Universität Passau Business-Book of the year Flying Blind – Im Schatten von Neoliberalismus und Shareholder Value? Abschlussessay im Masterkurs: Business-Book of the year Dozentin: Prof. Dr. Carola Jungwirth 12.854 Zeichen David Winter (105836) 11.07.2022 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung .................................................................................................................................. 2 2. Grundlegende Fehler ................................................................................................................ 2 3. Shareholder Value .................................................................................................................... 4 4. Die Neoliberalisierung von Boeing ........................................................................................... 5 Literaturverzeichnis .......................................................................................................................... 6 1. Einleitung Neoliberalismus definiert sich als Ideologie, die mit der Bevorzugung des freien Wettbewerbs und der privaten Eigentumsrechte, der Reduzierung oder Abschaffung staatlicher Eingriffe und Ausgaben sowie der Wertschätzung der individuellen Entscheidungsfreiheit zur Förderung des wirtschaftlichen Wohlstands verbunden ist1,2. Robison (2021) schreibt der auf dieser Ideologie aufgebauten wirtschaftlichen Realität maßgeblich die Schuld für die Tragödie dieser Flugzeugabstürze zu. Die Abkehr gemeinschaftlicher Ideale führte für Robison (2021) von einem Klima der Mitbestimmung und Einbringung der Mitarbeiter zu einer Arbeitsumgebung, bei der nicht einmal die Zeit war, nach der Flugzeugmontur Gegenstände aus sicherheitskritischem Flugzeugbereichen zu entfernen3,4. Gemeinschaftliche Ideale bilden dabei einen scharfen Kontrast zu den individualistischen Idealen des Neoliberalismus. Während bei letzterem die eigenen Belange über denen der Gemeinschaft stehen und der Mensch moralisch autonom ist, sieht Kommunitarismus den Menschen als ein Ergebnis seiner Sozialisierung, der nur eingebettet im Rahmen der Gesellschaft seine Bedürfnisse und sein Potential erfüllen kann. Die Gesellschaft besteht dabei aus Menschen die gemeinsame Werte akzeptieren und aktiv für das gemeinsame Wohlergehen sorgen5. Wie und wodurch begünstigte dieser kulturelle Wandel nun die Abstürze zweier Boeing 737 MAX? 2. Grundlegende Fehler Eine Kernproblematik für Boeing, aus dem sich eine Reihe anderer Probleme bei Boeing entwickelten, war der extreme Produktionsdruck für Boeing. Airbus drang in den späten 80ern in den amerikanischen Markt ein. Mit der voranschreitenden Konsolidierung der Branche lieferten sich Boeing und Airbus nun ein Kopf-an-Kopf-Rennen sowohl in Auslieferungskapazitäten als auch im Preis. Im Falle der Boeing 737 MAX kam zusätzlich ein enormer Zeitdruck hinzu. Diese Gründe wurden von Boeing vor der Sicherheit des Flugzeuges priorisiert. Infolgedessen wurden Fehler in Systemen und Prozessen ignoriert oder übersehen, das problematische MCAS-System aktiv vor Piloten und der amerikanischen Flugaufsichtsbehörde FAA verschleiert oder Sicherheitsbedenken dank guter Beziehungen von Boeing mit der FAA fallengelassen6. Trotz eines hohen Produktionsdrucks und der daraus folgenden Schwierigkeiten hätte Sicherheit immer noch an erster Stelle stehen können. Die wirtschaftlichen Folgen für Boeing, die Kosten für das Grounding der Flugzeuge, und der Einbruch der Verkaufszahlen 7 unmittelbar nach den Abstürzen sind wirtschaftliche Schäden, die einer reinen Profitmaximierungsstrategie entgegenlaufen. Die Marktkapitalisierung von Boeing ist heute mit 90,15 Milliarden immer noch weit von ihrem Maximum von 248,72 Milliarden Dollar entfernt und hat sich nach der Coronapandemie nicht im gleichen Maße wie Airbus wieder erholt8. Die Postulierung Friedmans, 1 Carlquist und Phelps (2014). Vallier (2021). 