handys gleichzeitig. Eine WhatsApp von
Lynne.
»Ich muss euch sofort sehen«, steht da. »Es ist echt dringend.
Bitte.«
»Komm ins Café am Platz«, schreibt Laura zurück.
»In 15 Minuten. okay.«
Im Nachhinein betrachtet: Das war wohl die Geburtsstunde der
Paint-Over-Crew.
Wir sitzen mit Lynne in unserem Stammcafé. Lily, die Kellnerin
mit den Locken, die eigentlich nicht Lily heißt, sondern Lisa, das aber
nicht cool genug findet, bringt uns Kakao.
»Mir einen Kaffee bitte«, sagt Lynne. Sie ist finster und schweigsam,
ganz anders als sonst. Ich habe sie noch nie so ruhig gesehen. Keine
132
Witze. Kein Trällern. Kein Grimassenschneiden. Laura rührt in ihrem
Kakao rum.
»Was ist los?«, sagt sie schließlich. Wenn es nicht um sie selbst geht,
kann sie das ja ganz gut, das Geradeheraussprechen. Lynne seufzt.
»Weiß nicht, ob euch was aufgefallen ist«, sagt sie. »Aber bei uns
gibt es Trottel, die blöde Sprüche herumsprayen. ›Ausländer raus‹
und so.«
Wir nicken. Also ist es nicht nur bei uns so. Jetzt.
»Und ihr wisst doch, mein Vater …«
Sie sinkt immer mehr in sich zusammen. »Meine Mutter sagt, wir
sollen da drüberstehen und es ignorieren. Und mein Vater sagt, das sei
ihm völlig egal.« Da bricht ihre Stimme. »Aber ich seh doch, dass es
nicht so ist. Es … macht was mit ihm.«
Und ich sehe das erste Mal überhaupt eine Träne in ihrem Gesicht,
die ganz langsam größer und fetter wird und sich irgendwann von der
Backe löst und auf den Tisch fällt. Sie hat nicht geweint, als sie beim
Fahrradfahren mit uns stürzte und sich beide Knie schrecklich blutig
schlug. Nicht, als sie das Schuljahr fast wiederholen musste und dann
den ganzen Sommer lernen. Nicht, als sie ihr Freund sitzen gelassen
hat. Ich kenne keine Lynne, die weint. Ich werde schon wieder furchtbar wütend. Diese Wut ist immer, permanent da, sie wabert in mir
wie Lava, immer öfter bereit, bei der kleinsten Erschütterung auszubrechen. Meine Lippen glühen manchmal und die Worte, die mir auf
der brennend heißen Zunge liegen, ebenfalls. Bin ich ganz sicher.
Laura umarmt sie, ich auch. Unsere Arme berühren sich, wir
schauen uns kurz an über Lynnes gebeugten Kopf. Wir sitzen da wie
ein dreifacher Trauerkloß mit Lausverteilungskapazität. Als Markus
zu uns stößt, heulen wir bereits fast zu dritt.
»Wir können das nicht zulassen«, sagt Lynne. »Ich lass es jedenfalls
nicht zu. Nicht so.«
133
Ich schau Lynne an. Lynne schaut mich an. Und wir sind uns in diesem Augenblick näher, als ich Laura und Markus bin. Ich kenne das.
Ich kenne diese Väterblicke. Ich kenne diese Mutterworte. Und ich
weiß, welches Elend dahintersteckt.
»Wir werden das auch nicht zulassen«, sagt Markus.
»Wir …«, Laura räuspert sich. »Also ich, also …«
Oh. Sie hat offenbar nicht allein die Botschaft am Hauptplatz übersprayt.
»Also ich …«
Sie weist Richtung Statue, auf deren Sockel der schwarze Balken
prangt und das rote Rinnsal, als würde der Balken ein bisschen bluten.
Lynne blickt hoch. »Das warst du?«
»Ja.«
»Können wir das nicht irgendwie größer machen?«
»Wie größer?«
»Die werden doch immer mehr.«
Da hat sie allerdings recht. Ich erinnere mich an den Huper, wie er
lächerlich und kläglich mit drei anderen am Hauptplatz herumstand.
Es hat gereicht, um mich einzuschüchtern, aber sonst hat ihn eine
Zeit lang niemand ernst genommen, auch Markus nicht. Jetzt sieht
die Sache schon ganz anders aus, denn jetzt stehen dort jeden Donnerstag fast dreißig grölende Idioten herum. Ein richtiges Idiotenschneeballsystem. Und das in sehr kurzer Zeit.
»Wir müssen eben auch mehr werden.«
Lauras Augen leuchten.
»Wir werden eine Bande!«
»Wir brauchen einen Namen«, sagt Lynne. »Jedes Drama braucht
einen Namen.«
»Ich bin dafür, dass es kein Drama wird, sondern ein Heldenepos«,
134
wirft Markus ein. »Ich bin kein Dramatiker, sondern ein Held, bitte
schön.«
»Du hast ja überhaupt keine Ahnung von Theater«, sagt Lynne,
und plötzlich müssen wir alle lachen, weil die Situation so absurd ist.
Es bricht aus uns raus, genauso wie die Verzweiflung aus Lynne davor
herausgebrochen ist.
»Das ist einfach«, sagt Laura. »Wir sind natürlich die eine und einzige Paint-Over-Crew.«
»Eine Gang hat doch nie nur vier Mitglieder. Wir sind viel zu wenige.«
»Das wird sich ändern«, sagt Laura. Und ich glaube, dass sie an
Sophie denkt. »Wir haben übrigens vorgesorgt.« Laura zeigt auf Markus und die Tasche. Ein bisschen drängt sich bei mir das Gefühl auf,
dass sie das alles als ein spannendes Revolutionsabenteuer betrachtet,
immer noch. Und ich weiß: Das ist kein Spiel. Ich habe gesehen, was
Menschen anrichten können, wenn sie von Wut getrieben sind. Ich
habe die Folgen dieser Taten täglich auf Papas OP-Tisch wiedergefunden. Sollte ich es einmal eine Nacht verdrängt haben, um durchschlafen zu können, war spätestens in der Früh alles wieder da: die Schreie,
die Tränen, das große Schweigen, wenn wir nichts mehr tun konnten.
Markus öffnet die Tasche und hält sie mir hin. Drin sind lauter
Spraydosen.
»Wenn sie sich wieder blöd verewigen wollen, gibt es jedenfalls
eine Antwort.«
Laura hakt sich bei mir und Lynne unter, als wir rausgehen. Ich
schiele zu dem übermalten Spruch. Nichts Neues ist dazugekommen.
»Wir sind viele«, sagt sie. Lynne grinst.
Es macht mich nicht wirklich ruhiger. Ich bin so aufgewühlt, dass
135
ich am liebsten mit meiner Tante und meiner Mutter darüber reden
möchte. Nicht nur mit Frau Wischmann. Die letzte Stunde bei Frau
Wischmann habe ich ja für meine Laurawut aufgebraucht. Und es war
keine Zeit mehr für die Idioten, die unseren Hauptplatz unsicher machen. Leider.
WV
Zu Hause sehe ich meine Mutter am Küchentisch über einem Buch
sitzen, mit einer tiefen Falte auf der Stirn. Sie spricht vor sich hin. Ich
bleib kurz vor der Tür stehen und höre ihr zu. Ich habe sie noch nie
Deutsch sprechen gehört. Es ist wild und neu für mich und irgendwie
erleichternd.
»Peter hat ein großes Haus«, liest sie vor.
Meine Tante sitzt ihr wohl gegenüber, sie sagt: »Sehr schön machst
du das.«
Und meine Mutter sagt: »Glaubst du, wir werden auch einmal ein
Haus haben? Wie früher?«
Da geh ich rein und hänge meinen Mantel an der Garderobe auf,
wie eben jemand, der ein echtes Zuhause hat, den eigenen Mantel auf
den eigenen Garderobenhaken, mit dieser Selbstverständlichkeit, die
nur jemand hat, der ein Zuhause besitzt und nicht nur geduldet und
auf Durchreise ist. Ehrlich, ich genieße dieses Mantelaufhängen fast
jedes Mal. Ich häng also den Mantel auf, leise, um sie nicht rauszureißen, und werfe einen Blick in die Küche rein. Meine Mutter lächelt,
und meine Tante nickt und sagt: »Sicher werden wir.«
»Ich habe noch nie ein Haus gehabt, in dem kein Mann das Sagen
hatte«, sagt da meine Mutter leise, und es klingt nicht wirklich so, als
ob sie sich freut, dass es jetzt anders wäre. Aber es klingt auch nicht
mehr wie ein Klagelied.
»Du wirst sehen, das wird auch schön«, sagt meine Tante. »Anders.
Aber schön.«
136
Und meine Mutter macht eine kurze Pause und seufzt. Und sagt
dann: »Frau Susi macht das ja auch schon lange …«
Nein, da kann ich nichts erzählen von der Gang und von den Sprüchen. Ich will, dass sie ein bisschen träumen kann. Meine Mutter. Sie
hat doch erst begonnen, das Träumen zu lernen.
WV
Beim Cafébesitzer, der für seine Stammgäste Johann heißt, ist es heute
ziemlich voll. Das Wetter ist windig und mittelprächtig und seine
Topfentorten legendär. Seine Eintöpfe aber auch. Wir kommen rein,
die Glocke an der Tür bimmelt sich die Seele aus dem Leib, alle Tische
sind besetzt. Alte Damen aus der Nachbarschaft. Und ein paar andere.
Und der Geräuschpegel fast so laut wie die Klingel.
»Macht nix«, sagt Laura und drängt sich durch zur Theke. Ein
Stück Torte ist noch da. Das werden wir wohl teilen müssen. Während wir auf die Kellnerin warten, sind wir zwangsläufig mittendrin
in der Unterhaltung der anderen. Da steht eine Männertraube an der
Bar und ist sich offenbar nicht einig. Lily, die Kellnerin, hat ihnen
volle Bierkrüge hingestellt und sie mit einem so falschen Lächeln
beschenkt, dass ich mich wirklich wundere, ob sie das nicht durchschauen. Sie rufen ihr kleine Komplimente nach und vertiefen sich
dann wieder in ihre Diskussion. Ich weiß, dass es unhöflich ist zu lauschen, aber die geben mir gar keine Chance wegzuhören.
»Jeden Donnerstag machen die hier Krawall«, sagt der eine, ein
gedrungener älterer Herr, der weit außerhalb unseres Ortes lebt
und Ziegen hält, wie meine Oma. Seine Ziegen mag ich. Ihn eigentlich weniger. Von seinem Dauerzorn hat er dauergerötete Wangen, und die Nasenspitze gleicht einer Rübe, so eine, die in Schneemännern versenkt wird. »Was muss man sich eigentlich noch bieten
lassen?!«
137
Und der neben ihm beugt sich halb verschwörerisch vor und sagt
etwas leiser: »Aber so unrecht haben sie ja nicht.«
»Was soll das heißen?!«
»Na ja, es sind schon zu viele von denen da.«
»Wie meinst du?«
»Na … von denen. Du weißt schon.«
Ein anderer, der zwischen ihnen steht und eine grün karierte Kappe
in seinen Händen dreht, ist unser Nachbar. Er ist immer stinkig, aber
er war noch nie unfreundlich zu mir. Keiner von denen war je unfreundlich zu mir. Vielleicht lässt sich das so zusammenfassen, dass er
mich höflich ignoriert hat. Er dreht seine Kappe herum wie so eine
Kompassnadel, die den Norden nicht und nicht finden kann, und sagt
dann: »Also man fühlt sich schon … ein wenig fremd im eigenen
Land, wenn das so weitergeht.«
Der Wirt lehnt sich zu ihm hinüber und schaut ihm fest in die Augen.
»Letztens habe ich dich beim Chinesen gesehen. Und davor beim
Dönerstand.«
Er schaut verständnislos. »Ich kann eben nicht täglich zu dir kommen, Johann.«
Johann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. »Und die Putzfrau,
die bei euch arbeitet, ist aus Polen.«
Die Mütze stoppt mitten in der Bewegung. »Die liegen uns auch
allesamt nicht auf der Tasche.«
Der Wirt winkt ab. »Bei der Ernte deines Kumpels hier wäre nichts
weitergegangen ohne die Männer aus dem Flüchtlingsheim.«
Unser Nachbar trinkt sein Bier in einem Zug runter. »Trotzdem,
die sind und bleiben einfach Nutznießer des Systems.«
Dann rülpst er, stellt das leere Glas ab und will zahlen. Ich stiere
ihn ungläubig an. Ich meine, ich hab öfter mit ihm gesprochen. Und
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Rami hat sogar mal einen Apfel von ihm bekommen. Er spürt meinen
Blick und lächelt mir beschwichtigend zu und sagt: »Du, das ist gar
nichts gegen dich. Du bist ja … nicht so.«
WV
Ich weiß nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass es immer schon so war
wie gestern im Café. Es war nicht so. Nein.
WV
Wie bin ich denn, wenn ich »nicht so« bin?
WV
In der Nacht liege ich wach. Wo bist du, Papa, denke ich. Ich würde
dich jetzt so brauchen. So sehr brauchen.
WV
Vor uns geht die Sonne unter, rot über den Wellen wie vergossenes Blut. Die
Fische, die an unserem Floß vorbeischwimmen, tragen rubinfarbige Schuppen und haben ebensolche Augen, ihre Flossen sind lang und gebogen wie
die Finger feiner Damen. Ich lasse die Füße ins Wasser hängen, das angenehm warm ist, manchmal streifen die Fische an meinen Waden entlang,
ihre Leiber sind zart und glatt. Der Wind riecht nach Salz und Weite und
nach Meerestieren. Ich fürchte mich nicht vor ihnen. Auch nicht vor den riesigen Kraken, die irgendwo unter uns im Meeressand nach den Skeletten toter Piraten wühlen. Ich fürchte mich nicht, weil Papa weiß, wohin die Reise
geht, wie früher. Er steht mit dem Rücken zu mir, eine Hand auf dem Mast,
an dem unser geblähtes Segel befestigt ist, ein Fuß vor dem anderen, so wie
er immer gerne dagestanden hat, wenn er entspannt und zufrieden war. Mit
leicht durchgebogenem Rücken, den Kopf zurückgelegt, sein Haar ist nicht
mehr so schütter, wie es zum Schluss gewesen ist, sondern wieder voll und
139
dunkel, das Grau ist aus ihm herausgeronnen und verschwunden. Ich sehe
seine Locken, die sich im Wind bewegen, an und denke mir, wie ähnlich
meine eigenen sind, sie haben dieselbe Farbe wie seine. Mein Haar ist wieder so lang, wie es vor einem Jahr noch gewesen ist, und fließt in einem Wasserfall über meinen Rücken. Irgendwo in weiter Ferne rauscht etwas. Von
sehr weit weg.
Papa setzt das Fernglas wieder ab und dreht sich zu mir um.
»Hungrig?«, fragt er, und ich schüttle den Kopf. Ich will diese Augenblicke, die mir wieder mit ihm geschenkt worden sind, nicht durch solche Unwichtigkeiten verplempern wie Essen. Ich habe weder Hunger noch Durst,
ich bin glücklich. Ich bin perfekt. Ich bin vollkommen und endlich ganz und
endlich nicht mehr allein verantwortlich. Ich kann mich auf die Holzbretter
fallen lassen und die von der Sonne aufgewärmten Planken unter meinen
Schulterblättern fühlen und keine Last. Er setzt sich zu mir.
»Bist du böse auf mich?«, frage ich ihn.
»Warum sollte ich böse sein?«, sagt er und nimmt einen tiefen Schluck
aus der Wasserflasche.
»Ich vermisse dich.«
»Du würdest nicht so weit gehen, wenn ich bei dir wäre.«
Er sieht jung aus, so jung wie auf den alten Fotos, die Mama in dem kleinen Lederkoffer aufbewahrt, und so, wie wir uns gegenüberstehen, erkenne
ich, wie ähnlich wir uns sind.
Ich strecke die Hand aus, ich will ihn anfassen, mich erinnern, wie er sich
angefühlt hat, seine Wärme, sein Lachen, seine Zuversicht. Während ich den
Arm ausstrecke, verschwindet die Sonne, und das Wasser kocht dunkel auf
wie gestocktes Blut.
»Papa«, schreie ich. »Papa, kommst du wieder?«
Und das Rauschen, das ich in weiter Ferne gehört habe, als wir noch so
entspannt auf den Wellen schaukelten, wächst an zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. »Papa«, schreie ich wieder und greife ins Leere, ich stehe allein
140
auf dem Floß und versuche, das Segel einzufahren, während der Wasserstrom beschleunigt und mich in atemberaubender Geschwindigkeit nach
vorne trägt, dorthin, wo die mir bekannte Welt in einem riesigen Wasserfall
endet. Vor mir der Rand, eine Weltkante, über die ich gemeinsam mit den
Wassermassen gleich stürzen werde, in diesem Augenblick, jetzt. Bevor ich
den Halt verliere und in den Abgrund kippe, kann ich noch schreiend
die Augen aufreißen und liege in unserem Zimmer im Dunkeln, und
Rami wimmert, weil er Schreie und Dunkelheit zu gut kennt, um
nicht zu wimmern. Ich geh rauf in den zweiten Stock, hole Kassandra,
die in ihrem Körbchen im Wohnzimmer döst, und trage sie hinunter,
um sie zu Rami unter die Decke schlüpfen zu lassen. Er atmet wieder
ruhiger, streckt die Arme schlaftrunken aus und umarmt sie und lächelt im Schlaf.
WV
Und in der Früh denke ich: Mein Vater würde das, was jetzt mein Alltag ist, zu keinem Zeitpunkt akzeptieren. Damals nicht. Und jetzt
wohl auch nicht. Markus nicht. Laura nicht. Meine Kleider nicht.
Alles Mögliche nicht. Es gibt keinen Weg zurück, ich habe das Seil
durchgeschnitten mit derselben Entschlossenheit wie mein langes
Haar, das mich mit meiner Vergangenheit verband, und Papa ist auf
der anderen Seite zurückgeblieben. Und der Wind heult so stark, dass
ich nicht einmal Wortfetzen hinüberbrüllen kann.
141
14
Bin am Donnerstag ganz kleinlaut bei Frau Wischmann aufgetaucht,
weil ich so randaliert habe das letzte Mal. Sie war fröhlich und freundlich wie immer. Wie schafft sie das nur? Mich würden die Menschen,
die mich täglich vollnölen, irgendwann echt nerven. Ich sagte ihr das,
und sie lachte und meinte, deswegen geht sie selbst in eine Therapie.
Wir sind alle wie ein Spiegel im Spiegel, ins Unendliche vervielfacht
von Menschen, die zu anderen Menschen gehen, um sich auszuheulen. Irgendwie ist dieses Bild beruhigend. Und irgendwie auch echt
verstörend. Wir haben über Laura gesprochen und über den Brief,
der keinen Nachfolger mehr hatte. Vielleicht doch ein böser Scherz,
denke ich immer wieder. Irgendwer wollte uns vielleicht einfach nur
quälen. Aber wozu? Warum? Da kann sie mir natürlich auch keine
konkrete Antwort geben.
Blöd gelaufen, echt.
Nichts von dieser Stunde hat mich beruhigt. Das ist sehr schlimm.
Weil diese Stunden eigentlich so ein kleiner geheimer Garten für
mich sind, meine Luftblase, in der ich zwanzigtausend Meilen unter
dem Meer noch aufatmen kann. Ich weiß nur, dass ich aufhören sollte
zu warten. Dass ich irgendwann mit Laura reden muss. Irgendwann.
Das ist nämlich etwas, das ich selbst entscheiden kann. Nichts anderes
kann ich entscheiden. Aber das. Also. Ja, dann ging ich enttäuscht und
142
müde raus. Frau Wischmann lächelte in der Tür wirklich voller Mitgefühl und auch irgendwie traurig. Hab sie noch nie traurig gesehen.
Und dann fuhr ich heim. Ich steige jetzt prinzipiell immer eine Haltestelle später aus. Nicht am Hauptplatz. Da standen wie jeden Donnerstag wieder die Idioten rum. Viele, die ich nicht kannte. Und einer
aus meiner Schule.
WV
Ich gebe der King das von ihr verlangte Opus magnum ab. Sie runzelt
die Stirn, nimmt die Blätter an sich und nickt nur. Kein Lob, keine
Bestätigung. Und dann gibt sie mir gleich die nächste Riesenaufgabe.
»Du schaffst das bis Ende der Woche.«
Das war keine Frage.
»Aber …«, schaffe ich es diesmal aus mir rauszuquetschen. Sie
schneidet mir das Wort ab.
»Kein Aber. Das muss sein. Aus.«
Und weg ist sie. Ich beginne sie zu hassen.
»Was hat denn die King mit dir«, fragt mich Sabine mitfühlend,
die die Szene im Schulgang beobachtet hat, als wir mit unseren Sportsachen die Treppe runter in den Turnsaal gehen.
»Wieso musst du dieses Jahr mehr machen als alle anderen?«
»Keine Ahnung.«
»Hast du sie verärgert mit irgendwas?«
»Das liegt daran, dass Madina dort, wo sie herkommt, einfach nicht
so gut gelernt hat wie wir«, wirft Rosa süffisant ein, während sie uns
mit lässigem Hüftschwung überholt, Arm in Arm mit dem Lederjackentypen, den ich am Hauptplatz gesehen habe. Als ob ich im Lendenschurz aus dem wilden Dschungel gekommen wäre.
Und ich würde ihr am liebsten gleich und ohne Umschweife in die
Fresse schlagen.
»Sie muss erst mal auf unser Niveau kommen.«
143
»Auf dein Niveau zu kommen ist aber nicht so schwer«, fährt ihr
Laura übers Maul, die hinter uns gegangen ist. »Dazu muss man sich
nur flach auf den Boden legen.«
Sabine lacht, und Rosa lässt ein Geräusch aus ihrem pink bemalten
Mund entweichen, das an einen Furz erinnert, und bleibt zurück.
»Danke, Laura.«
»Seit wann bedankst du dich für Selbstverständliches? Wir sind
Freundinnen. Schon vergessen?«
Wie könnte ich. Ich hab ja eher den Eindruck, dass Laura mich
ab und an verdrängt, um mehr Platz für Sophie zu haben, aber das sag
ich jetzt ganz sicher nicht.
WV
Bei meiner nächsten Stunde bei Frau Wischmann muss ich meinen
ganzen Mut zusammennehmen und frage sie: »Könnten wir vielleicht
die Stunden an einem anderen Tag abhalten?«
»Wie meinst du? Das nächste Mal?«
»Nein, überhaupt.«
Sie runzelt die Stirn.
»Warum denn? Ich habe eigentlich alle Termine für das Halbjahr
fix vergeben. Dein Stundenplan steht ja schon fest.«
Und dann packe ich endlich aus. Von den Demos. Von meiner
Angst. Das Sprayen erwähne ich nicht. Immerhin hänge nicht ich
allein da mit drin. Frau Wischmann ist so betroffen, dass sie ihr Profigesicht ganz kurz wieder sammeln muss. Draußen im Gang summt
die Gegensprechanlage. Und wir haben eigentlich gar keine Zeit
mehr.
»Das tut mir außerordentlich leid«, sagt sie. »Das ist ganz und gar
nicht in Ordnung.«
Dann sucht sie ihren Terminplaner raus. »Ich werde alle durchru144
fen, und wenn es geht – und es muss gehen –, wirst du natürlich an
einem anderen Tag zu mir kommen.« Sie seufzt. »Uns bleibt hier ja
wirklich nichts erspart.« Dann lächelt sie mich aufmunternd an. »Hast
du schon mal daran gedacht, dich an die Polizei zu wenden?«
Ich schau auf meine Fußspitzen. Wie soll das denn gehen. Sie haben mir ja nichts getan. Sie sind nur laut.
WV
Habe mal wieder an Oma geschrieben. Habe ein bisschen von Kassandra und von Rami erzählt. Habe ihr auch von den Demos geschrieben. Und dass ich mich wehren werde. Irgendwann. Habe sie gefragt,
ob sie mir vielleicht eine Notiz hat zukommen lassen. Wollte nicht
genauer werden. Sicherheitshalber. Wenn man etwas zu verbergen
hat, gibt es meistens triftige Gründe dafür. Und was ich im Krieg gelernt habe, ist, dass alle etwas zu verbergen haben. Alle.
Laura sieht mich schreiben, holt sich einen Ingwertee, der bis zu
mir rüber duftet, und setzt sich im Wintergarten mir gegenüber hin.
Sie kennt das schon. Kennt mein Gesicht, das ich dabei mache, kann
ablesen, wann ich fertig bin, ich muss ihr nichts sagen. Ich kann ihr
Gesicht übrigens genauso gut lesen wie sie meines.
Mittlerweile merk ich, ob Laura mit Sophie gerade gut ist oder
schlecht. Ich kenne Sophie nicht, aber ich kenne die Kurven ihrer
Liebe. Wenn sie gerade scheiße drauf ist, geht es ihnen schlecht. Bis
jetzt stehen wir bei fünfzig zu fünfzig. Man könnte langsam sagen, wir
führen so eine komische Beziehung zu dritt, ohne dass Laura etwas
davon ahnt.
WV
Ich korrigiere: Ich glaube, die haben eine On-off-Beziehung (ja, diese
On-off-Beziehungen sind in Tratschkreisen unserer Schule sehr beliebt, da gibt es immer Gesprächsstoff), und ich bin der Trottel, der
145
mittendrin feststeckt. Und über jedes Hoch und Tief stolpert, das sie
so bieten. Hurra.
WV
In Kings Haus ist es sehr warm, wärmer als sonst. Die Heizung läuft
auf Hochtouren. Dabei schneit es nicht einmal! Die Raben auf ihrer
Veranda, die genauso aussehen wie sie, kleine Spiegelbilder ihrer Erscheinung, hocken am Fensterbrett und sehen aufmerksam herein
mit ihren schwarzen geneigten Köpfchen. Vermutlich warten sie auf
ihre Bröselreste, die es jedes Mal gibt, wenn ich gehe und sie die leer
gefressene Keksschüssel im Garten umdreht, damit nichts verschwendet wird von ihren goldenen Schätzen. Ich schwitze nach kurzer Zeit,
unter meinen hellblauen Blusenärmeln breiten sich dunkle, feuchte
Ringe aus. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir das schwarze T-Shirt
angezogen. Echt. Ich schäme mich in Grund und Boden. Die King hat
heute keinen Tee serviert wie üblicherweise in der Pause. Ich denke,
dass es mit ihrer Wut auf mich zusammenhängen muss. Wieso will sie
mich denn auf einmal fertigmachen, denke ich. Nicht mal ihren verfluchten Tee will sie mir neuerdings noch gönnen. Aus lauter Trotz
bedauere ich sogar die Abwesenheit der staubtrockenen Horrorkekse,
die sie mir immer gereicht hat. Die King setzt sich auf und atmet
schwer. Dann räuspert sie sich und lächelt mich plötzlich an, wie
immer.
»Sei so gut und hole doch den Tee aus der Küche.«
Ich bin über die Unterbrechung unseres Lernmarathons froh. Das
Tablett aus lackiertem Holz ist voll beladen mit der Porzellankanne,
den beiden dünnen Tassen aus Porzellan, das zart ist wie Schmetterlingsflügel, einer Dose mit Kandiszucker und den unausweichlichen
Shortbreads. Alles liebevoll arrangiert, wie immer. Ich kenne mich
wirklich nicht mehr aus mit der King. Ich verstehe sie einfach nicht.
Ich balanciere das Tablett ins Wohnzimmer, das eine rot-grün
146
karierte Orgie an Dekorstoffen ist. Die King hat sich in ihrem Ohrensessel niedergelassen, hat ihre dünnen Füße auf den rot karierten Polsterhocker gelegt und wartet auf mich mit ineinander verkreuzten Fingern, die in ihrem Schoß liegen.
Als sie mit dem Silberlöffelchen in ihrem Tee umherrührt, nachdem sie exakt drei Stück Kandiszucker hat hineinfallen lassen, präzise
wie eine Hexe an ihrem Kessel, sieht sie mich so seltsam prüfend an
wie noch nie. »Was ist dein Gefühl für dieses Jahr, Madina?«
Ich schau sie verwirrt an. »Ich weiß nicht …«
Sie beugt sich zu mir vor und hört zu rühren auf. Schaut jetzt ganz
und total nach Krähe aus. »Du musst wissen, was du willst. Du musst
wissen, wie du es bekommst.«
Das klingt verdächtig nach meinem Vater, und es verwirrt mich
wirklich, wirklich sehr.
