Uploaded by maksim.walter

Springer E-Book

advertisement
Benjamin Jörissen · Jörg Zirfas (Hrsg.)
Schlüsselwerke der Identitätsforschung
Benjamin Jörissen
Jörg Zirfas (Hrsg.)
Schlüsselwerke der
Identitätsforschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
1. Auflage 2010
Alle Rechte vorbehalten
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
Lektorat: Stefanie Laux
VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe
Springer Science+Business Media.
www.vs-verlag.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem
Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche
Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten
wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-15806-8
Inhalt
Vorwort ………………………………………………………………………
7
Jörg Zirfas
Identität in der Moderne. Eine Einleitung …………………………………...
9
Günter Gödde
Sigmund Freuds Strukturmodell in „Das Ich und das Es“
und seine Bedeutung in historischen und aktuellen Diskursen ……………… 19
Juliane Noack
Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus ………………………………... 37
Birgit Althans
Zur anthropologischen Notwendigkeit des Verkennens.
Jacques Lacans „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ ………… 55
Michael B. Buchholz
Über den Individualismus hinaus. Die Entwicklung des Selbstempfindens
bei Daniel N. Stern und einige Befunde der Säuglingsforschung …………… 69
Benjamin Jörissen
George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft
aus der Perspektive des Sozialbehaviorismus ….…………………………….. 87
Matthias Junge
Die Persönlichkeitstheorie von Talcott Parsons ……………………………... 109
Michael v. Engelhardt
Erving Goffman: Stigma.
Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität ……………………. 123
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik ………...………………………….. 141
Dieter Geulen
Jürgen Habermas: Identität, Kommunikation und Moral ….……….….….…. 161
Hermann Veith
Das Konzept der balancierenden Identität von Lothar Krappmann ………..... 179
Joachim Renn
Reflexive Moderne und ambivalente Existentialität –
Anthony Giddens als Identitäts-Theoretiker ………………………………… 203
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses …. 223
Jörg Zirfas
Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie.
Zwei Essays zu Europa ……………………………………………….……... 241
Leopold Klepacki
Klaus Mollenhauer: Schwierigkeiten mit Identität.
Über Pädagogik als Umgang mit dem Möglichen ……………..………….… 259
Stephan Münte-Goussar
Ich ist viele. Sherry Turkles Identitätstheorie ……………………………….. 275
Dorle Klika
Wolfgang Welsch: Identität im Übergang ……………………..……………. 297
Michael Göhlich
Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur.
Kontexte und Spuren einer postkolonialen Identitätstheorie ….………….…. 315
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .…………………………………… 331
Vorwort
Der hier vorgelegte Sammelband „Schlüsselwerke der Identitätsforschung“ beabsichtigt, eine Lücke in der bisherigen Lehr- und Forschungslandschaft zu
schließen. Er richtet sich an eine Leserschaft, die sich mit den basalen Konzeptionen der Identität vertraut machen möchte. Seit Jahrzehnten schon stellt der
Begriff der Identität in wechselnden Lesarten einen zentralen Bezugspunkt der
Diskurse über Individualität und Subjektivität, über Zugehörigkeit und Gemeinschaft, nicht zuletzt auch über Sozialisation und Bildung in einer immer komplexer werdenden Welt dar. Er ist Gegenstand höchst unterschiedlicher disziplinärer
Zugänge, seien es philosophische, soziologische, kulturwissenschaftliche, phänomenologische, pädagogische, psychologische, politologische, etc. Entsprechend findet man jeweils spezifische Akzentuierungen des Identitätsgedankens,
wenn etwa kulturelle, politische, soziale, geschlechtliche oder auch zeitliche und
räumliche Aspekte von Identität thematisiert werden. Sowohl in den diversen
disziplinären Zugängen als auch in den jeweiligen thematischen Akzentuierungen werden häufig bedeutende Identitätsmodelle implizit vorausgesetzt, dabei
aber zumeist kaum erläutert und diskutiert.
An dieser Stelle möchte dieser Band Abhilfe schaffen. Anhand einschlägiger Autorinnen und Autoren und ihrer Schlüsselwerke führt er in die Grundideen
der Identitätsdebatte ein und gibt somit einen Überblick über maßgebliche theoretische Ansätze der Identitätsforschung in der Moderne. Um einen leichteren
Zugang zu der jeweiligen Theorie zu ermöglichen, weisen die einzelnen Artikel
jeweils eine bestimmte Struktur auf: nach Einleitung und Biographie wird das
jeweilige Schlüsselwerk rekonstruiert und dann im Kontext der weiteren Werke
des Autors diskutiert. Den Abschluss bilden Weiterentwicklungen, kritische
Einschätzungen und Standortbestimmungen der jeweiligen Identitätstheorie.
Wir danken an dieser Stelle den beteiligten Autorinnen und Autoren, die
sich auf das Projekt eingelassen und sich mit großem Engagement der Aufgabe
gestellt haben, komplexe theoretische Zusammenhänge auf verständliche und
erschließbare Weise darzustellen. Weiterhin bedanken wir uns bei Franziska
Eisel und Sebastian Ruck für das gründliche Korrekturlesen, bei Herrn Ruck
insbesondere auch für die sorgfältige Erstellung der Druckvorlage. Schließlich
möchten wir Frau Stefanie Laux vom VS Verlag danken: Sie hat bei diesem
Buchprojekt sehr viel Geduld bewiesen.
Berlin und Erlangen im Oktober 2009
Benjamin Jörissen und Jörg Zirfas
Identität in der Moderne
Eine Einleitung
Jörg Zirfas
„Man wusste nie sicher, wer wer war.
Oder wer man selber war.“
Per Olov Enquist, Ein anderes Leben
„Deine Identität liegt einfach dort,
wo du beschließt,
mit dem Denken aufzuhören.“
Philipp Roth, Gegenleben
Nach wie vor bildet die Frage nach der Identität nicht nur im Alltag vieler Menschen, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine zentrale Frage. Im Grunde genommen stecken in dieser einen Frage immer schon zwei Fragen, nämlich die nach dem: Wer bin ich? und die nach dem: Wer bist du? Wer
nun Antworten auf diese Fragen sucht, wird feststellen müssen, dass er sehr
unterschiedliche Erwiderungen auf sie finden kann: So wird aus einer psychologischen Perspektive die Bedeutung von Selbstbildern erklärt, aus philosophischer
Betrachtungsweise die Relevanz von Fremdheit für das Eigene betont, aus pädagogischer Sicht die Entwicklungsmöglichkeiten von Identität betrachtet, aus
sozialwissenschaftlichem Blickwinkel die sozialen Voraussetzungen für Identitätskonzepte rekonstruiert oder vor dem Hintergrund der Kulturwissenschaften
der symbolische oder auch der machtspezifische Zusammenhang von Identitätsmustern und Lebenslagen analysiert. Teilweise bauen diese Perspektiven aufeinander auf, teilweise überschneiden sie sich, und gelegentlich widersprechen sie
sich auch, vor allem wenn es darum geht, eine gelungene oder richtige Form von
Identität zu behaupten.
Unausgesprochen steht hinter allen diesen wissenschaftlichen Erklärungsversuchen die These, dass die Frage nach der Identität für moderne Menschen
eine immer noch notwendige Frage darstellt. Identität kann dabei sehr unterschiedlich verstanden werden: als (kognitives) Selbstbild, als habituelle Prägung,
als soziale Rolle oder Zuschreibung, als performative Leistung, als konstruierte
Erzählung usw. Dabei wird deutlich, dass Identität nicht nur etwas mit den Individuen und ihren Kompetenzen, sondern zentral auch etwas mit sozialen und
kulturellen Lebenslagen zu tun hat. Und gerade die Moderne stellt Menschen vor
9
Jörg Zirfas
besondere Herausforderungen. So lassen sich Identitätsfragen auch als Symptome für kulturelle Umbruchsituationen verstehen. Es scheint schwieriger geworden zu sein, eine konsistente Antwort zu finden auf das, was ich bin und auf das,
was der andere ist. Die sozialen Rahmenbedingen haben sich gerade im letzten
Jahrhundert radikal geändert, etwa durch die Lebenserwartung, die sich fast
verdoppelt hat, durch den technologischen und ökonomischen Fortschritt, der
den Menschen immer größere Flexibilität abverlangt, durch diverse soziale Bewegungen (Studenten-, Frauen-, familiäre Bewegungen etc.), die neue Ordnungen der traditionellen Bindungs- und Zugehörigkeitsverhältnisse nach sich gezogen haben, durch Globalisierungsprozesse auf inter- und transkultureller Ebene,
die einen neuen Umgang mit Eigenem und Fremden nahe legen, durch die Bildungsentwicklungen, die mit life long learning und Selbstmanagement verbunden sind und schließlich auch, bezogen auf Deutschland, durch die Wiedervereinigung, die eine veränderte politische, soziale und kulturelle Landschaft zur
Folge hatte. Identitätsfragen lassen sich daher als Begleiterscheinungen des kulturellen und sozialen Wandels, oder auch als Folgen einer Flexibilisierung von
Lebensformen bzw. als Reaktionen auf politische und mediale Umbrüche verstehen. Und die moderne Identität erscheint gerade dort als besonders differenzierte,
reflexive und individuelle Identität, wo die Möglichkeiten von divergierenden
Normen- und Wertesystemen, von unterschiedlichen Formen der Zugehörigkeit
und Verbindlichkeit und von Inkonsistenzen in Rollenmustern und Interaktionsformen etc. vorhanden sind.
So ist Identität seit etwa 100 Jahren in aller Munde, gilt sie doch vielen als
Selbstversicherung und Zugehörigkeitsüberprüfung in einer tendenziell unsicheren Zeit. Und dementsprechend lässt sich Identitätsforschung (auch) als wissenschaftliche Reaktion auf die für die Menschen tendenziell krisenhaften Umbruchsituationen der Moderne verstehen. Die Überlegungen zur Identitätsentwicklung, die z.B. George Herbert Mead anfangs des letzten Jahrhunderts in
Chicago anstellte, wurden vor dem Hintergrund einer neuen Migrationssituation
vorgenommen: Eine immer größer werdende Zahl von Einwanderern tangiert
eben auch das Selbstkonzept der traditionellen Einwohner einer Region. Identität
kann dann als bedroht, risikobehaftet und prekär erfahren werden. Zugehörigkeit
muss dann neu ausgehandelt, die Grenzziehung von Eigenheit und Fremdheit
neu vorgenommen, Traditionen und Werte neu verteidigt oder verändert, Verinnerlichungs- und Aneignungsprozeduren neu überdacht werden: Soll eine als
stabil erscheinende Identität um jeden Preis verteidigt werden oder muss man
sich mit einer frei schwebenden, flexiblen Patchwork-Identität zufrieden geben?
Wie neu der Begriff der Identität in den alltäglichen, aber auch in den wissenschaftlichen Debatten ist, lässt sich daran festmachen, dass er im „Grimmschen Wörterbuch“ von 1854 zwar an zehn Stellen in den jeweiligen Begriffsde10
Identität in der Moderne
finitionen Verwendung findet, aber nicht als eigenständiger Begriff vorkommt.
Der ihm heute nahe stehende Begriff der Ichheit, der hier erklärt wird mit: „1.
empfindung und betonung des eigenen ich, egoismus; 2. das geistige im menschen, das wesen des reinen ich’s; 3. person, persönlichkeit“, fasst eher eine
abstrakte Individualität (ein auch im „Wörterbuch“ nicht auftauchender Begriff),
als den Begriff der Identität (Grimm/Grimm 2006: Bd. 10, 2032). Identität taucht
aber, durchaus korrekt, als Erläuterung beim Eintrag „Selbigkeit“ auf. Denn
Identität leitet sich vom Lateinischen „idem“ ab, bedeutet also Dasselbige oder
eben Selbigkeit. In diesem Sinne hat der Begriff eine weit zurückreichende Tradition, die bis in die griechische Antike und die Begriffe autos und to auton
reicht. In der Philosophie und der Theologie über die Jahrhunderte hinweg in
logischer, analytischer oder auch ontologischer Weise verwendet, ist der Begriff
gerade im 20. Jahrhundert nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch in den
Geistes- und Sozialwissenschaften oftmals als hermeneutischer und praktischer
Schnittpunkt von individuellen Selbstkonzepten auf der einen und sozialen Erwartungen und Erfordernissen auf der anderen Seite verstanden worden. So heißt
es im „Wörterbuch“:
„SELBIGKEIT, f. identität: aus der ursprünglichen einerleiheit der vernunft in allen und der
selbigkeit der zu bildenden natur vor allen ergiebt sich als abgeschlossenes ganzes ein bildungsgebiet, wo ein werk von einem einzelnen angefangen von einem anderen als völlig dasselbe fortgesetzt werden kann“ (ebd., Bd. 16: 438).
Identität als Selbigkeit garantiert in diesem Sinne Unveränderlichkeit, Vollkommenheit, Einheit, Rationalität und Kontinuität. Diese Attribute werden zwar auch
heute noch mit dem Identitätsgedanken in Verbindung gebracht; doch wird deren
Relevanz und deren Implikationen für ein zeitgenössisches Konzept von Identität
zunehmend in Zweifel gezogen.
Nun stellen sich auch moderne Menschen natürlich nicht immer und überall
die Frage, wer sie eigentlich sind, nicht jedes Malheur stürzt sie in eine Identitätskrise und sie befinden sich auch nicht permanent auf der Suche nach dem
authentischen Selbst. Doch wer sich gelegentlich fragt, wer er ist, bzw. – was
vermutlich häufiger vorkommt – von anderen gefragt wird, wer er denn sei, wird
feststellen, dass diese Frage sich nicht so leicht beantworten lässt. Welche Kriterien sind für die Identität bedeutsam: der Beruf, das Geschlecht, die Familie, die
Religion, die Sprache – oder alle zusammen? Wer bin ich in meinen Augen oder
in den Augen anderer? Bin ich heute noch derjenige, der ich früher war? Oder
habe ich mein eigentliches Selbst überhaupt noch nicht gefunden? Wer immer
die Frage nach der Identität stellt, wird dies tun, indem er sich mit sich selbst und
mit anderen vergleicht– und er wird i.d.R. feststellen, dass es hier wie dort eine
ganze Reihe von Unterschieden gibt. Abstrakter formuliert: Identität verweist auf
11
Jörg Zirfas
die mit der Moderne unmittelbar verknüpfte Problemlage der Anerkennung von
Differenz und Kontingenz: Wer sich die Frage nach der Identität stellt, wird
feststellen, dass sein Selbstbild der Veränderung und Entwicklung unterliegt,
dass es immer auch anders sein könnte, und dass es einen Unterschied macht, ob
ich mich selbst im Spiegel oder aus dem Blickwinkel der anderen betrachte.
Identität ist somit ein Differenzierungs- und Vermittlungsbegriff in einem: Er
signalisiert die internen Unterschiede im Selbst wie die externen Differenzen
zwischen sich und dem anderen und er verweist auf die Leistungen, die zu
erbringen sind, um ein gewisses Maß an internen, d.h. selbstbezüglichen wie
externen, d.h. sozialen Integrationen aufrechtzuerhalten.
Die in diesem Band thematisierten Autorinnen und Autoren bilden einen zentralen Teil der modernen Identitätsdebatte ab. Neben der Psychologie und der Psychoanalyse, der Soziologie, der Kulturphilosophie und den Kulturwissenschaften, sind auch die Pädagogik und die Politologie vertreten. Damit wird ein weites
Feld der human-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Identität abgesteckt. Der Band nimmt gleichwohl zwei – nämlich eine inhaltliche und
eine historische – Grenzziehungen vor: Nicht explizit thematisiert werden: erkenntnistheoretische, analytische und anthropologische Theorien der Philosophie, medizinische und neurobiologische Debatten, naturwissenschaftliche und
technologische Diskussionen als auch literarische bzw. künstlerische Behandlungen der Identität – auch wenn deren Erkenntnisse in den einzelnen Rekonstruktionen gelegentlich Erwähnung finden. Zweitens begrenzt der Band die
Beschäftigung mit den Identitätsmodellen auf das 20. Jahrhundert und klammert
zudem die historischen Vorläufermodelle der jeweiligen Identitätstheorien aus,
die ebenfalls nur benannt, aber nicht umfassend dargestellt werden können.
Die Begründung der Auswahl der Autoren und Texte erfolgt unter den Gesichtspunkten der Bedeutsamkeit des jeweiligen Modells für den Identitätsdiskurs in den Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Diese Form der Begründung kann niemals kategorisch erfolgen, sondern allenfalls auf Plausibilität hoffen. So wird der eine oder andere Leser bestimmt eine andere Auswahl bevorzugen und einige der hier nicht vorgestellten Identitätstheorien für unerlässlich
halten. In diesem Sinne hätten auch die Identitätsmodelle folgender Autorinnen
und Autoren durchaus eine Diskussion verdient. Wir denken hier (in alphabetischer Reihenfolge) an: Jan Assmann, Zygmunt Bauman, Simone de Beauvoir,
Ulrich Beck, Gernot Böhme, Pierre Bourdieu, Judith Butler, Emile Durkheim,
Alois Hahn, Heiner Keupp, Julia Kristeva, Niklas Luhmann, Herbert Marcuse,
Lutz Niethammer, Paul Ricouer, David Riesman, Alfred Schäfer, Richard Sennett, Charles Taylor, Georg Simmel, Anselm Strauss, Annette Stross, Max Weber, Friedrich Wellendorf. Und selbst diese Liste lässt sich verlängern.
12
Identität in der Moderne
Gleichwohl erhebt der Band den Anspruch, dass man mit ihm die Identitätsdebatte der Neuzeit in ihren wesentlichen Positionen nachvollziehen kann.
Sodann sollten die unterschiedlichen disziplinären Zugänge dieser Wissenschaften als auch die – teilweise wechselseitigen – Bezüge der Theorien zur Geltung
kommen; Disziplinarität wie Interdisziplinarität im geistes- und sozialwissenschaftlichen Rahmen lassen sich umso besser nachvollziehen, je dichter der Diskurs ist, in dem die verschiedenen Ansätze verknüpft sind. Querverweise der
Autoren im Band ermöglichen so leichter das Erkennen von Zusammenhängen
und Differenzen der jeweiligen Konzepte.
Der Aufbau des Bandes folgt im Wesentlichen chronologischen Gesichtspunkten, da sich so beim kontinuierlichen Lesen der Beiträge am besten die
Zusammenhänge auch zwischen den jeweiligen Theorien erschließen lassen. So
lässt sich nachvollziehen, dass die Debatte um Identität zu Beginn und Mitte des
letzten Jahrhunderts vor allem durch die Psychologie bzw. Psychoanalyse, den
symbolischen Interaktionismus und die Soziologie geprägt war. Im allgemeinen
Fokus der Identitätsforschung stand die Identität als Schnittpunkt von sozialen
Erwartungen und psychischer Einzigartigkeit. In den genannten Disziplinen
stehen die kognitiven Repräsentanzen der eigenen Person (Freud), die Entwicklung eines Selbstkonzepts (Lacan, Stern), Rollenfindung und -gestaltung und der
Zusammenhang von personalem und sozialem Selbst im Mittelpunkt (Mead,
Parsons). Oder aber man analysierte unter dem Titel Identität die Notwendigkeit
reziproker sozialer Beziehungen zum Aufbau von Identität und damit die Integrationsleistungen des Individuums (Krappmann) und entwarf prinzipielle, oft
normative Konzeptionen von Identität (Habermas). Rollenkonzepte und die
Problematik einer Identitätsdiffusion wurden ebenso untersucht (Erikson) wie
die stigmatisierenden Effekte von Identitätszuschreibungen (Goffman) So erscheint schließlich das Konzept einer negativen Identität als logische Folge auf
diese Kritik an Identität (Adorno).
In den neueren Debatten steht Identität nicht mehr primär im Fokus von
psychischer Repräsentanz und sozialen Anforderungen. Identität wird in der
Spätmoderne im Rahmen der Genderforschung, der Cultural Studies, der Biographie- und Medienforschung oder auch der Bildungstheorie aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und Disziplinen mit je unterschiedlichen Zielsetzungen diskutiert: Identität erscheint dezidiert im Plural. Die neueren Untersuchungen betonen die Normierungen und Normalisierungsprozesse durch Identitätszuschreibungen (Foucault), die Verwicklungen von Identität und Alterität (Derrida), die mit dem Modell Identität verbundenen (bildlichen) Möglichkeiten und
Grenzen (Mollenhauer), die soziale Reflexivität von Identität (Giddens) sowie
ihre Fragilität und Transversalität (Welsch). Schließlich verdichten sich die Hinweise darauf, dass Identität eine notwendige und doch prekäre Konstruktionslei13
Jörg Zirfas
tung darstellt, die immer stärker im Internet ausgehandelt und erspielt wird
(Turkle) und dass der Kultur insgesamt eine enorme Bedeutung für die Gestaltung von Identität zukommt (Bhabba).
Diese verschiedenen disziplinären Ansätze der Identitätsforschung lassen es
nicht zu, von der Identität bzw. von der Theorie der Identität zu sprechen.
Gleichwohl soll hier der Versuch unternommen werden, formale Grundkonzeptionen von Identität zu identifizieren, die in den je unterschiedlichen Zugängen
inhaltlich sehr spezifisch gefüllt werden:
Identität als anthropologisches Modell: Hiermit ist gemeint, dass Identität
auf Gedanken, Bilder, Gefühle, Gedächtnis, soziale Bezüge und Handlungen
abheben muss. Selbstkonzepte, Selbstwertgefühle, Narrationen, Kollektivvorstellungen und Handlungskonzepte gehen in diese Form von Identität mit ein.
Identität als strukturelle Form: Identität als Kern, Einheit, Kohärenz, Konstanz, Kontinuität, Integrität, Authentizität, Konsistenz etc. bezeichnen ebenso
spezifische Fassungen des Selbst wie die vielfältige, patchwork- oder quiltartige,
fragmentarisierte, flexibilisierte, diffuse, unübersichtliche etc. Ich-Identität.
Identität als Norm: Eng mit der strukturellen Fassung von Identität ist ihre
normative Positionierung als gelungene oder richtige Identität. Identität wird hier
in Zusammenhang gebracht mit (einem Gewinn an): Autonomie, Gesundheit,
Glück, Zivilität, Normalität, Harmonie, Balance, Kommunikationsfähigkeit,
Reife, Erwachsensein etc. Von hier aus lassen sich natürlich deviante Formen
von nicht gelungener Identität entwerfen, die mit Diffusion oder Fixierungen
verbunden sind, und analog: Heteronomie, Krankheit, Unglück etc. signalisieren.
Identität als Normierung: Mit einem kritischen Blick vor allem auf normative Fassungen von Identität wird hier auf die Schattenseiten der Identifizierungen hingewiesen: auf Normalität als das Unerreichbare, auf den (diskursiven)
Identitätsterror, auf die mit den Feststellungen verbundenen Effekte von Disziplinierung und Kontrolle, auf eine ideologische Einheitssehnsucht, auf Hierarchisierungen und Zumutungen der Identität.
Identität als Kompetenz: Durchgängig rückt die Identitätsforschung auch in
den Blick, dass die Entwicklung und Bewahrung von Identität auf eine ganze
Reihe von Kompetenzen und Ressourcen angewiesen ist: klassisch etwa auf die
Fähigkeiten und Fertigkeiten von: Urvertrauen, Perspektivenübernahmen, Empathie, Darstellbarkeit, role-taking, Rollendistanz, Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranzen, Management etc.; modern rücken stärker die ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen (Bourdieu) der Identitätsarbeit sowie der sense of
coherence (Antonovsky) in den Blick.
Identität als Prozess: In die Identität gehen immer auch zeitliche Vorstellungen von dem ein, was das Individuum in der Vergangenheit war, wie es sich
14
Identität in der Moderne
aktuell sieht und wie es in der Zukunft sein wird. Über die (temporalen) Identitätsperspektiven und -entwürfe hinaus ist Identität mit Entwicklungs- und Bildungsvorstellungen verknüpft, mit lebenslangen Identitätsprozessen, mit spezifischen Dynamiken und Rhythmen, mit Krisenzeiten und auch mit Brüchen und
Konversionsmodellen.
Identität als Krisensymptom: Nicht zuletzt, und in jüngster Zeit in vielen
Disziplinen dominant, wird die Frage nach Identität als Kennzeichen einer mit
der modernen Kultur in Verbindung gebrachten radikalen Verschiebung der
Grundkonstanten gebracht: Stichworte sind hier Pluralität, Risikogesellschaft,
Individualisierung, Virtualisierung, Rationalisierung, Unübersichtlichkeit, Enttraditionalisierung, Säkularisierung, Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen
etc. Wer in dieser Situation die Frage nach der Identität stellt, will zugleich Zugehörigkeitsverhältnisse, Anerkennungsprinzipien, Teilhabemöglichkeiten und
Differenzierungspraktiken klären, die heute alles andere als selbstverständlich
geworden sind.
Identität ist in der Moderne kein Geschenk, sondern eine Aufgabe. Und die andauernde Debatte im Alltag und den Wissenschaften zeigt, dass diese Aufgabe
nicht leicht zu bewältigen ist, denn Identität muss immer noch aufgebaut, festgestellt, bewahrt, aufrechterhalten oder verteidigt werden. Die hier dargestellten
Theoretiker der Identitätsforschung stellen für die Arbeit am Selbst die notwendigen analytischen und programmatischen Hilfsmittel zur Verfügung. Sie bieten
gleichermaßen analytische Begrifflichkeiten wie praktisches Orientierungswissen im Umgang mit der Identität.
Literatur
Abels, Heinz (2006): Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der
Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch
auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Assmann, Aleida/Friese, Helga (Hrsg.) (1998): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Barkhaus, Annette/Mayer, Matthias/Roughley, Neil/Thrünau, Donatus (Hrsg.)