3 Robison (2021). 4 Toeniskoetter und Barbaro (2019). 5 Radkiewicz und Jarmakowski-Kostrzanowski (2021). 6 The House Committee on Transportation and Infrastructure (2020). 7 Keller (2022). 8 Ycharts. 2 dass die soziale Verantwortung eines Unternehmens die Steigerung der eigenen Profite sei 9 , scheint hier nur auf kurzfristige Gewinne angewendet worden sein. Manager wurden aufgrund ihrer stündlichen Produktionsrate bewertet sowie anhand der Zahl an Aufträgen, die sie abschlossen und von Qualitätsprüfern genehmigt wurden. In Konferenzräumen wurden Uhren mit Countdowns aufgehängt, um eine konstante „Begeisterung“ für die gemeinsame Sache hervorzurufen10. Berichtete Defekte bei der Produktion wurden negativ gewertet und somit eine Anreizstruktur geschaffen, die es begünstigte Fehler zu vertuschen, um die eigenen Zahlen gut dastehen lassen. Alles im Hintergrund eines konstanten Zeitdruckes, was so zu schädlichen Folgen für das Unternehmen führte11. Die Problemstelle an Bord, die die Abstürze verursachte, war das MCAS-System. Aufgrund größerer Motoren musste ein neuer Sensor angebracht werden. Dieser Sensor sorgt bei der 737 MAX zusammen mit dem sogenannten MCAS -System dafür, dass das Flugzeug im richtigen Winkel den richtigen Auftrieb bekommt. Drücken die neuen Motoren das Flugzeug zu weit nach oben kann das MCAS übernehmen und die Nase das Flugzeugs nach unten auf die richtige Flugbahn drücken. Solch ein neues System würde aber laut der FAA ein Training für alle Piloten der Boeing 737 MAX voraussetzen. Boeing versprach den Fluggesellschaften jedoch schon frühzeitig kein zusätzliches Simulatortraining für ihre Piloten durchführen zu müssen. Und das bereits Jahre bevor die FAA eine dementsprechende Zusage gemacht hatte. So versprach Boeing Southwest Airlines eine Entschädigung von einer Million Dollar pro Flugzeug sollte es dennoch zur Notwendigkeit eines Trainings kommen. Diese Garantien waren ein Eckpfeiler der Marketingstrategie von Boeing rund um die 737 MAX. Das MCAS war dabei nicht das einzige System, das das Potential hatte, Simulatortraining zu benötigen. In internen Mails hatte die FAA dies bereits frühzeitig erkannt wurde aber von Boeing des Gegenteils überzeugt. Luftgesellschaften, die doch Training wollten, wurde ebenfalls von Boeing des Gegenteils überzeugt 12 . Auch hier prägte eine Kultur der Vertuschung ebenso wie beim Produktionsdruck die Argumentation, um sich besser dastehen lassen zu können. Diese Entwicklung weg von Sicherheit zu möglichst viel Umsatz und Profit beschreibt Robinson (2021) als Folge des Mergers mit McDonnell Douglas. Hier begann laut dem Autor eine Entwicklung von einem Unternehmen, das es liebte, schwierige technische Probleme zu lösen, zu einem, dass sich nur noch auf wachsende Profite stützte. Hier zitiert der Autor Harry Stonecipher: “When people say I changed the culture of Boeing, that was the intent, so that it’s run like a business rather than a great engineering firm […] It is a great engineering firm, but people invest in a company because they want to make money.13” Demzufolge gab es einen bewussten kulturellen Wandel der genau den Kerngedanken von Friedmans (1970) trifft: Die soziale Verantwortung eines Unternehmens ist es, seine Profite zu steigern. 9 Friedman (1970). Robison (2021), S. 136 ff. 11 Toeniskoetter und Barbaro (2019). 12 Robison (2021), S. 137. 13 Robison (2021), S. 90. 