»Frau King, ich verstehe nicht.«
»Du musst es wissen! Deine Zukunft liegt vor dir. Vergiss das nicht.
Vergiss das nie.«
Sie setzt die Tasse mit einem solchen Knall ab, dass die Krähen
draußen auf der Veranda in einem dunklen Schwarm hochfliegen.
WV
Was haben die alle mit meiner Zukunft. Ich bin doch diejenige, die
Tag und Nacht dafür schuftet, dass ich eine habe. Also echt. Sie sollten
etwas mehr Vertrauen in mich haben.
WV
Eine Stunde später bin ich überhaupt nicht mehr sicher, ob ich dieses
Vertrauen verdient hätte.
WV
147
Ich habe Markus seit Tagen nicht mehr richtig gesehen. Nur zum Essen, wenn wir bei Susi eingeladen waren. Und in der Früh, beim Weggehen in die Schule. Und was echt seltsam ist: Das fällt mir erst am
Ende dieser Woche auf.
WV
Rami geht am Abend ganz freiwillig ins Bett ohne großes Rumgetöse,
stellt ein Wasserglas für sich hin und eine Schüssel unter sein Bett.
»Was soll denn das?«, rügt meine Mutter.
»Aber, Mama, Kassandra braucht auch was zum Trinken, wenn sie
wach wird.«
»Kassandra soll nicht bei dir schlafen, sie läuft den ganzen lieben
langen Tag im Dreck herum.«
Rami streckt ihr die Zunge raus.
»Lass ihn doch«, sagt Amina, dieselbe Tante Amina, die noch vor
einem Jahr im Flüchtlingsheim wie eine Irre geschrien hat, wenn die
Katze im Hof ihr über den Weg gelaufen ist. Zeichen und Wunder,
denke ich, Zeichen und Wunder. Wenn man Menschen in Ruhe und
heilen lässt, ist echt viel möglich. Und noch mal denke ich: Ich will
Ärztin werden. Ich will diese Wunder machen können. Ich will, dass
Menschen heilen. Ich glaub, es gibt nichts Schöneres im Leben. Oder?
Menschen heilen lassen.
Kassandra will übrigens nichts zum Trinken, sie lauert, ob von Ramis Brötchen Brösel auf den Boden fallen werden. Rami klettert mitsamt seinem Brot ins Bett und gibt ihr ein Stück ab. Zusammen sitzen
sie sehr zufrieden da und kauen.
WV
Ich geh mit Laura laufen, Kassandra läuft mit. Ich gebe absichtlich so
sehr Gas, dass Laura fast nicht mitkommt. Ich bin mittlerweile sportlicher als sie. Ha. Dabei war sie es, die mir das Laufen beigebracht hat.
148
Irgendwann bleibt sie stehen, bückt sich, um Luft zu holen, und bittet
mich, eine Pause zu machen. Ich hab gewonnen. Es bereitet mir überhaupt kein Vergnügen.
WV
Ich will nicht mehr lügen. Ich will nicht, dass Laura und ich nicht aufrichtig sind. Wie soll eine Freundschaft denn so überhaupt funktionieren.
WV
Laura hat sich verdrückt, wohl zu Sophie, und hat mich mit Kassandra
allein gelassen. Ich ärgere mich, bis mir die Pizza vom Abendessen
wieder hochkommt. Kassandra versteht das nicht, sie will spielen,
dann, nachdem ich ihr eher lustlos ihren zerbissenen, angespeichelten Ball in den Garten geworfen habe, möchte sie lieber raus, was sie
mir auch unmissverständlich mit haarsträubendem Gebell vor der
Gartentür klarmacht. Ja. Meinetwegen. Vermutlich erhofft sie sich,
dass wir Laura treffen. Ich erhoffe das genaue Gegenteil, ich will den
beiden nicht über den Weg laufen, nicht mal aus der Ferne will ich
sie sehen! Ich nehme meine Jacke vom Haken und auch Kassandras
neue knallgrüne Leine, damit sie weiß, wir sind keine Stubenhocker.
Rami sieht mich die Treppe runterkommen und heftet sich an meine
Fersen.
»Darf ich mit?«, nölt er. »Darf ich die Leine halten? Ich kann das.
Ich bin stark genug.« Und er beugt seinen kleinen, dürren Arm, als
ob er einen Bizeps spielen lassen könnte. »Lach nicht! Ich kann das!«
»Komm, du Held. Kassandra verfängt sich in der Leine, wenn du
nicht drauf achtest.«
Ich schiebe ihn vor die Haustür, und wir gehen. Ich schaue nervös
herum, weil ich die Chance haben möchte, rechtzeitig zu flüchten,
sollten wir Sophie und Laura sehen. Aber diese Sorge ist völlig unbegründet, keine Ahnung, wo sie stecken. Vielleicht im Wald. Kassandra
149
ist unruhig, weil sie nicht gewohnt ist, dass Laura nicht mitkommt, sie
schnüffelt und versucht, ihre Fährte aufzunehmen, dann macht sie
einen Sprung und zieht uns Richtung Hauptplatz. Rami rennt mit ihr
vor und kreischt und lacht, so laut, dass eine alte Frau kopfschüttelnd
über ihre Rosenhecke drüberschaut zu uns.
»Rami, leiser«, sage ich. »Kassandra, langsamer!«
Keiner hört auf mich. Rami verschwindet um die Ecke. Ich will
nicht laufen, ich will einmal verdammt noch mal mein eigenes Tempo
haben. Ich gehe also betont langsam, und dann höre ich es.
»Was willst du hier? Verschwinde! Und nimm deinen Köter mit!«
Und eine andere Stimme, eine Frauenstimme: »Darfst du überhaupt Hunde anfassen? Ist bei euch doch verboten?«
Und eine dritte Stimme: »Ihr esst doch Hunde, oder? Wart, ich
nehme ihn dir ab und mache eine feine Suppe aus ihm!«
Mir wird heiß und kalt, meine Füße beschleunigen aus dem Stand,
wie so ein Rennauto. Ich fetze um die Ecke und sehe zwei junge Männer und ein Mädchen, die mit dem gelb blondierten Zopf, die ich
schon mehrmals auf dem Hauptplatz mit ihrem verkackten Schild
habe rumstehen sehen. Sie haben meinen kleinen Bruder umringt.
Rami ist ganz grün im Gesicht, Kassandra knurrt. Ihr Fell ist im
Nacken gesträubt wie bei einem Drachen. Der größere Mann macht
einen Schritt auf ihn zu, dann sieht er mich.
»War nur ein Scherz«, beeilt er sich zu sagen.
Und der andere Mann lacht und sagt: »Nein, nein, war die reine
Wahrheit. Gib schon her!« Und er beugt sich zu Rami hinunter. Ich
fahre zwischen die beiden wie ein Blitz, ich wünschte, ich könnte
sein Hemd versengen, das einen Augenblick sehr nahe an meinem
Gesicht ist, er ist riesig, verglichen mit den beiden anderen, die in widerliches Gelächter ausbrechen. Ich sage gar nichts, ich packe Rami an
der Hand und nehme Kassandras Leine ganz kurz in die andere und
150
jage mit beiden die Gasse hinab, um die Ecke, noch um eine, bis wir
unser Haus von Weitem sehen können. Ich hasse meine Fluchtbereitschaft. Jetzt bin ich schon das zweite Mal vor ihnen weggelaufen. Statt
ihnen Kontra zu bieten. Ich habe es einfach nicht besser hinbekommen. Ging nicht. Konnte nicht. Rami zittert ein bisschen.
»Wollten die uns was tun?«
»Nein, die wollten nur blöde Witze machen.«
Ich versuche, so überzeugend zu sein, wie es geht. Er greift meine
Hand noch etwas fester, so, dass es ein bisschen wehtut. Bis das Zittern
sich wieder legt.
WV
Habe wieder von Papa geträumt. Von den quietschenden Reifen und
dem Staub auf der Straße. Und der zufallenden Tür. Es war fast genauso, wie es in Wirklichkeit gewesen ist. Wozu braucht man solche
Träume, frag ich mich.
WV
Meine Tante hat bald die erste Deutschprüfung. Und ich habe eine
Klassenarbeit. Wir sitzen beide am Küchentisch und büffeln vor uns
hin. Es ist total absurd, dass sie auf einmal eine Schülerin ist wie ich.
»Frag mich ab«, sagt sie irgendwann. Ihr Gesicht strahlt eine Kampflust aus, die ich von früher an ihr kenne. Wenn sie sich mal in etwas
verbissen hat, dann lässt sie nicht mehr los. Wie so eine Bulldogge.
Meine Mama ist mehr ein Pandabär, in den man sich kuscheln konnte.
War. Früher. Ich frage Amina ab, und sie macht ganz wenige Fehler.
»So, und jetzt du mich«, sage ich und halte ihr mein Matheheft
hin. Es fühlt sich nicht wirklich so an, dass sie meine Tante ist und viel
älter. Mehr so eine seltsame Schwester. Oder, doch etwas weiter weg:
eine seltsame Kusine.
WV
151
Lynne meldet sich am späten Abend, als Laura und ich uns gerade anschicken, so richtig entspannt im Pyjama fernzusehen wie so ein ganz
normales Freundinnenpaar, das gar keine Probleme und schon gar
keine Geheimnisse voreinander hat.
»Sie waren wieder da. Bei uns im Ort.«
Das war’s mit gemütlich. Ich verdrehe die Augen. Aber wenn du
eine Heldin sein willst, musst du einfach immer wieder aufstehen.
Und wenn es noch so kuschlig ist unter der Decke.
»Das bedeutet wohl Alarm für die Gang«, gähnt Laura. »In zehn
Minuten sind wir startklar.« Sie schlüpft aus dem Pyjama. Und während sie sich anzieht, ruft sie nach Kassandra.
»Nein«, sag ich. »Wir ziehen sie nicht mit rein.«
»Ach komm, das wird lustig, warum soll sie da nicht mit?«
»Weil es nicht lustig ist. Verdammt.«
»Ist ja schon gut, was regst du dich so auf …«
Laura verdreht die Augen, zieht den Reißverschluss ihres Mantels
zu und setzt die Kapuze auf. Ich schnüre meine festesten Schuhe. Solche, in denen ich gut laufen kann. Das hat mir mein Vater beigebracht,
als wir gingen. Kein falscher Ballast. Und gute Schuhe. Gute Schuhe
heißt halb gewonnen.
Markus wartet unten auf uns. Er sollte eigentlich ein Referat vorbereiten und hat alles stehen und liegen lassen. Das erste Mal seit einiger Zeit sind wir wieder gemeinsam unterwegs. Laura auf dem Rad,
ich auf dem Gepäckträger vom Markusrad. Es holpert über Stock und
Stein. Glücklicherweise fahren wir nicht wirklich weit: Der Nachbarort ist kleiner als unserer, da kann man die Häuser an einer Hand abzählen. Das ist der Ort, in dem Lynnes Vater sein Atelier hat. Bis auf
Lynnes Eltern gibt es dort weit und breit niemanden, dessen Vorfahren nicht schon die letzten hundert Jahre hier gelebt haben, vermutlich. Und bei ihren Festen waren vermutlich auch alle aus diesem
152
Ort mal eingeladen. Lynne hat eine tiefe Zornfalte mitten auf der
Stirn.
»Ich habe keine Ahnung, wer das macht«, sagt sie. »Aber allein das
Gefühl, ich könnte die kennen, am Tag freundlich von ihnen gegrüßt
werden …«
»Vielleicht sind einfach nur der Huper oder seine Freunde vorbeigekommen«, tröste ich sie. »Vielleicht ist es gar keiner von den Menschen von hier.«
Wir dürfen gar nicht anfangen, so zu denken. Das macht den ersten
Riss auf, und aus dem Riss werden tiefe Gräben, wenn sich die Sache
verselbstständigt, und am Ende landet man dabei in der Vorhölle, wie
bei uns zu Hause, wo zuerst die Menschen im Nebenhaus nicht mehr
gegrüßt haben und ich etwas später nicht mehr mit den Nachbarskindern spielen durfte, und noch später wurde unser Garten angezündet. Einfach so. Omas schöne alte Apfelbäume in Flammen. Sie stand
da und sah zu, bis sie ganz abgebrannt waren, stand da, bis der graue
Nebel sich lichtete, bis die Asche am Boden erkaltet war. Stand da und
wich keinen Millimeter zurück. Ihr Gesicht damals habe ich mir bis
heute gemerkt. Die Sehne auf der Wange, die die tiefen Falten darüber
in Bewegung versetzte. Nein, das will ich nicht wiederhaben. Ich
nicht. Ich schiebe das Bild mit dem Umriss meiner kleinen Oma vor
ihrem brennenden Garten wieder weg. Jeden Gedanken an meine
Oma. Ich muss jetzt klar sein. Konzentriert. Ich denke an die Typen
auf dem Hauptplatz. An die Unterhaltung im Café. An den Spaziergang mit Rami und Kassandra. Die Spraydose liegt gut in der Hand.
Ich schüttle sie. Und setze dann an. Das Zischen des Farbstrahls ist
eine Befreiung.
153
»Wo wart ihr denn«, fährt uns Susi an, als wir in der Küche Tee aufkochen, weil wir so durchgefroren sind.
»Spazieren«, sagt Markus. Susi sieht ihn an wie jede Mutter, die ihre
Kinder gut kennt. »Du? Spazieren?«
»Weil ich ihn gebeten habe«, sage ich und werde rot wie die Teetasse, die ich in den Händen halte, als hätte sich die Farbe mit der
Hitze des Tees in mir ausgebreitet.
»Und warum habt ihr den Hund nicht mitgenommen?«
»Weil Madina es partout nicht wollte«, sagt Laura triumphierend
und stupst mich mit der Zehenspitze an. »Wolltest du ja nicht, Madina.«
Susi stößt einen genervten Seufzer aus, klappt den Morgenmantel
zu und verschwindet wieder in ihrem Schlafzimmer. Markus verschwindet wieder Richtung Referat. Ich nutze den Augenblick und
trete Laura ans Schienbein. Sonst mach ich das ja nur bei Rami.
»Das ist keine Lösung«, sagt Laura, weil sie es so oft von mir gehört
hat, und zeigt mir das Peacezeichen.
Und da sag ich ihr: »Lügen auch nicht.«
Sie lacht zuerst und wird dann ganz still. Und es dauert eine
Spur zu lange, bis sie betont lässig mitteilt: »Ich weiß nicht, was du
meinst.«
Und ich lege ihr den Arm um die Schulter und lächle sie an, weil
ich weiß, das ist jetzt unser Augenblick, wir sind uns gerade wieder so
nah wie früher. Und ich kämpfe die Angst nieder, die in meiner Kehle
umherflattert, und atme tief durch und denke an alles, was mir Frau
Wischmann geraten hat und sage:
»Laura. Ich hab euch gesehen.«
Sie zuckt zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Es tut mir so weh,
weil sie leidet und weil es auch für mich furchtbar ist.
Und ich atme nochmals durch und sage: »Ich hab dich lieb, egal
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mit wem du zusammen bist. Wir sind doch Freundinnen. Du kannst
mir doch vertrauen.«
Und sie weicht zurück, bis sie mit dem Rücken an der Küchenwand
anstößt und es gar nicht weitergeht. Und in ihren Augen schwimmt
das Wasser, das bald übergehen wird.
»Es ist einfach passiert«, flüstert sie. »Und ich … und ich … ich
wusste einfach nicht, wie …«
»Es ist doch vollkommen egal«, wiederhole ich. »Du bist du. Und
ich bin ich.«
»Du darfst mich nicht verraten.« Jetzt weint sie.
»Laura, ich hab dich noch nie verraten. Nicht einmal, als du heimlich Geld aus Susis Geldbörse genommen hast. Und das war übrigens
wirklich scheiße von dir.«
Sie kommt mir ein bisschen näher, dann noch näher, bis ihre
Wange auf meiner Schulter ruht. Das fühlt sich unglaublich schön an.
Weil es wieder das ist, was ich unter unserem Wir verstehe.
»Es tut mir leid.«
»Sag mal, hat dir ein Freund eigentlich leidgetan? Warum tut dir
das hier leid? Es ist eine Beziehung wie jede andere.«
Ich sage das, weil ich es mit Frau Wischmann unzählige Male ausprobiert habe, aber in einem kleinen, unbeleuchteten Winkel meiner
Seele spüre ich, dass es mir nicht ganz egal ist, es ist fremd, irgendetwas daran ist fremd und seltsam. Oder, sagen wir, ungewohnt. Ja, ungewohnt.
»Es tut mir leid, weil …« Und dann sagt sie nichts mehr. Sie weint
nur.
»Es ist doch in Ordnung so.« Ich versuche, meine Stimme so fest
wie möglich klingen zu lassen. »Es ist wirklich in Ordnung. Ich will
sie auch gern kennenlernen, wenn ich darf.«
Laura wischt den Rotz mit dem Handrücken weg.
155
»Sie hat mir beim Sprayen geholfen. Damals, das erste Mal. Sie fand
das auch scheiße. Sie ist okay. Wirklich.«
Und jetzt heult sie hemmungslos. Und ich schäme mich in Grund
und Boden, weil ich eine Zeit lang dachte, sie könnte sich heimlich
mit dem Huper treffen. Wie außerordentlich blöd von mir. Zwischen
den Weinwellen rotzt sie weiter durchsichtigen Schleim in meinen
Pulli hinein. Alles nur für dich, Laura, denke ich mir und lasse sie rotzen. Der Pulli hat früher sowieso mal ihr gehört. Wie fast alle meine
Sachen.
WV
Heute ist Montag, und damit – alles neu! – Frau-Wischmann-Tag. Bin
echt dankbar, dass sie drei Tage lang alle ihre Termine verschoben hat
wie Tetris-Blöcke, damit ich nicht mehr donnerstags bei ihr aufschlagen muss und auf dem Heimweg beste Sicht auf die Idioten am Platz
habe.
»Willst du drüber reden? Über die Demos?«, fragt sie mich und
schiebt die rote Brille in die Haare. Heute trägt sie ein blaues Kleid mit
gelben Blumen drauf. Ich schaue irgendwohin unterhalb ihres Knies,
wo der Blumenrand aufhört und eine knallorange Strumpfhose erscheint.
»Davon ändert sich ja doch nichts.«
»Natürlich ändert sich etwas.«
Ich runzle die Stirn. »Und was?«
»Du gewöhnst dich nicht daran. Es ist nicht normal, was sie tun.
Man sollte sich nicht daran gewöhnen.«
Und ich denke an Laura, wie gut es getan hat, endlich mit ihr zu
reden, und dann erzähle ich, erst stockend und dann nach und nach
überzeugter, wie schmutzig ich mich gefühlt habe. Die ersten paar
Mal. Und wie ich meine Angst hasste. Die mich auch beschmutzte.
Nicht mehr als das Erstere, aber auch. Und von unserem Nachbarn
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und seinen Sprüchen im Café. Irgendwann, sage ich ihr, irgendwann
werde ich es einfach schaffen, etwas zu antworten. Kontra zu geben.
Nur von Rami und Kassandra und unserer Begegnung mit den zwei
Typen und der Frau mit Zopf erzähle ich nichts. Nichts von ihren
Drohungen und Beschimpfungen. Sonst kommt Frau Wischmann
wieder mit ihrer Idee mit der Polizei. Und Ärger mit der Polizei, das
können wir nun wirklich nicht gebrauchen, nicht solange wir selber
mit Spraydosen losziehen.
»Schmutzig ist der, der Schmutz verursacht«, sagt Frau Wischmann.
»Aber der, der danach reintritt, ist es auch«, widerspreche ich.
»Wer sagt, dass du reingetreten bist?«, sagt Frau Wischmann. »Du
hast nur gesehen, wie sie den Schmutz erzeugt haben. Du bist die
Schmutzzeitzeugin.«
Schmutzzeitzeugin. Schmutzzeit-Zeugin. Schmutz-Zeitzeugin. Ich
mach mir mal eine Visitenkarte, da steht das drauf. Und irgendwann,
hoffe ich, steht da auch der Zusatz »außer Dienst«.
WV
Amina hat die erste Deutschprüfung bestanden. Wir tanzen um den
Tisch und trinken Tee. Sie brennt darauf, endlich arbeiten zu können.
Sie hat auch schon ein Jobangebot. Sie kann bei Freundinnen von
Susi putzen gehen. Bald. Und wenn alles klappt, wird sie Köchin im
Kindergarten. Zu Hause hat sie selten geputzt, nur das Nötigste. Und
Putzfrau, das wollte sie bestimmt nie werden. Aber hier freut sie sich
trotzdem darüber und lässt sich von meiner Mutter Tipps geben, die
gar nicht mehr putzen will jetzt. Unsere Familie steht einfach kopf
seit der Flucht. Ich gewöhne mich dran. Dass alles anders wird. Ständig. Wir haben schon eine 360-Grad-Drehung vollbracht. Ich weiß,
wie glücklich mein Vater damals war, als ihm Susi den ersten Job hier
157
gegeben hat. Gartenpflege. Heckenschneiden. Laub zusammenkehren. Auch nicht das, was Papa eigentlich beruflich gemacht hat. Seinen Beruf hat er geliebt. Nie wollte er etwas anderes sein als einer, der
heilt und rettet. Aber jahrelanges Nichts-tun-Dürfen hat ihn so mürbe
gemacht, dass er gestrahlt hat wie so eine 200-Watt-Glühbirne. Ach
was, wie diese fetten großen Riesenscheinwerfer, die in Leuchttürmen
den Schiffen bei schwerer See die sichere Heimkehr weisen. Es macht
was mit Menschen, wenn sie feststellen, dass sie nach und nach so
abhängig werden wie Kinder. Und ihre Kinder statt ihnen das Sagen
haben. Zumindest beim Übersetzen. Sie werden mürrisch und unsicher und suchen Streit, wie mein Vater. Sie werden zurückgezogen
und kratzen sich blutig, wie meine Tante. Und wenn sich etwas ändert, auch nur klitzekleine Dinge, dann ist es so was wie ein Versprechen einer schönen neuen und besseren Zukunft. Dann ist es, als wären alle diese Entbehrungen zu etwas gut. Als würde es doch noch gut
werden. Gut werden können.
Mama versucht, einen hiesigen Apfelkuchen nach einem Rezept
von Franzis Mama zu backen. Er ist ein wenig schief geraten, aber
schmeckt gut. Äußerlichkeiten sind überbewertet.
WV
Der Nachbar stiert blöd zu unserem Grundstück rüber. Der mit der
Mütze. Susi kommt zu ihm raus und grüßt. Er grüßt auch, aber erst
nach einer kurzen Pause. Dann fragt er sie, wie lange wir eigentlich
noch dableiben. Susi sieht ihn mit diesem eher unberechenbaren
Susiblick an und antwortet: »Wieso, wollen Sie etwa bei uns einziehen?«
WV
158
Jetzt habe ich wie ein Trottel diese ganzen Riesenstapel für die King
abgearbeitet, jeden einzelnen verdammten Abend, Tag für Tag, Blatt
für Blatt, und als ich mit dem fertigen Zeug in die Schule gekommen
bin, war die King gar nicht da. Krankgeschrieben. Und es kam so eine
mittelalte, äußerst unmotivierte Vertretungslehrerin, die ich nicht
kannte, und las lustlos unsere Aufsätze durch. Meine Extraaufgaben
hat sie mir gleich wieder zurückgeschoben, als ich sie ihr geben wollte.
»Gehört nicht zum Lehrplan.«
»Aber Frau King hat gesagt …«
»Das kläre am besten mit der Kollegin, wenn sie wieder da ist.«
Die Eile hätte ich mir sparen können.
WV
Rami spielt mit meiner Tante Mensch ärgere Dich nicht. Er ist superstolz darauf, dass sie die Regeln nicht kennt und er ihr alles erklären
kann. Sie macht ihm die Freude und stellt sich extra begriffsstutzig.
Meine Mutter hat wieder etwas gebacken. Es hat dreimal so lange gedauert wie früher. Sie ist immer ein wenig schläfrig von ihrer Medizin.
WV
Heute hatten wir unerwartet früher aus, weil alle King-Stunden entfallen sind. Ich nutze die Gelegenheit und schau auf dem Rückweg in
Ramis Kindergarten vorbei und linse durch den Zaun. Rami spielt
ganz einträchtig mit den anderen im Garten. Die Löckchen wehen im
Wind, die Wangen sind rot von der Kälte. Schaut ganz normal und
harmlos aus. Und nicht wie die Pest, die er manchmal ist. Die Kindergartentante sieht mich und winkt mir zu. Erwischt. Ja, peinlich, aber
was soll’s. Dann kommt sie raus zu mir und sagt: »Er macht gute Fortschritte.«
Und ich gehe in dem wundervollen Wissen nach Hause, dass mein
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Bruder sich immer noch ab und zu anpinkelt, aber immerhin nicht
mehr bellt und zwickt. Bevor ich den Hauptplatz erreiche, ruft mich
jemand. Franzis Mutter, die ihren hasenliebenden Sohn abholt. Als
wir auf gleicher Höhe sind, lächelt sie mich an und richtet meiner
Mutter liebe Grüße aus. Diese lieben Grüße, dieses Winken – das ist
der Stoff, aus dem unser Ankommen hier gewebt ist. Weiß ich, weil es
bei mir letztes Jahr genauso war. Und jetzt ist eben meine Mama dran.
WV
Susi hat sich mit riesigen Einkaufstaschen ins Treppenhaus gewälzt.
Mit Ente drin fürs Weihnachtsfest und tausend Käsesorten und Geschenken. »Jetzt hilf mir doch wer!«, hat sie geschrien.
Laura hat ganz laut Musik gehört und nicht reagiert. Ich und Rami
sind raus und haben ihr die Taschen raufgeschleppt. Also Rami nicht,
der hat nur den riesigen Adventkalender geschleppt, den Susi ihm
mitgebracht hat. Unterwegs hat er einfach irgendwo ein Türchen aufgerissen und die Schoko verputzt.
»Das geht anders«, hat ihm Susi erklärt. Und dann von Weihnachten erzählt.
»Werden wir auch eine Tanne haben?« Ramis Augen sind so blinkende UFO -Scheiben geworden. »Mit Zauberkugeln dran?«
»Ja, natürlich.« Rami ist runtergerast. »Mama, wir kriegen einen
Baum mitten ins Zimmer!«, brüllt er.
WV
Musste eine Stunde meine Mutter beruhigen, dass sie keinen riesigen Baum in ihr kleines Zimmer bekommt, mit Erde und Wurzeln
und allem drum und dran. Danke, Rami. Du kleine Pest.
WV
160
Ferien. Endlich.
WV
Sophie ist mit ihrer Familie in den Urlaub gefahren, Skifahren in den
Bergen. Laura hat unendlich viel Zeit, nur für mich. Den ganzen Tag
faul herumhängen. Ein Traum. Susi und Amina haben Kekse gebacken, hiesige und unsere, und sie vermengt und in Dosen abgefüllt.
Es riecht nach allen meinen Welten. Mein Leben ist genauso wie diese
Keksdosen. Wilde Mischung. Kakao und Himbeermarmelade und
Zimt und Anis. Ich mag das. Während sie produzieren, fressen wir
ihnen hinter dem Rücken die Dosen wieder leer. Der ewige Kreislauf
des Kekses.
WV
»Jetzt lass doch mal das Tagebuch Tagebuch sein«, ätzt Laura. »Wir haben Ferien, wir sind frei, wir sollten einfach nur sein.« Ja, gute Idee.
WV
Ich bin jetzt mal mit einfach Sein beschäftigt.
WV
Das Weihnachtsessen war ein Fresstsunami. Ich passe nicht mehr in
meine Lieblingssachen rein. Ich habe immer schon gebratene Ente
geliebt. Und jetzt liebe ich auch saftigsüßes Rotkraut, habe ich festgestellt. Und flaumige Kartoffelknödel liebe ich auch. Ja, ich höre ja
schon zu schreiben auf. Laura kommt mit Weihnachtskuchen rüber.
WV
Eine Woche hab ich durchgehalten mit Pause. Aber jetzt, jetzt muss
es wieder sein. Weil ich so stolz bin auf mich. Das erste Mal habe ich
hier Silvester gefeiert. Mit Laura im Garten in den Himmel voller aufblühender Feuerwerkssterne gesehen und das allererste Mal seit wir
161
mit Papa geflohen sind nur diese Schönheit gesehen und keine Bedrohung. Weil: Noch letztes Jahr bin ich mit vor Panik klappernden
Zähnen zusammengebrochen und hab an einen Bombenhagel gedacht, als die Leute unten im Dorf gefeiert haben. Es klang so ähnlich.