(1996): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Benedetti, Gaetano (Hrsg.) (1986): Ein Inuk sein. Interdisziplinäre Vorlesungen
zum Problem der Identität. Göttingen: VR.
15
Jörg Zirfas
Böhme, Gernot (1997): Identität. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen.
Handbuch Historische Anthropologie. München/Basel: Beltz, S. 686-697.
Dülmen, Richard van (Hrsg.) (2001): Entdeckung des Ich: Die Geschichte der
Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln: Böhlau.
Eikelpasch, Rolf/Rademacher, Claudia (2004): Identität. Bielefeld: transcript.
Enquist, Per Olov (2009): Ein anderes Leben. München: Hanser.
Frey, Hans-Peter/Haußer, Karl (Hrsg.) (1987): Identität. Entwicklungen psychologischer und sozialer Forschung. Stuttgart: Enke.
Grimm, Jacob und Wilhelm (2006): Deutsches Wörterbuch. Der digitale Grimm.
5. Aufl. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins.
Hettlage, Robert/Vogt, Ludgera (Hrsg.) (2000): Identitäten in der modernen
Welt. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Jörissen, Benjamin (2000): Identität und Selbst. Systematische, begriffsgeschichtliche und kritische Aspekte. Berlin: Logos.
Keupp, Heiner et al. (1999): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Keupp, Heiner/Höfer, Renate (Hrsg.) (1997): Identitätsarbeit heute. Klassische
und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Marquard, Odo/Stierle, Konrad (Hrsg.) (1979): Identität. (=Poetik & Hermeneutik. VIII). München: Fink.
Meyer, Thomas (2002): Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Niethammer, Lutz (2000): Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Rager, Günter/Quitterer, Josef/Runggaldier, Edmund (2002): Unser Selbst. Identität im Wandel der neuronalen Prozesse. Paderborn: Schöningh.
Roth, Philipp (1991): Gegenleben. München: dtv.
Schäfer, Alfred (1999): Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze in der
Selbstthematisierung der Batemi (Sonjo). Berlin: Reimer.
Straub, Jürgen (Hrsg.) (1998): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein.
Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Straub, Jürgen/Renn, Joachim (Hrsg.): Transitorische Identitität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt a.M./New York: Campus.
Stross, Annette M. (1991): Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion. Berlin:
Reimer.
Veith, Hermann (2001): Das Selbstverständnis des modernen Menschen. Theorien des vergesellschafteten Individuums im 20. Jahrhundert. Frankfurt
a.M./New York: Campus.
16
Identität in der Moderne
Wiesse, Jörg/Joraschky, Peter (2007): Identitäten im Verlauf des Lebens. Göttingen: VR.
Zima, Peter V. (2000): Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen/Basel: Francke.
Zirfas, Jörg/Jörissen, Benjamin (2007): Phänomenologien der Identität. Human-,
sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
17
Sigmund Freuds Strukturmodell in
„Das Ich und das Es“ und seine Bedeutung
in historischen und aktuellen Diskursen
Günter Gödde
Einleitung
„Die wenigsten Menschen dürften sich klar gemacht haben“, betont Freud in
einem Rückblick auf die Entwicklung der Psychoanalyse, „einen wie folgenschweren Schritt die Annahme unbewusster seelischer Vorgänge für Wissenschaft und Leben bedeuten würde“ (Freud 1917: 11f.). Erkenntnisleitend für die
1895 gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlichten „Studien über Hysterie“ – das
„Urbuch der Psychoanalyse“ (Grubrich-Simitis 1995) – war die Erfahrung, dass
im Falle psychischer Konflikte peinliche und unlustbetonte Vorstellungen abgewehrt und verdrängt werden. Unter ungünstigen Umständen entgleiten die vom
Ich nicht integrierbaren Anteile zunehmend der Selbststeuerung und können zu
einem immer weitere Kreise ziehenden Krankheitsherd werden. Der psychoanalytische Begriff des Unbewussten wurde aus der Lehre von der Verdrängung
gewonnen.
Seinem opus magnus, der 1990 erschienenen „Traumdeutung“, hat Freud
das Motto vorangestellt: „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo“.
(„Wenn ich die höheren Mächte nicht beugen kann, werde ich die Unterwelt
aufrühren“). Dieses metaphorisch ausgedrückte Macht- und Unterdrückungsverhältnis kann man als Parteinahme für das unterdrückte unbewusste Leben lesen.
Die Deutung von Träumen unter Heranziehung der Assoziationen des Träumers
eröffnete eine „Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben“ (Freud
1900: 613). Betrachtet man das Unbewusste als pars pro toto für Gefühle, dann
hat Freud die Welt der Gefühle in einem bisher unbekannten Maße zugänglich
gemacht und ihr eine eigene Logizität und Sinnhaftigkeit zugeschrieben. „Das
vermeintlich Irrationale und scheinbar Sinnlose psychischer Produktionen erweist sich nicht länger als Privileg des kranken Menschen, vielmehr als berechtigter Teil der conditio humana“ (Lohmann 2006: 58f.).
19
Günter Gödde
Mit seinen Expeditionen ins Unbewusste war Freud maßgeblich daran beteiligt, dass das von der Aufklärung geprägte Bild des vernunftgeleiteten und
willensgesteuerten Menschen seinen Platz „jenem reicheren, aber auch gefährlicheren und schwankenden Geschöpf, dem homo psychologicus“ (Schorske 1982:
4) räumen musste. Dabei ging es ihm – mit ähnlicher Intention wie Nietzsche –
darum, metaphysische Grundbegriffe wie „Wille“, „Ich“ und „Bewusstsein“ zu
dekonstruieren (vgl. Gödde 2000: 96ff.). Der Mensch sei „nicht Herr im eigenen
Hause“ (Freud 1917: 11f.), weil seine Vorstellungen zum großen Teil dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, sich dem Ich nicht unterwerfen und allen sonst
so erprobten Machtmitteln des Willens widerstehen.
Im VII. Kapitel der „Traumdeutung“ (Freud 1900: 614-626) entwarf Freud
ein topographisches Modell, in dem er den psychischen Apparat in die Systeme
des „Bewussten“, „Vorbewussten“ und „Unbewussten“ aufteilte. In der klinischen Praxis und Weiterentwicklung seiner Theorie erkannte er nach und nach
die Grenzen und Inkonsistenzen dieses Modells. Daher entschloss er sich in
seiner Schrift „Das Ich und das Es“ (1923) zur Einführung eines strukturellen
Modells mit den Instanzen von „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“. Nunmehr betonte er
die „vieldeutige Qualität“ des Unbewussten, die erst recht zutage trat, als man
sich mit dessen Bedeutung im Rahmen der aktuellen psychoanalytischen Diskurse wie dem der Selbstpsychologie, der Objektbeziehungs- und der Intersubjektivitätstheorie auseinandersetzte (vgl. Buchholz/Gödde 2005a). Interdisziplinär ist
das Unbewusste im Kontext der Säuglings- und Bindungsforschung, der Sozialwissenschaften und cultural studies, der Neurowissenschaften und Quantenphysik weiter entfaltet worden (vgl. Buchholz/Gödde 2005b).
1
Kurzbiographie
Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in Freiberg (heute Pribor in Tschechien)
geboren und wuchs in Wien auf. Im Jahre 1873 absolvierte er die Matura und
entschied sich für ein Medizinstudium. Schon zu Beginn seines Studiums sah er
sich mit der Zumutung konfrontiert, dass „ich mich als minderwertig und nicht
volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war“ (Freud 1925: 34). Aus der
gleichzeitigen Zugehörigkeit zur jüdischen Kultur und zur christlich-bürgerlichen Gesellschaft ergab sich für ihn schon früh die Notwendigkeit komplizierter
Identitätsarbeit. Nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz habe ihn ans
Judentum gebunden, sondern „viele dunkle Gefühlsmächte, umso gewaltiger, je
weniger sie sich in Worten fassen ließen, ebenso wie die klare Bewußtheit der
inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion“ (Freud
1926a: 52).
20
Sigmund Freud
Nach Abstechern in die Zoologie und Philosophie erwies sich das Engagement für die Physiologie als richtungsweisend für den jungen Freud. In Ernst
Brückes physiologischem Laboratorium widmete er sich ab 1876 histologischen
Forschungen an Fischen und Flusskrebsen. Nach Abschluss des Medizinstudiums im Jahre 1881 wäre er am liebsten am physiologischen Institut geblieben,
um dort als Forscher eine Universitätskarriere zu machen. Erst nach einer Intervention Brückes entschloss er sich mit Rücksicht auf seine schlechte materielle
Lage, die theoretische Laufbahn aufzugeben. Im Rahmen einer dreijährigen
praktischen Ausbildung am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (1882-85) spezialisierte er sich auf das Fach Neuropathologie und habilitierte sich auch in diesem
Fach. Er war damals noch ein typischer Organmediziner. Im Winter 1885/86
verbrachte er bei dem Neurologen Charcot an der Pariser Salpêtrière einen viermonatigen Studienaufenthalt, der sich als Zäsur in beruflicher und wissenschaftlicher Hinsicht erweisen sollte: als Ausgangspunkt für seine Hinwendung zur
Psychotherapie und zur Erforschung des Unbewussten. 1886 eröffnete er eine
neurologische Privatpraxis, in der er sich nunmehr tagtäglich vor die Aufgabe
gestellt sah, nervöse Erkrankungen zu therapieren. 1887 begann er mit einer an
der hypnotischen Suggestionsmethode à la Bernheim orientierten Psychotherapie, die er Ende der 1890er Jahre zur Psychoanalyse weiter entwickelte.
Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1896 setzte bei Freud eine immer
dichter werdende „Traumarbeit“ ein, die von 1897 bis 1899 zu einer systematischen „Selbstanalyse“ führte. Rückblickend erwähnt er „zwei starke Eindrücke“,
die bei ihm zur gleichen Wirkung zusammentrafen. Einerseits habe er „die ersten
Einblicke in die Tiefe des menschlichen Trieblebens gewonnen, manches gesehen, was ernüchtern, zunächst sogar erschrecken konnte“, andererseits habe er
durch seine aufrührenden Entdeckungen den größten Teil seiner damaligen
menschlichen Beziehungen eingebüßt und sich „wie geächtet, von allen gemieden“ gefühlt (Freud 1926a: 51). Mario Erdheim (1981: 858ff.) spricht in diesem
Zusammenhang von einer „Identitätskrise“. Je mehr ein Einzelner in die Machthierarchie integriert sei und mit hohem Sozialprestige besetzte Rollen übernehme, desto schwieriger werde es für ihn, Unbewusstes, das eng mit den eigenen
Größen- und Allmachtsphantasien verknüpft ist, zu erkennen. Gerade durch die
Erfahrung „sozialen Sterbens“ habe Freud den vorher versperrten Zugang zum
eigenen Unbewussten allmählich lockern und durch die Analyse eigener Träume
schließlich frei legen können.
In der Pionierphase der Psychoanalyse war Freud in der Wiener Medizin,
aber auch in der akademischen Psychologie auf heftige Abwehr gestoßen. 1902
kam es zu einer denkwürdigen „Audienz beim Kaiser“, aus dessen Händen er die
Ernennungsurkunde zum außerordentlichen Professor erhielt, worauf er immerhin 17 Jahre hatte warten müssen! Der lang ersehnte Professorentitel änderte
21
Günter Gödde
zwar wenig an seiner Außenseiterstellung an der Universität. Er registrierte aber
eine spürbare Erhöhung der öffentlichen Aufmerksamkeit, was ihn zu der sarkastischen Äußerung veranlasste:
„Die Teilnahme der Bevölkerung ist sehr groß. Es regnet auch schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von Sr. Majestät amtlich anerkannt, die
Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt und die Notwendigkeit einer psychoanalytischen Therapie der Hysterie mit 2/3 Majorität im Parlament durchgedrungen“ (Freud 1986:
503; Brief an Fließ vom 11.3.1902).
Im selben Jahr gründete Freud mit Alfred Adler, Max Kahane, Rudolf Reitler
und Wilhelm Stekel die „Psychologische Mittwochgesellschaft“, die auf die
psychoanalytische Theorie und Therapie als gemeinsamen Bezugspunkt zentriert
war und ein sich zunehmend vergrößerndes Netzwerk sozialer Beziehungen um
Freud als Vaterfigur bildete. 1910 kam es zur Gründung der Internationalen
Psychoanalytischen Vereinigung, die als eine Art „Kampfverband“ gegen die
feindselige akademische Welt organisiert wurde (Tömmel 1985: 244). Nach dem
„Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich musste Freud 1938 nach London
emigrieren. Er starb dort am 23. September 1939 im Alter von 83 Jahren. Gerade
durch die am eigenen Leib erlebte Diskriminierung und die sich zunehmend
verschärfende Judenverfolgung war er in den Bannkreis des Irrationalen geraten.
2
„Das Ich und das Es“
Diese 1923 publizierte Abhandlung gilt als letzte von Freuds großen theoretischen Schriften. Sie baute auf den Fundamenten des erst postum veröffentlichten
„Entwurfs einer Psychologie“ von 1895 (1950), des VII. Kapitels der „Traumdeutung“ und der metapsychologischen Abhandlungen von 1915 auf. Explizit
knüpfte Freud aber nur an die Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) an,
worin er eine dritte Triebtheorie mit dem Dualismus zwischen „Eros“ und „Todestrieb“ dargelegt hatte. Dem Eros wies er die Aufgabe zu, Naturhaftes mit
Geistigem zu verbinden: in der Beziehung zwischen Mann und Frau, in der Familie, in Gruppen- und Massenbildungen, vor allem aber in den höchsten Formen der Kulturarbeit. Demgegenüber wirke der Todestrieb den progressiven
Tendenzen der Spannung, Veränderung, Höherentwicklung entgegen. Impliziert
die Eros-Todestrieb-Theorie, dass es neben libidinösen auch aggressive und
destruktive Triebtendenzen gibt, so folgt daraus für die psychoanalytische Konzeption des Unbewussten, dass stets auch ein Drängen und Verdrängen aggressiver und destruktiver Vorstellungen in Betracht zu ziehen ist.
22
Sigmund Freud
In einem Vortrag mit dem Titel „Etwas vom Unbewussten“, den Freud am
26. September 1922 auf dem VII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress
in Berlin hielt, führte er erstmals zwei Tatsachen an, die beweisen sollten, dass
es „auch im Ich ein Unbewusstes gibt, das sich dynamisch wie das verdrängte
Unbewußte benimmt, nämlich der vom Ich ausgehende Widerstand in der Analyse und das unbewusste Schuldgefühl“. Zudem kündigte er seine Arbeit „Das
Ich und das Es“ an, die den Einfluss untersuche, „den diese neuen Einsichten auf
die Auffassung des Unbewussten haben müssen“ (Freud 1922: 730).
2.1 Bewusstsein und Unbewusstes
Im einleitenden Kapitel betont Freud, dass die Annahme eines psychisch Unbewussten die Grundvoraussetzung, ja „das erste Schibboleth“ der Psychoanalyse
sei (Freud 1923: 239). Im nächsten Schritt greift er die Unterscheidung zwischen
einem (nur) „deskriptiven“ Unbewussten, dem Vorbewussten, und einem „dynamischen“ Unbewussten, bei dem Kräfte der Verdrängung bzw. des Widerstandes
dem Bewusstwerden entgegen stehen, auf. In einer längeren Fußnote grenzt er
sich von der Feldtheorie des Bewusstseins, wie sie Leibniz vertreten hat, ab.
Subsumiert man die „unmerklichen Vorstellungen“ unter das Bewusste, so
Freuds Einwand, dann verdirbt man sich die einzige unmittelbare Sicherheit, die
es im Psychischen überhaupt gibt: „Ein Unbewusstes, von dem man nichts weiß,
scheint mir doch um vieles absurder als ein unbewusstes Seelisches“ (ebd.: 243,
Fn. 1).
Im Weiteren verlässt Freud das vertraute Terrain und behauptet, dass das
Ich nicht mit dem Bewussten gleichzusetzen ist, weil die von ihm ausgehende
Aktivität „starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewusst zu werden“, und es zu
dessen Bewusstwerdung „einer besonderen Arbeit“ bedarf. Entscheidend für
diese Neuorientierung war die Erkenntnis, dass die vom Ich ausgehenden Akte
der Verdrängung und des Widerstandes diesem selbst nicht bewusst werden
dürfen. Wäre das Ich sich dessen bewusst, dass es ein Bedürfnis, Motiv, Erlebnis
usw. verdrängt, dann wäre ja der Erfolg der Verdrängung gefährdet. Statt von
einem Konflikt zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten müsse man
daher von einem Konflikt zwischen „dem zusammenhängenden Ich und dem von
ihm abgespaltenen Verdrängten“ sprechen (ebd.: 244). Konsequent weiter gedacht ergibt sich daraus die Folgerung: „Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß
wie wichtiger Teil des Ichs, kann ubw sein, ist sicherlich ubw“ (ebd.: 244f.).
23
Günter Gödde
2.2 Das Ich und das Es
Das zweite Kapitel wird mit den Sätzen eingeleitet: „Die pathologische Forschung hat unser Interesse allzu ausschließlich auf das Verdrängte gerichtet. Wir
möchten mehr vom Ich erfahren, seitdem wir wissen, dass auch das Ich unbewusst im eigentlichen Sinne sein kann“ (ebd.: 246).
Damit hat Freud eine ich-psychologische Forschungsrichtung in der Psychoanalyse angebahnt, bei der das Ich von seinem bisherigen Odium des Rationalen und Oberflächlichen im Verhältnis zu den Tiefen des Unbewussten befreit
wurde. Über die vorangegangene Tabuisierung des Ich schrieb Anna Freud einige Jahre später in ihrem programmatischen Buch „Das Ich und die Abwehrmechanismen“:
„Irgendwie war bei vielen Analytikern die Meinung entstanden, man sei ein um so besserer
wissenschaftlicher und therapeutischer Arbeiter innerhalb der Analyse, auf je tiefere Schichten
des Seelenlebens man sein Interesse richte. Jeder Aufstieg des Interesses, also jede Wendung
der Forschung vom Es zum Ich wurde als Beginn der Abkehr von der Psychoanalyse überhaupt
gewertet“ (A. Freud 1936: 7).
Nach einer Klärung der Beziehungen zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung erhebt Freud das Ich nunmehr zu einer „Instanz“ des psychischen Apparats, die vom System Bewusstsein ausgeht, das Vorbewusste umfasst, aber auch
unbewusste Anteile hat. Das umfassendere unbewusst Psychische, in welches
das Ich hineinreicht, bezeichnet er im Anschluss an die Terminologie Georg
Groddecks als Instanz des „Es“: „Das Individuum ist nun für uns ein psychisches
Es, unerkannt und unbewusst, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf“, wobei er
die metaphorische Sprache fortsetzend hinzufügt: „Das Ich ist vom Es nicht
scharf getrennt, sondern fließt nach unten mit ihm zusammen“ (Freud 1923:
247). Das Verdrängte sei wie bisher zwar durch Verdrängungswiderstände vom
Ich scharf geschieden, aber durch das Es könne es mit ihm kommunizieren.
Zu den Hauptfunktionen des Ich rechnet Freud, dass es den Einfluss der
Außenwelt auf das Es zu regulieren und das Realitätsprinzip an die Stelle des
Lustprinzips zu setzen sucht. Demnach repräsentiere das Ich „Vernunft und Besonnenheit“, das Es hingegen die „Leidenschaften“. Das Ich wird im Verhältnis
zum Es mit einem Reiter verglichen, der „die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, dass der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten“. Wie dem Reiter oft nichts anderes übrig bleibe, als
das Pferd dahin zu führen, wohin es gehen will, „so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre“ (Freud 1923:
253). Zehn Jahre später, in der 31. Vorlesung zur Einführung in die Psychoana24
Sigmund Freud
lyse „Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit“ greift Freud dieses Gleichnis von Pferd und Reiter mit ähnlichen Worten wieder auf (Freud 1933: 53).
In der ersten Topik war der Mensch noch weitgehend in die parallelen Bereiche von Vorstellung und Körperlichkeit getrennt gedacht. Nunmehr berücksichtigt Freud den Einfluss des Körpers auf die Ich-Entwicklung und betont:
„Das Ich ist vor allem ein körperliches“ (Freud 1923: 253). Die Neuorientierung
an einem Körper-Ich impliziert, dass sich das seelische Erleben nicht nur aus
körperlichen Bedürfnissen entwickelt, sondern auch auf das Körperwesen
Mensch bezieht, ja selbst körperhaftes Erleben ist (vgl. Schöpf 1982: 139).
Die ich-psychologische Wende im Werk Freuds führte dazu, dass das Ich in
seiner Autonomie und Willensfreiheit entmachtet wurde und zugleich in theoretischer und klinischer Hinsicht eine entscheidende Aufwertung erfuhr, die für die
weitere Entwicklung der Psychoanalyse von nachhaltiger Bedeutung war.
2.3 Das Ich und das Über-Ich (Ichideal)
Das entscheidend Innovative der Schrift „Das Ich und das Es“ kann man darin
sehen, dass das Über-Ich als eine sog. „Stufe im Ich“ und damit als dritte Instanz
eingeführt wird. Waren die Begriffe „Ich-Ideal“, „Ideal-Ich“ oder „Über-Ich“
schon in früheren Arbeiten aufgetaucht, so legt sich Freud nunmehr auf die Bezeichnung Über-Ich als Terminus technicus fest, wobei er Ideal- und Verbotsfunktionen unterscheidet. Später hat er das Über-Ich in die drei Funktionen von
Selbstbeobachtung, Idealbildung und Gewissen aufgeteilt.
Anhand der Phänomene der Melancholie wird aufgezeigt, wie die Besetzung von einem Objekt abgezogen und im Ich wieder aufgerichtet, wie eine
Objektbesetzung durch eine Identifizierung abgelöst werden kann. Solche Identifizierungen hätten einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs und der Bildung des Charakters.
Zur Entstehung des Ich-Ideals tragen die ersten und bedeutsamsten Identifizierungen des Individuums, nämlich die mit den Eltern, maßgeblich bei. Beim
kleinen Jungen laufen die libidinöse Besetzung der Mutter und die Identifizierung mit dem Vater zunächst nebeneinander her, bis durch die aufkommenden
sexuellen Wünsche nach der Mutter und die feindselige Konkurrenz zum Vater
der „Ödipuskomplex“ entsteht. Die Identifizierung mit dem Vater ist fortan mit
aggressiven Impulsen verbunden, d.h. mit dem Wunsch, ihn zu beseitigen und
sich bei der Mutter an seine Stelle zu setzen. Von nun an ist das Verhältnis zum
Vater ambivalent. Bei der „Zertrümmerung“ des Ödipuskomplexes – der die
Heftigkeit der erlebten Gefühle und Konflikte in diesem Lebensabschnitt anzeigt
25
Günter Gödde
– kann es entweder zu einer Identifizierung mit der Mutter oder zu einer Verstärkung der Vateridentifizierung kommen.
Beim Mädchen sah Freud zunächst einen analogen Ablauf der ödipalen
Entwicklung. Später gelangte er jedoch zu der Ansicht, dass der sog. Kastrationskomplex, der beim Jungen zur Beendigung des Ödipuskomplexes führe,
diesen beim Mädchen erst in Gang setze. Auf diese sehr kontrovers diskutierte
Frage der weiblichen Entwicklung kann hier aber nicht näher eingegangen werden.
Als allgemeinstes Ergebnis der vom Ödipuskomplex beherrschten Entwicklungsphase kann man „einen Niederschlag im Ich annehmen, welcher in der
Herstellung dieser beiden, irgendwie miteinander vereinbaren Identifizierungen
besteht. Diese Ichveränderung behält ihre Sonderstellung, sie tritt dem anderen
Inhalt des Ichs als Ichideal oder Über-Ich entgegen“ (Freud 1923: 262).
Die Verdrängung der Wünsche, die aus der ödipalen Situation erwachsen,
bedarf besonderer Anstrengung, und das Kind richtet das Verbot, das vom Vater
ausgeht, in sich selbst auf. Somit ist das Über-Ich der Erbe des Ödipuskomplexes. „Während das Ich wesentlich Repräsentant der Außenwelt, der Realität ist,
tritt ihm das Über-Ich als Anwalt der Innenwelt, des Es, gegenüber“ (ebd.: 264).
Die elterlichen Gebote und Verbote leben unter dem Einfluss von Erziehern,
Lehrern und anderen Autoritäten wieder auf und üben als Gewissen eine moralische Zensur aus. Wenn das Ich den Forderungen des Über-Ichs nicht gerecht
wird, reagiert es mit Schuldgefühlen. Je stärker die verbotenen Impulse waren
und je beschleunigter ihre Verdrängung erfolgte, desto strenger wird das ÜberIch als Gewissen über das Ich herrschen.
2.4 Die beiden Triebarten
Zwischen den drei Instanzen von Es, Ich und Über-Ich und dem Triebdualismus
von Eros und Todestrieb lassen sich, so Freud, „aufschlussreiche Beziehungen“
herstellen. Da es zwischen den beiden Triebarten zu einer „Mischung“, aber auch
zu einer „Entmischung“ kommen kann, eröffne sich, „ein Einblick in ein großes
Gebiet von Tatsachen, welches noch nicht in diesem Licht betrachtet worden ist“
(ebd.: 270).
In diesem Zusammenhang interessiert sich Freud besonders für den Mechanismus der Umwandlung von Liebe in Hass. Klinischer Beobachtung könne man
entnehmen, dass „der Hass nicht nur der unerwartet regelmäßige Begleiter der
Liebe ist (Ambivalenz), nicht nur häufig ihr Vorläufer in menschlichen Beziehungen, sondern auch, dass Hass sich unter mancherlei Verhältnissen in Liebe
und Liebe in Hass verwandelt“ (ebd.: 271).