10 3. Shareholder Value Neben den grundlegenden Fehlern, die zu den Abstürzen geführt haben, beschreibt Robison (2021) weitere Problemstellen, die sich in Boeing über die Jahre aufgezeigt haben. Zahlreiche Entlassungswellen, Unterdrückung von Gewerkschaften sowie Aktienrückkäufe in Milliardenhöhe, während das Unternehmen an anderer Stelle „rationalisiert“ wurde. All diese Punkte steigern zwar, je nach Ausmaß, in der Tat die Marktkapitalisierung des Unternehmens. Doch nur weil der Unternehmenswert nach oben schießt oder Profite an Aktionäre ausbezahlt werden heißt dies nicht, dass für die Zukunft des Unternehmens gesorgt ist. Dieser Wert drückt lediglich die Erwartung der Shareholder auf die zukünftigen Wertsteigerung ihrer Anteile sowie der Dividenden aus. Sich überschneidend mit der kritischen Phase bei der Entwicklung der Boeing 737 MAX gab Boeing zwischen 2013 und 2019 17,4 Milliarden Dollar für Aktiendividenden und weitere 43,1 Milliarden Dollar für Aktienrückkäufe aus 14,15 . Während potenzielle Investoren und Aktionäre positiv auf diese Gegebenheiten reagieren, hätte das Unternehmen dieses Geld in die Qualitätssicherung, mehr Mitarbeiter in der Produktion als auch in R&D investieren können. In den sieben Jahren, in denen diese 60 Milliarden Dollar aufgewendet wurden, hätte Boeing zusätzliche 100.000 Mitarbeiter bei einem Gehalt von 87.000 Dollar einstellen können. Der gesamte Produktionsdruck auf Mitarbeiter und Manager war nicht vonnöten, er richtete im Gegenzug wirtschaftliche Schäden an und verursachte den Tod von hunderten von Menschen. Allein die Groundings in Folge auf die Abstürze kosteten Boeing später fast 20 Milliarden Dollar16. Kündigungswellen, die zu höheren Profiten führen sollten, wirken sich langfristig negativ auf zukünftige Profite aus, gerade in Unternehmen wie Boeing, die viel R&D betreiben17, auch wenn kurzfristig niedrigere Personalkosten Gewinne ankurbeln. Der Shareholder Value berechnet hier einen zukünftigen Unternehmenswert auf Basis historischer Werte. Nehmen wir die Discounted Cash-Flow Methode: Ein möglicher Profitabilitätsverlust durch Wissen- und Arbeitskraftabfluss wird hier nicht miteinbezogen. Der Weiterhin stellt sich die Frage, wie bei einer Entlassungswelle verlorene Arbeitsplätze ausgeglichen werden sollen. Jüngere Mitarbeiter sollten bei Boeing mehr und mehr leisten, während sich für Ältere bei Boeing 2014 die Kündigungschancen für Mitarbeiter ab 40 verdoppelten und mit 50 verdreifachten 18 . Trotz steigender Umsätze und schwächer steigender Gewinne stieg der Unternehmenswert von Boeing konstant an19. Shareholder Value hat nur begrenzt etwas mit Profitabilität oder der tatsächlichen Wertsteigerung eines Unternehmens zu tun, auch wenn der Aktienwert dies als durchweg positives Signal aufnimmt. Demzufolge lässt sich hier sagen, dass eine zu starke Konzentrierung auf den Shareholder Value in der Tat falsche Anreize setzen kann, insbesondere wenn kurzfristige Gewinninteressen dominieren und über das langfristige Überleben und Wohlergehen des Unternehmens gestellt werden. 14 The House Committee on Transportation and Infrastructure (2020). Robison (2021). 16 The House Committee on Transportation and Infrastructure (2020). 17 Guthrie und Datta (2008). 18 Robison (2021). 19 Companiesmarketcap.com (2022). 