Die zerrissene Luft. Der Rauch, der seitwärts über die Häuser zog.
Der Geruch von Verbranntem. Das Feuerwerk war auch diesmal ganz
schön laut. Ich hab mich drauf vorbereitet. Und als es so weit war,
habe ich nur ganz kurz Angst gehabt. Hatte schließlich Wachs in den
Ohren. Angst hatte diesmal allerdings die arme Kassandra. Mit jedem Zischen der Raketen hat sie sich tiefer unter das Bett verkrochen und leise gejault. Susi hat das übernommen, damit wir draußen
sein konnten. Sie hat schon genug Feuerwerke gesehen, hat sie gesagt.
Aber noch nicht viele angsterfüllte Hunde. Kassandra hat mir leidgetan, aber ich wollte einmal, nur einmal ganz an mich denken. Bin also
raus. Fast kein schlechtes Gewissen. Fast. Das muss ich noch üben.
Markus hat mir den Schal um die Schultern gelegt, den er mir zu
Weihnachten geschenkt hat, so einen weichen, breiten, rot gesprenkelten Schal, der wärmt auf der Stelle. Ich habe mein Gesicht in den weichen Strickstoff gekuschelt. Er hat meine Hand genommen. Und ich
die von Laura. Wenn Neujahr, dann alle gemeinsam, habe ich mir gedacht.
Wir haben zu dritt dagestanden, Markus, Laura und ich. Hand in
Hand in Hand, und haben den roten und grünen und weißen Funken
beim Herabregnen zugesehen.
»Wünsch dir was«, hat Markus gesagt und mir das Wachs zum
Schmelzen hingehalten und Laura den Topf mit kaltem Wasser. Bleigießen mit Wachs.
»Wachs in den Ohren, Wachs in den Pfoten, passt doch«, hat sie
gesagt.
Meine Zukunft hat wie ein Brokkoli ausgesehen.
162
»Vielleicht wirst du Bäuerin«, hat Laura gesagt. Dann hat sie das
Wachsstück umgedreht. »Oder Atomphysikerin.«
Nein, Ärztin, habe ich mir gedacht, aber ich wollte nicht ernst werden an diesem Abend. An diesem Abend hat Markus mich lange geküsst, und es war wieder schön.
163
15
Nach den Weihnachtsferien ist die King wieder da. Noch ein bisschen
schmäler, noch ein bisschen kantiger. Wie eine ausgehungerte Nebelkrähe. Und noch ein bisschen strenger.
Und das Erste, was sie gemacht hat, war, die Extraübungen von
mir zu verlangen. Als hätte ich sie ihr vorenthalten! Woher soll ich
denn wissen, dass sie heute zurückkommt? Ich bin doch kein verdammtes Orakel!
WV
Susi gibt mir nach meiner endlosen Klagelitanei über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die von meiner Klassenlehrerin
im Besonderen eine Schachtel Pralinen mit.
»Für deine Lehrerin«, sagt sie.
Sie glaubt offenbar, ich kann die zürnende Göttin mit Opfergaben
besänftigen. Da kennt sie die King aber schlecht. Ich glaube, dass sie
unbestechlich ist wie so ein ganz knallharter Ermittler. Sie ist nur
noch härter als ein knallharter Ermittler. Sie nimmt mit ausdrucksloser Miene die Schachtel an.
WV
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Ha! Heute, als mir die King alle meine Übungen kontrolliert zurückgibt, lächelt sie sogar. Und tätschelt mir die Schulter.
WV
Laura traut sich endlich und hat versprochen, mir Sophie vorzustellen. Ich freu mich und ich fürchte mich und ich hoffe, ich kann mich
passend verhalten.
WV
Wir sitzen im Bus, und Laura packt das Handy aus und hält es mir hin.
Das Mädchen auf dem Foto schaut ernst. Rotes Haar mit einer Tolle
vorne und eine dunkelblaue Bluse mit Sternschnuppen drauf. Hat
für mich ein bisschen etwas von Alice im Wunderland. Laura flüstert:
»Das ist sie.«
Und was soll ich jetzt sagen? Glückwunsch? Was sagt man da? Was
hätte ich zu einem Jungen gesagt? Ja, auch Glückwunsch.
»Glückwunsch«, sage ich also. War gar nicht so schwer.
WV
Ich hoffe, ich bleibe für Laura wichtig.
Das habe ich mir übrigens noch bei jedem neuen Freund von ihr
gedacht. Ha, ha, ha.
WV
Rami sollte heute eigentlich zu Franzi gehen, aber Franzis Mutter hat
abgesagt. Es ist ihr etwas dazwischengekommen. Jetzt hängt er die
ganze Zeit in meinem Zimmer ab und nervt, bis ich mein Tagebuch
hinwerfe und aufgebe. Ich geh mit Kassandra laufen, weil ich niemanden hören und sehen will. Scheißtag. Alles, alles Kacke heute.
WV
165
Bin in der Nacht wieder einmal hellwach herumgelegen, weil ich das
Gefühl hatte, etwas ist ganz nah dran an der Oberfläche meiner Gedanken, aber es kommt noch nicht richtig raus. Und ich habe im Trüben gefischt und gefischt danach. Weil es immer nur so knapp davor
war, sich mir zu zeigen. Und dann bin ich doch eingeschlafen. Und
erst in der Dusche in der Früh wurde mir endlich klar, was es war. Dieses komische Eiertanzen, das ich jetzt bei Laura vollführe, wenn es um
Sophie geht. Das ist ganz ähnlich wie das, was andere bei mir und meiner Familie machen. Man weiß nicht, wie man sich verhalten soll,
wenn etwas unbekannt und dadurch seltsam für einen ist.
WV
Markus zeigt mir auch Fotos. Verschiedene Universitäten. Verschiedene Städte. »Da würde ich ganz gern hin«, sagt Markus und tippt
auf den Bildschirm. Die Uni ist ganz weit weg. Von unserer Sommerreise spricht er nicht mehr.
WV
Ich glaube, ich hatte schon ewig lange keine Schmetterlinge mehr
im Bauch. Aber eine Menge unbehauener kalter Steine. Wie der Wolf,
der die sieben Zicklein fressen wollte. Wobei, er hat sie ja gefressen.
Hat ihm nur nicht so gutgetan. Manche erfüllten Wünsche tun einem
einfach nicht gut. Wenn man es genauer betrachtet.
WV
Wache auf, denke an Papa. Denke daran, dass das Warten vielleicht
ein Blödsinn ist. Denke daran, dass auch Laura ohne Vater auskommt. Nicht mal so schlecht. Aber ihr Vater war nicht gerade nett
zu seiner Familie. Bis die Polizei kam und er schließlich ein Kontaktverbot bekommen hat. Und Lauras Familie wochenlanges Ge166
rede im Ort war. Na ja, das hat mein Vater aber auch ganz gut hingekriegt.
WV
Überall liegt Schnee, ich wandere mit Kassandra durch den Wald,
ganz allein. Alle Geräusche sind verschwunden, die Welt ist unter
einer Glocke aus Stille. Die Zweige und die Büsche sind seltsame
Skulpturen, in die Kassandra mit Schwung hineinspringt, bis die
Schneeflocken um ihren Kopf stieben, die sie zu schnappen versucht.
Ihre Augen leuchten, und ihr Sabber glänzt mit dem Schnee im Sonnenlicht um die Wette. Über die Lichtung führt ein feines Band von
Rehspuren.
WV
Ich schlafe bei Laura. In der Früh komm ich runter, um mich umzuziehen und meine Schulsachen zu packen, und finde einen tieftraurigen Rami beim Frühstück vor. Die Cornflakesschüssel steht unangerührt vor ihm.
»Was ist los?«, frag ich ihn, obwohl ich es schon wirklich eilig
habe.
»Franzi darf nicht zu mir kommen.«
»Heute nicht? Dann vielleicht ein anderes Mal«, muntere ich ihn
auf. Und er sagt: »Nein, überhaupt nicht. Gar nicht.«
»Warum?«
»Weil wir Assilanten sind.«
Ich balle die Faust in meiner Tasche, bis meine Nägel in die Haut
einschneiden. Dann setz ich mich zu ihm und sehe ihn sehr fest an.
»Nein, Rami. Wir sind keine Asylanten.«
»Was sind wir dann?«
»Wir sind Menschen, Rami.«
Er rührt unschlüssig in seinen Cornflakes herum.
»Dann darf Franzi ja vielleicht doch kommen?«
167
»Ich kümmere mich darum«, verspreche ich, schneller als ich eigentlich nachdenken kann. Und jetzt habe ich das Gespräch mit der
Franzi-Mutter an der Backe. Hurra.
WV
Wer glaubt, nur mein Vater sei stur und nicht für logische Begründungen zugänglich, hat noch nie mit Franzis Mutter diskutiert.
WV
Ehrlich, ich kenne nur zwei Personen, die so stur im Kreis geredet haben wie Franzis Mutter. Die eine ist mein Vater, der vor lauter Tradition in den möglichen Tod gezogen ist. Und die andere ist der Volltrottel aus unserer Flüchtlingsunterkunft, der sich unbedingt einer
Terrororganisation anschließen wollte. Weiß ich, weil er mich ebenso
versucht hat anzuwerben. Fast gleich alt wie ich war der. Und dann ist
er verschwunden, nachdem ich ihn natürlich sofort bei meinem Vater verpfiffen habe und der ihm dann die Leviten gelesen hat. Denn
Gewalt verabscheut Papa bis auf den Grund seines Herzens. Immer
schon. Vor dem Krieg. Während des Kriegs. Als wir den Krieg hinter
uns gelassen hatten.
Umso schlimmer, dass er dorthin zurückgegangen ist, wo diese
Gewalt etwas vollkommen Alltägliches geworden ist. Wo keiner mehr
fragt, warum überhaupt. Sie durchdringt alles. Jeden, der zu lange
dort verweilt. Man atmet sie mit der Luft ein, man nimmt sie mit dem
Essen auf, man schwitzt sie raus an schwülen Tagen. Ich denk dran,
und mein Vater tut mir unendlich leid. Und ich denk mir, Franzis
Mutter hat doch keine Ahnung. Keine Ahnung von gar nichts außer
ihrer kleinen Welt um ihr Gärtlein mit den Hasen, die der Franzi so
liebt. Und gleichzeitig denke ich: Wie schön für Franzi, dass er nur die
Hasen, den Garten und seine beschränkte Mutter kennt und nichts
168
von dem, was Rami verdauen muss. Natürlich kann ich sie nicht mehr
umstimmen.
Egal was ich ihr erkläre.
Franzis Mutter ist offenbar eine Freundin von der Mutter von einer Freundin vom Huper. Und der Huper spricht offenbar den ganzen lieben langen Tag nur von der Gefahr, die von solchen wie uns
ausgeht. Und offenbar dürfte er viel Zeit dafür haben, darüber zu sprechen, weil sie zwischendurch vermerkt, dass der Arme doch so lange
schon ohne Arbeit ist. Als ob ich auch noch Mitleid mit ihm haben
müsste! Bloß weil ich den Huper und seine Freunde nicht mehr sehen
muss, seit ich montags zu Frau Wischmann gehe, heißt das wohl nicht,
dass sie aufgehört haben mit dieser Scheiße.
Und irgendwann ziehe ich ihr kunstvoll aus der Nase, dass sie jetzt
Angst hat, dass ihr Sohn mit irgendwas angesteckt wird. Dass wir bei
Susi wohnen und nicht im Flüchtlingsheim, ist ihr egal.
»Aber Ihnen haben die Kekse von meiner Mama doch so gut geschmeckt«, erinnere ich sie. »Das war doch schön, als Sie da waren bei
uns, oder?«
Und sie schweigt ein bisschen und schluckt und sagt dann: »Ich
habe einen Topf auf dem Herd stehen. Lass uns bitte aufhören.«
WV
Heute war dieser eine Tag. Der ganz besondere. Laura und Sophie
und ich. Wir treffen uns nicht im Café oder bei uns zu Hause, wie
Laura es sonst immer gemacht hat, wenn sie mir jemand Neuen vorstellen wollte. Wir gehen in den Wald. Ich finde es schade, dass sie so
auf heimlich macht, aber was soll ich tun, wenn sie einfach keinem in
dieser Sache traut. Sie hat panische Angst, jemand würde es rausfinden. In der Schule. Hat Angst vor dem Gerede. Und ich mache mich
sicherlich nicht lustig über ihre Ängste. Also gehen wir in den Wald.
169
Und Laura macht es auf maximal dramatisch, mit umdrehen und
ständig gucken, ob uns wer folgt. Kassandra ist völlig nervös geworden, weil sie natürlich gespürt hat, wie aufgeregt Laura ist. Mir scheint,
dass Sophie von dieser Geheimniskrämerei nicht wirklich angetan ist.
Ich verstehe sie.
»Benimm dich«, zischt Laura, als hätte ich mich bei allen ihren
Verflossenen jedes einzelne Mal fürchterlich danebenbenommen. Ich
war doch noch zum größten Volltrottel superfreundlich, nur für sie.
Sophie ist klein, kleiner, als ich damals am See geschätzt habe. Und ein
bisschen rundlicher. Auf eine nette Art rundlich. Genau genommen
ist sie so ziemlich das Gegenteil von mir. Sie ist furchtbar nervös und
bemüht, und unser Small Talk ist genauso schlimm wie die Small
Talks mit all den anderen Laura-Kandidaten. Sie wollen Händchen
halten, und ich weiß plötzlich nicht, wo ich hinsehen soll. Und dann
sagt Sophie sehr ernst: »Darf ich bei euch mitmachen? Beim Sprayen?
Ich bringe noch zwei Freunde mit. Die finden das alles ganz schrecklich.« Und ich mag sie sofort. Sie ist tapfer. Ich mag das. Wirklich.
Sehr.
»Klar«, sage ich. »Sowieso. Immer.«
Als wir zurückgehen, pfeift Laura fröhlich vor sich hin. Es ist
fast so, wie es mal war. Leicht.
WV
Franzi heult. Rami heult. Weiß ich, weil Franzi angerufen hat. Die
Nummer von uns ist in deren Telefon offenbar noch immer eingespeichert.
WV
Ich glaube, so fühlt es sich an, wenn dein mit Blut, Schweiß und Tränen neu errichtetes Königreich in so einem Fantasyfilm per miesem
Zauberspruch einfach wieder zu zerfallen beginnt. Ich lass es nicht zu.
170
Ich bin hier. Ich werde hierbleiben. Und meine Mama, mein Bruder
und meine Tante auch. Basta.
WV
Laura ist sehr lieb zu mir. Ich fühle mich stärker, wenn es uns gut geht.
Franzi und Rami spielen Romeo und Julia. Ohne Balkon. Am Telefon.
WV
Susi verspricht, mir zu helfen. Sie möchte auch noch mit Franzis Mutter reden. Ich mache mir sogar ein bisschen Hoffnungen, dass es klappt.
Auf jemanden von hier wird sie wohl eher hören.
171
16
Heute Nacht ist mir keine Ruhe vergönnt. Ich irre in einem Wald umher, der
mich ein bisschen an den hinter unserem Haus erinnert. Irgendwo da drin
höre ich Rami nach mir rufen. Aber so schnell ich auch laufe, ich komme nie
näher. Irgendwann wird mir klar, dass ich mich langsam bewegen muss, um
weiter in den Wald vordringen zu können. Ich schleiche also Schritt um
Schritt seiner Stimme entgegen, die irrlichtert und mal von da und dann
wieder von dort zu hören ist. Die Wolken ziehen vor den Mond und versenken uns im Dämmerlicht. Irgendwann stimmt auch meine Mutter ein.
»Wir sind auf der Lichtung, Madina!«
»Nur noch ein paar Schritte! Wir hören dich schon!«
Aber kaum habe ich meinen Fuß auf diese nebelige Lichtung gesetzt,
steigt aus der feuchten Erde ein Monster voller Tentakel empor, die sich über
meinem Kopf winden – erst durchscheinend und gasförmig. Aber es manifestiert sich so entsetzlich schnell, bevor ich noch einen weiteren Schritt machen kann. Aus jedem Tentakelende schnappt ein Mund nach mir.
»Weg mit euch«, kreischt einer mit hoher Frauenstimme.
»Raus hier«, lacht ein anderer.
»Keiner braucht euch!«
Sie schreien durcheinander, ein unrhythmischer Chor, leise und spöttisch, laut und gereizt, einschmeichelnd und arrogant. Brutal.
»Ich leuchte euch heim«, säuselt einer. »Hier ist kein Platz für euch!«
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Sie sind so laut, sie summen und kreischen, ich kann meine Mutter nicht
mehr hören und Rami auch nicht. Und als ich zurückweiche, schießen sie
zu mir vor. Ich hebe einen dicken Ast auf, der zu meinen Füßen liegt, und
schwinge ihn wie ein Schwert. »Wer hat euch gefragt?«, schreie ich.
Und sie lachen und brüllen und fluchen und zischen und kreischen.
Ich schwinge den Ast, aber kaum habe ich einen Tentakel getroffen und abgetrennt, wächst mit atemberaubender Geschwindigkeit ein neuer Mund
nach.
»So läuft es nicht«, lacht er.
»Wir sind die vielen. Du bist die wenige.«
»Du bist nur geduldet hier.«
Ich brülle und schlage erneut zu, bis mich meine Kräfte im Stich lassen.
Und irgendwann erkenne ich, dass das Untier blind ist. Es hat nur Münder,
aber keine Augen. Ich lege den Ast lautlos ins Moos und schleiche mich in
weitem Bogen an ihm vorbei. Es lässt mich passieren.
WV
Habe mich gezwungen, mal wieder einen Brief an Oma zu schreiben.
Es ist so sinnlos. Konservierte, elendige Schreie über den Abgrund
drüber. Die vermutlich keiner hören wird.
WV
Sag das nie wieder, Madina.
WV
Als ich und Laura wie immer am Freitagabend zu Susi raufgehen, um
ihr beim Kochen für alle zu helfen, finden wir sie in der Küche vor,
mit einer dreiviertel leeren Weinflasche vor sich. Es ist nichts vorbereitet. Das war schon sehr lange nicht mehr so, seit wir eingezogen sind.
Laura beißt sich auf die Unterlippe. Sie kennt das. Bevor wir einzogen,
173
war das nicht so ungewöhnlich hier. Wir haben früher nie darüber
gesprochen, nur die Flaschen weggeräumt und das Abendessen gemacht. Ich sage: »Susi, komm doch heute zu uns runter. Wir kochen
was für dich.«
Und dann geh ich und beauftrage meine Tante, die sich mit dreihundertfachem Elan an die Arbeit macht, als hätte sie heute eine
Schlacht zu gewinnen.
WV
Komme von der Schule heim und sehe, wie die ganze Hecke wackelt.
Rufe Kassandra, sie kommt aus dem Busch herausgesprungen und
läuft gleich wieder zurück. Ich gehe ihr nach und finde Rami und
Franzi im Garten hinter dem Kirschlorbeer.
»Du darfst uns nicht verraten«, flüstert Rami.
»Wie bist du denn hergekommen, Franzi?«
»Bin weggelaufen.«
Ich muss ihn an der Hand nehmen und zurückbringen. Sonst heißt
es noch, wir würden kleine Kinder stehlen.
»Ich hasse dich!«, schreit uns Rami hinterher und wirft mit einem
Stein nach mir.
WV
Die Tage werden wieder länger. Man hört wieder Vögel zwitschern am
Morgen. Ich hab bald Geburtstag.
WV
Die King stresst mich seit dem Zwischenzeugnis noch mehr. Komme
kaum zum Schreiben.
WV
»War was in der Schule?«, fragt Markus. Heute ist einer der seltenen
Abende, die wir Zeit füreinander haben, wo nicht einer von uns am
Lernen ist. Ich nicke nur. »Du willst nicht darüber reden, oder?«
174
Nein, will ich nicht. Markus versteht so was. Er würde nie nachbohren, wenn ich nicht reden will. Das schätze ich so an ihm. Werde
ich immer schätzen. Egal was sonst passiert zwischen uns.
»Magst du ein bisschen raus?«
Wir setzen uns in die Gartenschaukel. Wir reden nicht viel. Es ist
auch nicht nötig. Wir mögen uns. Das ist ausreichend für mich. Vielleicht ist da einfach nicht mehr. Ist auch okay.
Markus legt den Arm um mich. »Machen wir ein Fest? Oder ein
Abendessen im Kerzenschein? Du hast ja bald Geburtstag.«
»Ich wünsch mir Weltfrieden und eine Jeans«, sage ich.
Da platzt Laura dazwischen. Weil sie an der Verandatür gehorcht
hat. »Natürlich gibt’s ein Fest. Was glaubst du denn!«
WV
Franzi ist nicht wiedergekommen.
WV
Es ist nicht nur Franzi nicht wiedergekommen, sondern auch kein
Brief von zu Hause. Nie wieder.
WV
»Was wünschst du dir eigentlich zum Geburtstag«, hat mich Laura
gefragt. Und dann Susi. Und dann Rami. Und dann meine Mutter.
Herrje. Ich weiß gar nicht, was ich mir zum Geburtstag wünschen soll,
außer dass Papa wieder zurückkommt. Letztes Jahr habe ich gar nichts
gekriegt bis auf einen Blumenstrauß von meiner ganzen Familie. Wir
hatten ja gar kein Geld. Nichts. Und irgendwie war mir das lieber als
ein fettes Fest. Ohne Papa.
Markus ruft mich am Abend in den Keller.
»Komm ins Hauptquartier«, sagt er und öffnet einen Schrank: Von
175
oben bis unten ist der angefüllt mit Spraydosen aller Art. Rot, gelb,
schwarz, silber. Das reicht für ein paar Jahre übermalen, denke ich.
Muss ein Vermögen gekostet haben.
»Das Arsenal.« Er grinst zufrieden. »Ich habe zu Weihnachten eh
so viel bekommen von der Oma. Wollte ich sinnvoll einsetzen.« Ich
umarme ihn spontan.
»Ich will, dass du dich sicher fühlst«, sagt er. »Also: Die sind für
dich. Vorgezogenes Geburtstagsgeschenk. Du bist mir wichtig. Aber
das weißt du sowieso.«
Nein, nicht immer. Und ich weiß auch nicht immer, ob er mir so
wichtig ist wie am Anfang. Aber was ich weiß, was ich deutlich spüre:
Wir werden uns immer mögen. Und wir werden wohl immer aufeinander achtgeben. So oder so. Und irgendwo in mir gibt es einen
Teil, der sagt: Es ist okay so.
WV
Die King lobt mich. Aber nur ganz kurz. Weil meine Mathearbeit eine
der besten in der Klasse war. Und dann macht sie wieder so ein ernstes
Krähengesicht und gibt mir den nächsten Zusatzstapel. Damit mir
nicht langweilig wird. Laura hat die Arbeit beinahe in den Sand gesetzt, aber sie ist nicht missgünstig. Ist Laura nie. »Hauptsache, keine
Fünf«, lächelt sie und macht eine fette Kaugummiblase, die platzt und
an ihrer Nasenspitze hängen bleibt.
»Da hast du ein Taschentuch.« Ich bin jetzt wirklich stolz, dass ich
alles immer mithabe, was ich brauche. Hefte, Bücher, Federmäppchen,
Taschentücher. Ich hab das Leben voll im Griff. Ich kann anderen
sogar was davon abgeben.
WV
176
Susi steht nach dem Abendessen auf und sucht nach der letzten Weinflasche. Ich und Laura wechseln Blicke.
»Mama, was würdest du eigentlich wirklich gern machen? Wenn
du einen Wunsch frei hättest?«
Sie setzt sich wieder hin und lächelt.
»Eine schöne Reise nach Italien, eigentlich.«
Fährt sich durch die Haare, als ob sie schlechte Gedanken abstreifen wollen würde. Sie hat schönes dichtes, lockiges Haar, das sie seit
einiger Zeit kupferrot färbt. Sie mag kein Grau sehen, hat sie mal gesagt. Das Leben sei grau genug.
»Ach, einfach irgendeine Reise. Einfach ins Auto steigen und weg.
Weg.«
Sie steht wieder auf, aber nicht, um wieder zum Weinregal zu gehen, sie sammelt die Teller ein und trägt sie zum Geschirrspüler.
Laura macht ihn auf und beginnt, Teller um Teller akkurat in die Gitterfächer einzuordnen. Früher hat sie die hineingepfeffert, dass es nur
so geklirrt hat. Und auch erst, nachdem Susi sie mehrmals gebeten
hat.
»Dann mach das doch.«
»Mitten während des Schuljahrs?!«
Laura umarmt sie. »Wir sind schon groß, Mama. Du musst nicht
immer rumglucken. Wirklich. Mach was für dich.«
Susi wird ein bisschen weicher und kleiner, weil sie sich an Laura
anlehnt, so auf eine neue Art. »Vielleicht hast du ja recht.«
Dann seufzt sie. »Aber allein verreisen macht überhaupt keinen
Spaß. Absolut keinen, um genau zu sein.«
»Nimm doch Madinas Mutter mit«, schlägt Laura vor. Und ehrlich,
wieso ist mir das nicht schon früher eingefallen?
»Amina kümmert sich um Rami und wir um den Hund«, beeile
ich mich zu sagen.
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»Und um Markus«, flötet Laura.
»Was ist schon wieder mit mir?«, brüllt Markus aus seinem Zimmer
raus und übertönt den Film, der durch den Gang dröhnt.
»Nix, gar nix.«
Sie fahren weg!
WV
WV
Mama traut sich wirklich! Meine Tante hat zugesagt. Rami hat geschaut mit Augen, so groß wie fliegende Untertassen. »Du musst unbedingt dableiben, Rami. Kassandra braucht doch jemanden, der auf
sie aufpasst«, sagt Laura. Rami nickt.
Meine Mutter hat von Susi einen hübschen kleinen Rollkoffer für
die Reise bekommen. Susi kauft gerne ein, wenn ihr langweilig ist
oder sie sich nicht gut fühlt. Der Rollkoffer ist luftig und leicht, wie
die ganze Susi-Wohnung ist. Nichts an ihm erinnert an unsere schrecklichen Rucksäcke, deren Riemen auf der Flucht durch die Wälder und
Berge blutige Striemen gescheuert haben. Der Rollkoffer verspricht:
Dein neues Leben ist da. Meine Mutter streichelt ihn ganz vorsichtig,
bevor sie ihn in ihren Schrank stellt.
WV
Falls Rami sie zurückhalten will, bring ich ihn um. Versprochen.
WV
Na gut. Dann sperre ich ihn in den Schrank in unserem Zimmer. Blöder Witz. Man müsste ihn knebeln, damit das keiner mitkriegt. Und
ich will niemanden mehr knebeln müssen in meinem ganzen Leben.
Ich erinnere mich immer noch mit Schweißausbrüchen dran. Musste
ich tun, ich weiß. Sonst hätten die Verletzten geschrien und uns verraten, und dann wären wir alle tot gewesen. Vor langer Zeit. In einer
178
anderen Welt. Ich versuche, das alles von mir fernzuhalten. Das geht.
Wenn man es versucht. Jetzt bin ich ja hier.
WV
Manchmal denke ich, ich will keinen in meinem Leben, der mir sagt,
was zu tun ist. Wie Papa bei Mama. Manchmal denke ich: Markus ist
anders. Und manchmal denke ich auch: Das allein reicht nicht.
WV
Mama und Susi werden in einem Monat wegfahren. Zwei Tage. In ein
Kurhotel. Susi schenkt das meiner Mutter verspätet zu Weihnachten,
hat sie gesagt. Das ist die erste Reise meiner Mama ohne Familienoberhaupt. Zuerst war da immer mein Opa, dann mein Papa. Und dann
lange nix. Meine Mama ist cool. Echt.
WV
Laura sitzt in ihrem Zimmer und heult schon wieder. Wegen Sophie.
Die nicht zu meinem Geburtstag kommen will. Um ehrlich zu sein:
Es stört mich weniger als irgendwas sonst. Ich sage das aber nicht. So
was will man in einer solchen Situation vermutlich so gerne hören
wie ein schnippisches »Ich hab’s dir ja gesagt«.
Und irgendwann drehe ich ihren Lieblingsfilm auf und bring ihr
ihre Lieblingseispackung, und dann sage ich: »Man muss nicht etwas
machen, das einem immerzu wehtut.«
Sie schnieft, verzieht ihren schokoladeverschmierten Mund und
sagt dann: »Wohl wahr, aber das gilt genauso gut für dich und Markus.«
Und mir bleibt mein Eis im Hals stecken, weil ich weiß: Sie hat
eigentlich recht. Und dann lächelt sie sogar ein bisschen und sagt:
»Wenn wir beide wieder Singles sind, machen wir einfach den ganzen Sommer Interrail.«
179
Und ich lehne mich ein bisschen in ihre Kissen und schlecke den
Löffel ab, die süße Kälte auf der Zunge, und stell mir vor, wie wir zwei
wegfahren. Nur wir zwei. Und hey. Das macht mir ganz und gar keine
Angst mehr. Ich fahre weg mit ihr. Abgemacht. Sobald wir können.