26
Sigmund Freud
Zu dieser Umwandlung bedürfe es einer verschiebbaren Energie. Unklar sei
aber, woher sie stammt, wem sie zugehört und was sie bedeutet. Nach Freuds
Hypothese entstammt diese Energie dem „narzisstischen Libidovorrat“ und ist
„sublimierter Eros“ (ebd.: 273). Die erotischen Triebe seien ja überhaupt plastischer, ablenkbarer und verschiebbarer als die Destruktionstriebe. Bei den erotischen Besetzungen werde eine besondere Gleichgültigkeit in Bezug auf das Objekt entwickelt – vergleichbar der Anekdote, wonach einer der drei Dorfschneider getötet werden soll, weil der einzige Dorfschmied ein todeswürdiges Verbrechen begangen hat.
Diese Energieverschiebung kann als eine Sublimierung eingeordnet werden,
wie sie regelmäßig durch die Vermittlung des Ichs vor sich geht. Eine wichtige
Leistung des Ichs im Verhältnis zum Eros kann man darin sehen, dass es sich
„der Libido der Objektbesetzungen bemächtigt, sich zum alleinigen Liebesobjekt
aufwirft, die Libido des Es desexualisiert oder sublimiert, […]. Der Narzissmus
des Ichs ist so ein sekundärer, den Objekten entzogener“ (ebd.: 274f.).
Dass sich die beobachtbaren Triebregungen zumeist als Abkömmlinge des
Eros erweisen, kann man sich so erklären, dass die „Todestriebe im wesentlichen
stumm sind und der Lärm des Lebens meist vom Eros ausgeht! Und vom Kampf
gegen den Eros!“ (ebd.: 275).
2.5 Die Abhängigkeiten des Ichs
Im abschließenden Kapitel unterstreicht Freud die Bedeutung von Identifizierungen für die Ich-, aber auch für die Über-Ich-Entwicklung. Dem Einfluss des
Über-Ichs misst er für bestimmte klinische Phänomene eine entscheidende, das
Leiden bestimmende Rolle bei. So liege der „negativen therapeutischen Reaktion“ ein unbewusstes Schuldgefühl zugrunde, das im Kranksein seine Befriedigung findet, für den Patienten aber stumm bleibt und sich nur als schwer reduzierbarer Widerstand zeigt. Bei der Zwangsneurose sei das Schuldgefühl zwar
überlaut, werde aber vom Ich abgewiesen, da es sich gegen die Zumutung
sträubt, schuldig zu sein. Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass das Über-Ich
„mehr vom unbewussten Es gewusst [hat] als das Ich“ (ebd.: 280). Anders sei es
bei der Melancholie, in der sich das Ich offen als schuldig bekennt. Dieses Phänomen lässt sich damit erklären, dass „das Objekt, dem der Zorn des Über-Ichs
gilt, durch Identifizierung ins Ich aufgenommen worden“ sei (ebd.: 281).
Aus solchen klinischen Beobachtungen leitet Freud die Schlussfolgerung
ab, dass „ein großes Stück des Schuldgefühls normalerweise unbewusst sein
müsse, weil die Entstehung des Gewissens innig an den Ödipuskomplex geknüpft ist, welcher dem Unbewussten angehört“. Daher spricht einiges für den
27
Günter Gödde
paradox klingenden Satz, dass „der normale Mensch nicht nur viel unmoralischer
ist, als er glaubt, sondern auch viel moralischer, als er weiß“ (ebd.: 281f.). Im
weiteren Text finden sich Sätze, welche die komplexe Dynamik der moralischen
Konflikte in griffigen Formulierungen einzufangen suchen:
„Das Es ist ganz amoralisch, das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann hypermoralisch und dann so grausam werden wie nur das Es. Es ist merkwürdig, dass der Mensch, je
mehr er seine Aggression nach außen einschränkt, desto strenger, also aggressiver in seinem
Ichideal wird“ (ebd.: 284).
Dann geht Freud zu einer Klärung seiner Vorstellungen vom Ich über: Einerseits
entwickle sich das Ich von der Triebwahrnehmung zur Triebbeherrschung, mit
dem Ziel, „die fortschreitende Eroberung des Es“ zu ermöglichen. Andererseits
erscheine das Ich „als armes Ding“, das den Drohungen von dreierlei Gefahren
ausgesetzt ist, von der Außenwelt, von der Libido des Es und von der Strenge
des Über-Ichs her. Das Ich sei
„nicht nur der Helfer des Es, auch sein unterwürfiger Knecht, der um die Liebe seines Herrn
wirbt. Es sucht, wo möglich, im Einvernehmen mit dem Es zu bleiben, überzieht dessen ubw
Gebote mit seinen vbw Rationalisierungen, spiegelt den Gehorsam des Es gegen die Mahnungen der Realität vor, auch wo das Es starr und unnachgiebig geblieben ist, vertuscht die Konflikte des Es mit der Realität und wo möglich auch die mit dem Über-Ich. In seiner Mittelstellung zwischen Es und Realität unterliegt es nur zu oft der Versuchung, liebedienerisch, opportunistisch und lügnerisch zu werden, etwa wie der Staatsmann, der bei guter Einsicht sich doch
in der Gunst der öffentlichen Meinung behaupten will“ (ebd.: 286).
Im Unterschied zum Ich habe das Es „keinen einheitlichen Willen“ zustande
gebracht. Eros und Todestrieb kämpfen in ihm; und es scheint, „als ob das Es
unter der Herrschaft der stummen, aber mächtigen Todestriebe stünde, die Ruhe
haben und den Störenfried Eros nach den Winken des Lustprinzips zur Ruhe
bringen wollen, aber wir besorgen, doch dabei die Rolle des Eros zu unterschätzen“ (ebd.: 289).
3
Bezug zum Gesamtwerk
In Freuds Denkentwicklung lassen sich drei Modelle des psychischen Apparats
unterscheiden:
1.
das Affekt-Trauma-Modell (1880er Jahre bis etwa 1897),
2.
das topographische Modell (1897 bis 1923) und
3.
das strukturelle Modell (ab 1923).
Im Rahmen des Affekt-Trauma-Modells waren zunächst traumatische Erfahrungen und dadurch ausgelöste, aber nicht genügend abgeführte Affektspannungen
28
Sigmund Freud
im Fokus; aber mit der Einsicht in die Verdrängungsdynamik wurde die Annahme eines psychisch Unbewussten nach und nach zur erkenntnisleitenden Idee.
Im topographischen Modell stand das Unbewusste, wie es im VII. Kapitel
der „Traumdeutung“ erstmals konzipiert wurde, zunächst im Zeichen der Verdrängungstheorie. Man kann von einem Verdrängungs-Unbewussten sprechen,
das nur auf das Psychische bezogen war; das Somatische – im Sinne der späteren
Triebtheorie – blieb noch ausgeklammert. Maßgeblich für die Unterscheidung
zwischen dem (nur) Vorbewussten und dem (eigentlich) Unbewussten in der
ersten Topik war die Annahme einer Schwelle zwischen beiden, an der sich
gleichsam eine Zensur den aus dem Unbewussten drängenden Wünschen entgegen stellt. Das eigentliche Unbewusste als Region der verdrängten Wünsche,
Leidenschaften und Phantasien weist bestimmte Merkmale und Funktionsweisen
auf, die es im Bereich des Vorbewussten nicht gibt: die Verdichtungs- und Verschiebungsarbeit, die Eigenschaften der Unzerstörbarkeit und Widerspruchsfreiheit, die Regulation nach dem Lustprinzip und die Funktionsweise des Primärvorgangs.
In der Phase von 1900 bis 1915 vollzog Freud eine Wende zu einer triebtheoretischen Fundierung. Mit Hilfe zweier Triebtheorien – dem Dualismus von
Sexual- und Ichtrieben und dem später hinzukommenden Dualismus von narzisstischer und Objektlibido – suchte er seiner Konzeption des Unbewussten ein
neues Fundament zu geben. In der Abhandlung „Das Unbewusste“ (1915) wird
die bisherige Gleichsetzung von Verdrängtem und Unbewusstem relativiert: Das
Verdrängte decke nicht alles Unbewusste, sondern sei nur ein Teil desselben.
Von diesem Blickwinkel aus gibt es auch ein ursprüngliches Unbewusstes, das
Freud mit einer „psychischen Urbevölkerung“ verglich. In diesem Zusammenhang sprach er von „ererbten psychischen Bildungen“, die den Kern des Unbewussten ausmachen; dazu komme später „das während der Kindheitsentwicklung
als unbrauchbar Beseitigte“ hinzu (Freud 1915: 294). Durch diesen Schritt von
einer verdrängungszentrierten hin zu einer genetisch und triebhaft orientierten
Sichtweise wurde die bisherige Ausrichtung an einer reinen Psychologie zugunsten einer biologisch fundierten Entwicklungstheorie verändert.
Bei der Einführung des Strukturmodells in „Das Ich und das Es“ hat Freud
darauf hingewiesen, „dass wir in unendlich viele Undeutlichkeiten und Schwierigkeiten geraten, wenn wir an unserer gewohnten Ausdrucksweise festhalten
und zum Beispiel die Neurose auf einen Konflikt zwischen dem Bewussten und
dem Unbewussten zurückführen wollen“ (Freud 1923: 244). Zu den hier angesprochenen Schwierigkeiten gehörten in erster Linie: das Problem, die verdrängenden Kräfte zu lokalisieren; das Problem der moralischen Werte, des Gewissens und der Ideale; das der „Internalisierung“, des Narzissmus und des Selbst;
29
Günter Gödde
das der Angst sowie der Aggression und der Selbsterhaltungstriebe (vgl. Sandler
et al. 2003: 169-174).
Um diese Probleme im Rahmen einer neuen Theoriebildung zu bewältigen,
postulierte Freud das Es als Ursprungsort sowohl der libidinösen als auch der
aggressiven und destruktiven Triebe und ließ den substantivischen Begriff des
Unbewussten zunehmend hinter den des Es zurücktreten. Das Wort „unbewusst“
wurde nun in adjektivischer Form gebraucht, um eine psychische Qualität der
drei Instanzen zu bestimmen. Wesentlich war, dass der bisherige Bereich der
unbewussten psychischen Vorgänge um bestimmte Ich- und Über-Ich-Anteile
erweitert wurde. Von den Inhalten des Unbewussten her gesehen bildeten nicht
mehr die Psychosexualität, die Lebenstriebe oder der Eros das alleinige Zentrum.
Die aus der Triebnatur des Menschen entspringende Dynamik des Unbewussten
erschien Freud noch mehr, als er bis dahin angenommen hatte, von lebensfeindlichen und irrationalen Kräften bestimmt.
Nach der Einführung der Strukturtheorie verstand Freud die Psychoanalyse
als „Psychologie des Es (und seiner Einwirkungen auf das Ich)“ (Freud 1924:
427). In der weiteren Entwicklung von „Hemmung, Symptom und Angst“ (1926)
über die erwähnte Vorlesung „Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit“
(1933) bis zum „Abriß der Psychoanalyse“ (1938) hat er seine Strukturtheorie
weiter ausgearbeitet, aber keine wesentlichen Änderungen mehr vorgenommen.
4
Kritische Einschätzung und Wirkung
Die Freuds Spätwerk bestimmende Dialektik von Ich/Über-Ich und Es wurzelt in
alten philosophischen Auseinandersetzungen. Im Gegenzug zu Aufklärung und
Idealismus unterstrichen im 19. Jahrhundert immer mehr Philosophen die Heteronomie und Abhängigkeit des Ich und sprachen von einem irrational-triebhaften
„Willen“, vom „Unbewussten“ und schließlich vom „Es“. Als Freud 1923 das Es
einführte, brachte er es ausdrücklich mit Nietzsche in Zusammenhang. Seine
Formulierung, das Ich pflege „den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als
ob es der eigene wäre“ (Freud 1923: 251, Fn. 2), deutet auf jene antirationalistische Tradition vom späten Schelling über Schopenhauer zu Nietzsche hin, in der
der Wille als steuernde Macht hinter den seelischen Erscheinungen betrachtet
wird. Schopenhauer betonte den „Primat des Willens“, der dem Intellekt
„seine Oberherrschaft in letzter Instanz fühlbar macht, indem er ihm gewisse Vorstellungen
verbietet, gewisse Gedankenreihen gar nicht aufkommen lässt, [...]: er zügelt jetzt den Intellekt
und zwingt ihn sich auf andere Dinge zu richten. [...] Man nennt dies ‚Herr über sich seyn‘: offenbar ist hier der Herr der Wille, der Diener der Intellekt; da jener in letzter Instanz stets das
30
Sigmund Freud
Regiment behält, mithin den eigentlichen Kern, das Wesen an sich des Menschen ausmacht“
(Schopenhauer 1844: 242f.).
Stimmt die Charakterisierung des Freudschen Es mit Schopenhauers Willen
überein, so kann ein entsprechender Vergleich zwischen Freuds Ich und Schopenhauers Intellekt gezogen werden (vgl. Gödde 2009: 366ff.).
Bei den Nachfolgern Freuds kam es in den 1960er und 1970er Jahren zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Metapsychologie
und den dazu gehörigen Begriffen aus der mechanistischen Denktradition (vgl.
Mertens 1981). Für den französischen Philosophen Paul Ricoeur, der die psychoanalytischen Erkenntnisbemühungen in einer Dialektik von Hermeneutik und
Energetik sah, sind die Instanzen Es, Ich und Über-Ich weniger „topoi“ („Orte“)
als „Rollen“, bei denen es um die Beziehung vom Persönlichen zum Anonymen
und Überpersönlichen in der Person geht. Sei die erste Topik auf die Frage des
„Bewusstwerdens“ zentriert gewesen, so beziehe sich die zweite auf die Frage
des „Ichwerdens“. Mit anderen Worten: Die erste Topik behandle die theoretischen Probleme unter dem Gesichtspunkt des Ausschlusses aus dem Bewusstsein
oder des Zugangs zum Bewusstsein, die zweite Topik hingegen unter dem Gesichtspunkt der Herrschaft oder der Unterwerfung des Ichs. Das Ich werde bei
Freud in zunehmender Abhängigkeit von den inneren Mächten des Unbewussten
gesehen. Beim Menschen müsse man zur äußeren Gefahr noch „die Drohung der
Triebe, die Quelle der Angst, sowie die Drohung des Gewissens, die Quelle des
Schuldgefühls hinzufügen. Diese dreifache Gefahr und dreifache Angst bilden
die Problematik, aus der die zweite Topik entstand“ (Ricoeur 1965: 187). Im
Hinblick auf die sich allmählich konstituierende Ich-Psychologie sprach Ricoeur
von einer „Verschiebung des Schwerpunkts der Deutung vom Verdrängten auf
das Verdrängende“ (ebd.: 191).
Die Rede von den psychischen Systemen, Strukturen oder Instanzen, den
Primär und Sekundärvorgängen, den Trieben und Energien, so wandte der amerikanische Psychoanalytiker Roy Schafer (1976: 32) ein, lasse diese als „zielstrebige, sinnerzeugende, entscheidungsfällende und handlungsorientierte Wesenheiten“ erscheinen, „als wären sie Seelen in der Seele oder Homunculi“. Demgegenüber eigne sich eine „Handlungssprache“, die auf intentionalen Begriffen wie
Bedeutung, Handeln, Grund und Situation aufbaue, wesentlich besser dazu, das
erlebnismäßig Phänomenale auch und gerade im Hinblick auf Es-, Ich- und
Über-Ich-Aspekte zu erfassen. Handlungen können z.B. auf kompromisslos
gierige, verschlingende oder drängend exhibitionistische Art (Handlungen vom
Es-Typus), schulderfüllt, wiedergutmachend oder selbststrafend (Handlungen
vom Über-Ich-Typus) oder verantwortungsbewusst und vernünftig (Handlungen
vom Ich-Typus) durchgeführt werden.
31
Günter Gödde
Im Hinblick auf die drei Instanzen hat es in der Psychoanalyse wechselnde
Konjunkturen gegeben. In den späten 1920er Jahren setzte eine Wende von der
Es- zur Ich-Psychologie (A. Freud, Hartmann, Kris, Loewenstein) ein, die Jahrzehnte lang vorherrschend blieb. In den sogenannten Objektbeziehungstheorien
verschob sich seit den 1950er und 1960er Jahren der Hauptakzent von den Trieben und dem Ich auf den Einfluss internalisierter Objektbeziehungen (Melanie
Klein, Fairbairn, Winnicott, Bion). John Bowlby und später Joseph D. Lichtenberg stellten dann die vom Sexual- und Aggressionstrieb unabhängige Stellung
der Bedürfnisse nach Beziehung, Kontakt, Sicherheit, Exploration und Bewältigung heraus. Noch stärker schloss Erik Erikson die Umwelt des Subjekts in seine
Untersuchungen ein und entwickelte eine erste psychoanalytische Theorie der
„Identität“ (Erikson 1959). In den 1970er Jahren erwuchs der vorherrschenden
Ich-Psychologie mit der aufkommenden Narzissmus- und Selbstpsychologie
(Kohut, Kernberg) ein weiterer Gegenspieler. Bewegte sich die Psychoanalyse
damals noch in einem individuumzentrierten Bezugsrahmen, innerhalb dessen
sich Es-, Ich-, Über-Ich-, Selbst- und Objekt-bezogene Perspektiven unterscheiden ließen, so entwickelte die Familientherapie interaktionsbezogene und systemische Perspektiven, die den Blick vom kindlichen Selbst auf den Einfluss der
Eltern und das System der Gesamtfamilie verlagerte und unmittelbarer auf die
Wechselseitigkeit von Beziehungen ausgerichtet war (vgl. Gödde 1983). Seit
einigen Jahren wird nun eine „intersubjektive Wende“ in der Psychoanalyse
postuliert (Altmeyer/Thomä 2006); ausschlaggebend für diesen Paradigmenwechsel waren in erster Linie die eindrucksvollen Befunde der Kleinkindforschung über intersubjektive Austauschprozesse zwischen Mutter und Kind (im
Anschluss an Daniel Stern), nachdem schon die Vielzahl interpersoneller Ansätze (im Anschluss an Harry Stack Sullivan), und vor allem die relationale Psychoanalyse Stephen Mitchells die Weichen in diese Richtung gestellt hatten (vgl.
Buchholz 2005).
Um den konzeptuellen Stellenwert der Intersubjektivität beurteilen zu können, muss man nochmals auf Freuds Strukturtheorie zurückkommen, die nicht
nur auf die Binnenwelt des Psychischen ausgerichtet war, sondern auch vom
Postulat eines „primären Narzissmus“ ausging, in dem die Libido des Neugeborenen ausschließlich das eigene Selbst besetzt hält; erst am Ende der narzisstischen Phase beginne das Kleinkind, seine Monadenhaftigkeit zu überwinden und
sich der sozialen Objektwelt libidinös zuzuwenden. Daher lasse es sich mit einem Protoplasmatierchen vergleichen, das seine Fühler ausstrecken und wieder
einziehen kann (vgl. Freud 1914:141). Andererseits gab es schon bei Freud einige – wenige – konzeptuelle Ansatzpunkte für eine intersubjektive Sichtweise. So
schrieb er in der Einleitung zu „Massenpsychologie und Ich-Analyse“: „Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Ob32
Sigmund Freud
jekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist
daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie“ (Freud 1921: 73).
Ergänzend dazu heißt es in „Das Ich und das Es“, das Ich bilde sich aus dem
„Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen“ und enthalte in sich die
„Geschichte der Objektwahlen“ (Freud 1923: 257). Die psychischen Prozesse,
die hierbei eine Rolle spielen, wurden unter den Aspekten von Identifizierung,
Introjektion, Verinnerlichung u.ä. behandelt. Neben der Konzentration auf das
„Innere“ im Gegensatz zum „Äußeren“ arbeitete Freud sowohl in seinem topographischen als auch in seinem strukturellen Modell mit einer Metaphorik der
„Tiefe“ des Unbewussten im Unterschied zur „Oberfläche“ des Bewussten.
Demgegenüber bedeutet die intersubjektive Wende eine Verschiebung in
beide Richtungen: sowohl von unten nach oben als auch von innen nach außen,
aber nicht im Sinne einer bloßen Antithese, sondern eher im Sinne einer neuartigen Synthese von Psychischem und Sozialem, von Selbst und Anderem. In den
Worten von Martin Altmeyer:
„Das Selbst bedarf des Objekts – der Spiegelung im Anderen, der Anerkennung durch den Anderen, der Widerständigkeit des Anderen usw. –, wenn es so etwas wie Identität ausbilden
will“. Demnach müsse sich das Selbst den Dialog mit dem Anderen „nicht abringen oder nicht
von außen aufzwingen lassen, es besitzt selbst eine dialogische Binnenstruktur, in die der Andere eingelassen ist und ‚virtuell‘ schon einen Platz besetzt hält“ (Altmeyer 2005: 655, 657).
Das individuelle Selbst entsteht in einem interaktiven Zwischenraum, der als
„psychische Matrix“ (Hans Loewald), als „relationale Matrix“ (Stephen Mitchell), als „wechselseitige Anerkennung“ (Jessica Benjamin) oder als „analytisches Drittes“ (Thomas Ogden) konzipiert worden ist.
Ist die Aufteilung in die Systeme des Unbewussten, Vorbewussten und Bewussten als erste Topik und die Unterscheidung der Instanzen von Es, Ich und
Über-Ich als zweite Topik bezeichnet worden, so kann man angesichts des aktuellen Diskurses an eine dritte Topik von Innen, Außen und Zwischen bzw. von
Selbst, Anderem und Interaktion denken. Dazu müssten die bisherigen intrapsychischen Konzepte nun in intersubjektiven Perspektiven neu entworfen und ausgestaltet werden. Im psychoanalytischen Gegenwartsdiskurs sind allerdings nach
wie vor traditionsbewusste Tendenzen virulent, die nicht nur die Exklusivität
psychoanalytischer Institutionen verteidigen und von einem hypertrophen Wahrheitsanspruch der Psychoanalyse erfüllt sind, sondern auch auf einer internalistischen Konzeption des Mentalen beharren. Dennoch hat sich ein kritisches Problembewusstsein dahingehend entwickelt, dass „gerade das Festhalten an solchen
Traditionen die Psychoanalyse auf eine wissenschaftliche und gesellschaftliche
Außenseiterposition festlegt, die ihre professionelle Zukunft gefährdet“ (Altmeyer 2004: 1113). Aus heutiger Sicht spricht viel für eine Anerkennung der
33
Günter Gödde
Pluralität verschiedener Sichtweisen, damit „die Schulen ihre scholastische Attitüde aufgeben, die Kirchentore öffnen und den frischen Wind der Wissenschaft
hineinlassen“. So ließe sich „an eine Tradition kritischer Selbstreflexion anknüpfen, die Freud selbst begründet hat, als er seine Erkenntnisse unter den Vorbehalt
zukünftiger Forschung und besseren Wissens stellte“ (ebd.: 1119). Noch ist
schwer zu sagen, ob die Hoffnung der Intersubjektivisten auf eine Integration der
Psychoanalyse unter ein einheitsstiftendes Paradigma in Erfüllung gehen wird,
aber zu einem Überdenken und Überprüfen der in Freuds Strukturmodell enthaltenen Annahmen haben sie auf jeden Fall beigetragen.
Primärliteratur
Freud, Sigmund (1895): Studien über Hysterie (ohne Breuers Beiträge). In: Ders.
(1972): G.W., Bd. 1, S. 75-312.
Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung. In: Ders. (1972): G.W., Bd. 2/3.
Freud, Sigmund (1914): Zur Einführung des Narzissmus. In: Ders. (1972): G.W.,
Bd. 10, S. 137-170.
Freud Sigmund (1915): Das Unbewußte. In: Ders. (1972): G.W., Bd. 10, S. 263303.
Freud, Sigmund (1917): Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Ders. (1972):
G.W., Bd. 12, S. 3-12.
Freud, Sigmund (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Ders. (1972):
G.W., Bd. 13, S. 71-161.
Freud, Sigmund (1922): Etwas vom Unbewußten [Zusammenfassung Freuds von
seinem Vortrag auf dem VII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress
vom 26.9.1922 in Berlin]. In: Ders. (1972): G.W., Nachtr., S. 730.
Freud, Sigmund (1923): Das Ich und das Es. In: Ders. (1972): G.W., Bd. 13,
S. 237-289.
Freud, Sigmund (1924): Kurzer Abriß der Psychoanalyse. In: Ders. (1972):
G.W., Bd. 13, S. 403-427.
Freud, Sigmund (1925): Selbstdarstellung. In: Ders. (1972): G.W., Bd. 14, S. 3196.
Freud, Sigmund (1926a): Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith.
In: Ders. (1972): G.W., Bd. 17, S. 51-53.
Freud, Sigmund (1933): Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit. In: Neue
Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Ders.
(1972): G.W., Bd. 15, S. 62-86.
Freud, Sigmund (1895/1950): Entwurf einer Psychologie. In: Ders. (1972):
G.W., Nachtr., S. 387-477.
34
Sigmund Freud
Freud, Sigmund (1972): Gesammelte Werke. Hrsg v. Freud, Anna et al. Frankfurt/M.: Fischer.
Freud, Sigmund (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe, hrsg. v. Masson, J. M., Bearb. d. deutschen Fassung v. Schröter, M.,
Transkription v. Fichtner, G. Frankfurt a.M.: Fischer.
Sekundärliteratur
Altmeyer, Martin (2004): Inklusion, Wissenschaftsorientierung, Intersubjektivität. Modernisierungstendenzen im psychoanalytischen Gegenwartsdiskurs.