15 4. Die Neoliberalisierung von Boeing Sollte ein Unternehmen also nicht an erster Stelle Profite erzielen? Friedman (1970) argumentiert, dass soziale Verantwortung nicht in der Aufgabe eines Unternehmens liegt. Mitarbeiter, die, ihr Unternehmen repräsentierend, in der Erfüllung ihrer Aufgabe soziale Verantwortung wahrnehmen würden, würden gegen den Auftrag ihrer Prinzipale verstoßen. Die Profite der Unternehmen würden so für nachhaltigere Lieferketten oder Umweltfreundlichkeit reduziert und geben so Geld aus, das ihnen gar nicht zusteht was letztendlich zu höheren Preisen für Konsumenten und niedrigeren Löhnen führt. Dese Steuer, die so auf Produkte aufgeschlagen werde, sei eine Regierungsaufgabe. Und gerade Gewerkschaften würden vehementer gegen solche Steuern vorgehen, die Löhne schmälern, als Unternehmensleiter. Nichts zerstöre ein Marktsystem so schnell wie zentral kontrollierte Gehälter und Preise durch eine Regierung. Das vorangegangene Zitat von Stonecipher zeigt: Ja, dieser Wandel zur Neoliberalisierung war ein bewusst gegangener Schritt. Die Reduzierung von Ausgaben und tiefgreifende Eingriffe in der Unternehmensgestaltung kannten bei Boeing jedoch keine Grenzen. Friedman (1970) argumentiert in seinem Essay im Wesentlichen gegen eine soziale Verantwortung von Unternehmen für die Gesellschaft. Er verknüpft dies aber hauptsächlich mit Themen wie Umweltoder Klimaschutz und der Problematik wie ein Einzelner diese Reduzierung von Profiten verantworten könne. Die Krux an dieser Erklärung ist: Bei Boeing gab es einen Regelmechanismus, um die Ausgaben für Sicherheit mit den wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens in Einklang zu bringen. Kostenvoranschläge von Managern, die bereits die Sicherheit der Flugzeuge einpreisten, wurden mit dem Vorstand abgesprochen und von diesem bewilligt20. Der Einzelne konnte also durchaus im Einklang mit dem Unternehmen entscheiden, wie stark Sicherheit betont wurde. Dass sich dies änderte, lag beispielsweise auch nicht an einer sich verändernden Unternehmensgröße. Ende der 1970er hatte Boeing genau wie 2021 142.000 Mitarbeiter. Die Depriorisierung von Sicherheit war also tatsächlich eine bewusste Entscheidung. Diese Entwicklung passte zwar in den Zeitgeist, die Neoliberalisierung des Marktes ging in diesem Aspekt aber bis zum Merger mit McDonnell Douglas 1997 an Boeing vorbei. Niemand zwang Boeing diese Richtung einzuschlagen. Kurzfristige Gewinne zu priorisieren, zeigte sich als schädlich für das Unternehmen und seine langfristigen Profite und spricht mehr für ein schlechtes Management und eine über den Merger eingekaufte Problemkultur. Profitmaximierung wurde ad absurdum geführt und richtete sich nicht nur gegen die Sicherheit der Gesellschaft, sondern auch gegen das eigene Unternehmen und die eigene Belegschaft mit Produktionsdruck, Kündigungswellen und den Versuch Wettbewerbsvorteile durch Vertuschungen innerhalb und außerhalb zu gewinnen. Neoliberalisierung sollte zum Schutz vor schlechtem Management in gesetzliche Regeln eingebettet werden. Dies widerspricht zwar dem Grundgedanken von Deregulierung im Neoliberalismus, scheint aber nötig sein, um dessen Maxime umsetzen zu können. Ursächlich scheint Neoliberalisierung aber nicht für die Probleme bei Boeing gewesen zu sein. 20 Robison (2021), S. 91. Literaturverzeichnis Carlquist, Erik; Phelps, Joshua (2014): Neoliberalism; in: Teo, Thomas (Hrsg.): Encyclopedia of Critical Psychology; New York, NY: Springer New York; S. 1231–1237. companiesmarketcap.com (2022): Market capitalization https://companiesmarketcap.com/boeing [Stand: 04.09.2022]. of Boeing (BA); URL: Friedman, Milton (1970): A Friedman doctrine‐- The Social Responsibility Of Business Is to Increase Its Profits; URL: https://www.nytimes.com/1970/09/13/archives/a-friedman-doctrinethe-social-responsibility-of-business-is-to.html [Stand: 04.09.2022]. Guthrie, James P.; Datta, Deepak K. (2008): Dumb and Dumber: The Impact of Downsizing on Firm Performance as Moderated by Industry Conditions; in: Organization Science; 19 (2008); 1; S. 108– 123. 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