WV
Hab mit Mama über das Wegfahren geredet. Also nicht über ihres.
Über meines. Und sie hat vor einem wirklichen Dilemma gestanden.
Eigentlich wollte sie wie immer sagen: »Nur, wenn Markus mitfährt.«
Und dann habe ich richtig in ihrem Gesicht beobachten können,
wie sie das fast Gesagte wieder unter einem anderen Aspekt überdenkt und zum Schluss kommt, das wäre absolut nicht schicklich,
wenn Markus mitkommt. Ich warte ab, bis sie das alles zu Ende gedacht hat, und sage: »Mama, ich und Laura können uns gut verteidigen. Wirklich.«
Sie lächelt, umarmt mich, fester als in den Monaten zuvor, weil sie
mehr Kraft hat. Und legt ihren Kopf an meiner Schulter ab und flüstert in meinen Hals hinein: »Ich würde es nicht ertragen, dich zu verlieren. Ich habe zu viel verloren.«
Und ich kann es zwar nicht aussprechen, aber ich denke mir: Ich
verstehe das, Mama. Aber ich gehöre dir nicht. Du kannst mich nicht
verlieren wie einen Handschuh. Ich komme zu dir zurück. Nur lass
mich auch mal gehen.
WV
Laura möchte nach Paris. Ich habe ihr gesagt, die »Stadt der Liebe« ist
für frisch Getrennte eher ein Blödsinn.
WV
180
Jetzt will sie nach London. Ich kann mir London nicht leisten.
WV
Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich mir nicht mal die nächste kleine
Stadt leisten.
WV
Paris, London, Barcelona: Das klingt so unreal für mich. Ich war noch
nirgendwo und nirgends. Das alles ist abstrakt und schillernd wie eine
Serie, wie ein Film, und ich könnte plötzlich mit Anlauf reinspringen.
WV
Ich will, dass endlich Sommerferien sind. Aber da liegt ja fast noch das
ganze Halbjahr dazwischen.
WV
Habe in die Geburtstagswunschliste, die mir Laura an die Küchenpinnwand gehängt hat, geschrieben: eine Reise. Und eine Jeans. Wünschen darf man ja, was man will.
WV
Letztes Jahr habe ich exakt ein einziges Fest besuchen können: Lauras
fünfzehnten Geburtstag. Und das war ein Drama ohne Ende. Weil
Papa es mir nicht und nicht erlauben wollte, weil ich eine erniedrigende Bazarfeilscherei mit ihm beginnen musste, wie in einem
schlechten Film voll blöder Klischees. Nein zu Markus, nein zu Alkohol, nein zu Festen. Und dann doch noch ein Ja, das mich Ramis
Zwangsbegleitung kostete. Ein Albtraum. Wirklich wahr. Aber es war
trotzdem schön und das erste Fest, zu dem mich hier jemand eingeladen hat. Davor war ich immer die ohne Einladung zu irgendwas.
Manchmal auch noch die Einzige.
181
Ich denke dran, an die Lampions und an die schöne große Festtafel,
an den leuchtenden pinken Plastikflamingo, der über uns in ihrem
Lebensbaum hängt, an ihre ersten Stöckelschuhe und an den ersten
roten Kussmund und an den ersten Schauer, den ich gespürt habe, als
Markus mich das erste Mal umarmt hat. Alles war Zauber an diesem
Abend, der von meinem Vater sehr effektiv gebrochen wurde, als er
mich um Punkt zehn Uhr abends abholen kam. Gnadenlos.
WV
Ja, ist ein beschissenes Dilemma. Mit Papa würde dieses Fest genauso
absurd für mich verlaufen wie das von Laura letztes Jahr. Und ohne
Papa macht mir meine Freiheit nicht wirklich die Freude, die sie verdient hätte.
WV
Susi und Markus und Laura haben Einladungskarten mit mir geschrieben. Wir haben gesagt: kein riesiges Fest, das wird meiner Mutter zu viel. Aber so ein gutes, solides Mitteldingfest.
WV
Ich verteile die Einladungen in der Schule und bin auf jedes einzelne
bunte Kärtchen, das meine Hände verlässt, so unglaublich stolz, als
wären sie aus Gold. Einige sagen freudig zu. Es sind weit mehr als die
paar, mit denen ich mich verstehe. Das ist nicht sehr verwunderlich,
Lauras Feste sind so ziemlich die coolsten weit und breit. Ein paar
sagen ab. Das überlebe ich auch noch. Mehr Torten für uns.
182
17
Ich mach die Augen auf und bin sechzehn. Über mir hängt eine
Spinne am Lampenschirm. Ich sehe ihr beim Bauen zu, bevor ich aufstehen muss, und kuschle mich in meine Decke hinein. Sie baut dieses
filigrane Gebilde mit der größtmöglichen Konzentration. Ab und zu
fährt ein Windstoß durchs Zimmer und reißt an dem Faden, an dem
sie hängt. Nachdem sie völlig durchgebeutelt worden ist, wartet sie,
bis alles wieder zur Ruhe kommt, und macht dann unerschütterlich
weiter. Ich möchte so sein wie diese Spinne. Nein: Ich bin so.
Letztes Jahr wären wir in zwanzig Minuten in den Frühstücksraum
getrieben worden, in einer Horde weiterer Menschen, wir hätten eine
genau zugeteilte Portion bekommen: zwei Stück Käse, eine Butter,
zwei hustentrockene Semmeln und eine süße Marmelade mit Farbstoff. Und einen Becher Filterkaffee. Was für ein Glückspilzchen ich
doch bin. Hier mahlen wir den Kaffee frisch wie damals zu Hause,
kochen ihn in einer hübschen Kanne auf, werfen Gewürze hinein und
Würfelzucker, braten die Zwiebeln knusprig zu den Spiegeleiern, die
mich aus dem Porzellanteller anlachen wie zwei kleine Sonnen zwischen Wolken. Wir haben duftendes Brot von unserem Bäcker, und
die Himbeermarmelade hat Susi selbst eingekocht, und sie schmeckt
süßer als eine Sünde. Unter der Dusche kann ich fast so lange stehen,
wie ich will. Ich stehe da in den Nebelschwaden und lasse das heiße
183
Wasser auf meinen Kopf prasseln. Es duftet nach Rosen. Die Rosenseife hat mir Laura letztes Jahr immer in die Schule gebracht, damit
ich mich in der Pause im Mädchenklo waschen konnte. Jetzt liegt sie
in einem hübschen Stapel mit Seidenbändchen drumherum in meinem eigenen Fach im Badezimmerschrank. Mein Haar ist bald schulterlang. Ich kann schon zwei kleine Zöpfchen flechten, wenn ich
will. Früher hätten sie sich in nassem Zustand an meinen Rücken geschmiegt, bis über den Po. Mein Kopf ist leichter ohne sie. Ich drehe
mich um meine Achse und betrachte meinen Körper, der sich so verändert hat in diesen letzten zwei Jahren. Sie machen mir keine Angst
mehr, die Veränderungen. Es ist gut.
WV
Ich male mir die Augen schwarz an wie einen Abgrund. Mit Dramawimpern dazu. Und ich ziehe mein schönstes Kleid an, so ein rotes,
das oben Puffärmelchen hat und eine enge Taille und dann ganz weit
schwingt. Ich bin heute die Königin des Tages, hat Laura gesagt. Ich
schaue alle paar Minuten auf die Uhr. Fünf. Sechs. Um acht kommen
alle. Laura deckt eine große Festtafel im Wintergarten. Und sie hat mir
verboten mitzuhelfen. Das ist eher doof, weil ich nur nervöser und
nervöser werde, wenn ich zum Nichtstun verdammt bin. Also pfeife
ich drauf und helfe doch. Salate und kleine Fleischhäppchen und
Avocadobrötchen mit Ei und mit Shrimps. Meine Mutter hat ihre
Honigtorte zubereitet, auf die alle sechzehn roten Kerzen draufkommen. Susi hat sich nicht lumpen lassen: riesige Schüsseln mit Tiramisu und Apfelschnittchen warten am Nebentisch. Und ein paar alte
Kerzenleuchter, die aus einem Vampirfilm stammen könnten. Lynne
kommt früher und hängt bunte Lampions aus dem Atelier ihres Vaters auf. Der Garten glüht in tausend Farben auf, während es dunkel
wird. Das alles ist für mich. Für mich. Ich kann es nicht wirklich glau184
ben. Es ist alles nur für mich! Was für ein Glück, solche Freunde zu
haben! Womit habe ich es nur verdient? Ich sag es Laura, und die lacht
und sagt: »Bei dir ist echt genug Scheußliches dieses Jahr passiert. Lass
uns einmal lustig feiern!«
Und löst damit exakt jenes Dilemma aus, das man auch hat, wenn
jemand sagt: Denk nicht an einen rosa Elefanten! So schnell kann man
gar nicht schauen, hat der rosa Elefant schon die Szenerie betreten.
Ich trete dem Elefanten, der da Papa und Oma und Kriegsgebiet heißt,
mit aller Kraft, die mir gegeben ist, in den fetten rosa Hintern. Ich will
wenigstens einen Tag ohne ihn verbringen können.
Und als sie beginnen einzutrudeln, da erfüllt mich das Öffnen des
Gartentores und das Begrüßen mit einem solchen Stolz, als wäre ich
eine Schlossbesitzerin, die einen riesigen feinen Empfang schmeißt.
Bin ich irgendwie auch. Rami darf eine Zeit lang dabei sein, dann
scheucht ihn meine Tante ins Haus. Kein Aufpasser für mich dieses
Jahr. Hätte mein Vater nie erlaubt. Nie. Mama und Susi stoßen mit uns
an, Susi mit ihrem Sekt, der dieselbe Farbe hat wie ihr frisch gefärbtes Haar, das im Kerzenschein leuchtet, meine Mutter mit Apfelsaft
und Mineralwasser. Sie umarmen sich, meine Mutter streichelt Susis
Rücken, und als wir die Discokugel anwerfen und bunte Flecken aus
Licht über Garten und Veranda spritzen wie Konfetti, das Laura schon
zuvor über meinen Kopf verteilt hat, und ich und Laura und Markus
zu dritt tanzen und Lynne mit einem Freund von Markus, als die Musik sich mit meinem Herzschlag synchronisiert und ich Markus küsse
und dann Laura an mich drücke und lache, den Kopf dem Sternenhimmel zugeneigt, ist es so, als wäre ich immer hier gewesen, bei ihnen. Markus zieht mich mit sich, und wir tanzen, tanzen auf der Veranda und drehen uns in den Garten hinaus, ich lege meinen Kopf an
seine Schulter und sehe aus dem Augenwinkel, dass Laura an der Festtafel zurückgeblieben ist, allein. Ein wenig verloren wirkt sie, aber sie
185
wendet sich schnell Robert zu, der mit Lynne mitgekommen ist,
und schon flirtet sie drauflos, als hätte es nie eine Sophie gegeben. Als
ich atemlos zurückkomme, überreicht mir Laura mit so einem verschmitzten Gesicht ein längliches Paket, dass ich denke: Das wird jetzt
aber die Jeans sein, so eine, wie sie letztes Jahr bekommen hat, aber als
ich es öffne, ist ein Schlafsack drin. Ein wirklich schöner olivgrüner
Schlafsack. Aber eben keine Jeans.
Und als wir später alle anderen Geschenke aufgemacht haben und
ich mich angemessen über alles gefreut habe, dann fällt mir wieder
ein, dass ich mir eigentlich eine Jeans und eine Reise gewünscht habe,
und es ist schon ein bisschen traurig, aber ich will nicht undankbar
sein und trete diese Enttäuschung genauso weg wie den rosa Elefanten. Irgendwann rinnt das Fest in die Nacht aus, es werden weniger
und weniger Gäste, und die Musik ebbt so weit ab, dass man einzelne
Gespräche wieder wahrnehmen kann. Ich gähne. Es ist schon wirklich
spät. Das ging im Handumdrehen. In Lichtgeschwindigkeit. Ich will
die verstreichenden Minuten zurückhalten und dehnen. Es soll noch
ein wenig feierlich sein.
Nur noch ein bisschen.
Wir räumen die Reste zusammen, die abgebrannten Kerzenstumpen,
die vollgekleckerten Teller, die Pizzaränder und die leeren Flaschen
und Gläser – Spuren des endenden Festtages. Ein bisschen nagt die
Trauer noch in meinem Bauch, dass ich bloß den Schlafsack bekommen habe und nichts von dem, was ich mir gewünscht habe. Aber,
sage ich mir, sei bloß froh, dass du einen so schönen Garten gehabt
hast zum Feiern. Freunde. Und laute Musik und Tänze unter dem
Sternenhimmel. Das ist bitte nicht nichts! Laura gähnt. Susi hat sich
schon hingelegt. Meine Tante und Rami winken uns aus dem Fenster
zu, dann geht das Licht in unserem Zimmer aus. Als wir uns alle ver186
abschiedet haben, nimmt mich meine Mutter noch am Ellbogen und
hält mich zurück. Und wir setzen uns noch hin, in Kuscheldecken
eingewickelt, auf die Stufen zum Garten. Es ist immer noch kalt, aber
der Frühling ist schon da. Wir sitzen nur zu zweit da, was so selten geworden ist. Und irgendwie ist es auch anders zwischen uns als früher,
die Nähe ist nicht mehr selbstverständlich: weil ich mich wegbewege
und weil sie mich mich wegbewegen lässt. Wir sitzen da, beide in dicke Schals gehüllt, und halten warme Teegläser in unseren Händen.
Wir reden nichts, aber es ist ein schönes Schweigen, kein unangenehmes. Ein vertrautes. Rami ist im Haus und liegt schon im Bett, Kassandra bewacht seinen Schlaf. Es ist seltsam normal, etwas Kostbares,
Neues. Wir stehen auf zwei Gleisen, die vielleicht noch eine Zeit lang
nebeneinander verlaufen werden, aber irgendwann werden sie sich
weiter und weiter entfernen, und die Züge nehmen unterschiedliche
Wege. Meine Mutter nimmt einen kleinen Schluck Tee und kramt
dann in ihrer Tasche, die dunkel und geräumig ist wie ein halbes Universum. Da hätte sogar eine Zimmerpalme Platz. Und als sie fertiggekramt hat, zieht sie ein Paket raus und hält es mir hin. Ein bisschen
unsicher.
»Schau mal«, sagt sie leise. »Letztes Jahr, da habe ich das noch nicht
geschafft. Und jetzt schaffe ich es. Von Herzen für dich.«
Ich nehme das Paket, es ist so mittelleicht und mittelweich. Vielleicht ein Kleidungsstück. Ich reiße das Papier auf. Im Riss sehe ich
Jeansstoff. Ich habe eine leise Ahnung, aber ich kann es mir nicht
wirklich vorstellen, dass sie sich bewahrheiten könnte. Ich ziehe das
Kleidungsstück aus der Verpackung: eine dunkle Jeans. Blau wie die
tiefste Märchennacht.
WV
187
»Und, wie ist der Schlafsack so?«, hat Laura lauernd auf dem Weg in
die Schule gefragt. Ich habe mit den Schultern gezuckt.
»Schön natürlich. Warum?«
»Hast du ihn schon verwendet?«
»Nein, wieso?«
»Mach mal, wenn wir zurück sind.«
Also nehme ich den Schlafsack tatsächlich aus seiner Schutzhülle,
bevor ich mich ins Bett lege. Ich soll ihn ja verwenden. Na, wenn sie
unbedingt meint … Ich ziehe den silbernen Reißverschluss hoch, und
als ich den Schlafsack aufklappe, fällt ein Kuvert aus ihm heraus. Mit
Herzchen und Blümchen und Glückwünschen von allen. Ich öffne
das Kuvert: drin ist ein Interrailticket. Meine Glücksschreie kann man
vermutlich noch zwei Kilometer vom Haus entfernt hören. Die Nachbarn wissen jetzt jedenfalls gut Bescheid, dass ich wegfahren werde.
WV
In dieser Jeans fühle ich mich so unglaublich neu. So als Königin der
Nacht und Anführerin der Räuberbande. Meine allererste Hose überhaupt. In der kann man die Beine auseinandergrätschen und muss
nicht darauf achten, ob der Rocksaum rutscht. Kann auf Bäume klettern und über Zäune springen, ohne auf irgendetwas achten zu müssen bis auf die eigenen Beine. Und Rad fahren! Ohne aufpassen zu
müssen, was da in die Speichen geraten könnte! Diese Jeans verleiht
Superkräfte Total. Laura hat ein Foto von mir geschossen und mir gezeigt. Mein Hintern schaut genauso schön in diesem Blau aus, wie ich
Lauras Hintern letztes Jahr schön gefunden habe. Nur Stöckelschuhe
habe ich nicht. Und will ich auch gar nicht haben. Seit Kassandra da
ist, hat Laura auch keine mehr getragen, weil man einfach sofort auf
die Schnauze fällt, wenn sie an der Leine reißt oder an einem hochspringt. Kassandra. Nicht Laura. Ich hab mich vor ihr hin und her ge188
dreht wie Aschenputtel nach dem Besuch der guten Fee und noch vor
dem Ball, so glücklich.
»Passt dir!«
Ich frag mich ja eigentlich, woher meine Mutter das Geld dafür
hatte, und auch, woher sie wusste, welches Modell cool ist. Laura grinst.
Ich hab da so einen Verdacht.
WV
Meine Mutter, die über ihren Schatten springen wollte, um mir dieses
Geschenk zu machen, sieht mich mit der gerade erst verschenkten
Jeans und verzieht das Gesicht. »Trag wenigstens das hier drüber«, sagt
sie und reicht mir ein langes schwarzes T-Shirt, das fast ein Kleid sein
könnte. Der Sprung über den Schatten will ihr nicht ganz gelingen.
WV
Der Lederjackentyp, den ich schon mal in der Gruppe am Hauptplatz gesehen habe, pfeift hinter mir her, als ich ihm in meiner Jeans
auf dem Schulflur begegne. »Wer hier leben will, muss sich anpassen«,
sagt er, und das ist vermutlich auch noch als Kompliment gedacht.
Die zwei Mädchen, die ihn eskortieren, lachen. Laura und ich bleiben
nicht stehen. Er geht uns lästig nach. Die Jeans trage ich nur für mich
und sonst für niemanden. Und schon gar nicht für so einen Trottel
wie ihn. Ich balle die Fäuste in meiner Jacke, aber ich lasse sie im Verborgenen.
Als er mich wieder anspricht, drehe ich mich um wie ein angeschossener Bär. Aber ich sage nix.
»In dieser Jeans kann sie dich besser treten«, zischt Laura. Er weicht
vorsorglich ein paar Schritte zurück.
»Dass du immer gleich brutal wirst, wie aus dem wilden Dschungel«, nölt er. »Ich hab das nett gemeint.«
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»Wir brauchen dein Nett nicht. Wir brauchen dich nicht. Und jetzt
lass sie in Ruhe.«
Er zieht den sprichwörtlichen Schwanz ein und trollt sich. Ich
weiß, wir könnten ihn hier leicht abwehren. Aber nicht, wenn er in
seiner Menge Gleichgesinnter am Hauptplatz steht. Ein Scheißgedanke ist das.
WV
Jemand hat bei Susi angerufen, wild geschimpft und aufgelegt. Weiß
ich, weil wir grad im Wohnzimmer saßen. Wir haben alle so getan, als
wäre nichts passiert.
WV
Waren Rad fahren. Amina hat mir ihr über alles geliebtes Fahrrad
überlassen. Kassandra ist mir fast vor die Räder gelaufen. Ich fahre nie
wieder Rad mit ihr.
Laura hat sich die Augen ausgeheult, weil Sophie sich seit meinem
Geburtstagsfest nicht mehr gemeldet hat.
»Ruf sie an«, hab ich gesagt.
Laura wehrt sich. Dann ruft sie doch an. Sophie hebt nicht ab.
Ich schäme mich dafür, aber in einem Winkel meiner Seele freut
mich das.
WV
Weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist alles so irre. Irre. Es ist
wahnsinnig schön und wahnsinnig furchtbar, und dieses Schöne und
Furchtbare liegt so nah beisammen, dass es kaum auszuhalten ist. Es
ist schöner und furchtbarer, als mein Märchenwald je gewesen ist.
Keine Fantasiewelt kann so furchtbar und so schön sein wie das nackte
Leben. Ist so. Ist einfach so.
Also, wo anfangen? Wo verdammt noch mal anfangen?
Vielleicht mit dem Anruf mitten in der Nacht.
Mitten in der Nacht klingelt nämlich das Festnetztelefon in Lauras
190
Wohnung oben. Das habe ich natürlich nicht gehört. Hab tief und
fest und nichtsahnend geschlafen. Dann, als keiner abgehoben hat, ist
mein Handy losgegangen. Ich hab mit der Hand draufgehauen und
wollte weiterschlafen. Beim zweiten Läuten war ich schon etwas wacher und habe mich schon wundern können, wieso um drei in der
Nacht mein Handy bimmelt. Und ich geh total schlaftrunken ran und
frag mich noch, ob irgendein Mitschüler sich einen saublöden Scherz
erlaubt und will schon losschimpfen, da meldet sich eine sehr ernste
Stimme mit: »Hier das Polizeikommissariat.«
Ich wusste gar nicht, wie schnell ich so hellwach sein kann. Echt.
Und sie reden auf mich ein, und ich bin in nicht mal drei Minuten
in meiner Jeans drin und in meinen Schuhen, und dann wecke ich
meine Mutter und meine Tante, aber jemand muss bei Rami bleiben,
und wir entscheiden, dass Mama bleiben soll, weil sie sofort zittert
und ganz bleich ist und niemand jetzt zusammenbrechen sollte. Sie
soll Susi wecken, weil: Susi werden wir definitiv noch brauchen, aber
die Geduld, auf sie zu warten, habe ich ebenso definitiv nicht. Amina
ist fast noch schneller angezogen als ich, noch schneller in ihren Stiefeln, weil man nach einigen Jahren Krieg einfach immer startklar ist,
immer bereit, in die Kleider zu stürzen und um sein Leben zu rennen,
und keine von uns hatte den Mut, das wieder zu vergessen. Weil: Vielleicht braucht man es ja noch mal. Wir sind also kriegsschnell in unser
Zeug, und wir rennen los, durch die Dunkelheit. Irgendwann fällt
meine Tante zurück und hält sich die Seite und ruft mir nur zu: »Ich
komme nach«, und ich bin superglücklich, dass ich so viel Sport getrieben habe dieses Jahr und immer noch nicht außer Puste bin.
Eine Gasse, noch eine, einen Haken über den Hauptplatz an der
beschmierten Statue vorbei, die noch immer keiner gereinigt hat, und
in die nächste Straße rein. Die Polizeistation ist in der Nähe von der
Bushaltestelle. Ich stürme rein und stoße die Tür so heftig auf, dass sie
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hinter mir mehrmals auf- und zuschwingt und schließlich mit einem
ohrenbetäubenden Knall zufällt. Der Polizeibeamte, der am Schreibtisch eingenickt ist, fährt hoch.
»Ich bin die Verwandte, die Sie angerufen haben«, stoße ich hervor
und ringe jetzt doch nach Luft. »Ich bin jetzt da!«
Er bedeutet mir mitzukommen und führt mich in das Hinterzimmer.
Und dort, auf einer Bank an die Wand gelehnt und in sich zusammengesunken und in eine Militärdecke gewickelt, ganz klein und
dünn und verloren mit baumelnden Beinen in zerfallenden blutigen
Schuhen sitzt sie: meine Oma.
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Ich weiß nicht mehr genau, was dann passiert ist. Aber was ich nie vergessen werde, ist dieser Augenblick, als ich sie in meine Arme schließe
und sie so zerbrechlich und klein an meiner Brust liegt, zitternd wie
Kassandra, als wir sie geholt haben. Sie hat die Augen ganz fest zu und
drückt sich an mich, und ich drücke sie zu mir, als wären wir zwei
mächtige Magneten, die nichts anderes können, als sich anzuziehen.
Was für ein verspätetes Geburtstagsgeschenk.
Die nächsten Stunden sind völlig lückenhaft in meiner Erinnerung. Ich weiß nur, wie wir in Susis Auto sitzen: ich, meine Oma und
Amina. Und ich nichts fragen will. Aber Amina sich nicht zurückhalten kann. Und ich will am liebsten nicht da sein, nichts hören und
nichts sehen und nichts wahrnehmen, als sie nach meinem Vater fragt.
Und meine Oma nur die Augen schließt und den Kopf schüttelt.
WV
Da ist etwas in mir zerfallen, und kein Zauber dieser Welt wird das
wieder zusammensetzen können. Dieses Kopfschütteln. Nur dieses
Kopfschütteln.
WV
193
Langsam kommen die Erinnerungen an die Nacht wieder. Meine
Oma ist so erschöpft, dass sie noch im Auto einschläft. Ich halte ihre
Hand, die knorriger und kleiner ist als in meiner Erinnerung. Vielleicht ist aber auch nur meine größer und stärker geworden. Ihr Haar
hat sich aus dem langen, dünnen Zopf gelöst. Die Schläfen sind fast
vollständig nackt. Nur ein wenig Flaum um die Ohren, so ein Flaum,
wie ihn Küken auch haben. Sie zittert im Schlaf. Ich ziehe meine Jacke
aus und lege sie ihr um die Schultern. Es ist eine Daunenjacke, die
sie augenblicklich wärmt. Ich schaue sie an, während die Lichter der
entgegenkommenden Autos über unsere Gesichter wandern. Ihres ist
klein und eingefallen, nicht mehr ein runzliger Apfel, sondern mehr
so eine runzlige Rübe. Die Falten auf der Stirn bilden ein neues Muster. Die Augen liegen in tiefen Schatten. Sie wiegt bestimmt nur noch
vierzig Kilo. Sie ist so leicht, dass ich sie problemlos tragen könnte,
wenn es nötig wäre. Ihre Kleider sind schmutzig und stinken. Zu
Hause achtete sie immer auf sauberste Kleider. Sie wusch sie jeden
Tag. Der Polizeibeamte hat angeekelt geschaut. War mir völlig egal.
Total. Ich nehme die Träne aus Lapislazuli ab, die sie mir gab, als wir
gingen. Ihr Anhänger, den sie Tag und Nacht als Glücksbringer trug.
Meine Finger hat sie damals um den Stein gelegt und fest zugemacht.
»Den gibst du mir wieder, wenn wir uns wiedersehen«, hat sie damals geflüstert und sich die Augen abgewischt. Ich nehme die Lapislazuliträne ab und lege sie in ihre Hand und schließe ihre Finger, so, wie
sie meine damals geschlossen hat. Sie ist so erschöpft, dass sie wieder
loslässt, und ich stecke den Anhänger erneut ein, für später. Ihre Ankunft hat mich dazu verführt, mich wieder kindisch zu benehmen.
WV
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Und ich freue mich so über sie, ich kann es nicht fassen, dass sie hier
ist, dass sie lebt, und jedes Mal, wenn dieses Freudengefühl in meiner
Brust hochsteigt, erinnere ich mich daran, dass Papa nicht mit ihr gereist ist. Und Onkel Miro. Und ich traue mich nicht zu fragen.
WV
Tut mir leid, ich kann jetzt nix schreiben. Zu heftig, zu viel.
WV
Immer noch zu viel.
WV
Susis Hausarzt war da. Oma hat ein Beruhigungsmittel bekommen.
Susi hat die ganze Flasche Wein getrunken. Ich und Laura und Markus und Kassandra wachen über die ganze schnarchende Gesellschaft
und über Rami. Ich geh jetzt rauf ins Wohnzimmer und schreibe dort.
Damit ich ein paar klare Gedanken fassen kann. Frau Wischmann hat
gesagt, dass das hilft. Hoffentlich hat sie recht damit.
WV
Aber als Erstes muss ich das Gesicht meiner Mutter verdrängen, dieses leise Entsetzen, ohne Tränen. Sie hat keine mehr. Wie die steinzeitlichen Ozeane, die mal voller Wellen und Stürme und Untiefen
waren und jetzt Wüsten sind. Wenn sie jetzt weinen würde, würde
nur Sand aus ihren Augen kommen, glaube ich. Feine Ströme Sand.