Gedanken anlässlich einer amerikanischen Tagungsreise. In: Psyche 58,
S. 1111-1125.
Altmeyer, Martin (2005): Das Unbewusste als das virtuelle Andere. In: Buchholz/Gödde 2005a, S. 650-669.
Altmeyer, Martin/Thomä, Helmut (Hrsg.) (2006): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta.
Buchholz, Michael B. (2005): Stephen Mitchell und die Perspektive der Intersubjektivität. In: Buchholz/Gödde 2005a, S. 627-649.
Buchholz, Michael B./Gödde, Günter (Hrsg.) (2005a): Macht und Dynamik des
Unbewussten. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse. Das Unbewusste. Bd. I. Gießen: Psychosozial.
Buchholz, Michael B./Gödde, Günter (Hrsg.) (2005b): Das Unbewusste in aktuellen Diskursen. Anschlüsse. Das Unbewusste. Bd. II. Gießen: Psychosozial.
Erdheim, Mario (1981): Freuds Größenphantasien, sein Konzept des Unbewußten und die Wiener Décadence. In: Psyche 35, S. 857-874 u. S. 1006-1033.
Erikson, Erik (1959): Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Freud, Anna (1936/1984): Das Ich und die Abwehrmechanismen. Frankfurt
a.M..: Kindler.
Gödde, Günter (1983): Familientherapie. In: Mertens, Wolfgang (Hrsg.): Psychoanalyse: ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München/Wien/Baltimore:
Urban & Schwarzenberg.
Gödde, Günter (2000): Die Öffnung zur Denkwelt Nietzsches – eine Aufgabe für
Psychoanalyse und Psychotherapie. In: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 4 (7), S. 91-122.
Gödde, Günter (20092): Traditionslinien des „Unbewußten“ – Schopenhauer,
Nietzsche, Freud. Gießen: Psychosozial.
35
Günter Gödde
Grubrich-Simitis, Ilse (1995): Urbuch der Psychoanalyse. Hundert Jahre Studien
über Hysterie von Josef Breuer und Sigmund Freud. Frankfurt a.M.: Fischer.
Lohmann, Hans-Martin (2006): Freud und seine Epoche. Die intellektuelle Biographie. In: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (2006), S. 49-76.
Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hrsg.) (2006): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler
Mertens, Wolfgang (Hrsg.) (1981): Neue Perspektiven der Psychoanalyse. Stuttgart: Kohlhammer.
Ricoeur, Paul (1974): Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt
a.M..: Suhrkamp.
Sandler, Joseph/Holder, Alex/Dare, Christopher/Dreher Anna Ursula (2003):
Freuds Modelle der Seele. Eine Einführung. Gießen: Psychosozial.
Schafer, Roy (1976): Eine neue Sprache für die Psychoanalyse. Stuttgart: KlettCotta.
Schöpf, Alfred (1982): Sigmund Freud. München: Beck.
Schopenhauer, Arthur (1844/1977): Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. IIIIV. Zürich: Diogenes.
Schorske, Carl. E. (1982): Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Frankfurt a.M..: Fischer.
Tömmel, Sieglinde Eva (1985): Die Evolution der Psychoanalyse. Beitrag zu
einer evolutionären Wissenschaftssoziologie. Frankfurt a.M./New York:
Campus.
Zirfas, Jörg (1993): Sigmund Freud: der transzendentale und der reale Hedonismus. In: Ders.: Präsenz und Ewigkeit. Eine Anthropologie des Glücks. Berlin: Reimer, S. 123-236.
36
Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus
Juliane Noack
Einleitung
Erik H. Eriksons Identitätstheorie ist eingebettet in seine Theorie der lebenslangen Entwicklung, die er basierend auf Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung als eine Abfolge psychosozialer Entwicklungsstufen konzipiert und
eine gesetzmäßige (epigenetische) Abfolge dieser Stufen bzw. Phasen unterstellt.
Als freudianischer Ichpsychologe bzw. als Post-Freudianer, wie er es selbst formuliert, fühlt sich Erikson seinem geistigen Vater Sigmund Freud und dessen
psychoanalytischen Theoriegerüst verpflichtet, was er in einem Interview folgendermaßen formuliert: „Freud ist für mich eine Selbstverständlichkeit; die
Psychoanalyse ist immer der Ausgangspunkt“ (Keniston zit. n. Erikson 1983:
31). Erikson setzt die Bedeutung des Unbewussten und dessen Einfluss auf
Träume, Fantasien, Handlungen etc. ebenso als gegeben voraus wie die Aufeinanderfolge frühkindlicher Erfahrungen, insbesondere in Bezug auf die psychosexuelle Entwicklung und deren Einfluss auf die spätere Persönlichkeit. Seine
Weiterentwicklungen bestehen darin, dass er drei Perspektiven explizit in sein
Theoriegerüst aufnimmt und dadurch die freudsche psychosexuelle Perspektive
um eine psychosoziale erweitert. Damit legt er den theoretischen Boden seiner
psychosozialen Identitätstheorie.
Nach Erikson habe die Psychoanalyse den Durchbruch zu vielem geschafft,
was vorher in allen Modellvorstellungen vom Menschen vernachlässigt oder
verleugnet worden sei:
„Sie hatte nach innen geblickt, um die Innenwelt des Menschen, besonders das Unbewußte,
dem systematischen Studium zugänglich zu machen; sie hatte rückwärts nach den ontogenetischen Ursprüngen der Psyche und ihren Störungen gesucht; und sie war nach unten zu jenen
Triebregungen vorgedrungen, die der Mensch damit überwunden zu haben glaubte, daß er die
Kindheit des Individuums – die Primitivität des menschlichen Ursprungs – und der Evolution
verdrängte oder verleugnete.“ Diese Perspektiven erweitert Erikson um die der: „Komplexität
der gesamten menschlichen Existenz nach außen, von der Selbstbezogenheit zur Gegenseitigkeit von Liebe und Gemeinschaft; nach vorne, von der versklavenden Vergangenheit zur utopischen Antizipation neuer Möglichkeiten; und nach oben, vom Unbewußten zu den Rätseln des
Bewußtseins“ (Erikson 1982: 39).
37
Juliane Noack
Dies findet seinen konkreten Ausdruck darin, dass er das epigenetische Wesen
menschlicher Entwicklung über die fötale Phase hinaus expliziert. Der reifende
Organismus entwickle nicht weitere Organe, sondern eine vorgeschriebene Abfolge lokomotorischer, sensorischer und sozialer Fähigkeiten. Für Erikson ist
eine solche Entwicklung jedoch kein einseitiges Geschehen, sondern eine Abfolge von Möglichkeiten wechselnder Muster gegenseitiger Regulation zwischen
Kind und Eltern. Die Betonung von Wechselseitigkeit bzw. Gegenseitigkeit ist
eine andere wichtige Erweiterung von Erikson, ebenso wie die Darstellung dieser
Annahmen als epigenetisches Diagramm. Zudem stellt er heraus, dass Freuds
Libidotheorie in dem Sinne als metaphorisch zu verstehen sei, als dass sie mögliche Umwandlungen der Energien konzeptionalisiert (Stevens 2008).
Der so entstandenen Verschiebung des Verhältnisses von sozialen Leitbildern und den Kräften des Organismus wird, sowohl hinsichtlich ihrer Wechselbeziehung als auch des komplementären Verhältnisses von Ethos und Ich sowie
von Gruppenidentität und Ich-Identität, mit Ich-Begriffen Rechnung getragen.
Hierin spiegelt sich gleichsam der Einfluss seiner geistigen Mentoren wider, die
zwar als Psychoanalytiker der freudianischen Theorie verbunden waren, aber
dennoch die Wichtigkeit der Ich-Entwicklung betonen. Zu ihnen gehören Wilhelm Reich, Heinz Hartmann, Paul Federn, August Aichhorn und schließlich
Anna Freud. In dieser Tradition bezieht sich der Ich-Begriff (Ego) auf die innere
Syntheseleistung, durch die Erfahrungen organisiert und Handlungen geleitet
werden. Auch das Ich entwickelt sich stufenweise, wobei drei psychosoziale
Entwicklungsstufen konzeptionalisiert werden: die Introjektion, die Identifikation und die Identitätsbildung (Erikson 1988).
1
Biographie
Erik H. Erikson, zwei Jahre jünger als das Jahrhundert, in dem er gelebt hat, wird
am 15. Juni 1902 in Frankfurt geboren und stirbt am 12. Mai 1994 in New Haven. Seine Mutter Karla Abrahamsen (1877-1960), einer reichen jüdischen Familie aus Kopenhagen entstammend, heiratet, einige Jahre bevor sie mit Erikson
schwanger wird, den Kopenhagener Bankier Waldemar Isidor Salomonsen, der
sie jedoch schon wenige Stunden nach der Hochzeit verlässt. Obwohl er nicht
der Vater Eriksons ist, steht der Name Salomonsen auf der Geburtsurkunde um
den Anschein der Legitimität zu wahren. Karla wird aus Kopenhagen weggeschickt, um ihrer Familie die Schande zu ersparen und bringt ihr Kind in
Deutschland völlig allein zur Welt (Bloland 2005). Die ersten drei Lebensjahre
verleben Mutter und Sohn zusammen in der Nähe von Frankfurt, in der Stadt
Bühl, bis Karla am 8. Juni 1905 den Karlsruher Kinderarzt Doktor Theodor
38
Erik H. Erikson
Homburger (1868-1944) heiratet und nach Karlsruhe zieht. Dort wächst Erikson
nun unter dem Namen Erik Homburger mit seinen drei nach ihm geborenen
Stiefschwestern auf. Er absolviert 1920 die Reifeprüfung in Karlsruhe und begibt
sich danach auf längere Wanderungen zum Beispiel durch den Schwarzwald.
Hiernach kommt er nach Karlsruhe zurück und nimmt an der Badischen Landeskunstschule ein Kunststudium auf, was er jedoch nach einem Jahr wieder aufgibt, um in München die Kunstakademie zu besuchen. Zwei Jahre später verlässt
er München, bereist mit Freunden die Toskana und lässt sich für einige Zeit in
Florenz nieder. 1927 kehrt er im Alter von 25 Jahren nach Karlsruhe zurück und
unterrichtet dort Kunst, bis sein Freund Peter Blos ihm den Vorschlag macht
nach Wien zu kommen, um ihm dort beim Aufbau der kleinen Hietzing Privatschule für amerikanische Kinder behilflich zu sein. So lässt sich Erikson 1929 in
Wien nieder, womit die bedeutendste Periode seines Lebens beginnt. Er kommt
mit Anna Freud und dem psychoanalytischen Kreis um Sigmund Freud in Kontakt.
Zu dieser Zeit wird die Direktbeobachtung der kindlichen Entwicklung zu
einem neuen Interessengebiet und Anna Freud beginnt mit der Analyse von Kindern. Viele Jungen und Mädchen, die die Schule besuchen, in der Erikson tätig
ist, sind oder waren Anna Freuds Patienten oder haben Eltern, die entweder analysiert wurden oder selbst Psychoanalytiker sind. Erikson, der sich zunehmend
für die Psychoanalyse interessiert, wird in deren Kreis aufgenommen und
schließlich als Kandidat für die psychoanalytische Ausbildung vorgeschlagen.
Über diesen Weg erhält er ein Stipendium, das es ihm ermöglicht, jeden Nachmittag eine Stunde Lehranalyse bei Anna Freud zu absolvieren, nachdem er
vormittags in der Schule unterrichtet hat. Abends besucht er Seminare über
Technik und Theorie der Psychoanalyse. Parallel dazu studiert Erikson die Methoden der Montessori-Erziehung und erlangt das Montessori-Diplom. Seine
psychoanalytische Ausbildung beendet er 1933 mit Bestehen der Abschlussprüfung. Daraufhin wird er zum ordentlichen Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ernannt, was es ihm erlaubt, überall auf der Welt als
Psychoanalytiker zu praktizieren. Kurz danach verlässt er mit seiner Frau Joan
Serson und den beiden Kindern Kai und Jon Wien, da die politischen Wirren der
30er Jahre und die Weltwirtschaftskrise beginnen ganz Europa zu erschüttern. Es
werden faschistische Massenbewegungen dominant, die bereits andere (jüdische)
Analytiker dazu veranlasst haben, auszuwandern. Die junge Familie geht nach
Amerika, nachdem Eriksons Versuche, die dänische Staatsbürgerschaft zurückzuerlangen und sich in Kopenhagen beruflich niederzulassen, gescheitert sind.
Bis 1936 bleibt Erikson in Boston, eröffnet mithilfe des kleinen Kreises der
Bostoner Psychoanalytiker eine kinderanalytische Praxis und gilt schließlich als
der erste Kinderanalytiker der Vereinigten Staaten. Darüber hinaus arbeitet er an
39
Juliane Noack
der Harvard Medical School, dem Massachusetts General Hospital, am Judge
Baker Guidance Center als Berater, in einer Klinik zur Behandlung von Gemütskrankheiten bei Kindern und bekommt von der Yale Universität eine Vollzeitstelle in der Forschung und Lehre angeboten. Zudem unternimmt er während
dieser Zeit mit Scudder Mekeel seine erste mehrmonatige kulturanthropologische Forschungsreise in ein Reservat der Sioux-Indianer in Süd-Dakota. 1938
lässt sich Erikson einbürgern und wird amerikanischer Staatsbürger. In diesem
Zusammenhang ändert er unter voller Zustimmung seiner Familie den Namen
Erik Homburger in Erik Homburger Erikson.
Die vierziger Jahre verbringt Erikson in Kalifornien, wo er mit Jean Macfarlane an der Langzeitstudie über die Kinder aus Berkeley arbeitet. Er unternimmt
seine zweite Feldforschungsreise mit Alfred Kroeber zu den Yurok-Indianern.
Anschließend eröffnet er wieder seine Privatpraxis. Auch arbeitet er als beratender Fachmann an mehreren Kliniken, u.a. einer Rehabilitationsklinik für psychisch gestörte Kriegsteilnehmer des Zweiten Weltkrieges. Darüber hinaus ist er
an anderen, den Krieg betreffenden Projekten, wie zum Beispiel die Analyse
deutscher Propaganda einschließlich der Reden Hitlers, beteiligt. 1949 kehrt
Erikson an die Ostküste zurück, um dort am Austen-Riggs-Center, einer psychiatrischen Einrichtung für junge Menschen, mitzuarbeiten. Einen weiteren Arbeitsbereich stellt die geschlossene Abteilung des Western Psychiatric Institute
der Universität Pittsburgh mit verhaltensauffälligen Kindern dar.
In den fünfziger Jahren veröffentlicht Erikson sein erstes Buch „Kindheit
und Gesellschaft“ (1950) und seine erste psychohistorische Studie „Der junge
Mann Luther“ (1958). Sein Hauptaugenmerk liegt in diesem Lebensjahrzehnt auf
der Verifikation der Symptome der akuten schweren Identitätsverwirrung bei
jugendlichen Patienten des Austen-Riggs-Instituts in den Berkshires. In den
sechziger Jahren lässt er seine klinische Arbeit ruhen und konzentriert sich ganz
auf die universitäre Lehre, wobei er seine Konzeption des Lebenszyklus und der
Identitätskrise vor seinen Studenten entwickelt. Zudem bereist er mehrfach Indien, wo er sich aus Gründen der Forschung über das Leben und Werk Gandhis
aufhält. Daraus resultiert schließlich 1969 das mit dem Pulitzerpreis (1970) ausgezeichnete Buch „Gandhis Wahrheit. Über die Ursprünge der militanten Gewaltlosigkeit“. Nach seiner Emeritierung hält Erikson weiter Vorträge und Lesungen, schreibt zahlreiche Artikel und die drei Bücher „Dimensionen einer
neuen Identität“ (1974), „Lebensgeschichte und historischer Augenblick“ (1975)
und Kinderspiel und politische Phantasie: Stufen in der Ritualisierung der Realität“ (1977). Auch im hohen Alter, seinen Achtzigern ist Erikson als Vortragsreisender und wissenschaftlicher Autor tätig. Das Hauptwerk dieses Lebensabschnitts ist sein Buch „Der vollständige Lebenszyklus“ (1982), in dem er seine
„Ansichten noch einmal kritisch aufgearbeitet und dabei den Schwerpunkt in
40
Erik H. Erikson
erster Linie auf die innere Logik gelegt“ (Erikson 1983: 28) hat. Am 12. Mai
1994 stirbt Erik H. Erikson in einem Seniorenheim in New Haven.
2
Schlüsselwerk
Sein 1959 in Amerika erschienenes Buch „Identität und Lebenszyklus – Drei
Aufsätze“ (1959) kann als Schlüsselwerk seines Schaffens gelten und zwar insofern als es aus drei Aufsätzen zu Eriksons eigentlichem Forschungsthema, nämlich der Bildung der Ich-Identität besteht. Die Erforschung der Ich-Identität,
deren Konfiguration er von historisch-gesellschaftlichen Bedingungen abhängig
sieht, stellt seine Erweiterung der psychoanalytischen Betrachtungsweise dar.
Die Aufsätze seien in diversen Zusammenhängen entstanden und stehen in unterschiedlichem Verhältnis zur Theorie, was wiederum das Forschungsthema in
verschiedenem Lichte erscheinen lasse. Jedoch verbinde diese Aufsätze, dass sie
drei zusammenhängende Etappen innerhalb des klinischen Denkens behandeln:
„Sie nähern sich schrittweise dem Problem der psychosozialen Entwicklung –
von allgemeinen klinischen Impressionen über einen ersten Abriß der psychosozialen Stadien bis zur detaillierteren Beschreibung eines bestimmten Stadiums,
nämlich der Adoleszenz“ (Erikson 1974: 9). Der Titel nenne das Problem: Die
Einheit des menschlichen Lebenszyklus und die spezifische Dynamik jeder seiner Phasen, wie sie durch die Gesetze der individuellen Entwicklung und der
gesellschaftlichen Organisation vorgeschrieben werden.
Diese Elemente konstituieren gleichsam das der eriksonschen Theorie
zugrunde liegende Organisationsprinzip menschlicher Existenz. Ausgehend vom
analytischen Strukturmodell, nach dem als Instanzen der Persönlichkeit das Es,
Ich und Über-Ich konzeptionalisiert werden, sieht Erikson diese als sich in drei
Prozessen widerspiegelnd, deren gegenseitige Abhängigkeit die Form des
menschlichen Verhaltens bestimme:
„1. der Prozeß der Organisation des menschlichen Körpers innerhalb des Zeit-Raums eines Lebenszyklus (Evolution, Epigenese, Libidoentwicklung usw.); 2. der Prozeß der Organisation
der Erfahrung durch die Ich-Synthese (Ich-Raum-Zeit; Ich-Abwehrmechanismen; Ich-Identität
u.s.w.); 3. der Prozeß der sozialen Organisation der Ich-Organismen in geographischhistorischen Einheiten (kollektive Raum-Zeit, kollektiver Lebensplan, Produktionsethos usw.).
Diese Reihenfolge entspricht dem Weg, den die psychoanalytische Forschung genommen hat.
Im übrigen verdanken diese Prozesse, so verschieden sie ihrer Struktur nach sind, einander ihr
Dasein und sind voneinander abhängig“ (ebd.: 52f).
Der Mensch sei in jedem Augenblick Organismus, Ich und Mitglied einer Gesellschaft und in allen drei Organisationsprozessen begriffen. Somit könnten
somatische Spannung, individuelle Angst und Gruppenpanik als verschiedene
41
Juliane Noack
Weisen, in denen Angst sich den jeweiligen Beobachtungsmethoden offenbare,
verstanden werden. Alle drei Prozesse seien innerhalb der Geschichte der Wissenschaft drei verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zugeordnet gewesen, die jeweils das untersucht hätten, was sie hätten isolieren, zählen und sezieren können. Dem somatischen Prozess habe sich die Biologie gewidmet, indem
sie den Organismus seziert oder Untersuchungen unterzogen habe. Der Gegenstand der Psychologie sei der Ich-Prozess gewesen, d.h. sie habe die geistige
Individualität mit Hilfe von Experimenten oder Befragungen erforscht. Den
Gesellschaftsprozess habe die Sozialwissenschaft durch die Übertragung sozialer
Aggregate in die Dimension statistischer Tabellen untersucht. Die jeweilige
Disziplin beeinflusse in allen Fällen die zu beobachtende Materie von vorneherein, „indem sie deren Gesamtlebenssituation aktiv auflöst, um einen isolierten
Teil ihren Instrumenten oder Konzepten zugänglich zu machen“ (Erikson 1999:
30).
Jede Einzelheit jedoch, die sich in einem dieser drei Prozesse als wichtig
erweise, sei offensichtlich für Details in den anderen Prozessen ebenfalls von
Bedeutung oder erhalte von dort her ihren Sinn, welcher wiederum durch seinen
Sinn in den anderen beiden Prozessen mitbestimmt werde. Für Erikson sind die
drei Organisationsprozesse drei Aspekte eines einzigen Prozesses, den des
menschlichen Lebens und deren gegenseitige Abhängigkeit bezeichnet er mangels anderer Begrifflichkeiten, wie er bedauernd festhält, als Relativität in der
menschlichen Existenz. Jedoch sei es unmöglich zu irgendeiner einfachen Reihenfolge und Kausalkette mit klarer Lokalisierung und umschriebenem Beginn
zu kommen und nur eine dreifache Buchführung bzw. ein systematisches
Imkreisgehen erhelle die Relevanzen und Relativitäten aller bekannten Daten.
Sowohl im wissenschaftlichen als auch im klinischen Zusammenhang bedeute
dieser Zusammenhang, dass jeder dieser drei Aspekte menschlicher Existenz
immer in seiner Beziehung zu und seiner Abhängigkeit von den anderen beiden
betrachtet werden müsse. Bei welchem Prozess die jeweilige Forschung ihren
Anfangspunkt nehme bzw. welches ihr Forschungsgegenstand sei, hänge sowohl
von der Disziplin als auch dem Paradigma des Forschers ab. Die Beziehung
dieser drei Prozesse lässt sich vom eriksonschen Standpunkt aus folgendermaßen
grafisch darstellen.
42
Erik H. Erikson
Forschungsfrage 1
Forschungsfrage 2
verstehen
erklären
somatischer
Prozess
Ursache
Ich-Prozess
Gesellschaftsprozess
Forschungsgegenstand
mögliche Wirkung
Abbildung 1: Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung (Noack 2005)
Entsprechend des Weges, den die psychoanalytische Forschung gegangen ist und
Eriksons wissenschaftstheoretischer Position (dazu Noack 2005), hat seine Theorie der psychosozialen Entwicklung ihren Anfangspunkt im biologischen bzw.
somatischen Prozess. Wie Freud geht auch Erikson davon aus, dass die mit jeder
Phase verbundenen Körpermodi jeweils ihre entsprechenden psychosozialen
Modalitäten besitzen. Somit gehen psychologische Eigenschaften aus körperlichen Aktivitäten hervor und entwickeln sich wie diese in einem Prozess progressiver Differenzierung. Hierin spiegelt sich eine Grundannahme seiner Theorie
wider, die des epigenetischen Prinzips, das ebenfalls biologischen Ursprungs ist
und auf das Psychosoziale erweitert wird. Zusammenfassend besagt es, dass
alles, was wächst, einen Grundplan hat und dass die Teile aus diesem Grundplan
heraus erwachsen, wobei jeder Teil seinen Zeitpunkt der speziellen Aszendenz
besitzt bis alle Teile entstanden sind, um ein funktionierendes Ganzes zu bilden.
Rein biologisch betrachtet werde das Kind mit einer Bereitschaft zu Gegenseitigkeits-Beziehungen geboren und entwickle seine Persönlichkeit, indem es mit
einem immer größeren Radius an Personen in Kontakt trete. Für Erikson ist der
Forschungsgegenstand der Ich-Prozess, den er als Resultat des Zusammenwirkens des biologischen und des gesellschaftlichen Prozesses betrachtet. Der Gesellschaftsprozess selbst wirke auf den Ich-Prozess und dieser wieder auf den
43
Juliane Noack
Gesellschaftsprozess zurück. Hierin spiegele sich nicht nur die sogenannte Relativität in der menschlichen Existenz wider, sondern auch Eriksons Verständnis
von Lebenszyklus, als zwei Kreise in einem: „den Zyklus einer Generation, der
sich in der nächsten schließt und den Kreislauf des individuellen Lebens, der zu
einem Abschluß kommt“ (Erikson 1966: 121).
Den Lebenszyklus unterteilt Erikson in acht (später neun; vgl. Erikson/Erikson 1998) psychosoziale Entwicklungsstadien mit je einer eigenen Thematik, die
grundsätzlich das ganze Leben hindurch bestehe, jedoch in einer bestimmten
Altersphase, d.h. einem Stadium, dominiere. Ein Stadium bedeutet nach Eriksons
Verständnis eine neue Konfiguration von Vergangenheit und Zukunft, eine neue
Kombination von Trieb und Abwehr, eine neue Gruppe von Fähigkeiten, die zu
einer neuen Gruppierung von Aufgaben und Möglichkeiten passen; es bedeutet
einen neuen Radius bedeutsamer Begegnungen. Eine Krise entwickle sich aus
einem Stadium, weil beginnendes Wachstum und Bewusstheit in einer neuen
Teilfunktion mit einer Verschiebung der Triebenergie einhergehen und außerdem
eine spezifische Verletzlichkeit in diesem Teil verursachen. In einer solchen
Krise schwanke das Individuum zwischen zwei Polen der betreffenden Thematik
und erst, wenn ein günstiges Verhältnis der beiden Pole erreicht sei, gelte die
entsprechende Entwicklungsstufe als erfolgreich durchschritten. Resultat einer
jeden Stufe seien sogenannte Stärken, die Erikson als grundlegende Tugenden
bezeichnet, um zu betonen, dass es ohne sie allen anderen Werten und Gütern an
Vitalität fehle. „Virtue“ (die Tugend) bedeute dabei gleichzeitig innewohnende
Stärke und aktive Qualität und eben nicht, wie Erikson immer wieder betont,
äußerliche Ornamente, die sich je nach Launen des ästhetischen oder moralischen Stils leicht hinzufügen oder wegnehmen ließen. Diese Stärken, denen
Erikson alltägliche Namen gegeben hat – Hoffnung, Wille, Entschlusskraft,
Kompetenz, Treue, Liebe, Fürsorge und Weisheit –, führten vonseiten des Individuums zum Erwerb der Fähigkeit die äußeren und inneren Gefahren des Lebens zu meistern, ein Individuum zu werden, die Welt zu verstehen und noch
Überschuss und Lebenskraft zu erübrigen. Kriterien, die für Erikson gleichsam
eine gesunde Persönlichkeit charakterisieren.