Fein wie jener in der Sanduhr, die bei Markus auf dem Sims steht. Sie
sitzt neben Oma auf dem Bettrand und hält ihre Hand. Und meine
Oma schließt die Augen und seufzt und beantwortet endlich ihre
Frage.
»Sie haben Eli abgeholt«, sagt sie. »Sie haben Miro nie zurückgebracht, wie sie es versprochen haben.«
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Meine Mutter ballt ihre Fäuste, der Ehering glänzt im Kerzenlicht.
Und lässt sie dann in einer hilflosen Geste wieder fallen.
»Ich wusste es«, sagt sie. »Ich habe ihn gewarnt. Ich habe es ihm gesagt. Wieder und wieder und wieder. Aber er wollte nicht hören.«
Meine Oma schaut sie nicht an und fährt fort. »Er kam im Morgengrauen zu mir nach Hause. Zu Fuß. Er war sehr erschöpft. Ich habe
ihn versorgt und ihn schlafen gelegt. Er wollte nicht schlafen.« Oma
nimmt ihre ganze Kraft nochmals zusammen und setzt sich wieder
gerader auf, nachdem sie jedes ausgesprochene Wort sich tiefer und
tiefer hat krümmen lassen.
»Er stand wieder auf, kam zurück zu mir. Er hat gesagt, er hat alles
organisiert. Alles sei vorbereitet. Wenn Miro nicht statt ihm zurückkäme, solle ich fliehen. Man würde mich anderntags abholen. Ich solle
sofort aufbrechen, das Haus verlassen. Bei den Nachbarn unterkommen. Ich solle nicht eine einzige Nacht länger im Haus bleiben, nachdem er geholt worden ist.«
Dann bleibt ihr die Stimme wieder weg, und sie sucht nach ihrem Wasserglas. Trinkt. Und fährt fort. »Ich bin länger geblieben. Ich
konnte meine Tiere doch nicht im Stich lassen. Meine lieben Zicklein. Meine Katzen. Meine Hühner.«
Mein Herz krampft sich nochmals zusammen, wenn ich an das
Haus meiner Großeltern denke, in dem ich jedes Jahr den Sommer
verbracht habe, an unsere Gemüsebeete, die meine Großmutter bepflanzt hat, nachdem die Apfelbäumchen niedergebrannt waren. Und
wie wundersam dort alles wuchs und rankte, trotz Hitze und Trockenheit. Denke an ihren Hühnerstall mit dem aufgemalten Herzen
über dem Einstieg. An die kleinen Ziegen. An alles, was mal meine
Kindheit war. Und ich denke nicht gern an diese verwüsteten Landstriche zurück, durch die verwilderte Tiere strichen, auf der Suche
nach Futter und einem Dach über dem Kopf und nach ihren Besit196
zern, nach jemandem, der sie kannte und pflegte. Gerippe am Wegesrand. Ich habe das alles gesehen, wir sind da durchgekommen. Bis
in die Berge. Dort waren nur Wölfe mit leuchtenden Augen im Finstern. Aber die haben mich weniger gestört als diese armen, verlorenen
Tiere auf unserem Weg. Wie lange dieser Weg doch her ist, denke ich,
wie schnell ich das alles versucht habe zu vergessen, und wie deutlich
taucht das alles wieder auf, wenn jemand die richtige Saite in mir anreißt.
»Bevor sie ihn abgeholt haben, hat er mir Geld gegeben. Viel Geld.«
Meine Mutter guckt erstaunt. Von viel Geld wussten wir rein gar
nichts. Keine Ahnung, wo es hergekommen ist. Wir hatten doch gar
nichts! Und von seinen Sicherheitsvorkehrungen wussten wir ebenfalls nichts. Er hat uns vollkommen im Unklaren gelassen. Nicht das
erste Mal. Jetzt, langsam, begreife ich das. Mein Vater hat doch mehr
Geheimnisse, als ich ahnte. Ich will mich nicht fragen müssen, wie
er an das Geld gekommen ist. Und warum er das verschwiegen hat.
Meine Mutter runzelt die Stirn, und ich kann förmlich sehen, wie sie
ihre Zweifel wegwischt, während der Mundwinkel meiner Tante spöttisch nach oben wandert. Ich habe ihm nie vertraut, sagt Aminas Blick,
aber sie ist klug genug, diesen Gedanken nicht laut werden zu lassen.
Sie fängt meinen Blick auf und schlägt die Augen nieder.
»Was hast du getan?«, fragt meine Mutter.
»Ich habe die Hühnchen der Nachbarin nebenan gegeben. Die
Ziegen hat unser Freund aus dem Nachbardorf abgeholt. Er hat mir
sogar noch etwas Geld für sie angeboten.«
»Und was ist mit Eli?«, unterbricht da meine Mutter plötzlich, als
ob ihr erst jetzt alles wirklich zu Bewusstsein gekommen ist, was meine
Oma da sagt. »Was ist mit ihm? Lebt er?«
»Hör mir zu«, sagt meine Großmutter. »Er wusste, dass er nicht viel
Zeit hatte. Und in der ganzen Zeit, die er mit mir verbringen konnte,
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hat er nur von dir gesprochen.« Und dann sieht sie mich direkt an.
»Von dir, Madina.«
WV
Ich kann nicht mehr. Komme später wieder her zum Schreiben.
WV
Papa hat von MIR gesprochen. Nicht von Mama, nicht von Rami.
Wie sehr es ihm leidtut, dass wir nicht klargekommen sind. Wie sehr
er sich gewünscht hätte, es gut mit mir zu haben. Und ich bin zum
Schweigen verdammt. Ich kann ihm nichts mehr sagen. Nichts erklären. Nicht um Verzeihung bitten. Ihm keine Verzeihung anbieten.
Keinen Segen für meine Wege holen. Keiner wird ihm irgendwas von
mir ausrichten. Papa ist hinter dem Nebel des Krieges verschwunden.
Er hat die rote Linie überquert.
WV
»Er wollte, dass ich Reinigungsrituale für ihn mache«, hat meine Oma
erzählt. Und ich habe gedacht, ich ertrage das nicht mehr, ihr zuzuhören. Bin aufgestanden und in den Gang gegangen, habe meine
Stirn dort an das kalte Fensterglas gedrückt, so fest, dass danach der
Abdruck gut zu sehen war, als hätte ich einen Teil meiner Oberfläche
in diesem Moment abgestreift, um mich zu häuten. Und mir gedacht,
dass keiner hier solche Irrsinnigkeiten aufführt. Niemand. Nur bei
uns sind sie alle so verrückt. Dann fällt mir Laura wieder ein und wie
ihr Vater Susi durch die Verandatür getreten hat. Die Narben auf ihrem
Bauch, die sie offen zeigt beim Sonnenbaden. Lauras Vater ist weg, und
wir sind da. Die Wohnung, in der wir wohnen, war früher sein Büro.
Nein, die Leute können überall wahnsinnig sein. Überall.
Die Stimme meiner Oma ist gedämpft, aber ich kann dennoch jedes Wort hören, auch durch die geschlossene Tür.
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»Wir wussten nicht, ob er vom Treffen zurückkommen würde, und
er wollte nicht einfach verschwinden. Ich habe es also auf seinen
Wunsch hin getan. Ihn gesegnet. Und dann kamen sie schon. Er fragte
nach seinem Bruder. Sie sagten, sie ließen ihn frei, wenn er im Lager
ankommen würde. Und dann umarmte er mich und stieg in den Lastwagen. Ich habe gewartet. Keiner kam zurück. Ich blieb den ganzen
Tag allein. Dann fiel mir ein, was er gesagt hatte, und ich brachte die
Tiere unter. Und dann ging ich zur Nachbarin, und versteckte mich
dort. In der Nacht kamen sie und brannten das Haus nieder.«
Amina umarmt sie. »Es ist gut, dass du hier bist.«
»Aber meine Söhne.« Sie streckt die Hand ins Leere aus, offene Finger, die nach Luft greifen. »Bevor es hell wurde, kamen Männer, die
ihm versprochen hatten, mich außer Landes zu bringen. Und mit dem
Sonnenaufgang begann meine Reise.«
WV
Ich stehe extrafrüh auf und schaue nach, ob Oma wirklich da ist
und ich das alles nicht nur geträumt habe. Nein, ich habe nicht geträumt. Sie ist ganz in echt da, das Schlafzimmer riecht muffig, weil sie
schwitzt, und das Bett knarzt, wenn sie sich unruhig von einer Seite
auf die andere dreht. Meine Mutter und meine Tante haben sich auf
dem Klappbett aneinandergeschmiegt. Meine Tante hält meine Mutter ganz fest in ihren Armen, ihr offenes Haar vermischt sich ineinander, grau und hennarot. Sie schlafen beide so tief, dass ich sicherheitshalber noch einen Schritt näher rangehen muss, um ihre Atemzüge
zu hören.
WV
Meine Oma kann nicht alles auf einmal erzählen. Jede Geschichte ermüdet sie und lässt sie zittern und husten. Was ich jedenfalls weiß: Sie
hat ganz viele Briefe geschrieben. Sie sind alle nicht angekommen. Sie
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hatte sie an das Flüchtlingsheim adressiert. Und sie sind nie angekommen, weil, wie Oma sagt, die Kampfhandlungen sich verstärkt haben.
Nur dieser eine Brief kam an, der wurde offenbar außerhalb des
Kriegsgebietes abgeschickt.
WV
Heute Nacht finde ich mich unvermittelt in meinem Märchenwald wieder.
Er ist nicht so, wie ich schon einmal durch ihn gegangen bin, die Wege sind
verwachsener, und die Bäume ragen in einen dunklen Himmel voll dahinjagender Wolken, kein Mond, kein Sternenlicht. Es ist dunkel, dunkler als
sonst, und ich taste mich zwischen den knorrigen Ästen durch, immer auf
der Hut, um nicht festzuhängen. Zwischen den Zweigen leuchten ab und zu
glühende Augenpaare im Dunkeln, folgen mir. Ich glaube den Weg zu der
Schlucht zu erkennen, die zwischen dem Wald und der Küste liegt, dort, wo
das Piratenschiff ankert, das mich einmal im Traum mitgenommen hat, zu
meiner Reise übers Meer, durch Sirenengewässer und stürmische See, geradewegs nach Hause, zu meiner Oma. Meine Füße sind nackt, und die Steine
unter meinen Fußsohlen reißen sie blutig. Ich streue eine Spur aus Blutstropfen wie Hänsel und Gretel, ganz ohne Brot. Die Tiere, denen die glühenden Augen gehören, könnten sie weglecken, und dann finde ich nicht mehr
zurück. Da ist die Schlucht, ich gehe hinein, bis mir klar wird, dass kein
Schiff der Welt mich zurückbringen kann, es gibt nichts, wohin ich zurückkehren könnte, niemand wartet dort auf mich. Aber als ich mich umdrehe,
ist der Weg verschwunden, hinter mir ragt eine dichte Hecke auf, höher und
dorniger als in jedem Dornröschenfilm, es knarzt und kracht dort im Geäst,
als ob etwas sehr Schwerfälliges sich seinen Weg zu bahnen versucht. Ich
weiche zurück, hinter mir ist die Felswand, glatt, hoch, ich kann mich nirgendwo hochziehen, ich bin eingeschlossen. Und bevor ich fürchterlich zu
schreien beginne, bricht ein haariges, riesiges Wesen aus den Dornen hervor
und springt mit einem Satz vor meine bloßen Füße. Gewaltige blutüber200
strömte Pranken mit abgebrochenen Krallen neben meinen Zehen. Ich
ducke mich: Ein Prankenschlag würde ausreichen, um mich zu zerfetzen. Es
heult fürchterlich, ich brauche eine Weile, um zu verstehen, dass das Heulen
ein schmerzerfülltes und kein bösartiges ist, und als es seine Schnauze zu
mir dreht, erkenne ich unter dem herabhängenden, zotteligen grauen Fell
und den schrecklichen verdrehten Hörnern die Gesichtszüge meines Vaters.
Ich wache auf und übergebe mich auf den Boden neben meinem
Bett. Jetzt ist wirklich alles zerstört, was mich mit früher verbunden
hat. Sogar Omas Haus. Das war immer ein Zufluchtsort für mich. Zumindest in meiner Vorstellung. Kein Weg zurück. Nicht in echt, nicht
durch den Märchenwald. Gar keiner.
»Madina, ist was?«, ruft meine Mutter aus dem Dunkel.
WV
Ich sitze mit meiner Mutter in der Küche. Alle außer uns schlafen. Der
Mond zieht seine Bahn über den Tannenwipfeln gegenüber unserer
Straße. Und sie sieht mich an wie eine Mitverschwörerin und sagt:
»Papa lebt. Ich weiß es. Ich spüre es. Er ist nicht verschwunden. Er wird
zurückkommen.«
Ich kann nicht antworten. Aber ich will es glauben können. Ich
will hoffen. Jeder will das. Und gleichzeitig frage ich mich, wer mein
Vater eigentlich wirklich ist. Oder war.
WV
Frau Wischmann kommt gar nicht mehr nach damit, mir ihren Taschentuchvorrat anzubieten. Ich glaube nicht, dass ich das alles überstehen könnte ganz ohne sie.
WV
201
Kassandra hat meine Oma sehr schnell ins Rudel aufgenommen und
verteidigt sie nun gegen alle, die zu ihrem Bett wollen. Meine Mutter
hat immer noch ziemlichen Respekt davor, wenn Kassandra bellt und
knurrt. Meine Großmutter legt ihr einfach ganz sachte die Hand auf
das gesträubte Fell, und Kassandra verstummt, lässt sich brav zu ihren
Füßen nieder, auf der Stelle. Das hat meine Oma auch mit ihren Ziegen so gemacht, mit ihren Hühnern, mit ihrer Kuh. Sie alle hatten
Sehnsucht nach ihrer Berührung. Meine Oma ist so ein bisschen eine
Hexe. Eine gute. Ziegenhexe.
202
19
Na super. Ich hab ein Problem. Ein großes. Und ich habe auch größte
Sorge, es könnte ein noch größeres Problem werden, wenn jemand
aus der Schule bei uns anruft. Wobei: Es würde ja eh ich abheben.
Aber meine Mutter könnte doch noch fragen, was da los ist. Es ist so
ein altes, kindliches Gefühl, von viel früher, wo ich brav sein sollte
und manchmal eben nicht brav war und es irgendwann rausgekommen ist. Ich hab sogar kurz Angst, fast wie früher. Und dann denke
ich: Diese alte Angst ist doch lächerlich. Wenn sie meine Mutter tatsächlich anrufen, müssen sie sowieso mit mir reden. Ich habe alles in
der Hand. Es ist absurd.
WV
Meine Oma vergräbt ihr Gesicht in Ramis Haar. »So gut, bei euch zu
sein«, flüstert sie.
Und er lacht und sagt: »Oma, dein Atem kitzelt mich«, und reißt
sich los und ist schon im Garten verschwunden. Aus dem Garten ruft
er: »Und wann kommt Papa?«
WV
Immer wenn ich intensiv mit Oma rede und es mich wieder zurückschleudert in die Zeit vor meiner Ankunft, fällt es mir schwer, mich
wieder zu Laura zurückzukämpfen. Lauras Welt ist eine so unglaub203
lich andere als die Welt meiner Oma. Und mich reißt es mal in die
eine, dann in die andere Richtung. Ich balanciere auf einem Seil, das
einfach in der Luft hängt. Da gibt es keine Plattformen mehr. Weder
auf der einen noch auf der anderen Seite.
WV
Zu früh gefreut. Das Schulsekretariat. Natürlich haben die angerufen.
Natürlich auf meinem Handy.
»Keiner ist zu Hause«, habe ich gelogen. Dann haben sie gesagt, sie
haben bereits Frau Wischmann verständigt. Und meine Mutter muss
in die Schule kommen. Und ich muss mich öffentlich entschuldigen.
WV
Also soll ich mich entschuldigen, für etwas, was ich überhaupt nicht
bereue. Nur, damit meine Familie keinen Stress bekommt. Ich bin so
wild geworden, dass meine Mutter mich entsetzt angesehen und gemurmelt hat: »Wie dein Vater. Ganz genauso wie dein Vater.«
Und weswegen? Nur weil ich diesen Vollidioten zurechtgewiesen
habe?! Er hat es nicht besser verdient!
Und sie sieht mich funkeln und schnauben und muss sich ein Lächeln verkneifen, weil ich vermutlich wirklich ganz genauso aussehe
wie mein Vater, ein kleines Echo von ihm an sie – durch mich getragen. Und sie fragt: »Was war denn los?«
Und da kommt mir die Wut wieder hoch wie die Flammen im
Bauch von einem Drachen, und ich fürchte, dass meine Lippen zu
glühen beginnen, wenn ich jetzt anfange zu sprechen, und ich trete
noch meine Schultasche um und schrei ein bisschen und hau mein
Kissen, so, dass es sich in zwei Hasenohren legt. Weil wenn ich etwas
wirklich nicht ausstehen kann, dann, wenn etwas unfair ist. Und dann
habe ich es doch erzählt.
204
Von dem Trottel in der Schule, der mich wegen meiner neuen
Jeans blöd angeredet hat und der mit den anderen am Donnerstag
demonstrieren geht. Immer öfter geht er Schüler an, die irgendwie so
aussehen, als könnten sie nicht von hier sein. So ein LederjackenHübscher, der das auch ganz genau weiß. Der stänkert nicht bloß, der
tötet mit seiner spitzen Zunge. Der erniedrigt. Er zelebriert den Ärger, den er verbreitet. In der Mensa in der großen Pause hat er sich
zuerst eine Runde bewundern und beschenken lassen, Limo und
Snacks von den anderen einkassiert wie so ein Scheißlösegeld, und
gerade als die Bescherung zu Ende war, bin blöderweise ich vorbeigekommen. Reiner Zufall. Wollte für mich und Laura noch Cola holen. War ihr eine schuldig und wollte mich nicht lumpen lassen. Und
ich geh da so ganz entspannt rein und sehe die Versammlung um ihn
und denk mir nichts und gehe an ihnen vorbei zur Theke. Ich geh
also hin und merke erst, dass sich etwas zusammenbraut, als die Verkäuferin so ein komisches Gesicht macht. Und dann dreh ich mich
um und stelle fest, dass der Idiot hinter mir steht, ganz nah. Hat der
sich doch tatsächlich angeschlichen und mir ein Blatt Papier auf den
Rücken geklebt! Ich greif nach dem Zettel, erwisch ihn nicht, die
Meute hinter mir lacht wie ein Rudel beschissener Hyänen, und er
sagt ganz freundlich, ganz ruhig zu mir: »Geh doch zurück nach
Hause.«
Ich zische: »Ich bin hier zu Hause«, reiße mir die Jacke runter, der
Zettel segelt zu Boden. »Dreck« steht drauf.
Und dann sagt er noch: »Und nimm gleich die Alte mit, die der Allgemeinheit nur auf der Tasche liegt.« Er macht eine effektvolle Pause.
Alle lachen. »Die stirbt sowieso bald. Aber bis dahin wird sie richtig
teuer.«
Da zerspringt etwas in mir, etwas Altes, das ich seit der Flucht
in mir trage. Dieses Vorsichtigsein. Dieses Stillhalten, zur Sicherheit.
205
Weil ich einfach nichts mehr hinunterwürgen müssen will, nicht
mehr lächeln, nicht mehr durchtauchen. Nicht mehr so tun, als hätte
ich nichts gehört oder gesehen. Will nicht warten, bis jemand für
mich eintritt, mich beschützt, die an mich gerichtete Beleidigung beantwortet. Will nicht auf Markus warten. Oder auf Laura. Oder auf
Susi. Oder auf Frau Wischmann. Ich senke den Kopf wie ein angreifender Stier, beschleunige und remple ihn voll. Er stolpert rückwärts,
um Gleichgewicht zu halten, rudert er mit den Armen, ich schubse
ihn nochmals und bringe ihn zu Fall. Er fällt in einem zauberhaft
bunten Kometenschweif aus Snacks und Kaugummis, die in seiner
offenen Schultasche drin waren, zu Boden.
»Du Arschloch«, brüllt er. »Du hast mich geschlagen! Das wirst du
noch bereuen!«
Ich drehe mich wortlos um und gehe einfach. Meine bereits mit
meinem sauer ersparten Geld bezahlten Colaflaschen stehen einsam
und verlassen an der Kasse. Keiner hält mich auf. Keiner sagt was.
Aber als ich schon in der Klasse bin und meine Sachen herrichte für
die nächste Stunde und denke, der Sturm sei vorübergezogen, da wird
mein Name über Lautsprecher aufgerufen. Und dass ich zur Direktorin gehen soll. Mir sinkt das Herz in die kalten Zehen hinab. Und irgendwo zwischen meinen Ohren ist immer noch glühende, rasende
Wut. Im Raum dazwischen ist mir einfach nur schlecht.
Das Direktorinnenzimmer ist groß und hell und der Schreibtisch
noch größer und dunkel wie eine Limousine. Lack. Die Direktorin
spiegelt sich darin. Schwarzer Schwanensee-Schwan, nur mit ungefähr hundert Kilo zusätzlich. Ich sehe sie das erste Mal so von Angesicht zu Angesicht in ihrem Büro. Sie ist neu und will allen beweisen, wie toll sie nicht ist. Sie beugt sich vor und macht ein gekünstelt besorgtes Gesicht. Und sie sagt: »Das dulde ich nicht an unserer
Schule.«
206
Und ich denke mir: Meine Beste, dann hast du aber noch verdammt
viel zu tun hier, und ich sage: »Aber er hat angefangen«, und sie unterbricht mich.
»Handgreiflich geworden bist aber nur du.«
Und dann räuspert sie sich und macht so eine erzieherische Pause,
die sich eine Spur zu lange zieht, um authentisch zu wirken. Und
dann fügt sie noch an: »Also gerade von dir habe ich mir eigentlich
erwartet, dass du dankbar bist. Und dann das.«
Jedes Wort sitzt wie ein Peitschenschlag. Ich sehe zu Boden. Meine
Dankbarkeit ist keine Gabe an sie. Ihr bin ich nicht dankbar. Ich
bin dankbar dafür, dass die King sich mit mir beschäftigt hat, dankbar
für Susis Bereitschaft, uns zu helfen, dankbar für Lauras Freundschaft.
Keine von ihnen hat je etwas als moralische Gegenleistung von mir
verlangt. Es ist widerlich von ihr, ich spüre deutlich, wie widerlich es
ist, bevor ich es wirklich begreifen kann, so richtig mit Kopf und Gedanken und alldem. Und dazu hat sie persönlich rein gar nichts für
mich getan. Letztes Jahr war sie noch gar nicht hier! Meine Wut elektrisiert mein Haar, gleich wird es in einer statischen Bürste in die
Höhe stehen und vor Entladungen knistern, ich bin die Untergangsgöttin Kali.
Und bevor ich ganz real fürchterlich zu toben beginne, weil es jetzt
auch schon egal ist, fliegt die Tür auf, und die King stürmt hinein.
»Bitte lassen Sie mich das mit meiner Schülerin klären. Ich bin immerhin ihre Klassenlehrerin.«
»Ja, machen Sie das. Und du, du solltest dich entschuldigen.« Sie
notiert etwas in ihre Unterlagen. »Vorläufig belasse ich es nur bei einer
Verwarnung.«
»Ja, das besprechen wir auch gleich.«
Die King zerrt mich hinaus auf den Schulgang, ihr Griff um mein
Handgelenk ist geradezu eisern. So eine Kraft hätte ich ihr gar nicht
207
zugetraut. Das Krähenhafte weicht ganz kurz und macht Platz für etwas, das mich mehr an einen Greif erinnert.
»Wie konntest du das tun«, sagt sie noch mit aller Strenge, zu der
sie fähig ist. Sie geht ein großes Stück gangabwärts, bis uns keiner aus
dem Lehrerzimmer hören kann. »Keine Spur besser als dein Vater!«
Ich schaue zu Boden.
»Ich kann nur versuchen zu vermitteln. Ich kann dir nichts versprechen. Du musst vorsichtiger sein. Wir wollen doch, dass du das
Jahr gut abschließt.«
Dann kramt sie umständlich in ihrer kleinen schwarzen Handtasche. Holt einen Notizblock hervor und schreibt mir etwas auf und
steckt es mir zu. »Du kannst immer anrufen.«
Und dann lässt sie mich mit ihrer Telefonnummer und meinem
offenen Mund im Gang stehen. Bis Jonas aus der Nebenklasse rauskommt und meine Starre unterbricht.
»Cool, wie du’s dem Typen gezeigt hast«, sagt er und wird dabei so
rot wie der Kamm des fettesten Hahnes meiner Oma.
Erst zu Hause fällt mir auf, dass das ein Kompliment war.
WV
Also gut, das mit der Oma, die bald sterben wird, das habe ich bei meiner Schilderung ausgelassen. Ich wollte nicht, dass Mama das hört.
Oder Rami. Oder meine Tante. Oder meine Oma! Es hat schon gereicht, dass ich das hören musste.
»Du solltest dich wirklich entschuldigen«, sagt meine Mutter als
Echo von der verdammten Direktorin, nachdem ich fertig bin mit der
ansonsten faktentreuen traurigen Erzählung vom aufgeblasenen Trottel und seinem Fall. »Wir brauchen bei Gott keinen Ärger hier.«
»Mama! Ich habe nichts, wofür ich mich entschuldigen sollte! Er
hat mich angegriffen. Ich habe mich gewehrt. Das ist alles.«
208
»Aber wenn es die Frau Direktor sagt …«
»Die Frau Direktor! Die Frau Direktor! Die hat keine Ahnung. Und
wenn so was an ihrer Schule passiert, dann hat sie die Schule nicht im
Griff!«
»Madina! Wie sprichst du von einer Respektsperson!«
Ich schüttle ihren beruhigenden Arm ab, ich will nicht beruhigt
werden. Ich will meine Empörung spüren und wissen, ich habe mich
zu Recht gewehrt. Zu Recht.
»Du hättest deinen Mitschüler zur Rede stellen sollen«, meldet
sich Amina zu Wort. »Du hättest es versuchen sollen.«
Ich schaue renitent zu Boden. Niemand ist auf meiner Seite. Keiner.
Und dann sagt Amina noch: »Sicher warst du im Recht. Gewalt ist
aber tatsächlich keine Lösung.«
Sie lächelt mich sogar auch noch an. Ihr Gesicht hat etwas von
diesem entsetzlich harten Zug verloren, als wäre das Schlimmste nach
und nach von ihr abgewaschen worden, wie so ein Aquarellbild, das
man mit dem feuchten Schwamm bearbeitet. Nein. Nicht abgewaschen, aber verschwimmend. Sie sieht jünger aus als noch vor zwei
Jahren. Und sie lächelt weiter und sagt: »Gewalt ist nie eine Lösung.
Weißt du doch.« Und dann sagt sie: »Hier sind die Menschen freundlich.« Und ich verbeiße mir zu sagen, dass sie das nur denkt, weil sie
nicht alles von dem versteht, was sie so sagen.
WV
Ja, schön, dass Amina jetzt lauter tolle Erfahrungen hier gemacht hat.
Gratulation. Ich habe mittlerweile auch ein paar ganz, ganz andere Erfahrungen zu bieten.
WV
209
Ich entschuldige mich erst bei diesem Scheißkerl, wenn er sich bei allen anderen entschuldigt, die er schon gequält hat in den letzten Wochen! Basta!
WV
Laura findet mich dafür übrigens auch cool. Sehr cool. Sie und Jonas.
Na bravo!
Laura sagt, wir müssen uns wehren. Lauras Augen leuchten. Und
ich hab immer noch das Gefühl, sie hat den Ernst der ganzen Sache
nicht ganz auf dem Schirm. Es ist immer noch aufregend für sie. Für
mich ist es nur noch grauenhaft. Markus ist angenehm zwischen diesen beiden Polen eingependelt.
WV
Der Nachbar steht immer wieder am Zaun und späht zu uns rüber.
Und als Oma mit mir in den Garten kommt, um etwas frische Luft
zu schnappen, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Von angespannt
zu unzufrieden. Ich grüße ihn extrafreundlich, als Erste, damit niemand sagen kann, ich hätte mich nicht um Frieden bemüht. Er murmelt etwas in seinen Bart und verschwindet in seinem Haus.
WV
Oma ist so erschöpft, dass sie fast die ganze Zeit schläft. Mama deckt
sie mit ihrem schönsten Schal zu, ihrem Lieblingsschal mit Paisleymuster drauf, damit Oma ein bisschen das Gefühl von zu Hause haben kann. Kassandra erkennt in ihr augenblicklich das schwächste
Glied der Kette und beschützt sie, Tag um Tag und Nacht um Nacht.
Hunde sind so weise. Wenn sie dir nicht gerade unters Bett pinkeln.
WV
210
Ah ja, dreimal darf man raten, was Kassandra gemacht hat.
WV
Der Lederjackentyp und sein Rudel Hyänen haben Gegenwind bekommen. Jetzt trauen sich auch andere, ihnen Kontra zu geben. Zuerst einer aus der Parallelklasse, dem sie wegen seines Nachnamens
die Tage zur Hölle gemacht haben. Dann noch ein paar. Wir müssen
nicht schweigen. Müssen wir nicht. Die Lehrer sind auch nicht ganz
eindeutig einzuschätzen: Der Obertrottel hat ein Ausländer-rausT-Shirt unter seiner Lederjacke getragen und das unbehelligt den
ganzen Vormittag. Bis ihn der Biolehrer in der vorletzten Stunde aus
der Klasse warf. Nach Hause gehen, umziehen. Und eine Extraarbeit
schreiben. Aber alle anderen davor haben nicht reagiert. Entweder,
weil sie es übersehen haben. Oder eben nicht. Ich will mir gar nicht
überlegen müssen, ob es jemandem ganz egal war. Oder sogar … nicht
ganz egal. Hätte ich so was letztes Jahr gedacht? Nein. Klar, ein paar
haben mich gehänselt, manche haben sich über meine Deutschfehler
lustig gemacht. Über meine seltsame Kleidung aus der Wühlkiste.
Aber das hier ist etwas anderes, Größeres, Dichteres, es geht weit über
den Schulhof und ein paar Deppen hinaus, und ich fühle, wie diese
Stimmung mich zu erschlagen beginnt, beginnt mich auszudünnen
in meinem Selbstvertrauen, ich hätte einen Platz hier, ich wäre ein Teil
von etwas. Hier geht es nicht um meine abgetretenen Schuhe oder
meine zu großen Sportklamotten. Und: Es wird erschreckend schnell
so … gewohnt. Dass dieses Thema einfach ständig da ist. Ich hasse es.
Vor einem halben Jahr hat niemand darüber geredet. Was ist passiert,
dass es jetzt dauernd durchgekaut wird? Ich weiß es nicht. Ich weiß es
echt nicht.
WV
211
Susi hat wieder einen anonymen Anrufer an der Backe, der sie beschimpft. Sie legt auf und setzt sich mit ihrer Weinflasche zum Kamin.
Markus hat vorgeschlagen, dass sie sich eine neue Nummer nimmt.
Susi hat weitergetrunken und abgelehnt.
WV
Ich schließe jede Nacht die Augen in der Hoffnung, von Papa zu träumen. Irgendwas zu finden, das mir verraten kann, was mit ihm ist.
WV
Oma ist krank. Mit Fieber und Husten. Ich flöße ihr warmen Tee mit
Honig ein und lese ihr vor. So, wie sie das früher für mich getan hat.
Zwischen den Hustenanfällen streichelt sie ganz zart meine Hand mit
ihren rauen, kleinen Fingern. Klar wird man krank, wenn man so eine
beschwerliche Reise hinter sich hat. Klar wird man krank, wenn man
nicht weiß, ob man nicht beide Söhne verloren hat. Klar wird man
krank, wenn man immer noch nicht weiß, wie es weitergehen wird.
Ich streichle ihr die feinen Haare aus der Stirn, die am Abend glüht.
Und küsse sie. »Nicht doch«, sagt sie, »du steckst dich noch an.«
»Blödsinn«, sage ich.
»Erzähle mir noch von Laura«, sagt sie dann ganz leise, und ich erzähle von ihrer Geburtstagsfeier, von unseren Schularbeiten und von
Lauras Eskapaden. Von Sophie sage ich nichts. Man muss Oma ja
nicht gleich total überfordern. Und mit jeder Geschichte wird diese
Leere zwischen uns ein bisschen kleiner, die sich auftut, wenn man
sich Jahre nicht gesehen hat und sich weiter voneinander entfernt hat,
Tag um Tag, weil unsere Leben immer weiter auseinandergetrieben
sind. Da muss man sich ganz vorsichtig wieder herantasten. Wie blind.
WV
212
Ich träume gar nichts mehr. Wenn man leer ist, kann man nichts träumen.
WV
Oma war bei Susis Hausarzt. Sie wurde geröntgt und hat Vitamine
bekommen. Und Antibiotika.
WV
Ich höre sie nicht mehr husten, jede Nacht auf der anderen Seite der
Wand. Das ist gut.
WV
Susi überlegt, ob wir uns nicht ein Schaf zulegen sollen, im Garten.
Für Oma und für das Gras, das keiner mähen will. Meine Oma hat
doch nur Ziegen gehabt. So eine Schnapsidee.
WV
Nach zwei Wochen wagt sich meine Großmutter schon aus dem Haus
raus. In kleinen Spiralen. Sie muss zum Arzt, sie muss zu den Behörden, bei denen wir schon längst gemeldet sind, sie ist noch gar nicht
richtig da. Ihr beglaubigtes Sein beginnt erst. Der Stempel, mit dessen
Knall auf dem entsprechenden Papier ihr richtiges Leben hier beginnen soll, ist noch nicht einmal in Tinte getaucht worden. Es dauert,
wie es immer dauert, wie es auch bei uns gedauert hat. Ich versuche
der Frau am Schreibtisch im kleinen Zimmerchen der Behörde klarzumachen, wie sehr sich meine Großmutter fürchtet, dass man sie von
uns wegreißt und in ein Flüchtlingsheim steckt. Sie sieht mich ungeduldig an und sagt: »Ich habe Ihren Umzug damals genehmigt, ich
kann auch den Einzug Ihrer Oma genehmigen. Stellen Sie einen Antrag.«
Ich kenne diese kleinen schäbigen Zimmerchen, diese schäbigen
Tische in schäbigen Häusern, so gut wie meine Westentasche. Man
213
vergisst die nicht, auch wenn man es noch so viel besser hat als zuvor.
Irgendwo in einem Winkel meiner Seele ist so ein schäbiges kleines
Zimmer, und ich stehe als ewige elende Bittstellerin davor. Frau Wischmann sagt, ich soll dieses Mädchen schützen und gut behandeln, das
da in alle Ewigkeit vor dem schäbigen Schreibtisch steht und wartet.
Aber ich schaff das nicht. Ich hasse es.
WV
Ich soll Rami abholen. Überhaupt keinen Bock darauf. Null.
»Ich komm mit«, sagt Laura. Und ich weiß: Das bringt mir leider
nichts. Im Gegenteil. Glücklicherweise geht meine Tante statt mir. Ich
will Franzis Mama nicht begegnen. Ich habe Sorge, dass ich meinen
Mund nicht werde halten können. Und meine Wut auch nicht. Darum wollte ich auch nicht, dass Laura mitkommt. Die kann das nämlich auch nicht. Und Rami ist nicht damit geholfen, wenn wir die
Mama seines besten Freundes öffentlich zur Schnecke machen. Vermutlich.
WV
Rami heulte den ganzen Rückweg, hat Amina gesagt. Er möchte zu
Franzi. Es ist Frühling, die Hasen bekommen Babys, und Rami darf sie
nicht sehen.
Tja, da kann ich nicht mehr helfen. Nicht mal Susi konnte das.
WV
Frau Wischmann reicht mir ein Taschentuch und schweigt. Es ist kein
unangenehmes Schweigen, kein Schweigen, das mir sagt: Ich hab dir
nichts zu sagen. Eher so eines, das mir Luft gibt, mich zu sammeln, bevor ich rede.
»Vielleicht könnten Sie ja mit Franzis Mutter reden«, schniefe ich
schließlich. Frau Wischmann sieht mich sehr bedauernd an.
214
»Das wäre nicht gut.«
»Aber irgendwer muss es tun«, schniefe ich. Es ist das zweite Mal
in der Geschichte unserer Treffen, dass ich das Gefühl habe, dass ihre
Zauberkräfte nicht ausreichen, um etwas in meinem Leben zu verändern. Sie ist eine gute Hexe, aber das Gebiet, über das sie keine Macht
hat, wird größer und größer und dehnt sich um uns herum bedrohlich aus, bis es uns eingeschlossen haben wird.
»Vielleicht die Betreuerinnen im Kindergarten«, schlägt sie vor. Ja,
die werde ich bitten. Ich glaub nur irgendwie nicht mehr daran, dass
sich dieses Unwetter wird legen können. Diese Kreise, die der Huper
durch unseren Ort gezogen hat und die größer und größer werden,
nicht mehr Kreise in einem kleinen Teich, sondern riesige Saturnringe. Und ich fühle mich plötzlich sehr allein und verloren, wie so
eine Astronautin im All, die nur noch an einer dünnen Schnur mit
ihrem Raumschiff verbunden ist, und die Schnur wird länger und länger, je weiter weg sie driftet. Und das Raumschiff ist vermutlich auch
noch kaputtgegangen.
»Lass uns noch mal die Punkte durchgehen, die du selbst ändern
kannst«, sagt sie. Und ich habe ein bisschen das Gefühl, dass es eine
Ablenkung ist von allem, was sie nicht würde ändern können.
WV
Ja, gut. Dann ändere ich eben die Dinge, die ich selbst ändern kann.
Was soll ich denn sonst tun.
WV
Ich gehe für meine Mutter einkaufen, weil sie sich nicht aus dem Haus
traut, seit Amina mit Oma im Supermarkt war und dort angepöbelt
worden ist. Es gebe schon genug Fremde im Ort, wozu jetzt auch noch
die Alte, hat der Kerl geschrien. Glaubt sie jedenfalls so verstanden
215
zu haben. Ich hoffe, sie irrt sich. Ich spring aber trotzdem ein. Mama
soll sich erholen und wegfahren mit Susi. Das haben beide dringend
nötig.
WV
Oma will nicht mehr über Papa sprechen. Ich verstehe sie. Aber ich
will die Hoffnung nicht aufgeben. So wie meine Mutter. Es ist nicht
vorbei, sage ich mir. Still und heimlich habe ich wieder angefangen,
Briefe zu schreiben. Nicht mehr an meine Großmutter adressiert, sondern an ihn.
WV
Lieber Papa. Ich vermisse dich. Mama vermisst dich. Rami auch. Ich sehe in
den Abendhimmel und denke daran, wie wir auf der Bank gesessen haben.
Im Flüchtlingsheim. Wie du Zigarettenstummel vom Boden aufgehoben
hast, weil du wieder zu rauchen begonnen hast. Wenn du wiederkommst,
kannst du die besten Zigaretten haben. Aber ich weiß, wenn du wiederkommst, willst du bestimmt wieder aufhören zu rauchen, weil Mama den
Rauchgeruch in deinen Kleidern hasst. Wir werden zum Café am Platz gehen, und ich werde dich einladen. Und du kannst dich anfreunden mit dem
Besitzer. Ich bin ganz sicher, ihr würdet euch verstehen. Er spielt gern Schach,
so wie du. Und wir gehen Federball spielen mit Rami. Rami ist schon einen
Kopf größer, als er war, als du gegangen bist! Wir haben einen Hund, Kassandra. Du wirst ihn auch mögen. Und im Sommer gehen wir in den Wald
und wandern. Ich kann dir so viele neue Wege zeigen. Und irgendwann erklärst du mir, warum verdammt noch mal das alles so eskaliert ist. Bitte.
Deine Madina.
Ich heule auf den Brief drauf. »Deine Madina« verschwimmt zu
einer blauen Blume. Oder einem Totenkopf. Ich weiß nicht recht, zu
was genau.
WV
216
Ich schreibe diese Briefe, klebe die Laschen der Kuverts zu und sammle
sie in einem Stapel unter meinem Bett. Ich kann sie nicht zur Post
bringen. Um sie abzuschicken, müsste ich eine Adresse draufschreiben. Und ich weiß doch von Oma, dass unser Haus nicht mehr steht.
WV
Und manchmal kriege ich so eine Wut auf Papa, dass ich sein Foto,
das ich auf meinem Schreibtisch stehen habe, in kleine Fitzelchen zerreißen könnte. Wie konnte er mir so was antun! Wie konnte er so was
meiner Mutter antun! Und Rami! Und: Wie konnte er uns anlügen.
Mein Vater ist so eine Sphinx, die ihre verkackten Rätsel stellt und die
Antwort nicht einmal abwartet. Weil es dann bereits scheißegal ist.
217
20
Ich wusste es. Ich wusste es einfach. Irgendwann geht es schief. Irgendwann ist es nicht mehr lustig. Und jetzt ist es so weit, und ich kann
nichts mehr ändern.
Lynne hat wieder angerufen. Ein Einsatz für die Graffiti-Gang!
Und wir sind hin, und ich hatte schon so ein schlechtes Gefühl im
Bauch.
»Du hast immer ein schlechtes Gefühl im Bauch«, hat Laura gemotzt und leider auch recht damit gehabt. Wir also durch Nacht und
Nebel. Wie im Horrorfilm vom Wind gepeitschte Äste. Zum Tatort
hin.
Der Tatort war eine Autowerkstatt, irgendwo zwischen Lynnes
Ort und unserem. Die Straßenlaternen glücklicherweise nicht zu nah
dran. Das ist immer das Erste, auf was ich achte. Die Laternen sind gefährlich. In deren Lichtkegel sieht man einen ja wie auf dem Präsentierteller.
»Asylanten – weg mit dem Dreck« steht da über die ganze Vorderfront. In leuchtendem Rot auf beiger Wand. Die Wand ist schon alt
und ungepflegt, die Farbe geht ab zwischen den Rissen. »Unser Dorf
für unsere Leute«.
Das ist ein verdammt langer Spruch, und es wird auch verdammt
lange dauern, ihn zu übersprühen. Wenn das gut geht. Ich habe immer
218
noch Herzrasen. Das Haus steht mitten an der Hauptstraße, und wir
könnten leicht gesehen werden.
»Scheiß dich nicht an«, sagt Laura und lacht. Hätten wir aber besser sollen.
Kaum haben wir uns an der Schrift zu schaffen gemacht, kaum
hat Lynne geflucht und den ersten fetten grünen Balken an den »Asylanten« angebracht, und als ich am anderen Ende gerade beginnen
will, da bricht plötzlich der Strahl einer Taschenlampe aus dem Haus
gegenüber hervor, und ich kann nicht mal erkennen, wer diese verdammte Taschenlampe überhaupt hält. Vielleicht einer der Volltrottel von der Donnerstagsdemo.
»Stehen bleiben«, schreit da einer, und es kommt noch eine Taschenlampe hinzu. »Habe ich euch endlich, ihr miesen Vandalen!«
Einen der beiden Wachleute kenn ich sogar. Er schiebt manchmal
Nachtdienste bei unserem Bahnhof und war einmal sehr gemein zu
einem Bettler. Ich weiß allerdings nicht, was der Bettler davor gemacht hat. Vielleicht hat er ja ebenso etwas angestellt wie wir gerade.
Dieser Zufall kommt mir doch sehr seltsam vor. Vielleicht haben sie
gewartet, ob wer auftaucht zum Übermalen. Sie hätten besser die Sprücheklopfer erwischen sollen, denk ich. Aber vielleicht war das ja gar
nicht die Absicht. Die Strahlen der Taschenlampen überkreuzen sich,
wandern und gleiten über die Straße, gefährlich tastende Lichtfinger.
Ich weiche hinter die Hausecke zurück, dort, wo der Schatten fett und
dicht liegt wie ein schwarzes Loch. Es schluckt mich vollständig. Ein
Lichtfinger fährt hoch und trifft Laura und gleich darauf ein zweiter
Lynne. Ich sehe in dem Scheinwerferkegel Lynnes erschrocken blinzelnde Augen, sehe Lauras entsetztes Gesicht als hellen Fleck in der
Finsternis.
Dann kippt alles weg.
»Du da! Komm her!«
219
Sie. Dürfen. Mich. Nicht. Erwischen. Auf keinen Fall. Ich hab gar
keine Zeit nachzudenken, ich werfe die Dose weg und springe wie ein
irrer Bock seitwärts ins Gebüsch und renne, renne, renne. Und weil
ich die Schnellste in unserer Klasse bin, schaff ich das auch ganz gut,
ich renne durch knorriges Astgestrüpp, das mir ins Gesicht peitscht,
springe über Maulwurfhügel, ohne umzuknicken. Ich bin nur Beine
und Luft, ich bin Bewegung und Puls, ich höre auf zu sein, mein Körper übernimmt die Kontrolle. Mein Kopf ist weggeknipst. Und als ich
mich schwer atmend mit zerkratztem Gesicht in der Nähe von Susis
Haus wiederfinde, erst da denke ich an die anderen.
Und dann schleiche ich mich, wild nach allen Seiten linsend wie
so ein paranoider Einbrecher, ins Haus durch den Hintereingang. Der
Hintereingang ist schön versteckt hinter einem Fliederbusch und
einer Staude daneben, da muss man sich richtig durch das Grünzeug
durchpressen, um an den ranzukommen. Und dann sitze ich eine
kleine, scheußliche Ewigkeit in Lauras Zimmer. Und warte.
Und warte.
Und warte.
Ich sehe den Zeigern von Lauras Wecker zu und zähle das Ticken.
Dieses Ticken dröhnt in meinem Kopf. Und ich sehe Lauras Gesicht,
blinzelnd im Licht, wieder und wieder vor mir. Irgendwann nehme
ich mir ein Buch und versuche zu lesen. Ich verstehe nicht, was ich
da zu lesen versuche, die Zeichen fügen sich nicht in sinnvolle Worte,
als wären sie in chinesischer Schrift verfasst. Irgendwann sieht Susi im
Nachthemd bei mir vorbei.
»Wo ist Laura?«
»Die trifft sich noch mit einer Freundin«, lüge ich.
Susi sieht mich prüfend an. Ich habe nie viel gelogen und dementsprechend wenig Übung darin. Dann zuckt sie die Schultern und
seufzt: »Treibt sich bestimmt wieder mit einem Jungen herum«, und
220
geht gähnend ins Bett. Habe ich ein Glück, dass sie nicht so elendserprobt ist wie Amina. Die hätte mich sofort durchschaut.
WV
Irgendwann geht die Tür auf. Und Laura kommt rein. Sie ist aschfahl
im Gesicht, und sie zittert. Wirft ihre Jacke auf den Boden und wickelt
sich sofort in ihre warme Decke. Ich will sie umarmen.
»Du hast mich verdammt noch mal im Stich gelassen«, fährt mich
Laura an, sobald ihre Zähne nicht mehr aufeinanderschlagen.
Ich sage nichts. Und ja, ich weiß, ich habe ihr letztes Jahr genau dasselbe gesagt, als sie einfach abgehauen ist, als mein Vater vor der Schule
tobte. Weil sie nicht anders konnte. Aus Angst.
Jeder von uns hat etwas, das einfach nicht geht.
Und bei mir ist es eben das: Ich hätte meine Familie nicht riskieren können. Laura kennt das nicht. Sie kennt diese Überlegungen
nicht. Wenn sie Ärger baut, bedroht das niemals ihre Familie. Dann
bekommt sie Hausarrest oder weniger Taschengeld. Vielleicht ist ihre
Mutter dann wütend oder traurig. Aber es hängen nicht, verdammt
noch mal, vier weitere Schicksale davon ab, ob sie sich brav benommen hat.
»Ich habe über eine Stunde im Scheißgebüsch ausgeharrt.« Und
dann sagt sie noch leise: »Sie haben Lynne erwischt.«
Ich greife nach meinem Handy.
Und Laura fügt an: »Vergiss es. Ich hab sie bis jetzt nicht erreicht.«
Ich denke als Allererstes: Wenn Lynne uns verpfeift, ist es aus. Und
ich schäme mich sofort dafür. Ich sollte doch denken: Schlimm, dass
Lynne jetzt wirklich in einer Scheißlage ist.
»Sie haben mich am Arm gepackt, und ich hab mich losgerissen.
Ich bin gerade noch entkommen, weil sie dann auf Lynne konzentriert
waren und vielleicht auch nicht die Hellsten. Aber sie haben zumin221
dest kurz mein Gesicht gesehen. Meine Haare, alles. Sie könnten mich
wiedererkennen. So viele Knallrothaarige gibt es hier nicht.«
»Na, dann weißt du ja, was zu tun ist.«
»Blond oder schwarz?«, fragt Laura nur.
Und ich sage: »Was du bis morgen auftreiben kannst. Weil morgen ist Schule, und dann sehen sie uns vielleicht beim Heimkommen.«
Und Laura durchwühlt im Bad ihre Sachen und findet nur das
Blau aus der allerheftigsten Experimentierphase. Dann streckt sie mir
die Schere hin.
»Mach kurz«, sagt sie nur und seufzt.
Und ich denke an mich und an letztes Jahr. Als ich mein Haar einfach abschnitt wie meine Vergangenheit, als Papa beschlossen hatte
wegzugehen. Und sage: »Das wird bis zum Herbst wieder nachwachsen.«
So, wie mein Vater das auch zu mir gesagt hat.
Und als Laura schon mit grünstichig kackbraunem kurzem Haar,
das aussieht, als hätte sie jemand mit der Heckenschere bearbeitet, im
Bett sitzt, bis an die Nase in der Kuscheldecke versunken, läutet ihr
Telefon. Wir stürmen beide hin und stoßen davor zusammen: Lynne.
WV
Ich frühstücke betont entspannt bei meiner Mutter unten, damit sie
ja nichts merkt. Sie merkt nichts. Meine Oma will mit Rami in den
Wald gehen, aber er muss in den Kindergarten, und Oma versteht
nicht, warum es da eine Anwesenheitspflicht gibt. Schließlich geht
Amina mit ihr und Rami los. Ich kippe den Kaffee runter und schleiche mich zum Bus. Mit Laura. Sie hat sich schön dramatische dunkle
Augen gemalt und riesige Ohrhänger ihrer Mutter entwendet. So, wie
sie das macht, schaut sogar die von mir vergeigte Frisur irgendwie läs222
sig aus. Und prompt spricht sie auch eine im Bus darauf an. Und Laura
schaut so cool und sagt: »Neueste Mode. Direkt aus Paris.«
WV
Ich fahre an die Glasscheibe gelehnt wie so ein umgefallener Reissack
in China, und in meinem Kopf geht das Gespräch mit Lynne wieder
und wieder von vorne los. Lynne, die nicht mal weint, so verschreckt
ist sie. Die nach Worten sucht. Lynne, die nach Worten sucht: Nie im
Leben hätte ich mir das vorstellen können.
Wie die beiden auf sie eingeschrien haben. Dass sie eine hohe Geldstrafe zu erwarten hat. Dass sie ihr alle Vandalismusakte, die in der
Umgebung massiv auftreten seit einiger Zeit, anhängen werden, wenn
sie nicht kooperiert. Haben sie nach Namen gefragt. Und Lynne ist
eisern geblieben. Sie kennt die nicht, hat sie gesagt. Und sie wollte
nicht mitmachen, im Gegenteil, sie wollte die vertreiben. Das seien
wohl ganz schlimme Menschen, die auch schon bei ihr im Ort herumgeschmiert hätten. Das mag sie gar nicht, hat sie gesagt und den
unschuldigsten Augenaufschlag der Welt dazu geliefert. Und dann
haben sie ihren Ausweis verlangt. Und sie hat ihn hergezeigt.
»Lynne ist aber ein komischer Name«, hat da einer gesagt. »Wo
kommst du denn her?« Und Lynne hat auf den Nachnamen gezeigt.
Rolf war für die kein komischer Name. Und dabei ist sie tausend Tode
gestorben, vor Verzweiflung und auch vor Wut, aber sie hat offenbar
geschafft, es sich nicht anmerken zu lassen. Und hat sich über die
bösen Schmierfinken aufgeregt. Schließlich ließen die beiden sie gehen. Die Hellsten waren sie tatsächlich nicht. Zum Glück. Sie müsse
ihnen melden, wenn sie wieder etwas bemerken sollte. Und jetzt wusste
sie auch nicht, was noch passieren würde.
»Das war die Rolle meines Lebens«, sagt sie irgendwann, und ich
hoffe, dass sie dabei lächelt. »Aber stellt euch vor, ich hätte den Nach223
namen meines Vaters drinstehen gehabt«, setzt sie dazu. »Das ist doch
Irrsinn. Das ist doch nicht fair.«
Was ist schon fair, denke ich. Was ist schon fair von diesen Dingen,
die, einmal ins Rollen gekommen, eine immer größere Kackscheiße
auslösen. Wie wenn man einen fetten Stein ins Wasser wirft. Und den
Ringen beim Ausbreiten zusieht.
WV
Wir sagen unseren Eltern gar nichts, haben wir ausgemacht. Wenn wir
Glück haben, verläuft sich das Ganze im Sand. Ich hoffe auf wüstenviel Sand zum Verlaufen.
WV
Ich gehe mit Laura und Kassandra unsere Abendrunde, nur eine
kleine, bevor Susi das Abendessen macht. In der Nebengasse zu unserem Haus rennen wir in den Lederjackentrottel. Er wirkt nervös. Sehr
nervös.
»Was macht denn der hier?«, frage ich. »Der ist noch nie hier gewesen …«
Laura zuckt die Schultern.
»Vielleicht besucht er jemanden.«
Als ich mich umdrehe, ist er weg.
WV
Mama hat ihren federleichten silbernen Koffer gepackt, so zögerlich,
dass ich schon dachte, sie bläst alles wieder ab.
»Bist du sicher, dass ihr klarkommt?«, hat sie mich gefragt, die Augenbrauen tief gerunzelt.
»Ganz sicher«, hat Amina energisch gesagt. »Du kannst dich erholen.« Dann hat sie sie umarmt. »Nein, du sollst dich erholen. Wir
brauchen dich hier, gesund und ausgeruht.«
224
Da müsste Mama mehrere Monate in den Urlaub fahren, habe ich
mir gedacht und mir auf die Zunge gebissen. Besser der Spatz in der
Hand als die Taube auf dem Dach. Sag ich mir, seit wir hier sind. Und
es ist auch schon verdammt oft kein Spatz geworden, sondern ein
Pfau, finde ich.
Rami hat genölt. Bis ihm meine Großmutter zugeflüstert hat:
»So ein großer Junge. Der kann doch zwei Tage ohne seine Mutter
sein, oder? Ich fühle mich besser, wenn du bei mir bist.« Und er hat
sich an sie gekuschelt, eine dicke Träne verdrückt und meine Mutter
ziehen lassen. Wir haben einfach alle ein Problem mit den Trennungen. Jeder hier glaubt, man sieht sich dann nie wieder. Er hat vor dem
Gartentor gestanden und noch gewinkt, als Susis Auto in der Ferne
nicht mal mehr zu hören war.
WV
Glücklicherweise hat diesmal niemand bei uns angerufen. Keiner hat
nach mir oder Laura gefragt. Weder Schule noch Polizei noch sonst
irgendwer. Was für eine Erleichterung.
225
21
Übermorgen ist wieder Jahrmarkt. Die Wagen mit den Buden und
dem Karussell sind heute schon aufgefahren. Bald riecht es wieder
nach Zuckerwatte und Bier und Pommesfett. Bald dröhnt Musik
über dem Wald. Und die Lichtorgel kotzt in den gröbsten Farben.
Und: Wir gehen hin. Ich lass es mir doch nicht verderben von den
Erinnerungen an das letzte Mal. Nein, wir gehen natürlich hin.
Und es wird schön. Ich werde mir mit süßer Zuckerwatte den
Mund verkleben, werde Pommes und Würstchen essen und mit
Laura im Karussell fliegen und im Autoscooter schneller sein als
alle anderen. Und wir werden tanzen, bis wir verschwitzt und erschöpft sind. Das lasse ich uns nicht wegnehmen von einer schlechten Erinnerung. Dafür bin ich nicht hergekommen, dass ich mich
ins Bockshorn jagen lasse von einem wie dem Huper. Habe ich mir
fest vorgenommen. Mama habe ich nichts gesagt, wer weiß, ob sie
sonst weggefahren wäre mit Susi. Tante Amina wird mit Oma warten, damit sie sich vor dem Feuerwerk nicht fürchtet wie ich am
Anfang hier. Es ist ja das erste Feuerwerk für Oma. Das erste Feuerwerk bei uns zu Hause, meine ich. Und während ich es schreibe,
merke ich, wie seltsam das ist: Wenn ich zu Hause sage, dann meine
ich Susis Haus, und es ist schon sehr schön, das zu schreiben und
erst danach zu checken, dass es ein neues Gefühl ist. Früher war
226
»zu Hause« unser Haus. Mit unserem Garten. Und den Ziegen meiner Oma.