Die erste Entwicklungsphase, die orale, sei durch den Konflikt Urvertrauen
versus Urmisstrauen gekennzeichnet und die sich in dieser Phase entwickelnde
Stärke sei die Hoffnung. Die darauf folgende anale Phase werde von dem Konflikt Autonomie versus Scham und Zweifel beherrscht und führe zur Entwicklung des Willens. Initiative versus Schuldgefühl formuliere das Thema der Phase
der infantilen Genitalität und die sich hier entwickelnde Grundstärke sei die
Entschlusskraft. Die Krisenthematik der vierten Phase, d.h. der Latenzperiode
laute Leistung versus Minderwertigkeitsgefühl und erweitere die Grundstärken
um die der Kompetenz. Die fünfte Phase bzw. die Adoleszenz sei bestimmt
44
Erik H. Erikson
durch die Antithese von Identität und Identitäts- bzw. Rollenkonfusion und deren
Lösung führe zur Grundstärke der Treue. Liebe sei das Resultat der Lösung des
Konflikts Intimität versus Isolierung, der die sechste Phase des Lebenszyklus
beherrsche. Die siebte sei charakterisiert durch die Antithese zeugende Fähigkeit
versus Stagnation, aus deren Bewältigung die Stärke der Fürsorge resultiere. Der
das Alter beherrschende Konflikt sei durch die Pole Ich-Integrität versus Verzweiflung bestimmt und führe schließlich zur Grundstärke der Weisheit. Mithilfe
des Konzepts der Lebensphasen sei es Erikson möglich den gesamten Lebenslauf
als ein integriertes psychosoziales Phänomen darzustellen, anstatt dem zu folgen,
was man (in Analogie zur Teleologie) „Originologie“ nennen könne, das heißt
das Bestreben, den Sinn der Entwicklung immer wieder von einer Rekonstruktion der allerersten Anfänge abzuleiten (Erikson 1966: 102). Dennoch nimmt
Erikson an, dass jeder Grundkonflikt der Kindheit in irgendeiner Form im Erwachsenen weiterlebe, wobei die frühesten Stufen in den tiefsten Schichten aufbewahrt werden (Erikson 1988).
Auf das Wachstum der Persönlichkeit bezogen, auf das Erikson das epigenetische Prinzip als Modell anwendet, bedeute dies, dass in jedem Stadium des
Lebens eine solche Stärke bzw. Tugend einer sich erweiternden Gesamtheit
hinzugefügt und in jedes spätere Stadium reintegriert werde, damit sie im gesamten Lebenszyklus ihre Funktion übernehmen könne – wo und insofern Schicksal
und Gesellschaft es gestatten. Dem liege erstens die Annahme zugrunde,
„daß sich die menschliche Persönlichkeit im Prinzip gemäß bestimmter Schritte entwickelt, die
in der Bereitschaft der wachsenden Person vorgegeben sind, ihren sozialen Radius beständig zu
erweitern, seiner gewahr zu werden und mit ihm in Wechselbeziehung zu treten; und 2. daß die
Gesellschaft im Prinzip darauf eingerichtet ist, dieser Aufeinanderfolge von Möglichkeiten zur
Wechselwirkung gerecht zu werden und ihnen entgegenzukommen, und daß sie versucht, das
richtige Maß und die richtige Reihenfolge ihrer Entfaltung zu sichern und zu ermutigen“ (Erikson 1999: 265).
Die menschliche Persönlichkeit definiert Erikson als eine
„Verbindung von Fähigkeiten, die in ferner Vergangenheit gründen, mit Möglichkeiten, die in
der Gegenwart erahnt werden; eine Verbindung von vollkommen unbewußten, im individuellen Wachstum entwickelten Voraussetzungen mit sozialen Bedingungen, die im wechselvollen
Spiel der Generationen geschaffen und verändert wurden.“ (Erikson 1975: 14).
Insofern stellt Identität einen Teil der Persönlichkeit und gleichsam die letzte
psychosoziale Entwicklungsstufe des Ichs dar.
Erikson konzipiert die Entwicklung des Ichs parallel zu den Phasen der psychosozialen Entwicklung, wobei die Ich-Entwicklung in der Adoleszenz in ihre
letzte Stufe, die der Identitätsbildung trete, die sich dann über die gesamte Lebensspanne ziehe. Die erste der anderen beiden Stufen der psychosozialen Ent45
Juliane Noack
wicklung des Ichs sei die Introjektion und meine die primitive Einverleibung des
Bildes eines anderen. Die Integration dieses Bildes bedürfe einer befriedigenden
Wechselseitigkeit zwischen einer dauernden Bezugsperson und dem Kind, die
einen sicheren Pol des Selbstgefühls schaffe, von dem aus das Kind nach dem
anderen Pol greifen könne: nach seinen ersten Liebesobjekten. Auf der zweiten
Stufe, der Identifikation vergrößere sich das Umfeld der befriedigenden Wechselbeziehungen des Kindes auf vertrauenswürdige Vertreter einer sinnvollen
Rollenhierarchie, wie sie die in irgendeiner Familienform zusammenlebenden
Generationen böten. Die Identifikationen bezögen sich auf bestimmte überbewertete und kaum verstandene Körperteile, Fähigkeiten und Rollenerscheinungen, die nicht aufgrund ihres sozialen Wertes bevorzugt werden, sondern aufgrund der kindlichen Fantasie, die nur allmählich einer realistischen Bewertung
der sozialen Wirklichkeit weiche. Der Identifizierungsmechanismus sei jedoch
nur begrenzt brauchbar, da die bloße Addition der Identifikationen nicht zu einer
funktionsfähigen Persönlichkeit führe. Dies werde erst durch die dritte Stufe der
Ich-Entwicklung ermöglicht, nämlich der Identitätsentwicklung: „Sie schließt
alle bedeutsamen Identifizierungen in sich, aber sie verändert sie auch, um ein
einzigartiges und entsprechend zusammenhängendes Ganzes aus ihnen zu machen“ (Erikson 1988: 156). Der Prozess der Identitätsbildung konstituiere die
Identitätskrise der Adoleszenz, den das Individuum mit den jeweiligen Kindheitsidentifikationen seiner ersten vier Lebensphasen betrete: 1. Ich bin, was man
mir gibt. 2. Ich bin, was ich will. 3. Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen
kann und 4. ich bin, was ich lerne (Erikson 1974). Die Identitätsbildung lasse
sich als eine sich entfaltende Konfiguration beschreiben, die im Laufe der Kindheit durch sukzessive Ich-Synthesen und Umkristallisierungen allmählich aufgebaut werde:
„Es ist eine Konfiguration, in die nacheinander die konstitutionellen Anlagen, die Eigentümlichkeiten libidinöser Bedürfnisse, bevorzugte Fähigkeiten, bedeutsame Identifikationen, wirkungsvolle Abwehrmechanismen, erfolgreiche Sublimierungen und sich verwirklichende Rollen integriert worden sind“ (ebd.: 144).
Die Identitätsbildung wende einen Prozess gleichzeitiger Reflexion und Beobachtung an, der auf allen Ebenen des seelischen Funktionierens vor sich gehe,
wodurch sich der Einzelne selbst im Lichte dessen beurteile, wovon er wahrnehme, dass es die Art sei, in der andere ihn im Vergleich zu sich selbst und zu
einer für sie bedeutsamen Typologie beurteilen; während er ihre Art, ihn zu beurteilen, im Lichte dessen beurteile, wie er sich selbst im Vergleich zu ihnen und
zu Typen wahrnehme, die für ihn relevant geworden seien (Erikson 1988). Insofern sei die Ich-Identität „das Ergebnis der synthetisierenden Funktion an einer
der Ich-Grenzen nämlich jener ‚Umwelt‘, die aus der sozialen Realität besteht,
46
Erik H. Erikson
wie sie dem Kind während aufeinanderfolgender Kindheitskrisen übermittelt
wird“ (Erikson 1988: 208). Von prototypischer Bedeutung für den Prozess der
Identitätsbildung und für das Identitätsproblem sei das ganze Wechselspiel zwischen dem Psychologischen und dem Sozialen, dem Entwicklungsmäßigen und
dem Historischen, was sich nur als eine Art psychologischer Relativität verbegrifflichen lasse. Im Sinne einer Formel hält Erikson fest:
„Nun ein Gefühl der Identität zu haben, heißt, sich mit sich selbst – so wie man wächst und
sich entwickelt – eins fühlen; und es heißt ferner, mit dem Gefühl einer Gemeinschaft, die mit
ihrer Zukunft wie mit ihrer Geschichte (oder Mythologie) im reinen ist, im Einklang zu sein.“
(Erikson 1975, S. 29).
Insofern drücke der Begriff der Identität eine wechselseitige Beziehung aus, „als
er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt“ (Erikson
1975: 124). Beide Aspekte von Identität zusammengenommen offenbaren nach
Erikson (1988: 18), warum das Problem der Identität so schwer zu fassen sei,
„denn wir haben es mit einem Prozeß zu tun, der im Kern des Individuums ‚lokalisiert‘ ist und doch auch im Kern seiner gemeinschaftlichen Kultur, ein Prozeß,
der faktisch die Identität dieser beiden Identitäten begründet.“ Da Erikson Identität als Prozess konzipiert und sich gegen ein statisches Bild von Identität wendet,
lehnt er auch die Idee ihrer Unveränderbarkeit ab. Er vertritt die Auffassung,
„daß Identität nicht ein abgeschlossenes inneres System bedeutet, das unzugänglich für Veränderungen wäre, sondern vielmehr einen psychosozialen Prozeß, der
im Individuum wie in der Gesellschaft gewisse wesentliche Züge aufrechterhält
und bewahrt“ (Erikson 1966: 87).
3
Bezug zum Gesamtwerk
Erikson selbst betrachtet „Kindheit und Gesellschaft“ (1950) als sein Hauptwerk,
auf das er sich im weiteren Verlauf seines Schaffens immer wieder bezieht und
das bereits viele seiner Kernideen enthält. Es thematisiert die vielschichtige Beziehung zwischen individueller Entwicklung und kulturellem und historischem
Kontext und den Einfluss, den Kindererziehung und Bildung auf diesen Prozess
haben. Darüber hinaus führt es in verschiedene andere Themen ein, wie beispielsweise seine Konzepte des Lebenszyklus und der Identität, die er erst in
späteren Arbeiten voll entfaltet. Dieses Werk habe seine Wurzeln in der Praxis
der Psychoanalyse und die wichtigsten Kapitel beruhten „auf spezifischen Situationen, die nach Deutung und Abhilfe verlangten: Angst bei kleinen Kindern, die
apathische Passivität der amerikanischen Indianer, psychische Verwirrung von
47
Juliane Noack
Kriegsteilnehmern, die Arroganz der jungen Nationalsozialisten“ (Erikson 1999:
11). Solche Deutungen hätten zu seinen Überlegungen bezüglich der Identität,
ihrer Entwicklung und ihren möglichen Störungen geführt, die Erikson in seinem
zweiten Buch „Der junge Mann Luther“ (1958) auf eine Lebensgeschichte anwendet. Nachfolger von „Kindheit und Gesellschaft“ ist sein Werk „Jugend und
Krise“ (1968), in dessen Vorwort er diese drei Bücher als nahe Verwandte bezeichnet, die Ähnlichkeiten und sogar Wiederholungen enthielten (Erikson 1968,
1988).
Während der 18 Jahre, in denen dieses Trio erscheint, veröffentlicht Erikson
außerdem das Buch „Identität und Lebenszyklus – Drei Aufsätze“ (1959). Das
ist insofern Eriksons Schlüsselwerk, als es die Hauptthemen seines Schaffens
behandelt, nämlich den Lebenszyklus, d.h. psychologisches Wachstum und lebenslange Entwicklung, psychosoziale Identität und psychohistorische biografische Forschung, d.h. die Erforschung des Individuums vor dem Hintergrund
seiner Zeit. Es handelt sich um eine Wiederveröffentlichung ausgewählter Aufsätze, nach denen immer wieder als Quellenmaterial gefragt wurde „und zwar so
beständig und von so verschiedenen Berufszweigen her, daß dies auf ein brennendes ‚psychologisches Problem‘ deutet“ (Erikson 1974: 7). Seine weiteren ins
Deutsche übersetzten Bücher, die häufig aus überarbeiteten und unter einem
bestimmten Thema organisierten Aufsätzen bestehen, stellen Konkretisierungen
dieser Konzepte dar, wobei die Titel die Thematik erkennen lassen: „Einsicht
und Verantwortung: Die Rolle des Ethischen in der Psychoanalyse“ (1964),
„Dimensionen einer neuen Identität“ (1974), „Lebensgeschichte und historischer
Augenblick (1975), Kinderspiel und politische Phantasie: Stufen in der Ritualisierung der Realität“ (1977) und „Der vollständige Lebenszyklus“ (1982). Eine
weitere psychohistorische Studie stellt sein 1969 erschienenes Werk „Gandhis
Wahrheit“ dar.
Das Buch „Dimensionen einer neuen Identität“ nimmt meines Erachtens eine Schlüsselposition ein (vgl. Noack 2005). Bei dieser Arbeit handelt es sich um
die Buchfassung der Jefferson-Vorlesung, die Erikson am 1. und 2. Mai 1973 in
Washington gehalten hat. Erikson zeigt aus psychoanalytischer Perspektive spezifische Züge religiöser, ethischer und politischer Art der Person Thomas Jefferson, dem dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten, auf, die zusammengenommen den bestimmten Typus der amerikanischen Identität konstituierten.
Außerdem widmet er sich den aktuellen Problemen einer „neuen Identität“ in
einer Zeit, in der alte Legitimationen brüchig geworden seien. Den Begriff „neue
Identität“ bezieht er vor diesem historischen Hintergrund darauf, dass sich aus
den verschiedenen nationalen Identitäten der nach Amerika ausgewanderten
Menschen, die sich auf diesem neuen Kontinent niedergelassen hätten, eine
„neue“ Nation mit einer eigenen „neuen“ Identität habe bilden müssen, d.h. „aus
48
Erik H. Erikson
den regionalen und generationalen Polaritäten und Widersprüchen einer Nation
von Einwanderern und Wanderern einen amerikanischen Charakter zu entwickeln“ (Erikson 1975: 66).
Erikson benutzt das Bild der proteischen Persönlichkeit, um zu beschreiben,
welche persönlichen Eigenschaften förderlich seien, um einer solchen historischen Situation gewachsen zu sein. Proteus sei eine Figur, die viele Gestalten
annehmen könne und bezeichne „einen vielseitigen und universell begabten und
kompetenten Menschen, einen Menschen, der in vielerlei Gestalt auftritt, aber
gleichwohl in einer wahren Identität ruht“ (ebd.: 56). Die historische Situation,
der Jefferson gegenübergestanden habe, habe zwar einerseits die Möglichkeiten
geboten, eine neue Nation selber „zu machen“, andererseits aber auch deren
Verwirklichung verlangt. Eine Aufgabe, die einen proteischen Charakter voraussetze, um den damit implizit einhergehenden Selfmademen“-Anspruch gerecht
werden zu können. Denn dadurch, dass die proteische Persönlichkeit viele Rollenbilder subsumiere, vereine sie auch die jeweils damit verbundenen Kompetenzen, deren Fülle die Möglichkeiten des „Selbermachens“ charakterisieren. Die
proteische Persönlichkeit spiegele die Situation der neu entstehenden amerikanischen Nation wider: Was im Großen die einzelnen Nationen sind, die sich zu
einem Nationalcharakter haben entwickeln sollen, deren Erbauer (ebd.: 48) Jefferson gewesen sei, entspreche im Kleinen den einzelnen sich widersprechenden
Rollen, die von einem Ich organisiert würden. Erikson entwickelt hier als Reaktion auf seine Erkenntnis, dass die Umwelt ständigem Wandel unterworfen ist,
auf den ein aktives Ich reagieren können muss, das Konzept der proteischen
Persönlichkeit, d.h. einer Persönlichkeit, die in vielerlei Gestalten auftreten kann.
Obwohl im Zusammenhang mit Jefferson und seiner Zeit entwickelt, kann
sich Erikson nicht vor dem erkenntnistheoretischen Gewinn verschließen, den
dieses Konzept für seine eigene Epoche, die 70er Jahre, besitzt. So entfaltet er es,
wenn auch zögerlich, im zweiten Teil des Buches und bezieht es auf seine Realität und Aktualität. Das ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Erstens
spiegelt sein Ringen um einen theoretischen Rahmen, der dem Wandel und der
Veränderung des Wandels (Erikson 1988) und der damit verbundenen Konsequenzen sowohl für das Ich als auch die Gesellschaft gerecht wird, die Grenzen
moderner Erklärungsansätze menschlichen Lebens wider. Insofern begründet
Erikson besonders in diesem Buch die Anschlussfähigkeit seines Gesamtwerkes
an die sogenannte Post-Moderne, ohne jedoch in postmoderne Beliebigkeit zu
verfallen. So sollen seine Fragen am Ende exemplarisch zeigen, was passiere,
wenn „das Spiel mit verschiedenen Rollen zum Selbstzweck wird, mit Erfolg
und Prestige belohnt wird und einen Menschen verführt, die in ihm angelegte
Kernidentität zu verdrängen“ (ebd.: 121), oder wie sich diese proteischen Menschen gegenüber ihren eigenen Nachkommen verhalten:
49
Juliane Noack
„Könnte ihr Wunsch, stets nur Varianten ihrer selbst zu reproduzieren, nicht dazu führen, daß
sie den erwachsenen Wunsch neue Wesen zu erzeugen (oder für sie zu sorgen), verdrängen –
eine Verleugnung, die sich durch den Hinweis auf die Notwendigkeit die Weltbevölkerung zu
begrenzen, leicht rationalisieren lässt?“ (Ebd.: 122).
Trotz aller scheinbaren Wahlfreiheiten betont Erikson, dass es sich dabei weniger um ein Privileg handele, denn in allen Gesellschaften würden dem dominanten männlichen Typus besondere Chancen und Vorteile geboten, damit er selber
seine Identität den engen und gleichförmigen Bedingungen des Systems gemäß
definiere. „Und die, die nicht die Wahl haben, anderes zu sein, können auch
nicht frei entscheiden zu bleiben, was sie sind“ (ebd.: 130).
Aus einem weiteren Grund ist das Konzept der proteischen Persönlichkeit
bemerkenswert, denn hier definiert Erikson basierend auf seinen Überlegungen
und Theorien Identität positiv, wohingegen er diese oftmals – ausgehend von
seinem klinischen Standpunkt – negativ fasst, indem er deren Gegenstück, nämlich die Identitätskrise, beschreibt. Dies führt ihn wiederum an die Grenzen moderner Theoriebildung:
„Was heute als proteische Persönlichkeit gilt, scheint ein Versuch adoleszenter Persönlichkeiten – wie sie Amerika immer hervorgebracht hat – zu sein, durch eine Haltung bewußter Veränderlichkeit mit dem ungeheuren Wandel fertig zu werden, ein Versuch, durch Spielen mit
der Veränderung die Initiative zu behalten“ (ebd.: 121).
Wer jedoch für dieses Spiel besonders begabt sei, könne es zu einem wesentlichen Element seiner Identität machen und dadurch ein neues Gefühl von Zentralität oder Originalität gewinnen. Die Vorstellung, dass alles relativ sei, „hat den
Charakter der Identitätsbildung in der Gegenwart zweifellos in vielerlei Hinsicht
geprägt, in subtiler Weise wie in grober“ (ebd.: 120). Seine Konzeptionalisierung
der proteischen Persönlichkeit entwickelt Erikson bereits vor mehr als 30 Jahren
und nimmt damit Ansätze postmoderner Identitätstheorien vorweg. Vielleicht
inszeniert Erikson seine Überlegungen zur proteischen Persönlichkeit deshalb als
spezifisch amerikanisch und abhängig von der Immigrationsthematik, um sie so
relativieren zu können. Meiner Meinung nach dokumentiert das, in Anlehnung
an seine eigene Argumentation hinsichtlich mancher Briefe von Freud an Fließ,
„wie weit ein Entdecker geht, um nur ja nicht leichtfertig die traditionellen Wege
zu ignorieren; wie er diese Wege bis zur Absurdität verfolgen kann“ (Erikson
1957: 21).
50
Erik H. Erikson
4
Kritische Einschätzung
Erikson wurde besonders durch seine Konzepte des Lebenszyklus und der Identität bekannt – Themen, die aus seiner persönlichen Geschichte resultieren. Insofern ist sein Werk dadurch gekennzeichnet, dass es stark dem Muster und den
Erfahrungen seines Lebens folgt. Erikson betont die Wichtigkeit der Erforschung
von Identität zu seiner Zeit, im Gegensatz zur Wichtigkeit der Erforschung der
Sexualität zu Freuds Zeit. Zwar bewegt er sich von der Instinkttheorie als solcher
weg zu Konzepten der Ich-Entwicklung und Identitätsbildung hin, aber in einer
Art, die sich als lineare Weiterentwicklung der freudschen Theorie bezeichnen
lässt (Stevens 2008). Damit verbunden ist die Kritik orthodoxer Psychoanalytiker an seiner (Über-)Betonung des sozialen Einflusses. Von anderer Seite wurde
seine Arbeit als konservativ und in westlichen Wertesystemen verhaftet kritisiert,
was in Richtung feministischer Kritik weist, wonach seine Analyse die Tendenz
habe, männliche Erfahrungen als universal gültig zu betrachten. Darüber hinaus
wurde die wissenschaftliche Qualität seiner Arbeit in Frage gestellt, wie beispielsweise ihre Validität oder theoretische Schlüssigkeit, aber auch seine Aufrichtigkeit in autobiografischen Bezügen, insbesondere seit Erscheinen der Enthüllungsbiographie Friedmanns (1999).
Eriksons Errungenschaft wiederum liegt darin, die freudsche Theorie vertieft und erweitert zu haben, ohne sie fundamental zu verändern. Diese Loyalität
geht, wie weiter oben gezeigt, so weit, dass Erikson sich gegenüber sich aufdrängenden Erkenntnissen „verschloss“, wenn diese ihn die traditionellen psychoanalytischen Wege verlassen machen sollten. Durch diese Perspektive kommen die mächtigsten Potenziale der Psychoanalyse in seinem Werk zur besonderen Entfaltung: ihr hermeneutisches und ihr integratives Potential (Stevens
2008). Das letzte meint die Notwendigkeit einen integrativen Blick einzunehmen
und sich allen Aspekten zu widmen, die an der Konstruktion der Persönlichkeit
beteiligt sind. Diesem Anspruch wird Erikson durch seine interdisziplinäre Arbeitsweise gerecht und er findet Ausdruck in seinem Konzept der dreifachen
Buchführung. Darüber hinaus kennzeichnet die Psychoanalyse eine hermeneutische Qualität, d.h. sie bietet Einsichten in die vielschichtigen Feinheiten menschlichen Da-Seins und So-Seins. Eriksons eigener impressionistischer künstlerischer Stil kommt dieser Qualität besonders entgegen, indem er nicht daran interessiert ist dogmatische Gesetze aufzustellen, sondern den Sinn einer Situation
zu verstehen und Einsicht in deren komplexe Faktoren und Symptome zu gewinnen. Bezogen auf seine psychosoziale Identitätstheorie bedeutet das, dass ihn das
ganze Muster bzw. Bild von Identität beschäftigt und damit konsequenterweise
der gesamte Lebenszyklus, aus dem Identität hervorgeht und vor dessen Hintergrund sich ihre Entwicklung vollzieht.
51
Juliane Noack
Primärliteratur
Erikson, Erik H. (1957): Trieb und Umwelt in der Kindheit. In: Freud in der
Gegenwart. Vorträge an den Universitäten Frankfurt und Heidelberg. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, S. 112-153.
Erikson, Erik H. (1966): Kinderspiel und politische Phantasie. Stufen in der
Ritualisierung der Realität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Erikson, Erik H. (1974): Identität und Lebenszyklus: Drei Aufsätze. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Erikson, Erik H. (1975): Dimensionen einer neuen Identität. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Erikson, Erik H. (1982): Lebensgeschichte und historischer Augenblick. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Erikson, Erik H. (1983): Interviewpartner. Der Lebenszyklus und die neue Identität der Menschheit. In: Psychologie Heute, 10 (12), S. 28-41.
Erikson, Erik H. (1988): Jugend und Krise: Die Psychodynamik im sozialen
Wandel. Stuttgart: Klett.
Erikson, Erik H. (199913): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett.
Erikson, Erik H./Erikson, Joan Mowat (1998): The Life Cycle Completed: Extended Version with New Chapters on the Ninth Stage of Development.
New York: W.W. Norton & Company. Inc.
Sekundärliteratur
Bloland Erikson, Sue (2005): Im Schatten des Ruhms: Erinnerungen an meinen
Vater Erik H. Erikson. Gießen: Psychosozial.
Coles, Robert (1970): Erik H. Erikson: the Growth of His Work. Boston: Little
Brown.
Coles, Robert (2000) (Hrsg.): The Erik Erikson Reader. New York: W.W. Norton & Company. Inc.
Conzen, Peter (1990): Erik H. Erikson: Leben und Werk. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer.
Conzen, Peter (1996): Erik H. Erikson und die Psychoanalyse. Systematische
Gesamtdarstellung seiner theoretischen und klinischen Positionen.
Dissertation. Heidelberg.
Friedman, Lawrence J. (1999): Identity’s Architect: A Biography of Erik H.
Erikson. Harvard University Press.
52
Erik H. Erikson
Hofmann, Hubert/Stiksrud, Arne 2004):Dem Leben Gestalt geben. Erik H. Erikson aus interdisziplinärer Sicht. Wien: Krammer.
Noack, Juliane (2005): Erik H. Eriksons Identitätstheorie. Oberhausen: Athena.
Stevens, Richard (2008): Erik H. Erikson: explorer of identity and the life cycle.
New York: Palgrave MacMillan.
53
Zur anthropologischen Notwendigkeit des Verkennens
Jacques Lacans „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“
Birgit Althans
Einleitung
Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan nimmt in einer Sammlung der
Identitätstheorien sicherlich eine schwierige Position ein: Allzusehr betont er bei
seiner Setzung der entwicklungspsychologischen Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem eigenen Spiegelbild das „Fiktive“ der menschlichen Identitätskonstruktion; die Logik der „Verkehrung“, das Verkennen des eigenen (Spiegel-)
Bildes von sich mit dem Ich. Seine Identitätskonstruktion im Spiegel ist die einer
konstitutiven Spaltung, – als ein eben „nicht-identisch-Sein-mit-sich“ –, die das
menschliche Individuum Zeit seines Lebens nicht mehr überwinden, sondern nur
anerkennen kann. Hegel und seine Konzeption des menschlichen Selbstbewusstseins drängen sich hier nicht zufällig auf:
„Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung. […] Aber von besonderer Wichtigkeit ist gerade, dass diese Form vor
jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann, oder vielmehr: die nur asymptotisch
das Werden des Subjekts erreichen wird, wie erfolgreich immer die dialektischen Synthesen
verlaufen mögen, durch die es, als Ich (je), seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muss“ (Lacan 1949/1991: 64).
Diese Feststellung der menschlichen Gebundenheit ans eigene Spiegelbild ist
selbstverständlich keine Erfindung des 20. Jahrhunderts und seiner Sozialtechniken des „impression managements“ (Goffman 1969), erst recht keine des 21.
Jahrhunderts, obwohl sich hier Bezüge zu den neuen medialen Prothesen der
Selbstpräsentation produktiv machen lassen. Schon Sigmund Freud griff bei
seiner theoretischen Konstruktion der psychoanalytischen Bedeutung der narzisstischen Phasen der menschlichen Entwicklung auf die Spiegel-Mythen der Antike, auf die Metamorphosen Ovids, zurück, – wie im Übrigen auch Marshall
McLuhan in der Konzeption seines Medien-Begriffs aus anthropologischer Per55
Birgit Althans
spektive (1964/1992). Auch das 19. Jahrhundert hat bedeutende Erzählungen zur
Problematik der Auseinandersetzung mit dem eigenen Spiegelbild geliefert:
Heinrich von Kleist mit seinem Text „Über das Marionettentheater“(1810), Lewis Carroll mit „Alice hinter den Spiegeln“(1871) sowie Oscar Wilde mit „Das
Bildnis des Dorian Gray“ (1891). Lacans Text schließt nicht nur an diese literarischen Problematisierungen, sondern auch an die zeitgenössischen Beiträge der
Entwicklungspsychologie sowie an Anna Freuds Fortschreibung der psychoanalytischen Theorie an. Im Folgenden werde ich deshalb zunächst Lacans Entwurf
des Spiegelstadiums skizzieren (1) und ihn dann in Bezug zur ihm vorangegangenen „klassischen“ Spiegel-Literatur setzen (2), um von diesem Punkt ausgehend mit einem Blick auf die aktuell durch Mediengebrauch erweiterten Praxen
und Praktiken der Auseinandersetzung mit dem Spiegelbild zu schließen (3).
1
Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion – wie sie
uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (1949)
Lacan platziert sich und seine Auffassung der Psychoanalyse mit diesem Text –
eine Reproduktion des schon 1936 vor der psychoanalytischen Gesellschaft gehaltenen Vortrags zum gleichen Thema – sorgfältig zwischen verschiedene Stühle, d.h. zwischen etablierte Denkstile seiner Zeit, wie schon die einleitenden
Sätze deutlich machen: Er stellt nicht nur seine psychoanalytische Erfahrung
„jeder Philosophie entgegen, die sich unmittelbar vom cogito ableitet“ (Lacan
1949/1991: 63), womit offenbar die Phänomenologie Jean-Paul-Sartres gemeint
ist (Borch-Jacobson 1991: 68f.), sondern knüpft auch an die Empirie der Entwicklungspsychologie seiner Zeit nur ironisch an, tatsächliche Autorschaften
hier wohlweislich verkehrend:
„Vielleicht erinnern sich einige von Ihnen an den Verhaltensaspekt, von dem wir ausgehen,
und den wir mittels einer Tatsache der vergleichenden Psychologie erhellen: das Menschenjunge erkennt auf einer Altersstufe von kurzer, aber durchaus merklicher Dauer, während es
vom Schimpansenjungen an motorischer Intelligenz übertroffen wird, im Spiegel bereits sein
eigenes Bild als solches. Dieses Erkennen wird signalisiert durch die illuminative Mimik des
Aha-Erlebnisses, in dem – als einem wichtigen Augenblick des Intelligenz-Aktes – sich nach
Köhler die Wahrnehmung der Situation ausdrückt. Dieser Akt erschöpft sich nicht – wie beim
Affen, im ein für allemal erlernten Wissen von der Nichtigkeit des Bildes, sondern löst beim
Kind sofort eine Reihe von Gesten aus, mit deren Hilfe es spielerisch die Beziehung der vom
Bild aufgenommenen Bewegungen zur gespiegelten Umgebung und das Verhältnis dieses ganzen virtuellen Komplexes zur Realität untersucht, die es verdoppelt, bestehe sie nun im eigenen
Körper oder in den Personen oder sogar in den Objekten, die sich neben ihm befinden. Dieses
Ereignis kann – wir wissen es seit Baldwin – vom sechsten Monat an ausgelöst werden; seine
Wiederholung hat – als ein ergreifendes Schauspiel – unser Nachdenken oft festgehalten: vor
dem Spiegel ein Säugling, der noch nicht gehe, ja nicht einmal aufrecht stehen kann, der aber,
56
Jacques Lacan
von einem Menschen oder Apparat (in Frankreich nennt man ihn „trotte-bébé“) umfangen, in
einer Art jubilatorischer Geschäftigkeit aus den Fesseln eben jener Stütze aussteigen, sich in
eine mehr oder weniger labile Position bringen und einen momentanen Aspekt des Bildes noch
einmal erhaschen will, um ihn zu fixieren. Solche Aktivität behält für uns bis zum Alter von
achtzehn Monaten den Sinn, den wir ihr geben. Sie verrät nicht nur einen libidinösen Mechanismus, der bis dahin problematisch geblieben ist, sondern auch eine ontologische Struktur der
menschlichen Welt, die in unsere Reflexionen über paranoische Erkenntnis eingeht“ (Lacan
1949/1991: 64).
Was Lacan hier – mit vermeintlichem Bezug auf die Entwicklungspsychologie
Baldwins1, – postuliert, ist die phantasmatische, „spekulative“ Konstitution der
menschlichen Identität; der Spiegel ermöglicht die Vorwegnahme der Beherrschung des kindlichen Körpers und das Kind feiert dies mit einer Jubelreaktion,
zu einem Zeitpunkt, da es noch nicht über seinen Körper verfügt. Samuel Weber
interpretiert die Identitätskonstitution in Lacans „Spiegelstadium“ als notwendige Fiktion in einer schwindelerregenden Situation:
„Der Mensch ist also viel früher in der Lage, die Einheit seines Bildes zu perzipieren als diese
Einheit an seinem eigenen Körper motorisch herzustellen. Der Blick eines anderen Menschen –
etwa der Mutter oder der Pflegeperson – oder gar seines eigenen Spiegelbildes wird daher zur
Matrix eines Gefühls der Einheit, Identität und Dauerhaftigkeit, das seine körperliche Existenz
ihm gerade nicht geben kann. Mehr noch, die Identifizierung einer gleichgearteten Gestalt konstituiert sich als das exakte Gegenteil der Turbulenz und der mangelhaften Koordination, die
das Kind unmittelbar erlebt. Die Jubelreaktion des Kindes vor seinem einmal erkannten Spiegelbild ist ein Zeichen nicht der Bestätigung der Identität des Subjekts, sondern der Konstitution dieser Identität selbst“ (Weber 2000: 29f.).
Betont wird hier das Moment der Verkehrung, der Reflexion, das hier weniger
kognitions- oder bildungstheoretisch2, sondern zunächst einmal ganz mathematisch gefasst ist: Es ist nicht der Körper, die Sinnes- und Leibeserfahrung, die
1 „Diese [die Theorie des Spiegelstadiums; B.A.] ist in Wirklichkeit schon 1931-32 durch den
Psychologen Henri Wallon detailliert vorgestellt worden, der sich seinerseits auf die vorangegangenen Arbeiten von Darwin, Guillaume, Preyer und Charlotte Bühler stützte. Außerdem zog Wallon daraus Folgerungen, die sehr nahe bei Lacan lagen. Ebenso wie Lacan aus dem Spiegelstadium ‚einen Spezialfall der Funktion der Imago‘ machte, ‚die darin besteht, daß sie eine Beziehung
herstellt zwischen der Innenwelt und der Umwelt’ (Lacan 1949/1991: 66), so sah Wallon in ihm
‚nur eine mehr oder weniger episodische Handlungsweise‘ unter anderen, die dem Kind helfen,
‚sich als einen Körper unter Körpern‘, als ein Wesen unter Wesen zu erfassen. Wenn er also bemerkte, dass das Baby jedes Mal in den Spiegel schauen will, wenn man es mit seinem Namen
anredet, so schrieb er es der allgemeinen Notwendigkeit zu, die das Kind sein ‚Eigenes erfassendes (proprioceptif) Ich‘ durch ein ‚Äußeres erfassendes (extéroceptif) Bild‘ hindurch wahrnehmen
lässt“ (Wallon 1933/1949 zit.n. Borch-Jacobson 1999: 58f.).
2 Lacan knüpft jedoch durch seine theoretischen Bezugnahmen an Hegel, aber vor allem an Martin
Heidegger, in seiner später weiterentwickelten Theorie des Imaginären an den deutschen Bildungsbegriff an (vgl. Borch-Jacobson 1999: 75-79).
57
Birgit Althans
dem Subjekt zu seiner Identität verhilft, sondern nur das Bild, das ihm der Spiegel von seinem Körper gibt. Das Bild, und nicht sein Körper ist es, mit dem das
Kind sich identifiziert, weil ihm eine anwesende andere Person durch ihre Reaktion versichert: „Das bist Du.“ Und dieser gespiegelte Körper, so Lacan, ist dem
Kind fremd, gerade weil er ihm ähnelt. Dazu noch einmal Weber:
„Das Ich demnach konstituiert sich erst durch die Identifikation mit einem Bild, dessen Andersheit zwar übergangen wird in der Konstatierung der Ähnlichkeit, aber weiterhin wirksam
bleibt, weil es gerade die Andersheit war, welche die Identifikation motiviert hat. Denn es ist
nur die antizipierte motorische und mentale Einheit, die in der Wahrnehmung des Bildes visuell vorgestellt wird, während sie dem Kind noch völlig fehlt, die jene Wirkung des Spiegelbildes und die dadurch bedingte Entstehung des Ich ermöglicht. Das Bild ist anders, dem Kind heterogen, weil alle dessen entscheidenden Attribute: Einheit, Festigkeit, Dauerhaftigkeit vom
Kind am eigenen Körper als Mangel erlebt werden. Im Falle des Spiegels – obwohl das Bild
nicht ein Spiegelbild zu sein braucht, um seine identifikatorische Faszination aus[zu]üben zu
können – kommt noch die umgekehrte Symmetrie als zusätzliches Moment der Andersheit dazu. Alle diese Momente tragen dazu bei – so Lacan im Spiegelaufsatz – das Ich in einer Dimension der Fiktion zu situieren, die wesentlich durch ihren illusionären Charakter bestimmt
ist und die eine entfremdende Wirkung auf die weitere Entwicklung und Existenz des Subjekts
ständig ausüben wird“ (Weber 2000: 30).
Auf die besondere Fremdheit des eigenen Körperbildes hat schon Freud, nicht
nur in der „Traumdeutung“3, sondern besonders prägnant in seiner Abhandlung
über „Das Unheimliche“, hingewiesen:
„Ich saß allein im Abteil des Schlafwagens, als bei einem heftigeren Ruck der Fahrtbewegung
die zur anstoßenden Toilette führende Tür aufging und ein älterer Herr im Schlafrock, die Reisemütze auf dem Kopfe, bei mir eintrat. Ich nahm an, dass er sich beim Verlassen des zwischen
zwei Abteilen befindlichen Kabinetts in der Richtung geirrt hatte und fälschlich in mein Abteil
gekommen war, sprang auf, um ihn aufzuklären, erkannte aber bald verdutzt, dass der Eindringling mein eigenes, vom Spiegel in der Verbindungstür entworfenes Bild war. Ich weiß
noch, daß mir die Erscheinung gründlich mißfallen hatte" (Freud 1919/1970: 270).
Die unerwartete Begegnung mit dem eigenen eigentlich vertrauten Spiegel-Bild
– im späten Mannesalter – wirkt deshalb so erschreckend, fremd, „unheimlich“,
so Freuds eigene Interpretation in seinem Aufsatz, weil dieses Bild auf die
3 Hier betont Freud, z.B. in dem Abschnitt „Der Verlegenheitstraum der Nacktheit“, die Abhängigkeit und Interpendenz der eigenen Wahrnehmung des (unbekleideten) Körpers von dem Blick unbeteiligter Personen. „Es handelt sich im wesentlichen um die peinliche Empfindung von der Natur der Scham, daß man seine Nacktheit, meist durch Lokomotion verbergen möchte und es nicht
zustande bringt. […] Die Leute, vor denen man sich schämt, sind fast immer Fremde mit unbestimmt gelassenen Gesichtern. Niemals ereignet es sich im typischen Traum, daß man wegen der
Kleidung, die einem selbst solche Verlegenheit bereitet, beanstandet oder nur bemerkt wird“
(Freud 1900/1987: 206).
58
Jacques Lacan
scheinbar „überwundene“ Etappe der psychischen Entwicklung verweist, auf das
von seinen Nachfolgern entdeckte Spiegelstadium.
Das Kind muss sich im Verlauf seiner Identitätsentwicklung dann seinem
Spiegelbild entfremden, gewahr werden, dass sein Bild seiner selbst ihm eben
nicht gehört, dass es in einem Außen existiert, über das nicht verfügt werden
kann – eben eine Existenz als Doppelgänger führt. Lacan beschreibt diesen Vorgang als „asymptotisches“ „Werden des Ichs“, als „dialektische Synthese“,
„durch die es, als (je), seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität
überwinden muß“ (Lacan 1991: 64). Der Rekurs auf Hegel ist hier mehr als offensichtlich: Das Kapitel VI.B. der „Phänomenologie des Geistes“, „Der sich
entfremdete Geist. Die Bildung; B.I.a: Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit“ verdeutlicht diese Konzeption:
„Wodurch also das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung. Seine wahre
ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seins. […]
Diese Individualität bildet sich zu dem, was sie an sich ist, und erst dadurch ist sie an sich und
hat wirkliches Dasein; soviel sie Bildung hat, soviel Wirklichkeit und Macht“ (Hegel
1807/1996: 364; Herv. i. Org., B.A.).
Lacan weist aus der Perspektive der psychoanalytischen Erfahrung jedoch darauf
hin, dass diese dialektischen Identitätsbildungsprozesse der notwendigen Entfremdung von den Individuen selbst keineswegs „natürlich“, sondern im Kontext
von Paranoia, Zwangsneurose, Hysterie sogar als sehr bedrohlich erfahren werden können; gerade in diesen Kontexten treten sie besonders deutlich hervor. Die
psychoanalytische Praxis, und bei Lacan in besonderem Maße die psychiatrische
Klinik, zeigt, dass die Ich-Werdung, beim Übergang vom Spiegel-Ich (je spéculaire) zum sozialen Ich (je social) bis hin zum entfremdeten Ich (moi) mit seinen
konstitutiven Verkennungen als höchst bedrohlicher Kampf erlebt werden kann:
„Die Funktion des Spiegelstadiums erweist sich nun als ein Spezialfall der Imago, die darin besteht, dass sie eine Beziehung herstellt zwischen dem Organismus und seiner Realität – oder,
wie man zu sagen pflegt, zwischen der Innenwelt und der Umwelt. […] Diese Entwicklung
wird erlebt als eine zeitliche Dialektik, welche die Bildung des Individuums entscheidend als
Geschichte projiziert: das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der
räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von
einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen
werden. So bringt der Bruch des Kreises von der Innenwelt zur Umwelt die unerschöpfliche
Quadratur der Ich-Prüfungen (récolements du moi) hervor. […] Dieser zerstückelte Körper,
dessen Begriff ich ebenfalls in unser System theoretischer Bezüge eingeführt habe, zeigt sich
regelmäßig in den Träumen, wenn die fortschreitende Analyse auf eine bestimmte Ebene aggressiver Desintegration des Individuums stößt. […] diese Form erweist sich als greifbar im
59
Birgit Althans
Organischen selbst, an den Bruchlinien nämlich, welche die phantasmatische Anatomie umreißen und offenbar werden in den Spaltungs- und Krampfsymptomen, in hysterischen Symptomen“ (Lacan 1991: 66f.).
Soweit Lacans theoretische Konzeption, die hier, wie ich meine, interessante
Anknüpfungspunkte für die neuen Praktiken der medialen Selbstrepräsentation
setzt. Auf seine Setzung der „orthopädischen“ Form des Körpers im Spiegel
werde ich deshalb im dritten Abschnitt noch einmal zurückkommen. Zunächst
möchte ich jedoch Lacans Konstruktion des Spiegelstadiums mit den literarischen Klassikern zusammenführen, die in seinen Setzungen m.E. immer implizit
mitschwingen.
2
Die Klassiker: Ovid, Kleist, Carroll, Wilde
2.1 Ovid
Ovid beschreibt in seinen Metamorphosen bekanntermaßen die Figur des, vor
der in Liebe zu ihm entbrannten Nymphe Echo, flüchtenden Jünglings Narcissus.
Dieser verfällt, während er an einem Quell trinkt, seinem eigenen Bild:
„Während er trinkt, erblickt er das Spiegelbild seiner Schönheit, wird von ihr hingerissen, liebt
eine körperlose Hoffnung, hält das für einen Körper, was nur Welle ist. Er bestaunt sich selbst
und verharrt unbeweglich mit unveränderter Miene wie ein Standbild aus parischem Marmor.
Am Boden liegend, betrachtet er seine Augen – sie gleichen einem Sternenpaar–, das Haar, das
eines Bacchus oder eines Apollo würdig wäre, die bartlosen Wangen, den Marmorhals, die
Anmut des Gesichts, die Mischung von Schneeweiß und Rot – und alles bewundert er, was ihn
selbst bewundernswert macht. Nichts ahnend begehrt er sich selbst, empfindet und erregt
Wohlgefallen, wirbt und wird umworben, entzündet Liebesglut und wird zugleich von ihr verzehrt. Wie oft gab er dem Quell vergebliche Küsse. […] Leichtgläubiger! Was greifst Du vergebens nach dem flüchtigen Bild! Was du erstrebst, ist nirgends; was du liebst, wirst du verlieren, sobald du dich abwendest. Was du siehst, ist nur Schatten, nur Spiegelbild. Es hat kein eigenes Wesen: Mit Dir kam es, mit Dir bleibt es, mit Dir wird es fortgehen – wenn Du nur fortgehen könntest“ (Ovid 1988: 70).
Auch Ovid schildert somit das konstitutive Verkennen des eigenen Bildes‚ das
von seiner Narcissus-Figur zunächst jedoch tatsächlich als begehrte andere Person wahrgenommen wird. Das Spiegelbild wird als Person erlebt, die sich nicht
(be-)greifen lässt. Narcissus erkennt zwar letztendlich seine Täuschung, kann
sich ihr jedoch nicht entziehen: „Ich bin es selbst! Ich habe es, und mein Bild
täuscht mich nicht mehr. Liebe zu mir selbst verbrennt mich, ich selbst entzünde
die Liebesflammen, die ich erleide!“ (ebd.: 71). Die Entfremdung, die Spaltung,
die produktive Entäußerung des Ichs im Bildungsprozess, will nicht gelingen, sie
60
Jacques Lacan
ist noch nicht gegeben. In Ovids Mythos gibt es keinen anderen, der dem Jüngling – wie z.B. in der analytischen Situation – vermittelt: „Du bist es“, da die
zwar anwesende, ihn begehrende Echo ja immer nur seine eigenen Worte wiederholen und somit nicht als andere agieren kann. Die Erzählung lässt Narcissus
tatsächlich am Begehren nach seinem Spiegel-Bild sterben und in einen pflanzlichen Zustand übergehen: „da war der Leib nirgends mehr. An seiner Stelle fanden sie eine Blume, in der Mitte safrangelb und umsäumt mit weißen Blütenblättern“ (ebd.: 72).
Marshall McLuhan, der den Narziss-Mythos 1964 für seine Medientheorie
fruchtbar machte, rekonstruiert noch eine andere – anthropologische – Bedeutung aus der Geschichte und ihrer Etymologie:
„Die griechische Sage von Narziß hat, wie das Wort Narziß andeutet, direkt mit einer Gegebenheit menschlicher Erfahrung zu tun. Es kommt vom griechischen Wort narkosis oder Betäubung. Der Jüngling Narziß fasste sein eigenes Spiegelbild im Wasser als eine andere Person
auf. Diese Ausweitung seiner selbst im Spiegel betäubte seine Sinne, bis er zum Servomechanismus seines eigenen erweiterten und wiederholten Abbilds wurde. Die Nymphe Echo warb
um seine Liebe mit Bruchstücken seiner eigenen Worte, doch vergebens. Er war betäubt. Er
hatte sich der Ausweitung seiner selbst angepaßt und war zum geschlossenen System geworden“ (McLuhan 1964/1992: 57).
McLuhan nimmt hier den sehr viel später konzipierten Immersionsbegriff als
(Verlust-)Erfahrung in virtuellen Welten (Bartle 2003) schon vorweg, wenn er
die narkotische Erfahrung – bei Lacan die Erstarrung – des sich Verlierens an
sein eigenes Spiegelbild beschreibt.
2.2 Heinrich von Kleist
Heinrich von Kleist gibt dem Erstarren vor dem Spiegel, der versuchten Angleichung an das „Standbild, auf das hin der Mensch sich projiziert“ (Lacan
1949/1991: 65) und der „Bildung“ in seinem Fragment „Über das Marionettentheater“ (1810) eine andere Wendung:
„Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ungefähr in seinem sechzehnten Jahr stehen, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die
ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, dass wir gerade kurz zuvor in Paris den
Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist
bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem
Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welche Entdeckung er gemacht habe. In
der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er erröte-
61
Birgit Althans
te, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht
hätte voraussehen können, missglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er
hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! Er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? Die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element,
dass ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten. – Von diesem Tage an, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er
fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen, und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn.
Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie
Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte“
(Kleist 1810/1987: 343f.).
Kleist beschreibt hier nicht nur den – ebenso bewussten wie vergeblichen – Versuch der Angleichung an ein bekanntes „Standbild“ (Lacan), sondern auch die
Tatsache, dass die Identitätsentwicklung, die Bildung (Hegel), sich hier tatsächlich als Entäußerung an ein „Außen“, als in den Gesten des jungen Mannes
sichtbar werdende Befremdung des eigenen Körpergefühls vollzieht. Zudem
wird hier die Bedeutung der Bestätigung des eigenen Spiegelbildes durch den
anderen betont: Dadurch, dass der Beobachter das „Du bist es“ leugnet, verliert
der Jüngling nicht nur sein Bild von sich, sondern zugleich sein Körpergefühl,
die Sicherheit seiner Bewegungen. Rettung, die Rückkehr ins Ich, ist hier nur
durch das große Andere zu erlangen:
„Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem
Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das
Bild eines Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht
vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat,
d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott“ (ebd.: 345).