WV
Und als Laura und ich heute von der Schule heimkommen, ist es im
Garten ganz still. Markus ist nicht da, der ist in die Stadt gefahren, um
sich die Uni anzusehen, die ihn interessiert. Oma sollte eigentlich da
sein. Ich mach unsere Gartentür hinter uns zu und will nach ihr rufen.
Und dann sehe ich es. Über das schöne Haus von Lauras Mama, über
die liebevoll getünchte Fassade mit der Farbe, die Susi sich ewig lange
ausgesucht hat, bis wirklich alles passte – über die ganze renovierte
Stirnseite des Hauses steht:
»Hier wohnt Gesindel. Ausländer raus!«
Während wir noch ganz entsetzt dastehen, als ob wir es nicht begreifen könnten, was hier passiert ist, als ob es eventuell nicht real
wäre, klingelt Lauras Handy. Wir kennen die Nummer beide.
»Du Schlampe«, steht da. »Du wirst es noch bereuen, die falsche
Seite gewählt zu haben.«
Laura lässt das Handy fallen.
»Der weiß was von Sophie!«
»Blödsinn. Der meint mich und meine Familie.«
Ich hebe das Handy auf und drücke Laura, so fest ich kann.
Laura zittert ganz leicht. Das, was sich über ein halbes Jahr aufgebaut hat, hat sich aus der Entfernung an uns herangepirscht. So langsam, dass wir es fast nicht bemerkt haben. Und jetzt ist es da. Nicht
mehr als Spruch auf einer fremden Werkstattwand oder auf einer
Statue am Hauptplatz. Sondern mittendrin. Bei uns.
»Der soll sich verpissen«, sage ich. »Scheiß dich nicht an, Laura.« So
wie sie es sonst zu mir sagt.
Und dann blockiere ich die Huper-Nummer. Ohne Laura zu fragen.
227
Und dann geh ich rein ins Haus.
WV
Der Jahrmarkt ist morgen. Und jetzt breite ich meine Kleider auf dem
Bett aus, um mir das schönste auszusuchen. Meine Oma hat sich hingelegt. Meine Tante massiert ihr die kleinen Füße, die in Ramis Schuhe
hineinpassen. Sie sieht ein bisschen aus wie eine Puppe, so wie sie
unter der bunten Tagesdecke liegt. Meine Tante nippt ab und zu an
ihrem Lieblingstee. Sie haben beide offensichtlich keine Ahnung, was
draußen passiert ist. Ich will sie auch gar nicht erschrecken. Markus ist
bei seinem Kumpel, der schon auf dieser Uni ist, über Nacht geblieben. Das Haus kenne ich eigentlich nur mit Markus drin. Es ist ganz
seltsam, dass in seinem Zimmer keine Musik läuft. Er nicht durch die
Küche schlurft. Ich denke dran, dass er wohl bald ausziehen wird, und
dann ist es immer so still in seinem Zimmer. Vermutlich wird Laura
sein Zimmer beziehen, weil es größer ist als ihres. Und ich kann vielleicht ihres haben. Seit Oma da ist, ist es wirklich eng geworden in
unserer Wohnung. Das versetzt mir trotz allem einen kleinen Stich.
Ich hasse es, wenn sich Dinge ändern. Und gleichzeitig mag ich es
auch. Verrückt. Laura ruft Susi an. Es klingelt und klingelt ins Leere,
niemand hebt ab. Vielleicht sind sie ja unterwegs. Vielleicht sitzen sie
gerade beim Abendessen. Und ich denke, ist vielleicht besser so, sonst
ist der Urlaub sofort verdorben. Es wird eine hässliche Überraschung
werden, wenn sie zurückkommen. Die müssen sie nicht schon vorab
erfahren, finde ich. Am Abend sperre ich die Eingangstür unseres
Hauses ab. Das erste Mal, seit wir hier sind.
WV
228
»Was machen wir?«, fragt Laura. Irgendwie ein wenig kleinlaut. »Gehen wir noch zum Jahrmarkt? Oder … lassen wir es bleiben?«
»Sicher gehen wir«, antworte ich. »Warum sollten wir nicht gehen?«
Und dann gehen wir. Wir zwei. Laura und ich. Aber: Laura hat solche Angst, dass sie unterwegs kotzen muss. Sie behauptet steif und
fest, dass es der Fisch war, den sie gegessen hat. Ich glaube nicht, dass
der Fisch schuld ist. Von weit weg dröhnt die Musik zu uns rüber, und
die Lichter wandern über den Himmel. Laura wischt sich den Speichel von den Lippen, richtet sich auf und sagt: »Du, mir ist so schwindlig. Ich kann nicht weiter.«
Und ich stütze sie und führe sie zurück zu unserem angeschmierten Haus. Eigentlich sollten wir den Spruch übermalen. Aber ich habe
echt keine Kraft mehr dazu.
WV
Als wir zurück sind, sperre ich aus reinem Vorsichtsgefühl diesmal
auch das Gartentor ab, sehe in unserer Wohnung nach, ob alles okay
ist: Alle liegen sie in ihren Betten und schlafen. Ich mache Laura oben
in der Küche einen Magentee. Laura hängt da mit einem Schal um
den Bauch gebunden. Kassandra sitzt bei uns mit aufgestellten Ohren,
aufmerksam, als ob sie in den Garten hinauslauschen würde.
»Was hast du denn?«, sage ich zu Kassandra und kraule sie hinter
dem aufgestellten Ohr. Dann schiebe ich den Tee zu Laura rüber. Sie
verzieht das Gesicht. »Trink den, es wird dir besser gehen.«
»Ich weiß nicht. Irgendwas ist. Ich habe ein seltsames Gefühl.«
Dass Laura mal ein seltsames Gefühl hat, überrascht mich. Normalerweise bin ich es, die unruhig ist. Kassandra lauscht, lauscht und
rennt auf einmal wild bellend die Treppe hinunter. Und ich, ohne
nachzudenken, hinterher.
Ich schaue durch den Spion: Man sieht nur den dunklen Garten.
229
Aber ich bilde mir ein, da draußen Bewegung zu sehen. Irgendwer ist
da. Laura ist mir nachgekommen. Sie greift nach der Klinke. »Mama?
Seid ihr zurückgekommen?«
Ich ziehe sie zurück. »Nein. Die Tür bleibt zu.«
Und ich denke fieberhaft darüber nach, ob die zweite Tür, der Hinterausgang, auch zu ist. Und dann höre ich es auch schon: Stimmen.
Ein paar Stimmen, die näher kommen. Kassandra bellt und bellt und
fletscht die Zähne, so wie ich sie ihre Zähne noch nie habe fletschen
sehen.
»Was ist das?«, flüstert Laura.
Ihre Augen sind schreckgeweitet.
»Der Huper«, flüstere ich zurück. Ich habe seine Stimme ganz
deutlich herausgehört. Er ist da. Und er ist nicht allein. Kassandra
knurrt und bellt und geifert, und schon höre ich auch Ramis Stimme,
die verschlafen nach ihr ruft. Und Aminas. Ich renne in die Wohnung,
ich will nicht, dass sie jetzt Licht machen. Dass man sie von draußen
sehen kann.
»Geht in eure Zimmer«, sage ich. Und zu Laura sage ich: »Wir sollten Hilfe holen.«
Laura ruft Markus an. Markus hebt nicht ab. Genauso wie Susi
nicht. Und Lynne. Die ist entweder auf dem Jahrmarkt, oder sie schläft
tief und fest.
»Was machen wir jetzt nur?«, flüstert Laura. »Was will der da!« Ich
will es ehrlich gesagt nicht herausfinden. Er klingt einigermaßen betrunken. Und die Chance, dass er kotzt und verschwindet, ist mit viel
Glück hoch. Ich will es also nicht davor eskalieren lassen. Laura sitzt
apathisch auf der Treppe und klappert mit den Zähnen.
»Wir müssen uns Hilfe holen«, sage ich zu ihr.
Und sie sagt: »Alles, aber bitte nicht die Polizei. Die haben mich
doch bestimmt gemeldet, als sie uns beim Sprayen erwischt haben.«
230
Ich wähle Frau Wischmanns Nummer. Meine Finger zittern, ich
vertippe mich mehrmals. Und dann höre ich lange dem Besetztzeichen zu. Und dem Klick, mit dem der Anrufbeantworter anspringt.
»Hier Praxis Wischmann, wenn Sie einen Termin vereinbaren möchten, sprechen Sie bitte nach dem Piepton.«
Und dann fällt mir nichts Besseres ein, als die Nummer von der
King rauszusuchen. »Selbstverständlich ruft ihr jetzt sofort die Polizei«, sagt die King. »Ich bin in fünfzehn Minuten bei euch.«
Laura heult lautlos vor sich hin. Ich schiele durch die Vorhänge.
Der Huper hat sich direkt vor unserem Gartentor postiert. Ich habe
keine Ahnung, wie die King da durchkommen will. Ich greife nach
dem Handy, Laura hält meine Hand fest. »Bitte ruf nicht die Polizei,
was, wenn sie mich erkennen!«
»Laura«, sage ich, »das ist nicht witzig. Das ist kein Spiel mehr. Das
ist ernst.«
»Dann warte doch wenigstens, bis die King da ist!«
Rami weint los. Tante Amina beeilt sich, ihn und meine Oma zu
beruhigen. Es fühlt sich an wie früher, als wir vor den Bomben Schutz
suchten. So entspannt wie möglich. So konzentriert wie nötig. Ich
gehe durchs Haus und ziehe überall die Vorhänge zu.
Mein Kopf schaltet augenblicklich in den Notfallmodus. Ich werde
ganz kalt und kühl. Ich bin halb aus mir draußen. Ich bin so, wie ich
in unserem Keller während der Operationen gewesen bin. Präzise wie
ein vom Chirurgen geführtes Skalpell. Ich muss jetzt aber meine eigene Chirurgin und mein eigenes Skalpell werden. Ich gehe von Fenster zu Fenster und prüfe es. Ich schiebe ein schweres Sofa vor die Eingangstür.
Ich spähe raus in den Garten. Es sind jetzt noch ein paar mehr.
Sie grölen. Sie sind offensichtlich betrunken. Sie kommen in kleinen
Grüppchen die Straße vom Jahrmarkt herauf. Der scheiß Lederjacken231
trottel aus meiner Schule ist dabei. Ich erkenne seine näselnde arrogante Stimme auch in einer grölenden Menge wieder, echt. Was für
ein feiges Arschloch! Ein paar haben Fackeln in der Hand. Einer oder
zwei oder mehr. Ich kann das nicht so genau erkennen, und meine
Angst malt schlimmere Bilder als die, die ich sehen kann, in die Dunkelheit.
»Ruf sofort die Polizei an, sonst mach ich es, Laura.«
Und trotzdem dauert es noch mal quälende Minuten, bis Laura es
schafft, die Nummer zu wählen.
Die King ruft mich zurück.
»Vor eurem Haus steht eine betrunkene Horde.«
»Sie müssen zum Hintereingang, den kann ich öffnen«, sage ich.
»Sie müssten allerdings hinten auf das Nachbargrundstück und über
den Zaun klettern.«
Die King bleibt erstaunlich gelassen. Very British. »Immerhin kann
mich euer Nachbar nicht dabei erwischen, wie ich in sein Grundstück
einbreche. Der steht nämlich vor eurem Gartentor und schwenkt eine
Fahne.«
Die Vorstellung einer über den Zaun kletternden King lässt mich
fast lachen, trotz der ganzen beschissenen Situation.
»Ist die Polizei schon da?«
»Nein«, sage ich.
Ich habe keine Ahnung, wann die kommen. Ich weiß es nicht. Und
als ich die Tür schon einen Spaltbreit geöffnet habe und die King hindurchgeschlüpft ist, höre ich, wie es mehr und mehr Stimmen werden. Höre die beschissenen Parolen, die sie auch auf dem Hauptplatz
skandiert haben.
»Unser Land für unsere Leute!«, schreit der Huper und rüttelt am
Gartentor, bis das Metall schwingt und kreischt. Aber er traut sich
nicht drüberzuspringen. Gott sei Dank. Um ihn herum Fackelschein,
232
Schreie und Johlen. Wie bei uns. Wie früher. Und die Polizei ist noch
immer nicht da. Langsam füllt sich die Straße vor unserem Zaun. Der
Ring um unser Gartentor schließt sich. Es sind viele. Zu viele.
»Schwing dich drüber«, schreit einer. Ein anderer lacht.
»Nein, das wird sonst richtig teuer«, sagt der Huper. So besoffen
kann er offenbar nicht sein, wenn er wenigstens das noch kapiert.
Aber andere sind wesentlich betrunkener als er.
Meine Oma weint und Rami auch. Meine Tante hat sich mit beiden ins Kinderzimmer zurückgezogen, die Arme ausgebreitet wie
Fittiche, sieht sie mich fragend an. Was tun? Wenn ich das wüsste.
Draußen klatscht etwas auf den Gartenweg. Ein Ei. Und dann etwas
Schwereres, das glücklicherweise das Fenster verfehlt. Wohl ein Stein.
»Ausländer raus«, grölt ein vielstimmiger Chor von draußen. Und
das Gartentor wird wieder gerüttelt, ich höre das quietschende Metall,
das an Metall reibt. Das Tor ist aus Gusseisen und wirklich schwer. Ich
danke meinem Vorgefühl, das mich zusperren ließ.
Ich habe das Gefühl, die Wut da draußen steigert sich und türmt
sich auf und wird noch höher als die Welle eines Tsunamis, und bald
wird diese übereinandergetürmte Wassermasse über uns hereinbrechen, wenn dieser Kipppunkt kommt, der den Wasserbogen zum Einsturz bringt, und dann wird alles darunter begraben, alles.
Die King sieht mich an. Sieht ins Zimmer, in dem meine Großmutter liegt. Und geht dann zur Eingangstür.
»Ruf noch mal bei der Polizei an«, sagt sie mir nur.
»Nein, machen Sie das nicht«, sagt Laura erschrocken und versucht, die Tür vor der King zuzudrücken. Sie aber schiebt die Hand
weg, die sie hindern will, öffnet die Tür und tritt hinaus. Die Menge
johlt, als sie eine Bewegung im Haus bemerkt. Im Widerschein der
Fackeln wirkt die King noch hagerer als sonst, eine Haarsträhne hat
sich aus dem grauen Dutt gelöst und weht hinter ihr her. Das Gesicht
233
ist schärfer geschnitten, als es mir früher aufgefallen ist – vielleicht
aber ist es erst jetzt so geworden.
Sie geht mit fliegendem Mantel seelenruhig aus unserem Haus,
durch den Garten und zum Gartentor. Der Schatten, den der Mantel
auf den gepflasterten Weg wirft, sieht aus wie ein Superheldinnencape. Die Menge schreit, ein Farbbeutel fliegt an ihr vorbei, ein Ei
zerplatzt wie eine Granate auf der Straße. Das nächste. Ihre feinen
Lackschuhe gelb gesprenkelt. Die King geht mit festen Schritten, sie
geht, ohne darauf zu reagieren: eine echte Feldherrin. Neben dem
Gartentor bleibt sie stehen.
»Es ist Zeit zu gehen, meine Herrschaften.«
Sie grölen und kreischen.
Ich halte die Luft an. Der Huper löst sich aus der Menge und bewegt sich auf sie zu. Er wirkt bullig und gedrungen gegen ihre hagere
Gestalt. Er tänzelt von einem Bein auf das andere, wie so ein verfluchter Boxer vor dem Kampf.
»Sie haben noch die Gelegenheit, das alles aufzulösen«, sagt die
King zu ihm. »Eine kurze Zeitspanne, bevor die Polizei da ist.«
»Wir haben unsere Leute bei der Polizei, alte Schachtel.«
»Mag sein. Aber nicht genug«, antwortet sie ihm.
Sie stehen Nase an Nase. Er ist nicht besonders groß, und die King
ist recht hochgewachsen. Sie sehen aus wie zwei Cowboys vor der
Schießerei, wie zwei Duellanten. Die Menge wogt hinter dem Huper
im Halbdunkel. Ich kann sie nicht schätzen, vielleicht sind es dreißig
Menschen, vielleicht fünfzig. Die King steht ganz allein da draußen.
Das soll nicht so sein. Das darf nicht so sein. Ich höre meine Großmutter wimmern im Hintergrund. Und meine Tante schnauben. Und
Laura leise schluchzen. Wir haben den dicken Riegel vor die Tür geschoben, wir haben uns in Sicherheit gebracht. Ich höre uns alle: einatmen und ausatmen. Ich kenne das. Es ist wie damals, als die Nach234
barn die Häuser der Verhassten überfielen und plünderten. Es ist, wie
es immer ist, wenn Menschen aufhören, die anderen als Menschen zu
betrachten. Und ich denke an die Leichen auf den Feldern. Ich denke
an die frisch Operierten auf Papas Küchentisch, den wir in den Keller
getragen haben. Ich denke an all das, und ich weiß, dass ich es nicht
dulden werde. Nicht hier. Auch nicht, wenn es harmlos anfängt. Nicht
an diesem Ort. Nicht mit mir. Und ich weiß auch, dass ich die King
nicht allein da draußen unsere Ärsche retten lasse. Ich nicht. Bis ich
die Tür entriegelt habe, wird es dauern, und es wird auch dauern, diese
Tür wieder sicher zu verriegeln.
»Halte Kassandra fest«, sag ich zu Laura. Und dann klettere ich.
Bevor ich noch dreimal überlege, bin ich schon aus dem Fenster und
springe mitten in Susis Beet mit der Rosenhecke. Die Dornen bohren
sich durch meine Jeans.
»Madina, nein!«, schreit meine Tante. Ich habe das Gefühl, dass ich
mich an der Luft, die ich atme, verschlucken könnte, aber das ist egal.
Mein Herz sprengt den Bogen der Rippen und tanzt in meinem Hals.
Noch haben sie mich nicht gesehen, es ist zu dunkel, die Straßenlaterne brennt weiter vorne, dort, wo die King steht.
Also gut. Jetzt.
Ich gebe mir einen Ruck und gehe raus aus dem Schatten. Die
Menge brüllt auf.
»Da ist sie ja, die Parasitin!«
Ich straffe meine Schultern, wie ich es unzählige Male getan habe,
wenn mir jemand blöd gekommen ist. Ich habe es gelernt. Ich kann
das. Mein Blick wird dann zum Superschild, der all das Gekotze von
mir abprallen lässt. Ich habe es aber noch nie mit so vielen bösen Blicken auf einmal zu tun gehabt. Ich atme also durch, und ich gehe auf
die King zu. Mein Schatten neben ihrem. An meinem Kopf fliegt ein
Ei vorbei. Oder ein Stein.
235
Und während ich noch gehe, höre ich Schritte hinter mir.
»Ich bin bei euch«, sagt meine Tante und legt mir die Hand auf die
Schulter. Ihr Rock ist zerrissen, auch sie muss in der Rosenhecke hängen geblieben sein. Wir sind da. Wir sind Superheldinnen. Wir stehen
wie das letzte Aufgebot einer kleinen, zerschlagenen Armee.
Die unerwartet eine Verstärkung erhält. Im Dunkeln wird es unruhig, die Menge wogt, sie teilt sich wie das Meer, es gibt Geschrei und
Gedränge. »Lasst mich durch«, höre ich die Stimme des Cafébesitzers.
»Was zum Teufel macht ihr da? Durchlassen, sofort!«
Er ist nicht allein, es sind ein paar aus unserem Ort da, nicht viele,
aber doch, und sogar zwei aus meiner Schule. Die Polizei aber immer
noch nicht.
Die King versucht, sich Übersicht zu verschaffen, sie späht in die
Dunkelheit. Dann fasst sie wieder den Huper ins Auge. Mit diesem
Blick, den ich aus der Schule kenne. Wen dieser Blick trifft, der verwandelt sich sofort zu Stein. Auf der Stelle. Das kann Krähen-King besser
als Gorgo, die Medusa.
»Sie sollten sich schämen, junger Mann. Sich so aufzuführen. In
einem Land, das Ihnen so viele Möglichkeiten gegeben hat, entscheiden Sie sich dazu, Ihren niedersten Trieben zu folgen.«
Er hebt die geballte Faust, aber er schlägt nicht zu. Die Faust bleibt
unschlüssig in der Luft auf ihrer Gesichtshöhe hängen und zittert. Sie
zuckt nicht einmal mit einer Wimper.
»Es ist mir egal, wenn Sie gewalttätig werden. Ich bin krank. Ich
werde nicht mehr lange da sein. Aber Sie, Sie werden viel Zeit haben,
Ihren Ärger ausbaden zu müssen.«
Und sie macht noch einen Schritt auf ihn zu.
Und er weicht zurück.
Unter Gepfeife und Gebuhe der anderen. Der Cafébesitzer stößt
ein paar Menschen zur Seite und kämpft sich zu uns durch. Einer
236
schubst ihn, er schwankt, findet das Gleichgewicht wieder, schubst
zurück. Er ist bärengroß und bärenschwer, der Mann, den er geschubst
hat, fällt um. Schon ist eine Woge durch die Menge gegangen, sie kräuselt sich und stürzt ineinander, Schreie und Fackelschein. Ich hoffe
nur, dass keiner auf die Idee kommt, so eine Fackel zu werfen, jenseits der Hecke, in eines unserer Fenster oder zum Eingang. Ich will
nicht, dass meine Großmutter zum zweiten Mal mitansehen muss,
wie ein Garten brennt. Ich stehe vor dem Gartentor neben der King
und Amina, und ich werde es halten, koste es, was es wolle. Alles ist
nicht real. Es ist ein Film. Ein Fantasyfilm vielleicht.
In der Ferne höre ich das Heulen einer Polizeisirene. Dann eine
weitere. Sie kommen. Immer noch löst das Angst aus, mein erster Reflex ist einfach immer die Angst – vor Soldaten, die kommen, um uns
zu holen. Aber hier ist es etwas anderes. Ich weiß es. Ich zweifle nicht
daran. Sie kommen. Sie kommen, um uns zu beschützen.
»Feigling«, zischt einer.
»Die Bullen!«, ruft ein anderer.
Und als die Autos schon mit quietschenden Reifen stehen geblieben
sind und die Beamten ihre Durchsagen über unsere Köpfe rollen lassen, als die Menge sich im Dunkeln und in den unbeleuchteten Gässchen und im Wald zerstreut und auseinanderströmt bis auf die paar,
die die Polizisten herausgefischt haben, und als der Huper mit gespreizten Beinen am Polizeiauto steht, während er durchsucht wird,
weil er natürlich Schimpfkanonaden brüllen musste, statt zum Rückzug zu blasen, als das alles um mich herum zerfließt und zerfällt, da
wankt die King und lässt das Gartentor los und fällt, leicht wie Papier
scheint es mir, fällt in Zeitlupe auf die Pflastersteine, die im Blaulicht
pulsieren. Und sie ist so leicht, dass ich den Aufprall gar nicht höre,
aber vielleicht höre ich sowieso nichts, weil meine Ohren gefüllt sind
237
von einem hohen sirrenden Ton und ich weder meine Beine spüre
noch meine Finger. Und als sie fällt, wirft sich meine Tante zu ihr hin
und bettet Kings Kopf auf den Schoß und schreit, und irgendwann
höre ich sogar, was das bedeutet.
»Wasser!«, schreit sie. »Wasser! Und einen Arzt!«
Diese seltsame, irre Nacht stürzt so, wie die King gestürzt ist: lautlos und in Zeitlupe endgültig auf uns alle hinab.
238
22
»Du bist doch eine kluge junge Frau«, sagt die King und lächelt
schwach. Ihr feines Haar wirkt ungewohnt, so gelöst und ohne strengen Halt. Es formt einen grauen Kranz um ihren Kopf, ein bisschen
wie ein Heiligenschein auf den Bildern in ihrer Wohnung. Über dem
Haarkranz und dem Kissen und dem Kopfteil des Metallbettes piept
es in regelmäßigen Tönen, während eine Linie kleine Berge auf den
Monitor zeichnet, die Kings Herzschlag illustrieren sollen. Schaut
eigentlich hübsch regelmäßig aus. Aus ihrem gelben Hemd hängen
Drähte und eine Kanüle, aus der die Krankenschwester den dünnen
Schlauch der Infusion gerade entfernt hat. Die Kanüle ist fein und
sauber, hätten ich und mein Vater so gute Instrumente gehabt, hätten
wir nicht so oft in diesem Schweigen bleiben müssen, das uns sagte:
Hier kann es keinen Kampf mehr geben.
»Du hast dein ganzes Leben vor dir.«
Sie räuspert sich, ringt nach Luft. Ich greife nach dem Wasserglas
und halte es an ihre Lippen. Es kommt mir nicht einen Augenblick
seltsam vor, mich in dieser Rolle wiederzufinden. Die King trinkt mit
vorsichtigen kleinen Schlucken, sie ist so durchscheinend, dass es mich
nicht wundern würde, wenn ich den Weg des Wassers in ihrem Hals
durch die Haut sehen könnte. Dann schließt sie die Augen. Ihre Wimpern sind kurz und stumpf und hellbraun, wie zwei kleine alte Bürsten.
239
»Du hast bald nur noch zwei Jahre an der Schule.«
Ich nicke.
»Es ist völlig egal, ob ich dich unterrichten werde oder jemand anderes … Du wirst das gut machen. Das weiß ich.«
Ihr fallen die Augen fast zu, während sie das sagt.
»Ich bin ein wenig müde, verzeih mir.«
Von draußen knallt das Licht herein, es ist ein warmer Tag, einer
der ersten richtig warmen Frühlingstage. In den Sonnenstrahlen drehen sich Krankenhausstaubpartikelchen wie kleine Universen. Ich
sehe ihnen beim Tanzen zu. Die King streckt ihr Gesicht der Sonne
entgegen. Das Kopfteil ist sehr hoch eingestellt, das Tischchen daneben ist beinahe auf ihrer Kopfhöhe, darauf steht ein riesiger bunter
Blumenstrauß, zwischen den knallroten und violetten Blütenblättern
ein kleines Kärtchen von unserer Schule. Baldige Genesung. Und daneben versteckt ein kleiner Strauß Hyazinthen von uns, von mir und
meiner Mutter. Aus unserem Garten. Die unter dem Fenster. Sie sieht
so aus, als würde sie an einem der Bäume im Märchenwald Rast machen.
»Ich kann gern später wiederkommen, Frau King.«
Sie lächelt. »Nein, nein. Bleib.«
Dann sammelt sie wieder ihre Kräfte und sagt so leise, dass ich
mich zu ihr vorbeugen muss, um sie zu verstehen:
»Verzeih mir bitte. Ich habe mich geirrt. Letztes Jahr. Du wirst eine
ganz wunderbare Ärztin sein.«
Ich mag gar nicht schreiben, wie meine Mutter vor dem Haus erstarrt
dagestanden hat, eine Hand auf ihrem neuen Koffer, die Geschenke
für uns in der anderen Hand. Wie Susi sich so auf die Lippe biss, bis
ein Blutstropfen auf ihrem pinken neuen Lippenstift hervortrat. Wie
meine Tante meine Mutter in den Hof geführt hat, ihr den Spruch ge240
zeigt hat und gesagt hat: »Das kommt weg. Und wir bleiben. Das ist,
was zählt. Hörst du? Das ist das Einzige, was zählt.«
Mehr werde ich dazu nicht schreiben. Ich will das nicht wiederkäuen. Es stinkt und macht mir Brechreiz, dieses Vergangene. Irgendwann wird es vermodern und zerfallen, und auch der faulige Geruch
wird verfliegen. Wer weiß, was dann ist.
WV
Ich schreibe lieber was Schönes. Vom Hässlichen hatten wir dieses
Jahr genug. Oma bäckt in unserer Küche, und es duftet wie eine Kreuzung zwischen meiner Kindheit und Susis Apfelspezialitäten. Es gibt
nicht alle Gewürze hier, die Oma braucht. Susi hat ihr die hiesigen gegeben. Es riecht nach Zimt und Honig und Rosinen und Nelken.
WV
War heute mit Oma und Mama bei der King und haben ihr Omas
Apfelkuchen gebracht. Es geht ihr besser. Meine Oma hat sich vor ihr
verneigt, weil es in ihrem Dorf so üblich war, und es war mir nicht
peinlich. Weder ihre Verbeugung noch ihr Rosenkleid und das Tuch.
Nicht ein bisschen.
WV
Diese zwei Kontinentaltafeln, auf denen ich seit Jahren mit je einem
Bein stehe, haben ihren Drift verloren. Dieser Drift, von dem wir mal
in Geo gesprochen haben, der ganze Kontinente auseinandergerissen
hat und alles, was eigentlich mal zusammengehörte. Sie sind ein fester
Untergrund geworden. Mein Fundament. Es ordnet sich. Nicht alles,
aber einiges. Ich bin die, die herkam. Und ich bin die, die hier ist. Die
alte und die neue Madina: einfach ich.
WV
241
Die King wird dieses Jahr nicht mehr in die Schule zurückkommen.
Es sind ja auch nur noch ein paar Wochen. Alles kippt Richtung Sommer. Die Vertretungslehrerin interessiert sich mäßig für uns. Und
auch nicht wirklich für mich. Egal. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich
schaffe es durch dieses Schuljahr. Ich kann das. Ich habe das der King
versprochen. Ich nenne sie insgeheim nicht mehr Krähen-King. Sondern Greifen-King. Das passt jetzt besser.
WV
Von Tag zu Tag wird es heißer. Ich und Laura gehen ins Café Eis essen.
Wie früher. Es ist nichts mehr wie früher, und doch ist alles dasselbe
geblieben. Derselbe Kiesweg neben dem Hauptplatz, dieselbe Statue,
die nicht mal mehr Spuren der Farbe trägt, weder unserer noch der
der anderen, die Laternen und die Bäume und die Auslage vom Café.
Der Cafébesitzer ist da. Die Kellnerin nicht. Er steht hinter der Bar
und putzt Gläser. In der Auslage befindet sich nicht eine einzige
Torte. Schade. Auf der Wange hat er immer noch einen roten Striemen. Hinter uns taucht unser Nachbar auf. Der, der mit den anderen
vor unserem Haus gestanden hat. Der Cafébesitzer stellt sich ihm in
den Weg.
»Was willst du hier?«
»Mein Bier, wie üblich …«
»Du kriegst kein Bier. Und jetzt raus!«
Der Nachbar schaut irritiert. »Das muss ein Missverständnis sein.
Was ist denn in dich gefahren? Ich trinke doch seit zwanzig Jahren
mein Bier um diese Zeit bei dir!«
»Das Missverständnis hat begonnen, als du dich einer heulenden
Horde angeschlossen hast. Raus.«
Der Nachbar räuspert sich und setzt sich die Mütze auf. Dann sieht
er mich. Und wendet ganz schnell den Blick ab. In einer Mischung aus
242
Verärgerung und Schuldgefühl. Aber vielleicht ist er auch nur sauer,
dass er sein Stammlokal verloren hat, weil er vor unserem Haus erwischt worden ist.
»Das kannst du doch nicht ewig durchziehen«, murmelt er noch,
bevor er das Café verlässt. »Dann geht eben dein Laden einfach ein.«
Das Glöckchen an der Tür bimmelt lustig, als sie ins Schloss fällt.
Unser Ort hat sich in nur ein paar Monaten verändert. Der Cafébetreiber kommt an unseren Tisch und begrüßt mich, wie man echte
Stammkunden begrüßt. Ich bin jetzt eine Stammkundin. Ich!
»Es tut mir so leid«, sage ich. Ich fühle mich schuldig an dieser Situation. Wären wir nicht hergekommen, wäre nichts passiert. Hätte
uns Susi nicht aufgenommen, hätte sie jetzt keinen Ärger mit dem
Nachbarn und der Nachbar keinen Ärger mit dem Cafébesitzer.
Der Cafébesitzer schüttelt den Kopf. »Ist schon okay.«
Wir reden nicht weiter über das, was vorgefallen ist. Aber als wir
zahlen wollen, winkt er ab. »Freunde des Hauses sind eingeladen«,
meint er nur.
Als wir heimgehen, schweigt Laura lange und tritt kleine Steinchen mit ihren nagelneuen Sandalen weg. Die Steinchen kullern vor
uns her. Und irgendwann sagt sie: »Er kann das doch wirklich nicht
ewig durchziehen, oder?«
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Zu Hause wurde so was
ganz einfach durchgezogen. So was und noch viel schlimmere Sachen.
Es geht schnell. Ein Angriff dort, ein Gegenangriff da. Ich will nicht,
dass es hier auch anfängt. Es war schön hier, es war ruhig. Ich weiß
auch nicht, warum Menschen sich immer fertigmachen müssen. Überall. Da kann es noch so ruhig sein. Irgendwer kommt schon mit dämlichen Ideen daher, wie man dieses Ruhige ordentlich kaputt machen
könnte. Und ich bin trotzdem froh, dass es auch überall Menschen
gibt, die das nicht unkommentiert geschehen lassen.
243
»Meinst du, er soll jetzt so tun, als wäre nichts passiert?«
Laura denkt nach. »Weiß nicht.«
»Davon wird das nämlich nicht ungeschehen, weißt du.«
WV
In der Schule ist es komisch. Ein bisschen. Es wissen nicht alle von der
Sache mit dem Jahrmarkt und der Menge vor unserem Haus. Aber es
spricht sich schön langsam rum.
Der Lederjackentyp schaut mich im Vorübergehen böse an. Jetzt
weiß ich auch, warum er ein paar Tage vor dem Jahrmarkt vor unserem
Haus aufgetaucht ist. Aber er hält den Mund. Vor ein paar Wochen
habe ich mich noch bei ihm entschuldigt. Entschuldigen müssen.
Jetzt würde ich es nicht mehr tun. Ich balle die Faust in der Tasche. Ein
blödes Wort, und sie wird nicht in der Tasche bleiben.
Laura sieht meinen Gesichtsausdruck und nimmt mich ganz sanft
an der Hand. »Om.«
Jonas kommt in der großen Pause wieder einmal rüber aus seiner
Klasse und sagt, dass ich sehr mutig sei. Ich weiß nicht. Die King war
mutig. Ich habe sie nur unterstützt.
»Das ist doch nicht wahr«, sagt Jonas, »du bist echt … wirklich …
cool. Ja, bist du.« Er schluckt und schaut zu Boden. »Weißt du, ich
wollte auch was tun«, fügt er noch an. Er nestelt an seiner Jacke herum und öffnet sie plötzlich ganz dramatisch, und ich denke mir
noch – was zum Teufel soll das werden, ein Striptease? Und darunter
trägt er ein T-Shirt, auf dem in billigen Plastikbuchstaben gedruckt
steht: Solidarität mit Madina.
WV
244
Laura und ich sind ins Kino gegangen. Vor dem Kino stand Sophie,
Hand in Hand mit einem anderen Mädchen. Das hat sich Laura nie
mit ihr getraut. Sie hat glücklich und entspannt gewirkt. Wenigstens
irgendwer ist hier uneingeschränkt glücklich und entspannt. Habe zu
Laura geschielt, es schien sie nicht zu stören.
WV
Die letzten Prüfungen stehen an. Ich und Laura lernen gemeinsam.
Nur noch zwei Schularbeiten. Aber ich wackle sowieso in keinem einzigen Fach. Eigentlich kann nichts mehr passieren. Wow. Ich habe es
echt geschafft. Ich bin über das brennende Seil auf die andere Seite
des Abgrundes gegangen. Und meine Fußsohlen dampfen ein bisschen, aber sie sind noch vorhanden.
WV
Ab und an klingelt das Telefon. Susi hat sich so ein Gerät gekauft, um
die Nummern anzuzeigen. Wenn da »unbekannt« draufsteht, geht sie
nicht ran. Auf diese Art und Weise hat sie schon einen ganz wichtigen
Anruf vom Amt versäumt. Es ist nicht immer der anonyme Arsch. Der
da klingelt.
WV
Das Geschmiere auf dem Haus von Susi wird bald übertüncht. Die
Versicherung kommt dafür auf. Als wäre das so ein Ereignis wie Hagel
oder Wasserschaden.
WV
Susi trinkt. Jeden Abend.
WV
245
Natürlich waren sie wieder da. Am Donnerstag. Nicht so viele wie
sonst, aber doch. Der Huper war nicht dabei. Der Cafébesitzer hat sie
beschimpft und sein Putzwasser auf den Gehsteig ausgekippt. »Eine
blöde Aktion, und ich hole augenblicklich die Polizei«, hat er gedroht.
Und eine andere Nachbarin, die Hunde mag und Kassandra öfter
streichelt und immer Leckerlis für sie parat hat, wenn wir an ihrem
Haus ein paar Gassen weiter vorbeigehen, ist zu ihnen hin, Arme vor
der Brust verschränkt, und hat gesagt: »Keiner will euch hier. Ihr seid
eine Schande.« Ich habe die Frau angelächelt und bin an ihnen vorbeigegangen.
WV
Meine Oma sitzt im Schaukelstuhl in unserem Garten, trinkt ihren
tiefschwarzen Schwarztee mit vielen Zuckerstückchen aus den Gläsern, die so aussehen wie die bei uns im anderen Zuhause. Die hat ihr
Susi in einem Laden in der Stadt gekauft. Manchmal denke ich an all
die Mühe und all die Aufmerksamkeit, die Susi in uns investiert hat,
obwohl sie nicht sicher wusste, ob viel zurückkommen würde, und
ich könnte heulen vor Dankbarkeit. Und Laura merkt genau, wann
ich solche »moralischen Anfälle«, wie sie es nennt, zu entwickeln beginne, und winkt dann ab und sagt: »Susi hat viel bekommen und viel
erlebt, im Guten und im Schlechten. Und das Gute will sie eben teilen. Scheiß dich nicht an.«
Ich will mich nicht anscheißen, ich will nur etwas zurückgeben
können.
Oma sitzt also da mit dem Glas und dem Tee und wippt ganz leicht
hin und her und strickt. Unter den tanzenden Nadeln wächst ein
knallbunter Rüssel hervor, der noch ein Kniestrumpf für mich werden könnte oder ein Ärmel für Rami. Kassandra liegt zu ihren Füßen,
die nicht ganz auf den Boden reichen von der Schaukel aus. Ich setze
246
mich zu ihr und trinke mit ihr gemeinsam aus ihrer Tasse, weil ich zu
faul bin, mir eine eigene zu holen.
WV
Schwarzer Tee heißt so, weil das die Farbe ist, die man die ganze Nacht
im Fenster beobachten kann, wenn man ihn am Nachmittag trinkt.
WV
Ich schlafe ein. Jetzt. Versprochen.
WV
Ich liege im Bett und kann nicht einschlafen. Da sehe ich Oma im
Türrahmen erscheinen, so wie früher immer. Sie hat ein neues Nachthemd, keine abgetragenen Rosenkleider bis zum Boden. Das Nachthemd hat sie von Susi, die hat es irgendwann mal zu Weihnachten
geschenkt bekommen. Auf dem Nachthemd setzen lauter kleine Rentiere mit Schlitten dran zum Sprung an, und meine Oma sieht wirklich sehr seltsam aus darin. Sie fragt mich nichts, sie kommt einfach
lautlos rein und setzt sich zu mir an die Bettkante, so wie früher, als
unsere Katze noch da war und unser Rosengarten und unsere Ruhe.
Unser Frieden. Sie setzt sich zu mir und legt mir die Hand auf die
Stirn und beginnt zu singen. Leise und so schön, dass mein Herz an
den Käfig der Rippen springt. Ich habe dieses Lied seit Jahren nicht
mehr gehört. Im Ausschnitt des Rentiernachthemds hängt der blaue
Lapislazulistein auf ihrer runzligen, braun gebrannten Haut, und noch
weiter unten setzt die Mondsichel ganz heller Haut an, dort, wo sie
sich nie im Freien zeigen würde. Diese milchig helle Haut ist nur uns
vorbehalten, hier im Haus, hier unter Frauen. Sie singt, und in mir
steigt die Erinnerung an den süßlichen Geruch ihrer Honigkerzen
und ihrer Apfelkuchen, an den Vollmond, der verzaubert in das kleine
247
Fensterchen in ihrem Schlafzimmer schien, eine kleine Kammer unter dem Dachgiebel, an die Seife, die nach den Rosen in ihrem Garten
duftet, an das Knarren der dicken Holzbalken in ihrem Haus, an die
Wärme unter der Wolldecke. Das alles ist fest in mir verschlossen und
ist für immer.
248
23
Rami ist verzweifelt. Franzi ist nicht mehr im Kindergarten aufgetaucht. Ich rufe an und erfahre, dass er abgemeldet worden ist.
»Du musst mir helfen«, fleht Rami. Ich nehme ihn an der Hand,
und wir schleichen uns abends wie zwei Diebe zu Franzis Haus. In
Franzis Garten gibt es Rosensträucher und ein Gemüsebeet. Die Hasenkäfige draußen sind leer.
»Über Nacht müssen sie immer rein«, flüstert Rami. Und dann
sieht er unendlich traurig aus. »Ob ich die wieder streicheln kann?« In
einem Fenster geht das Licht an. Franzis Kopf erscheint. Franzi winkt
uns durch das Fenster, bis der Vorhang zugezogen wird. Dann gehen
wir schweigend wieder zurück.
WV
Als wir von der Schule heimkommen, finden wir den Cafébesitzer in
unserem Garten vor. Mit meiner Mutter und mit Susi. Susi ist aufgeregt. Ganz rote Bäckchen hat sie. Meiner Mutter ist das alles sichtlich
unangenehm. Wir sollen ihn jetzt unbedingt Johann nennen.
WV
249
Der Nachbar grüßt uns nicht mehr. Wir grüßen ihn nicht mehr. Er hat
sich nie entschuldigt. Aber manchmal von seiner Liege aus rübergeguckt zu uns.
Irgendwann mal hat Markus ihn gestellt und gefragt: »Und? Wie
wollen wir jetzt unsere Nachbarschaft anlegen – mehr auf Mistgabel
oder auf Mittagskaffee?«
Da hat er peinlich berührt gelächelt und gemurmelt: »Es ist ja
nichts passiert. Kein Grund, sich aufzuregen.«
Ich habe zu zittern begonnen, innerlich. Und als Susi sich über den
Zaun lehnte und fragte, ob es sich gelohnt hat, ein Arschloch zu werden, hat er seinen Sonnenschirm zusammengeklappt und ist im Haus
verschwunden. Ich habe keine Ahnung, wie wir so nebeneinander leben werden, ohne dass es mir Magenkrämpfe macht.
WV
Meine letzte Schularbeit in diesem Jahr. Deutsch. Und ich habe eine
Zwei. Ich. Diese Zwei ist eine funkelnde Medaille, die ich der King auf
ihr Tartanrevers heften werde. Und ganz ein bisschen auf mein eigenes. In meinem Sparschwein ist etwas Geld. Das wird in eine große
Pralinenschachtel investiert. Und in einen Blumenstrauß, keinen
selbst gepflückten, einen richtig üppigen aus dem Laden.
WV
Erledigt. Das Schuljahr ist erledigt. Ich kann es nicht glauben. Es fällt
von mir ab wie ein riesiges pelziges Untier, das sich an meine Schultern gehängt hat. Kein ganz schreckliches, aber auch kein wirklich
leichtes und entspanntes.
WV
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Markus wird in einem ganz anderen Bundesland studieren. Susi weint.
Ich weine nicht. Wir werden uns wiedersehen, das weiß ich. Er hat mir
einen Brief unter mein Kopfkissen gelegt, bevor er aufgebrochen ist:
in die letzten Ferien nach der Schule für ihn. Christian, der Exfreund
von Laura, ist mitgefahren. Wie immer. Nur den letzten Sommer haben wir uns zusammen gestohlen und ihn ganz anders verbracht als
alle anderen Sommer davor – anders als alle meine und auch anders
als seine. Es ist ein wirklich lieber Brief. Ich habe ihm noch nicht
zurückgeschrieben. Das möchte ich auf meiner Reise tun. Und dann
werde ich ihm schreiben: Manchmal ist es einfach so, dass das, was
man erwartet hat, nicht so wird, wie man dachte. Aber es kann anders
werden. Und auch gut. Es ist okay, wie es ist.
Und ich denke: Ich möchte jetzt lieber die Welt sehen. Wer Wurzeln
hat, kann schön langsam auch fliegen üben. Finde ich. Susi braucht
übrigens keine Angst zu haben, sie hat ja uns. Rami reicht noch extralange als Nesthäkchen, der kleine Pisser. Länger, als ihr vielleicht lieb
ist.
WV
Laura und ich wechseln Blicke und machen unsere Rucksäcke zu. Der
Himmel ist von einem strahlenden Blau, das einen fast blendet, durchkreuzt von den weißen Kondensstreifen der Flugzeuge. In einem von
ihnen saß Markus noch vor Kurzem. Die Sonne steht noch nicht
hoch, es ist ein bisschen kühl. Später wird es heiß werden.
Wir haben uns in Zwiebeltechnik gekleidet, das hat mir Laura beigebracht. Ich habe ihr beigebracht, wie man die besten Schuhe für
eine lange Reise auswählt. Susi weint und umarmt Laura. Mama weint
und umarmt mich. Oma weint nicht, sie drückt mich fest an sich und
lächelt. Rami ist abgehauen, es interessiert ihn einen feuchten Dreck,
ob wir zu unserer Rundreise aufbrechen. Hauptsache, er hat Oma,
Mama und Kassandra um sich. Ich ahne, wo er sein könnte, vermut251
lich streichelt er heimlich mit Franzi seine Hasen. Ich sag doch, Romeo und Julia sind ein Dreck gegen die beiden.
Bevor wir endgültig zum Bahnhof laufen, machen wir aus lauter
bereits jetzt schon einsetzender Nostalgie einen Halt beim Café am
Hauptplatz. Johann ist nicht da. Die neue Kellnerin sieht mir ziemlich
ähnlich und hat noch einen schweren Akzent. Und sie ist älter als ich.
Aber nicht viel. Ich lächle sie an und sage ihr, wie schön sie schon sprechen kann. Sie lächelt auch. »Ganzes Jahr hier …«
Und ich erinnere mich, wie ich damals geklungen habe. Wie unsicher ich war. Und als wir aufbrechen, lege ich mein ganzes Kleingeld
neben die Rechnung. Und dann schultern wir unsere Rucksäcke und
gehen.
WV
Und als wir schon das zweite Mal umgestiegen sind und im internationalen Zug sitzen und nicht mehr im Regionalzug, als alles langsam
wirklich real wird, dass ich wirklich wegfahre und meine Familie zurückbleibt, und als die Landschaft an uns vorbeizieht und die Rucksäcke sicher verstaut über unseren Köpfen liegen und wir unsere Limo
und unsere Pausenbrote und die Orangen und die Gummibärchen
und den Kuchen meiner Oma in verdächtig kurzer Zeit vernichtet
haben, als ob wir schon Tage unterwegs wären, erst da wird mir bewusst, was alles geschehen ist dieses Jahr. Laura hört Musik und sieht
aus dem Fenster, in ihrem Gesicht glüht ein ausgedrückter Pickel und
die untergehende Sonne. Wir werden die ganze Nacht fahren. Nur sie
und ich.
Und die Welt da draußen.
Wir haben uns in unseren Kleidern auf der Bank zusammengerollt und uns mit unseren Schlafsäcken zugedeckt. Der Zug trägt mich
fort von Fackelschein und dem Geräusch aufschlagender Steine neben meinen Füßen, trägt mich fort von dem Wohnzimmer, in dem ich
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immer mit Greifen-King saß, weg von ihrem Tee, weg von den Tränen
meiner Mutter und Susis Champagnernächten, weg vom leeren Briefkasten ohne eine Nachricht von Papa. Das Rattern der Räder begleitet
mich in den Schlaf.
WV
Ich gehe einen Berg hinauf, der Berg ist steil, an seinen Flanken Geröll und
kleine Steinchen, die, wenn man den Fuß nicht vorsichtig genug setzt, ins
Rollen kommen und weitere Felsstücke mitreißen, bis gewaltige Steinmassen unter aufgewirbeltem Staub in die Tiefe fallen. Ich war nicht vorsichtig
genug und halte mich nun an Vorsprüngen fest, die Bergflanke durchläuft
ein feines Beben. Als ob der ganze Berg aus tiefem Schlaf erwachen würde,
wenn ich ungeschickt genug bin, ihn zu wecken. Der Himmel ist rötlich, wie
von der aufgehenden Sonne oder einem weit entfernten Feuer. Irgendwas an
dem Berg kommt mir bekannt vor, ich war schon einmal hier, ich bin schon
mal auf dem Weg nach oben gewesen, ich achtete schon einmal auf das Setzen der Fußsohlen. Die richtigen Schuhe sind das Wichtigste, sage ich mir.
Ich habe alles richtig gemacht. Zumindest bei den Schuhen. Der Berg zittert
und grollt erneut, ich löse mich von dem Stein, an den ich mich gekrallt
habe, als er wieder zur Ruhe kommt, und ziehe mich über den nächsten Vorsprung in die Höhe. Hier oben wächst nichts, nicht einmal braunes, trockenes Moos. Ich greife nach dem nächsten Vorsprung, der Rucksack, den ich geschultert habe, schneidet ein, nimmt mir die Luft, zieht mich nach unten.
Wieso habe ich ihn denn so schwer beladen, denke ich. Meine Hand rutscht
ab von der Felskante, ich kann mich nur noch knapp am Vorsprung halten,
und der nächste Felsen ist zu weit weg. Ich komme über die glatte Wand einfach nicht weiter. Dabei ist der Gipfel fast zum Greifen nah, nur noch dieses
Plateau, dann erreiche ich ihn.
Ich setze den Rucksack, der schwerer und schwerer wird, ab und öffne
ihn: Er ist gefüllt mit glatten, runden Steinen, so wie der Bauch des Wolfes,
der die sieben Zicklein fraß. Der Berg macht erneut einen Atemzug, und ich
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verliere Halt, rutsche, rutsche noch ein paar Meter weiter hinab und weiß,
dass ich weitermachen werde, egal was. Ich lasse den Rucksack zurück, er
neigt sich, die Steine fallen, fallen in einem schwarzen Schwarm hinter mir
in die Tiefe. Ich aber ziehe mich weiter hoch, die Finger in Felsspalten gepresst, und während der Berg weiter seine Spitze erschüttert, treiben meine
Finger aus wie Wurzeln, werden lang und biegsam, finden Halt in feinen
Spalten und Ritzen, wachsen und dehnen sich, tragen mich Meter um Meter weiter in die Höhe, bis ich mich über den letzten Vorsprung wälze und,
kurz mit meiner Wange an den warmen Stein geschmiegt, liegen bleibe, um
Kraft zu holen. Das Gipfelkreuz ist jenes, an dem ich mit meinem Vater gestanden habe. Dort, wo er sagte, ich solle lernen, meine Ziele zu erreichen.
Ich mache die letzten paar Schritte auf das Schmiedeeisen zu, berühre es,
lasse mich an ihm entlang hinabrutschen und lehne mich an ihn an. Der
Berg atmet aus und erstarrt. Über mir geht die Sonne auf und zeigt eine
tropische, dicht bewachsene Landschaft zu meinen Füßen. Vielleicht ist es
gefährlich dort. Aber es ist schön.
»Wach auf, du schnarchst wie ein Vulkan!« Laura rüttelt recht unsanft
meine Schulter. Ich klammere mich noch an die Landschaft, die verblasst und zerfällt und zu einem zerklüfteten Muster auf der Zugsitzoberfläche wird, und dann bin ich ganz wach.
»Vulkane schnarchen nicht«, gähne ich. »Und … Ich hätte gerne gewusst, was auf der Bergspitze noch passieren wird …«
»Welche Bergspitze? Das Meer ist da!«
Sie schüttelt den Kopf, Susis Riesenohrringe schwingen wie Uhrenpendel von einer Seite auf die andere. »Komm her, du verpasst
noch das Allerschönste. Schau. Schau!«
Ich setze mich auf und reibe mir die Augen. Der Zug scheint durch
Wasser zu fahren. Links und rechts von uns Wassermassen mit einem
tieftürkisen Schimmer, die von schwarzen Pfählen mit Lampen unter254
brochen werden. Auf manchen von ihnen sitzen Möwen. Die Gleise
führen auf einem schmalen Streifen Land mitten durch das Wasser,
der Stadt entgegen, von der Markus’ Freund erzählt hat, damals, in dem
Café mitten im Altweibersommer des alten Jahres. Es kommt mir wie
eine unglaublich lange Zeitspanne vor. In den wenigen Monaten ist
so viel passiert, dass es locker in einige Jahre gepasst hätte. Ein komprimiertes Jahr, das von einem normalen 365-Tage-Ding in einen weißen
Riesen mutiert ist.
Der Zug fährt über das Meer, das am Horizont verhangen wirkt,
nebelig, und mit dem Himmel verschwimmt, der Himmel hat eine
ganz andere Farbe als bei uns, bei uns bei Susi und bei uns von früher.
Ein intensives Türkis, das sich im Türkis des Wassers spiegelt. Die Möwen schreien von weit her, schreien wie die Möwen in meinem Traum,
und ich zwicke mir ganz fest in den Arm, weil: Vielleicht träume ich
ja, vielleicht passiert gleich etwas Eigenartiges, vielleicht ist alles gar
nicht, wie es scheint …
»Was schaust du denn so«, lacht Laura und umarmt mich, und ich
weiß sofort: Das hier ist real und echt. Ihr Geruch, ihre Wärme und
das stinkende alte Käsebrot in ihrer Hand.
»Komm, schau, schau!« Sie zieht mich zum anderen Zugfenster.
»Da geht’s hinaus aufs offene Meer!«
»Und die Stadt?«
»Die ist vor uns.«
Wir drücken uns die Nasen an der Scheibe platt. Der Industriehafen auf der rechten Seite bleibt hinter uns zurück. Die ersten rötlich
getünchten Häuser links tauchen vor uns auf, kommen näher. Hinter
uns nur Wasser und vor uns die Lagunenstadt.
Der Bahnhof trägt die Inschrift Venezia Santa Lucia, das klingt für
mich fremd und schön und anders als alle Sprachen, die ich bis jetzt
gekannt habe. Wir packen unser Zeug. Die Zugtür öffnet sich, ein Stoß
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warmer Luft ins Gesicht, ich springe auf den Bahnsteig. Es riecht nach
Meer und ein bisschen nach muffigem Kanal und Kaffee und frischen
Brioche.
Wir holen uns beides beim kleinen Kiosk, der erste Schluck Kaffee
haut mich um, so intensiv und samtig hat noch kein Kaffee je geschmeckt. Laura hat nicht zu viel versprochen, als sie von der anderen
Kaffeedimension gesprochen hat. Wir treten hinaus auf den Platz vor
dem Bahnhof: Das mit den Wasserstraßen habe ich mir falsch vorgestellt. Natürlich gibt es hier noch kleine Gässchen neben den Kanälen.
Man muss nicht durchgehend Boot fahren. Vor dem Bahnhof tauchen
wir in Menschenmengen, die in alle Richtungen laufen. Schlanke
schwarze Boote mit Drachenkamm, der mich an die Giebel der Wikingerschiffe erinnert, schaukeln auf dem Wasser des großen Kanals.
»Das ist der Canal Grande«, gibt Laura mit ihrer Weltläufigkeit an.
Sie war schon mehrmals hier. Susi liebt Italien.
»Du musst ihn mir nicht vorstellen«, sage ich. Laura macht eine
kleine angedeutete Verbeugung.
»Madina – Canal Grande. Canal Grande – Madina.«
Ein Schiff, das einen hohen Signalton von sich gibt und Gischt aufwühlt beim Verlassen der Station gegenüber, Koffer, Palmen, weiße
Stufen einer hohen schlanken Brücke, rötelrote Wände der Hotels auf
der anderen Seite des Kanals, massive Kuppeln mit fein geschwungenen, verzierten spitzen Marmorbögen statt Fenstern, der Geruch nach
Fisch und Süßigkeiten: eine ganz neue schöne Welt, die uns offen
steht. Nur uns. Laura lacht und zieht mich mit sich.
»Ich zeige dir die beste Pasticceria der Stadt, die ist gleich hier in
dem Gässchen da.«
»Was ist das?«
»Eine Konditorei!«
Wieso denkt sie immer nur ans Essen, wirklich wahr.
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Ich sage: »Warte doch kurz«, und bleibe stehen und strecke die
Arme aus und schließe die Augen und drehe mich mit fliegendem
Haar um meine Achse. Als ich die Augen wieder öffne, dreht sich die
Stadt noch immer mit mir. Die Sonne wirft einen rosa Widerschein
über das Meer. Alles leuchtet.
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1. Auflage 2022
ISBN 978-3-446-27236-1
© 2022 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG , München
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Zur Verfügung gestellt von der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen
für das Leseprojekt »Seitenweise – Dein Projekt zum Buch« 2022/23
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