2.3 Lewis Carroll
Auch der Mathematiker Lewis Carroll schien diese Linie im Umgang mit der
Spiegel-Wirklichkeit zu verfolgen, als er in „Alice hinter den Spiegeln“ (1872),
der Fortsetzung seines (vermeintlichen) Kinderbuchs „Alice im Wunderland“ die
Schwierigkeit beschrieb, sich im Land hinter dem Spiegel zu bewegen. Dort ist
nicht nur alles „verkehrt“, wie die Spiegelschrift oder die Funktion der Gartenwege – „Sie (Alice, B.A.) lief auf und ab, bog hier ein und dort ein, aber wie sie
es auch anfing, jedes Mal kam sie zum Haus zurück; ja, als sie einmal etwas
rascher als sonst um eine Ecke kam, stieß sie sogar dagegen, bevor sie innehalten
konnte“ (Carroll 1972/1981: 30) – sondern auch die Bewegungen verkehren sich
62
Jacques Lacan
in ihr Gegenteil. Alice muss sehr schnell rennen, wenn sie bleiben will, wo sie
ist:
„Wenn Alice später daran zurückdachte, kam sie nie mehr ganz dahinter, wie es damit eigentlich zugegangen war: nur so viel weiß sie noch, dass die Königin sie auf einmal an der Hand
hielt und aus Leibeskräften rannte; und wie die Königin so schnell dahinsauste, daß sie nur
noch mit der größten Mühe nachkam; und dabei rief die Königin noch dauernd: ,Schneller!‘,
aber Alice wusste genau, daß es einfach nicht mehr ging – nur bekam sie nicht mehr genug
Luft, um es auch zu sagen. […] Voller Überraschung sah sich Alice um: ,Aber ich glaube fast,
wir sind die ganze Zeit unter diesem Baum geblieben! Es ist ja alles wie vorher!‘
,Selbstverständlich‘, sagte die Königen; ,was dachtest Du denn?‘ ,Nun in unserer Gegend‘, sagte Alice, noch immer ein wenig atemlos, ,kommt man im allgemeinen woandershin, wenn man
so schnell und lange läuft wie wir eben.‘ ,Behäbige Gegend!‘, sagte die Königin. ,Hierzulande
musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst‘“ (Carroll
1872/1987: 39).
Carroll problematisiert hier zudem ebenfalls die Starrheit des Spiegels, die großräumige Bewegungen im Spiegel(land) nicht zulässt: Bewegt man sich im Raum,
verliert man seinen Ort im Spiegel, der eigene Körper verschwindet dort, geht
aus dem Bild. Zudem sind in der Wahrnehmung rechte und linke Körperglieder,
sobald man sich bewegt, vertauscht. Schon bei Ovid erfuhr Narcissus: „Was du
erstrebst, ist nirgends; was du liebst, wirst du verlieren, sobald du dich abwendest“ (Ovid: 70). Aber auch bei Lacan erscheint die eigene Gestalt im Spiegelbild: „in einem Außerhalb […] das sie erstarren lässt, und einer Symmetrie (unterwirft), die ihre Seiten verkehrt – und dies im Gegensatz zu einer Bewegungsfülle, mit der es sie auszustatten meint“ (Lacan 1949/1991: 64).
Auch Oscar Wilde problematisiert das Problem der Zeitlichkeit, die „zeitliche Dialektik“ des Spiegel-Stadiums (ebd.: 87) in seinem „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1891).
2.4 Oscar Wilde
In Oscar Wildes Roman verfällt Dorian Gray, ein schöner junger Mann – in
seiner Beschreibung bis in die Farben Ovids Narcissus’ ähnelnd – seinem Bild.
Es handelt sich in dieser Geschichte jedoch nicht um das Spiegelbild, sondern
um ein von ihm gemaltes Portrait. Er verfällt beim ersten Anblick dieser Darstellung seiner selbst, nicht nur seinem Bild, sondern, angestachelt durch die zynischen Kommentare eines anderen – Lord Henry – auch der Trauer über den unumgänglichen Verlust seiner jugendlichen Schönheit.
„‚Wie traurig ist das!‘ sagte Dorian Gray leise und wandte die Augen nicht von seinem eigenen
Bildnis. ‚Wie traurig ist das! Ich werde alt und grässlich und widerwärtig werden. Aber diese
Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie älter als dieser Junitag heute. […] Wenn es nur um-
63
Birgit Althans
gekehrt wäre! Wenn ich immer jung bleiben könnte und dafür das Bild älter würde! Dafür –
dafür – gäbe ich alles! Ja, es gibt nichts in der ganzen Welt, was ich nicht dafür gäbe! Ich gäbe
meine Seele dafür! […] Ich bin eifersüchtig auf alles, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das du von mir gemalt hast‘“ (Wilde 1891/2008: 34f.).
Wilde betont mit seiner Schauergeschichte das Drama der Ur-Eifersucht, das
Lacan zufolge die Vollendung des Spiegelstadiums begleitet – bekanntermaßen
wird Dorian Gray sein Wunsch erfüllt: nicht er, sondern sein Bild altert und
weist all die Spuren des (lasterhaften) Lebenswandels auf, den Dorian Gray, in
seinem Äußeren unbeschadet, führt, bis er demoralisiert und erschöpft sein Portrait und damit sich selbst ersticht: das eigene Bild ist von da an stets durch das
Begehren der anderen vermittelt, „eine Dialektik, welche von nun an das Ich (je)
mit sozial erarbeiteten Situationen verbindet und die Aggressivität erklärt, die
sich in jeder Beziehung zum anderen, und sei sie noch so karitativer Art, abzeichnet“ (Lacan 1949/1991: 68f.).
Dies führt schon zum letzten Punkt, der eigentlich nur ein Ausblick auf aktuelle Praxen der (medialen) Identitätsbildung mit offenen Fragen sein kann.
3
Neuere mediale Praxen und Praktiken im Umgang mit dem
Spiegelbild
Die vielleicht interessantesten und innovativsten medialen Praxen der Selbstartikulation finden sich aktuell wahrscheinlich in den Neuen Medien, im Web 2.0.
(vgl. Jörissen 2008); ich möchte mich hier, der Spiegel-Metapher folgend, jedoch
noch einmal auf das gewohnte, „alte“ audio-visuelle Medium Fernsehen und hier
besonders auf die aktuellen TV-Formate der medial inszenierten Selbstoptimierungen beziehen, die unter dem Begriff Lifestyle-Fernsehen4 bzw. MakeoverProgramme gefasst werden. Dabei sticht im Kontext des Spiegel-Stadiums das
Format „The Swan“ ins Auge, das die Autorinnen Andrea Seier und Hanna Surma, auf deren Analyse ich mich hier meist beziehe, nicht zufällig als „Spiegelstadium zweiter Ordnung“ (Seier/Surma 2008: 191) bezeichnen, in dem sich, so
ihre These, nicht nur ein „Fernsehen der Mikropolitiken“ zeigt, sondern sich
Selbst- und Medientechnologien als untrennbar miteinander verschränkt beobachten lassen.
4 Benannt ist damit eine spezifische Ausdifferenzierung des seit den 1990er Jahren im europäischen
und amerikanischen Fernsehen sich durchsetzenden Reality-Fernsehens. Kochen und Einrichten,
Gartenarbeit und Kindererziehung, Personal Style und Partnerwahl werden seit einiger Zeit mit je
eigenen Formaten und Inszenierungsstrategien im Fernsehen thematisiert und, wie es Ib Bondbjerg formuliert, aus dem „Backstage“- in den „Frontstage“-Bereich verschoben (Bondbjerg 2002).
64
Jacques Lacan
In „The Swan – Endlich Schön“ (Pro 7, 2004) lassen sich mehrere Kandidatinnen bei ihren Strategien der Selbstoptimierung durch ein Team von Chirurgen,
Fitness-Coaches, Visagisten und Psychologen, nicht nur drei Monate von der
Kamera (und einem Millionenpublikum) verfolgen, sie willigen zugleich in einen Kontrakt ein. Dieser verbietet ihnen in diesem Zeitraum, in den Spiegel zu
sehen, isoliert sie von ihren Familien – ihren anderen – in einem Camp und verlangt von Ihnen ihren ersten Blick in den Spiegel nach ihren aufwendigen Verwandlungsprozeduren in Gegenwart eines Millionenpublikums zu tun, das ihre
emotionale (meist jubilatorische) Reaktion auf ihr verändertes Spiegelbild dann
prämiert.
Die mediale Inszenierung folgt in gewisser Weise tatsächlich dem, was Lacan im Spiegelstadium beschreibt. Ein sich als noch defizitär erlebendes MängelSubjekt im Status des „Vorher“, des Noch-Nicht-Schön-Seins, gefangen in einem „Apparat“ von chirurgischen, kosmetischen, physio- und psychotherapeutischen Praktiken, erblickt sich im Status des „Nachher“, nach drei Monaten einer
qualvollen zweiten Geburt, der Zusammenfügung des „zerstückelten“, in seinen
Einzelteilen technisch optimierten Körpers, als perfektes, ganzes Spiegelbild.
Dabei scheint die mediale Inszenierung, das Monitoring der Vorbereitung des
(öffentlichen) Blicks in den Spiegel, die emotionale Wirkung des Spiegelbilds –
die Verheißung – fast vorwegzunehmen: „Den vielfach eingesetzten Monitoren,
Videokameras und anderen Technologien der Überwachung kommt in diesem
Sinne eine ebenso wirklichkeitskonstituierende wie fiktionale Funktion zu (Seier/Surma 2008: 180). Die Autorinnen verweisen hier auf die Bemerkungen Susanne Krasmanns zum Monitoring:
„Sie [die Begriffswahl des Monitoring; B.A] markiert spezifische Programme, um Probleme zu
regulieren und Menschen zu führen. Wie das Controlling, als Instrument der Kontrolle zur vorausschauenden Optimierung der Produktion in Unternehmen, ist auch das Monitoring, als ein
Modus der vorwegnehmenden Sicherung, auf die Zukunft orientiert. Es ist stets mehr als
Überwachung und Kontrolle, ist stets nicht nur kontinuierliche Beobachtung, Kompilieren von
Daten und Gegenüberstellung von Gegebenem mit Normen und Sollwerten. Dem Monitoring
haftet etwas Fiktives an. Unter dem Imperativ, Fehlentwicklungen rechtzeitig zu identifizieren,
wird die Gegenwart permanent mit zukünftigen Erwartungen, mit Spekulationen konfrontiert“
(Krasmann 2004: 168f.).
Dennoch bleibt die eigentliche Spiegelszene, die jubilatorische Entdeckung des
perfektionierten Spiegelbildes, Höhepunkt der Show:
„Die Enthüllung und Präsentation des ‚neuen‘ Selbst der Kandidatinnen wird durch einen Gang
über einen roten Teppich eingeleitet, in welchem die ‚neue‘ äußere Erscheinung Schritt für
Schritt preisgegeben wird. Unterbrochen wird der Gang zum Spiegel durch ein kurzes Gespräch mit der Moderatorin, in welchem diese eine (stets überaus positive) Beurteilung des Ergebnisses vorwegnimmt. Ihren klimatischen Wendepunkt hat die sorgfältig strukturierte Dra-
65
Birgit Althans
maturgie im Moment der Positionierung vor dem Vorhang, der sich erst auf Anweisung der
jeweiligen Kandidatin („Ich bin bereit“) öffnet. Die Perspektive der Kamera wechselt in diesem Moment und nimmt die Position des Spiegels ein, so dass der erste Blick der Kandidatinnen in den Spiegel mit einem Blick in die Kamera zusammenfällt. In nahezu allen Fällen ist die
erste Reaktion der Kandidatinnen Fassungslosigkeit, oft wird sie von einem Tränenausbruch
und/oder einem Zusammensinken vor dem Spiegel begleitet. Typisch für alle ‚Spiegelszenen‘
der Sendung ist das mit einem Blick in den Spiegel zusammenfallende, sofortige ‚Ertasten‘ des
Gesichts durch die Hände, das Verweisen auf das ‚neue Selbst‘ im Spiegel per Fingerzeig und
die vorsichtige Annäherung an den Spiegel zwecks eingehender Betrachtung“ (Seier/Surma
2008: 190).
Und die Autorinnen resümieren:
„Der Moment des Blicks in den Spiegel lässt sich als Moment der Konstitution eines gänzlich
‚neuen‘ Selbst lesen, produziert durch ‚innerliche‘ wie ‚äußerliche‘ Optimierung, durch eine
Arbeit an sich selbst, die stets an Medien gebunden bleibt: Die ‚Spiegelszene‘ führt eine Form
der Selbstkonstitution vor, die in radikaler Weise vom Aspekt der Sichtbarkeit abhängt. Der
Augenblick des ‚Sich-Selbst-Sehens‘ fällt zusammen mit der Produktion von (neuem) Wissen
über das eigene Selbst. Das ‚Sich-Selbst-Erkennen‘ im Spiegel stellt insofern einen Prozess
dar, der den produktiven Charakter von Subjektivierung als ‚Herstellung‘ des Selbst, wie er
den gesamten Transformationsprozess im Verlauf der Sendung bestimmt, in nuce wiederholt“(ebd.: 191).
Und? Ist der Spiegel durch die mediale Inszenierung des Blicks in den Spiegel
überlistet? Das Spiegelbild besiegt? Hat es durch die Optimierung des zu spiegelnden Körpers seine narkotisierende, durch Verkennung, Ver- und Entfremdung konstitutiv zur Identitätsbildung beitragende Wirkung verloren? Ich meine
nicht: Die rätselhafte Suggestivkraft des Spiegels, die Frage, die das Spiegelbilds
an das Subjekt richtet: „Bist das, was ich hier zeige, Du?“ scheint wirksamer den
je, das Subjekt mehr denn je angewiesen auf die Bestätigung seiner gespaltenen
Identität durch andere: „Du bist es …“.
Literatur
Bartle, Richard (2003): Designing Virtual Worlds. Indianapolis: New Riders.
Bondbjerg, Ib (2002): The Mediation of Everydaylife: Genre, Discourse and
Spectacle in Reality-TV. In: Jerslev, Anne (Hrsg.): Realism and “Reality”
in Film and Media. Northern Lights, Film and Media Studies Yearbook.
Kopenhagen: Museum Tusculanum Press, S. 159-192.
Borch-Jacobson, Mikkel (1999): Lacan. Der absolute Herr und Meister. München: Fink.
Carroll, Lewis (1872/1981): Alice hinter den Spiegeln. Frankfurt a.M.: Insel.
Freud, Sigmund (1900/1987): Die Traumdeutung. Frankfurt a.M.: Fischer
66
Jacques Lacan
Freud, Sigmund (1919/1970): Das Unheimliche. In: Ders.: Psychologische
Schriften, Studienausgabe Bd. IV. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 243-282.
Goffman, Erving (1969): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im
Alltag. München: Piper.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1996): Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke Bd. 3. Hrsg. v. Michel, Karl Markus/Moldenhauer, Eva.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Holz, Hans Heinz (2003): Widerspiegelung. Bielefeld: transcript.
Jörissen, Benjamin (2008): Kreativer Selbstausdruck in den Neuen Medien –
zwischen Artikulation und Crowd-Sourcing. In: Althans, Birgit/Audehm,
Kathron/Binder, Beate/Ege, Moritz/Färber, Alexa (Hrsg.): Kreativität. Eine
Rückrufaktion. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2008. Bielefeld:
transcript, S. 31-47.
Kleist, Heinrich von (1810/1987): Das Marionettentheater. In: Sämtliche Werke
und Briefe, Bd. II. München: dtv, S. 338-346.
Krasmann, Susanne (2004): Monitoring. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hrsg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, S. 167-173.
Lacan, Jacques (1949/1991): Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion,
wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Ders.: Schriften I. Weinheim/Berlin: Quadriga, S. 61-70.
Ovid (1988): Metamorphosen. Hrsg. v. Albrecht, Michael von. München: Goldmann.
Seier, Andrea/Surma, Hanna (2008): Schnitt-Stellen. Mediale Subjektivierungsprozesse in THE SWAN. In: Villa, Paula (Hrsg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld: transcript,
S. 173-197.
Weber, Samuel (2000): Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der
Psychoanalyse. Wien: Passagen-Verlag.
Wilde, Oscar (1982/2008): Das Bildnis des Dorian Gray. Frankfurt a.M.: Fischer.
67
Über den Individualismus hinaus
Die Entwicklung des Selbstempfindens bei Daniel N. Stern
und einige Befunde der Säuglingsforschung
Michael B. Buchholz
Die theoretische Ausgangslage
Der Trieb war zwar als „Grenzbegriff zwischen dem Somatischen und dem Psychischen“ von Freud (1915) definiert, konnte aber nur an seinen Repräsentanzen
erkannt werden. Nie konnte, in dieser Anlage der Theorie, der Trieb ein „Objekt“
besetzen, obwohl sich dieser Sprachgebrauch eingebürgerte. Genau genommen
konnte der Trieb nur eine „Objektrepräsentanz“ besetzen – aber dann musste
erklärt werden, wie es überhaupt zu einer solchen Repräsentierung kommen
konnte. Denn diese war nur möglich, wenn der Trieb sich auf die eine oder andere Weise des Objekts bemächtigt, es bereits „besetzt“ hätte, um dann seine Repräsentanz verinnerlichen zu können. Aber wie hätte die libidinöse Besetzung je
über die Grenzen eines Individuums hinaus ein reales Objekt besetzen können?
Die Objekte mussten in dieser theoretischen Konstruktion unerreichbar bleiben;
sie wurden nur als „Objekte“ (nicht als andere Subjekte) gedacht. Ungeklärt
musste bleiben, wie es zur Ausbildung einer Repräsentanz kommen konnte,
wenn das Objekt libidinös uneinholbar blieb. Die Basierung der Seelenkunde auf
einem Trieb musste das Seelische einsam machen, nie erreicht der Trieb sein
Objekt, sondern immer nur ein Ziel: die Entladung. Die klinischen Erfahrungen
der Verinnerlichung waren mit der Triebtheorie nicht zu erklären (vgl. Zepf/Zepf
2007: 326).
Hier tat sich ein theoretisches Dilemma auf, das die nachfreudschen Psychoanalytiker durchaus sensibel registrierten. Freud hatte das Ich zwar als „Niederschlag der aufgegebenen Objektbeziehungen“ konzipiert, aber es blieb unklar,
wie es je zur Ich-Bildung kommen konnte, wenn die Beziehungen zum Objekt
gar nicht vereinbar mit der Libidotheorie konzipiert werden konnten
(Drews/Brecht 1975). Die eine Lösung, ein angeborenes Ich mit konfliktfreien
autonomen Sphären anzunehmen, wie es die Begründer der Ich-Psychologie
vorgeschlagen hatten, wurde von Drews und Brecht verworfen, weil damit die
69
Michael B. Buchholz
konflikthafte Genese des Ich als Kernstück der psychoanalytischen Theorie verspielt würde. Freud hatte gesehen, wie sich das Ich im Zusammenprall zwischen
Wunsch und versagender Realität gleichsam eine Pufferzone bildet, um dem
Wunsch auf Umwegen doch noch zu seiner Befriedigung zu verhelfen, etwa
durch zeitlichen Aufschub oder Verlagerung seiner Ziele, in jedem Fall im Einklang mit den Realitätsanforderungen. Das Ich war, so theoretisiert, gebaut wie
ein neurotisches Symptom, nämlich als Kompromiss im Konflikt zwischen
Wunsch und Außenwelt. Das würde verständlich machen, warum sich das Ich so
leicht wandelt oder auch zerfällt, etwa schon im Schlaf. Sollte es aber angeborene Ichfunktionen geben, wie die Wahrnehmung mit den Sinnen und die Rückbeziehung der Sinneserfahrung auf ein integrierendes Zentrum, eben das Ich, dann
wären die Pathologien des Ich – etwa die Schwierigkeiten beim Aufschub von
Befriedigungen – nicht mehr konfliktpsychologisch, sondern nur noch als Defekt
zu erklären gewesen. Dem entsprach die klinische Wirklichkeit aber kaum.
Dieses Problem stand im Zentrum, denn es sollte dort, wo ES war, Ich werden – aber wie eigentlich? Wie konnte man sich die Entstehung des Ich (besser:
des Selbst) – sowohl in der frühkindlichen Entwicklung als auch in der Behandlungssituation – eigentlich vorstellen?
1
Sterns Stufen des Selbstempfindens
Auf diese komplexe Problemlage reagiert auch die empirisch erarbeitete Theorie
Daniel Sterns. Ich wähle hier den Zugang, seine Theorie als Lösungsversuch für
interne Theorieprobleme der Psychoanalyse aufzufassen, wohl wissend, dass
Stern durchaus auch in anderen Zusammenhängen dachte. Doch kann die gewaltige Erweiterung des theoretischen Bezugssystems der Psychoanalyse, die er
schuf, kaum anders gewürdigt werden.
Sterns Theorie ist eine des Selbst und sprengt doch den Rahmen des Individualismus. Sie geht weniger in die Tiefe der individuellen Subjektivität, sondern
in die Bezogenheit der Person zu anderen Personen und entdeckt dort eine Tiefe
ganz anderer Art. Das Unbewusste erscheint an der Oberfläche intersubjektiver
Bezogenheit.
Der am 16. August 1934 in New York geborene Daniel N. Stern (nicht zu
verwechseln mit dem früheren Entwicklungspsychologen William Stern) hatte in
Harvard 1956 mit dem Studium der Medizin begonnen, spezialisierte sich 1964
auf Psychiatrie und begann seine psychoanalytische Ausbildung 1972 an der
Columbia University. Soweit man das aus der europäischen Perspektive beurteilen kann, herrschte dort eine rigide Ich-Psychologie vor, die ihn abgestoßen
haben dürfte; therapeutische Praxis war für ihn ohne differenzierte Theorie
70
Daniel N. Stern
menschlicher Beziehungen nicht denkbar. Er arbeitete als Forscher und als psychoanalytischer Praktiker gleichermaßen, seine Forschungsinteressen wandten
sich immer mehr der frühen Mutter-Säuglings-Interaktion zu. Hier hat er Bahnbrechendes geleistet. Dabei kam ihm die Entwicklung der Video-Technologie
mit Split-Screen-Technik und Zeitlupe zu Hilfe, die auch in anderen Bereichen
wie der mikroanalytischen Konversationsanalyse (Schegloff 2007) zur gleichen
Zeit verstärkt genutzt wurde. In beiden Bereichen brachte die Verwendung der
neuen technischen Möglichkeiten rasante Veränderungen der Befunde und ganz
neue Arten, Beziehung zu denken, hervor. Derzeit ist Stern Honorarprofessor für
Psychologie an der Genfer Universität, Professor der Psychiatrie an der Cornell
University und Dozent für Psychoanalyse an der Columbia Universität. Seine
Bücher fanden großes Interesse in Fachkreisen und werden auch beim interessierten Publikum breit rezipiert, sein angenehm zurückhaltender persönlicher Stil
hat ihm Sympathien eingetragen, etwa bei öffentlich ausgetragenen Kontroversen wie denen mit dem recht ruppig auftretenden französischen Psychoanalytiker
André Green (worüber Dornes 2002 berichtet). Das Bild des Säuglings veränderte sich erheblich unter dem Einfluss von Sterns Befunden: war der Säugling bei
Freud v.a. noch ein von seinen Trieben geschütteltes Wesen, bei Melanie Klein
ausgestattet mit uranfänglichen Phantasien, bei Margret Mahler einen Weg aus
dem Gefängnis des frühkindlichen Autismus suchend, so zeigt Stern, wie aufmerksam der Säugling seine Umwelt registriert, die er zum Aufbau seines
Selbstempfindens in vielfältiger Weise benötigt. Stern gehört zu denen, die sich
gegen die ausschließliche Rekonstruktion des Säuglingsbildes aus den Erinnerungen Erwachsener während psychoanalytischer Behandlungen wenden; er
besteht darauf, dass das Bild des Säuglings durch sorgfältige Beobachtungen
entwickelt werden müsse.
1.1 Die Paradigmen der Säuglingsforschung
Lichtenberg (1983) hatte einen ersten Überblick über neue Befunde zur Säuglingsbeobachtung publiziert, Beebe und Lachmann (2006) informieren über den
aktuellen Stand und Dornes (1993, 1997, 2000, 2006) hat in einer Vielzahl von
anschaulich geschriebenen, informativen Büchern den Stand zusammen gefasst.
Es geht (nach Geissler 2007) um wenigstens drei Problemfelder:
1.
2.
Stimmen die Befunde der empirischen Säuglingsforschung mit dem, was Patienten erinnern, überein?
In welchem Zusammenhang stehen Interaktionen zwischen Säugling und Bezugsperson
mit dem, wie das Selbst des Säuglings sich entwickelt?
71
Michael B. Buchholz
3.
Welche Folgen können sich daraus für die therapeutische Behandlungspraxis, aber auch
für die Frühpädagogik ergeben (z.B. Alemzadeh 2008)?
Hier ordnet sich der Beitrag von Daniel Stern ein. Stern nutzt extensiv die Möglichkeiten der mikroanalytischen Beobachtung, aber er geht darüber hinaus,
indem er auch zu experimentieren beginnt. Dabei unterscheidet Stern verschiedene Zustände des Säuglings:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Der Säugling schläft, seine Atmung geht regelmäßig.
Der Säugling schläft unruhig, bewegt sich und atmet heftiger.
Der Säugling ist in einem „dreamy state“, sein Blick scheint ins Leere zu gehen, er nimmt
wahr, wirkt aber unbeteiligt.
Der Säugling ist in einem „alert state“, mit weit geöffneten Augen, bewegten Gegenständen folgt er mit dem Blick, aber sein Körper bleibt sonst weitgehend ruhig.
Der Säugling wirkt wach und gibt durch lebhafte motorische Aktivitäten kund, dass er
sich beteiligen möchte.
Der Säugling teilt durch motorische Unruhe und Laute, v.a. Schreien mit, dass er sich auf
irgendeine Weise unbehaglich fühlt und die Unterstützung seiner Pflegeperson braucht.
Experimentelle Untersuchungen führt Stern nur durch, wenn der Säugling sich
im „alert state“ befindet; ein Grund hierfür könnte sein, dass er es als problematisch anzusehen gelernt hat, wenn manche Bezugspersonen sich mit Spielangeboten dem Säugling gleichsam aufdrängen, während dieser nicht aufnahmebereit
ist. Im „alert state“ kann man dem Säugling Bilder zeigen und beobachten, dass
der Säugling seinen Blick am längsten auf Bildern der Mutter verweilen lässt.
Die Säuglingsforschung hat verschiedene Paradigmen ausgebildet, um das
Problem zu bewältigen, dass der Säugling sich natürlich noch nicht sprachlich
artikulieren kann. Das genannte kleine Experiment gehört zum Präferenzparadigma; hier zeigt man dem Säugling verschiedene Gegenstände und versucht aus
seinen Reaktionen zu erschließen, welche ihm mehr zusagen als andere. Beim
Habituierungsparadigma untersucht man, wie lange ein Säugling seine Aufmerksamkeit auf etwas richtet, bevor er „dis-habituiert“, sich also abwendet und
man ihm dann einen neuen Reiz zeigen kann. Daraus kann man erschließen, dass
es sich bei der Abwendung nicht um physiologische Ermüdung handelt, weil
man seine Aufmerksamkeit mit einem neuen Reiz erneut gewinnen kann. Beim
Überraschungsparadigma zeigt man dem Säugling Reize, die überraschend auf
ihn wirken sollen. Man präsentiert ihm etwa per Videobildschirm das Bild seiner
Mutter, aber dazu die Stimme einer anderen Person oder zeigt ihm solche Bilder,
wo Sprechen und Mundbewegungen nicht synchronisiert sind. Insgesamt hat
man so ermittelt, welche Kompetenzen ein Säugling bereits zu seiner Verfügung
hat; das Bild des Säuglings, der während der ersten 6 Lebenswochen in einer
„autistischen“ Zurückgezogenheit verharre, bevor er in eine „symbiotische Phase“ eintrete, hat sich als unzutreffend erwiesen. Säuglinge können die Koordina72
Daniel N. Stern
tion von taktilen und akustischen Reizen erkennen bzw. auf deren Fehlen reagieren, sie wenden den Kopf nach Geräuschquellen, können menschliche und nichtmenschliche Objekte, Vertrautes und Unvertrautes unterscheiden, Freude bei
selbstregulatorischen Tätigkeiten empfinden und sich als Ursache von Handlungen wahrnehmen. Bindet man etwa einem Säugling einen Faden an den großen
Zeh, an dem über eine über ihm hängende Rolle ein Ball befestigt ist, so bemerkt
der Säugling, dass es die Bewegung seines Fußes ist, die den Ball bewegt und er
versucht erkennbar freudig erregt, dessen Bewegung zu kontrollieren. Er versteht
den Zusammenhang zwischen eigener Aktivität und Wirkung. Dornes (1993) hat
das treffende Wort vom „kompetenten Säugling“ geprägt.
Mit seinen Bezugspersonen kann ein Säugling Lächelspiele initiieren, also
nicht nur reagieren; er kann schon, nur wenige Tage alt, Verhaltensweisen wie
das Zunge-Rausstrecken, imitieren und erwartet offensichtlich, dass auf seine
Kontaktangebote angemessen reagiert wird. Angemessen heißt prompt, in richtiger Intensität und in synchroner Abstimmung. Grossmann und Grossmann
(1995) haben dafür den Begriff der „Feinfühligkeit“ eingeführt. Die meisten
Mütter und Väter greifen hier auf Fähigkeiten zurück, die Papousek (1996) als
„intuitive Elternschaft“ zusammengefasst hat; die Signale des Kindes werden
angemessen wahrgenommen, interpretiert und angemessen auf sie reagiert und
dies in synchroner zeitlicher Abstimmung. Shotter und Newson (1982) sprechen
von „Sinninfusion“, wenn etwa die Mutter auf das reflektorische Gezappel ihres
Kindes mit Worten reagiert wie: „Ja, Du willst jetzt den Ball da haben...“ Sie
gibt dem Verhalten des Kindes Sinn; sie behandelt ihren Säugling von vorneherein als Wesen, das Absichten hat, reagiert also nicht nur auf Verhalten. Tomasello (2002) hat beschrieben, wie der 9 Monate alte Säugling seinerseits mehr und
mehr aus sichtbarem Verhalten auf nicht-sichtbare, aber erschließbare Absichten
anderer reagiert. Der psychische Binnenraum wird so interaktiv eröffnet. Im
Alter von 9 Monaten, so Tomasello (2002) trennen sich deshalb die Entwicklungslinien von menschlichen Säuglingen und Primaten-Babys.
Körperliche und interaktive Dimension spielen kaum trennbar ineinander.
Säuglinge reagieren auf die Stimme der Mutter besonders aufmerksam, können
den Geruch der Muttermilch von anderen Gerüchen unterscheiden. Eine gute
„Bindung“ zwischen Mutter und Kind geht mit verstärkter Ausschüttung des
Hormons Oxytoxin einher (als „Kuschelhormon“ populär geworden). Die populäre Idee einer „genetischen Programmierung“, eines einseitigen Determinismus
durch Gene ist falsch bzw. schwer unvollständig. Richtiger ist anzuerkennen, wie
genetische Dispositionen durch Interaktionen „angeschaltet“ bzw. deaktiviert
werden können (Hüther 2005).
73
Michael B. Buchholz
1.2 Wahrnehmungsmodi und Vitalitätsaffekte
Aufbauend auf diesen Fähigkeiten und interaktiven Praktiken entwickelt Stern
seine Theorie des frühen Selbstempfindens. Es gilt zu berücksichtigen, dass der
Säugling über Wahrnehmungsformen verfügt, die sich von denen des Erwachsenen unterscheiden.
Als amodale Wahrnehmung wird bezeichnet, dass der der Säugling eine
Transposition von einem Modus in einen anderen vornimmt. Gibt man einem
Säugling mit verbundenen Augen einen Schnuller mit Noppen in den Mund,
dann betrachtet er anschließend das Bild eines solchen Schnullers länger; er
„überträgt“ vom Modus der oral-taktilen Wahrnehmung auf den der optischen
Wahrnehmung. Es ist, als ob er geistig eine Gestalt des Schnullers bilde und
diese dann sowohl im einen wie im anderen Modus erkenne. Dieser Wahrnehmungsmodus wird von den Bezugspersonen des Säuglings unterstützt. Der Säugling bewegt die Rassel in einem bestimmten Rhythmus und die Mutter nickt
dabei synchron mit dem Kopf und Oberkörper und vokalisiert, während sie im
gleichen Rhythmus das Baby über den Kopf streichelt; der eine Modus wird mit
dem anderen Modus beantwortet und so eine transmodale Kommunikation möglich, weil die rhythmische Gestalt in allen Figurationen gleich bleibt. Es entsteht
eine ideelle Struktur, die das Gefühl des Säuglings, „zusammen“ zu sein, unterstützt.
Die physiognomische Wahrnehmung kann man sich am besten daran verdeutlichen, wie Auto-Designer der Frontpartie eines Wagens ein „Gesicht“ geben; Wahrnehmungen haben nicht nur Gestalten, sondern lösen auch Affekte
aus.
Schließlich nennt Stern die von ihm besonders bezeichneten Vitalitätsaffekte, die er von kategorischen Affekten unterscheidet. Zu letzteren gehören Affekte
wie Freude, Trauer, Furcht, Ekel oder Zorn. Auch sie sind auf Objekte gerichtet.
Vitalitätsaffekte beschreiben die dynamische Gestalt eines Affektes, das „Spitze“
an einer Bemerkung, das Explosionsartige von Lachen oder Wut, das sich „Hinziehen“ der Zeit in Zuständen der Langeweile.
„Der Säugling nimmt die Qualitäten in sich selbst wie auch im Verhalten anderer Menschen
wahr. Die einzelnen Vitalitätsgefühle können in einer Vielzahl elterlicher Handlungsweisen
zum Ausdruck kommen, die keine ‚regulären‘ Affekte darstellen: in der Art, wie die Mutter das
Baby aufnimmt, wie sie die Windel auseinanderfaltet, wie sie ihr Haar oder das Haar des Babys glattstreicht, wie sie nach dem Fläschchen greift, wie sie ihre Bluse aufknöpft. Der Säugling taucht in diese ‚Vitalitätsgefühle‘ ganz und gar ein“ (Stern 1992: 84).
Stern illustriert den Unterschied zu den kategorialen Affekten an folgendem
Beispiel:
74
Daniel N. Stern
„Vitalitätsaffekte treten sowohl in Verbindung mit kategorialen Affekten als auch ohne diskrete Affekte auf. Betrachten wir als Beispiel einen ‚Ausbruch‘ der Wut oder Freude, ein Überfluten mit Licht oder eine sich beschleunigende Gedankenfolge, eine durch Musik ausgelöste
Woge unermeßlicher Gefühle oder eine Drogeninjektion: Sie alle werden unter Umständen wie
ein ‚Ansturm‘ erlebt. Sie haben vergleichbare neuronale Feuerungsraten, wenn auch in unterschiedlichen Teilen des Nervensystems. Die Gefühlsqualität jeder dieser einander ähnlichen
Veränderung entspricht dem, was ich als den Vitalitätsaffekt des ‚Ansturms‘ bezeichne“ (ebd.:
86).
Amodale Wahrnehmung und transmodale Kommunikation, physiognomische
Wahrnehmung und Vitalitätsaffekte machen so die Bewältigung des Neuen möglich: die dabei stattfindenden Gestaltbildungsvorgänge erlauben dem Säugling,
eine Wahrnehmung mit einer anderen zu verbinden und die grundlegende kognitive Operation des Vergleichs auszubilden.
1.3 Stufen des Selbstempfindens
Diese sinnlichen Modalitäten konstituieren nach Stern die Empfindung des auftauchenden Selbst; zu betonen ist, wie dicht für Stern solche sinnlichen, dann
kognitiven und schließlich interaktiven Prozesse im Vollzug sind. Man muss sie
nacheinander beschreiben, aber sie laufen gleichzeitig ab. Der Integration von
Selbststufen ordnet Stern Modi der Bezogenheit zu. Zum auftauchenden Selbst
gehört der Bereich der auftauchenden Bezogenheit. Jede Stufe wird nicht etwa
mit Erreichen der nächsten aufgegeben, sondern sie bildet den Untergrund und
kann in bestimmten Lebensmomenten aktualisiert werden. Stern macht ungefähre Angaben zur Datierung in Lebensmonaten, aber Stern weiß von Längsschnittuntersuchungen (Largo 1995), wie hochgradig individuell variabel Altersangaben für Säuglinge sind. Solche Angaben können also nicht dazu dienen, eine
Entwicklungspathologie zu diagnostizieren, nur weil ein Kind etwa noch nicht
krabbelt, aufrecht steht und geht oder spricht, in einem Alter, in dem es dies alles
„normalerweise“ sollte.
Die frühe nun folgende Herausbildung eines Kern-Selbst mit dem zugeordneten Bereich der Kernbezogenheit sieht Stern um den dritten Lebensmonat
auftauchen; es ist eine Empfindung und kein bewusstes Erleben, schon gar nicht
reflexives Ich-Bewusstsein. Anders als die klassische Theorie sieht Stern, dass
der Säugling sich nicht verschmelzend-symbiotisch mit einer Bezugsperson oder
deren Brust verbindet, sondern er beobachtet, dass der Säugling über Sinn für
sich selbst und andere verfügt, der über die genannten Wahrnehmungsweisen
mehr und mehr integriert wird. Andere werden als getrennte Personen perzipiert.
„Und die Menschen seiner Umgebung beginnen das Baby nun so zu behandeln,
als sei es eine ‚richtige Persönlichkeit‘ mit einem integrierten Selbstempfinden“
75
Michael B. Buchholz
(Stern 1992: 104) Stern betont mit solchen Wendung die positive Feed-backSpirale: das Kern-Selbst wird interaktiv unterstützt.
Hier wird oft formuliert, die Mutter „spiegele“ das Kind; diese Metaphorik
ist, wie die mikroanalytische Beobachtung zeigt, unvollständig. Seit den Arbeiten der Gruppe um Peter Fonagy (Fonagy et al. 2004) kann man verschiedene
Modi der Interaktion unterscheiden und diese Differenzierung geht durch die
Spiegelungsmetaphorik verloren. Fonagy et al. unterscheiden drei Modi, die man
sich am besten an einem (von Dornes 2004 entlehnten) Beispiel eines älteren
Kindes klarmacht.
Ein Junge schießt mit dem Holzgewehr spielerisch auf seinen Papa, der nun
verschiedene Möglichkeiten hat, darauf zu reagieren. Im Äquivalenzmodus tut er
so, als bestünde eine reale Gefahr und nimmt dem Kind das Gewehr mit drohenden Worten aus der Hand; was für das Kind spielerisch war, wird so zu einer
beinah echten Gefahr aufgewertet. Das Spiel erscheint äquivalent einer echten
Bedrohung, der Unterschied geht verloren. Im „markierten“ Modus könnte der
Vater sich beim „Peng“ des Gewehrschusses vom Stuhl sinken lassen und laut
rufen, „au, jetzt bin ich tot!“ und dabei deutlich machen, dass er mitspielt. Er
markiert einen Affekt, macht deutlich, dass er weiß, welcher Affektausdruck von
ihm erwartet wird und zugleich lässt er erkennen, dass er diesen Affekt nicht
wirklich hat. Im Als-Ob-Modus könnte der Vater mit einer Belehrung darüber
reagieren, dass man mit Waffen nicht auf Menschen zielt; er reagiert, als ob das
Gewehr eine Gefahr bilde.
Diese drei Modi haben unterschiedliche Folgen. Sie lassen sich schon beim
Umgang von Erwachsenen mit Säuglingen beobachten. Mütter, die erleben, das
ein Kind sich wehgetan hat, drücken im markierten Modus mit ihrem Gesicht
Schmerz aus, jedoch so, dass das Kind begreift, es ist sein Affekt und nicht der
der Mutter, den es auf deren Gesicht sieht. Das hat u.a. die Folge, dass das Kind
sich als Urheber von deren Affektausdruck erkennt – und nicht die Mutter! Solche Erfahrungen der Urheberschaft, zusammen mit denen von Selbst-Kohärenz,
Selbstaffektivität und sich herausbildender Selbstgeschichtlichkeit bezeichnet
Stern als Selbst-Invarianten (Stern 1992: 114) – ein sich bildendes Gefühl dafür,
dass das eigene Selbst einen invarianten Kern hat über die sich verändernden
Situationen hinweg. Insbesondere Affekten kommt große Bedeutung zu, weil
Stern in der zeitlichen Kontur von Affekten die Grundlage dafür sieht, wie eine
Kombination von Befriedigungserleben, Erregung und Motivation entstehen
kann. In solcher Kombination sieht Stern eine „emergente Eigenschaft“ bei der
Ausbildung einer „temporalen Gefühlsgestalt“ (1998: 108).
Aus solchen Kombinationen von vorhandener Sinnlichkeit entstehen ideelle
Strukturen. Das ideelle Moment ist die Organisiertheit, die Form oder die Gestalt. Die materielle Wirklichkeit der Sinne hat materiale Struktur. Doch in ver76
Daniel N. Stern
schiedenen Situationen Ähnliches, über verschiedene Sinnesmodalitäten hinweg
gleiche Rhythmisierungen, über verschiedene kategoriale Affekte hinweg dieselbe Vitalitätsgestalt als empfindbar zu dokumentieren, macht in höchstem Maße
plausibel, dass hier ein Selbst emergiert, das seine sinnlichen Erfahrungen geistig
ordnet.
Als nächste Stufe erscheint die Empfindung eines subjektiven Selbst mit
dem Bereich der intersubjektiven Bezogenheit. Die Unterscheidung zwischen
Selbst und Anderen ist etabliert, der Säugling realisiert, dass jeder Mensch eine
eigene innere seelische Welt hat. Verhalten ist deren Ausdruck. Diese Entdeckung beginnt um den 9. Lebensmonat herum. Sie ist bestimmt von der Fähigkeit zur gemeinsamen Ausrichtung der Aufmerksamkeit, zur intentionalen Gemeinsamkeit und zur Gemeinsamkeit affektiver Zustände, die nun aktiv gesucht
wird.
Die gemeinsame Ausrichtung der Aufmerksamkeit kann man sich am ehesten an der Beobachtung vergegenwärtigen, dass Säuglinge, die sich noch vor
diesem Entwicklungsschritt befinden, auf den Zeigefinger der Mutter starren,
wenn diese auf etwas hindeuten möchte; sie verstehen die Absicht des Zeigens
noch nicht. Wenn diese Stufe aber erreicht ist, folgen die Kinder dem Blick der
Mutter und schauen, worauf diese hinweist. Dem richtigen Verständnis der Zeigegeste schließt sich weiter die sog. imperiale Geste an: Das Kind zeigt jetzt
selbst auf etwas, sagt „Da!“ mit forderndem Ton und kontrolliert mit seinem
Blick (der zum Gesicht der Mutter geht), ob deren Blick der Zeigegeste folgt. Es
entsteht eine Triade zwischen Mutter, Kind und Gegenstand mit wechselseitiger
Blickkontrolle, die von Freude erfüllt ist.
Säuglinge reagieren mehr und mehr auf Absichten – sie begreifen, dass andere mit Absichten handeln (und nicht nur von Reflexen oder Reiz-ReaktionsVerknüpfungen gesteuert sind) und dass solche Absichten an äußerem Verhalten
abgelesen werden können. Im Umkehrschluss wollen sie selbst als sich intentional mitteilende Wesen verstanden werden. Ein späteres Experiment (Meltzoff et
al. 1999) zeigt das sehr schön:
Vor einem 18 Monate alten Kind baut der Versuchsleiter Spielmaterialien auf; Holzringe und
Stäbe etwa. Der Versuchsleiter versucht nun vor den Augen des Kindes, die Ringe auf den Stab
aufzufädeln, was ihm – instruktionsgemäß – mißlingt; dabei stößt er Laute des Unwillens und
Mißbehagens aus und läßt die Materialien dann vor dem Kind liegen. Das Kind nimmt diese
sofort auf und fädelt die Ringe auf den Stab.
Ein solches Verhalten kann nicht durch Imitationslernen erklärt werden, das
Kind tut etwas, was es nicht gesehen hatte. Es hat Intentionen verstanden. „Obviously, infants are not behaviorists“, schreiben die Autoren mit ironischem
77
Michael B. Buchholz
Seitenhieb auf den Behaviorismus. Das Kind kann Intentionen nun von menschlichen Personen erschließen.
Die Gemeinsamkeit affektiver Zustände kann man am Paradigma des „social referencing“ am besten veranschaulichen (Emde 1990). Man baut vor dem
Kind eine Unsicherheit erzeugende Situation auf, etwa einen Graben, der mit
einer (sicheren) Glasplatte überdeckt ist. Auf der anderen Seite des Grabens
neben der Mutter befindet sich ein attraktives Spielzeug. Das krabbelnde Kind
kennt sich nicht aus und sucht den Blick der Mutter:
„Wenn das Kind in dieser Situation unsicher wird, schaut es zur Mutter hin, um ihrem Gesicht
abzulesen, was sie empfindet; es will im Grunde sehen, was es selbst empfinden sollte, sucht
nach einer zweiten Beurteilung der Situation, die ihm aus seiner eigenen Unsicherheit heraushelfen könnte. Wenn die Mutter zuvor angewiesen wurde, ein vergnügtes Gesicht zu machen
und zu lächeln, wagt sich der Säugling über die visuelle Klippe. Hat man ihr gesagt, sie solle
ein ängstliches Gesicht machen, wendet sich der Säugling von der ‚Klippe‘ ab, zieht sich zurück und wird möglicherweise unruhig“ (Stern 1992: 189f.).
An dieser Stelle kommt Stern auf die psychoanalytische Diskussion von Theorieproblemen zurück:
„Was machen wir also mit der intersubjektiven Bezogenheit? Sollen wir sie als eine weitere autonome Ichfunktion betrachten? Oder haben wir es hier mit einem primären psychobiologischen Bedürfnis zu tun? Die Antworten auf diese Fragen sind für die klinischen Theorien
wahrhaft folgenreich. Je stärker man die intersubjektive Bezogenheit als psychisches Grundbedürfnis begreift, desto konsequenter modifiziert man die klinische Theorie in Richtung jener
Vorstellungen, die von den Selbstpsychologen und manchen Existenzpsychologen entwickelt
worden sind“ (ebd.: 195).
Tatsächlich erkennt man im Paradigma des „social referencing“ die Analogie zu
späteren Angststörungen, denn auch diese Menschen deuten ihre eigene Gefühlslage gleichsam nicht von innen her, sondern in der Ausrichtung an dem, wie
Situationen von anderen aufgefasst werden. Stern kommt in seiner Diskussion
um den „Sprung in die intersubjektive Bezogenheit“ zu der Auffassung:
„Ich behaupte, daß die Natur auch die Mittel und Möglichkeiten zu all jenen subjektiven Verflechtungen geschaffen hat, die dem Überleben dienlich sind. Und die Intersubjektivität kann
für das Überleben von ungeheurer Bedeutung sein.
Es steht außer Frage, dass die Gesellschaft dieses Bedürfnis nach Intersubjektivität schwächen
oder steigern kann. In einer Sozialstruktur zum Beispiel, in der man davon ausgeht, dass alle
Angehörigen im wesentlichen identische innere, subjektive Erfahrungen haben, und in der zudem die Homogenität dieses Aspekts des subjektiven Erlebens betont wird, gäbe es kaum das
Bedürfnis – und auch keinen sozialen Druck –, die Entwicklung von Intersubjektivität zu fördern. Eine Gesellschaft hingegen, in der die Existenz individueller Unterscheide hoch bewertet
und allgemein anerkannt ist (wie es in unseren Gesellschaften der Fall ist), wird ihre Entwicklung fördern“ (ebd.: 196f.).
78
Daniel N. Stern
Mit dem 15. Lebensmonat wird die Stufe der Empfindung des verbalen Selbst
begonnen. Die intersubjektive Affektabstimmung sieht Stern als „Sprungbrett
zur Sprache“. Die Fähigkeiten des Kleinkindes erreichen ein Niveau, wo es
Handlungen im Geiste ablaufen lassen kann, ohne sie gleich in die Tat umsetzen
zu müssen, woraus sich zwanglos die Fähigkeit, symbolisch zu handeln (Spiel),
ableitet; die andere Fähigkeit, sich selbst Urheberschaft zuschreiben zu können,
kann man experimentell am sog. „Rouge“-Test zeigen: man bringt Kindern (um
15 Monate herum) unbemerkt einen roten Fleck auf der Stirn bei und wenn sie
sich im Spiegel sehen, hat sich die Reaktion verändert; sie zeigen nicht mehr auf
das Spiegelbild, sondern fassen sich an die Stirn. Die ersten empathischen Verhaltensweisen lassen sich beobachten. Ein Junge (Stern 1992: 236) war es gewohnt, bei Aufregung am Daumen zu lutschen und sich am Ohrläppchen zu
zupfen. Als er einmal mitbekam, dass der Vater erregt war, zupfte er diesen am
Ohr und lutschte weiter am Daumen. Damit wäre genau der Übergang verdeutlicht; Kinder entwickeln den Schritt, das eigene Selbst betrachten zu können, als
wäre es Gegenstand der objektiven Welt und damit beginnen sie auch, sich sozialen Kategorien wie Junge oder Mädchen zuzuordnen. Für sich selbst verwenden sie mehr und mehr Begriffe wie Ich oder meins, deins usw. Durch das Spiel
entwickeln sie ein umfängliches Register von Symbolen.
Wieder findet sich das Zusammenspiel interaktiver und kognitiver Momente. Mit dem Erwerb symbolischer Mittel verändern sich Zeitstruktur und Zeiterleben ebenso wie die Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität sich etabliert. Im Spiel kann das Kind nicht nur weite Zeiträume überschreiten und Gegenstände personifizieren, sich in gedanklich weit entfernte Räume begeben oder
diese in eigenen Kreationen erschaffen. Es muss unvermeidlich die eigenen mentalen Operationen miteinander kombinieren und zugleich von ihnen abstrahieren.
Wiederholte Erfahrungen werden hinsichtlich gemeinsamer Ordnungen erkannt
– und das ist eine Abstraktionsleistung, mit deren Hilfe das Selbst und seine
mentalen Operationen mehr und mehr als von der Welt unterschieden betrachtet
werden; das Kind begreift, dass andere die gleiche Welt anders erleben.
Diese emergenten Fähigkeiten bauen auf vorsprachlichen auf. Tomasello
(2001) beschrieb, wie die Wahrnehmung von Intentionen im vorsprachlichen
Spiel die Entwicklung des Sprechens und sprachlicher Symbolik befördert. Er
schildert ein Kind, das einen Schlüsselbund nimmt und dazu „brumm, brumm“
macht. Damit generiert das Kind vorsprachlich eine Metapher: „Der Schlüsselbund ist ein Auto“. Diese Metapher basiert auf der physiognomischen Wahrnehmung, nämlich „Etwas“ als „Etwas Anderes“ zu sehen. Das Kind sieht den
Schlüsselbund als Auto. Die Mutter ratifiziert diesen eigenwilligen Symbolgebrauch und nimmt ihrerseits, sagen wir, einen Bleistift und läßt ihn als Fußgänger auftreten. Sie antwortet ihrerseits mit einer kreativen Metaphorik: „Der
79
Michael B. Buchholz
Bleistift ist ein Fußgänger.“ So entsteht nicht falscher, sondern neuer interaktiver
Symbolgebrauch, der in interaktive Szenarien eingebunden ist, in denen Mutter
und Kind in gemeinsamer affektiver Dichte eigene Welten schaffen. Und
zugleich beginnt die Auflösung dieser affektiven Dichte. Indem sich mehr und
mehr interaktive Symbole zwischen Mutter und Kind schieben, entsteht eine
neue Weise des Zusammenseins:
„Eine der wichtigsten Folgen dieses dialogischen Verständnisses der Sprache ist die, dass das
Sprechenlernen selbst sich neu, nämlich als Herausbildung gemeinsamer Erfahrungen, Wiederherstellung der ‚persönlichen Ordnung‘, Schaffung einer neuen Art des ‚Zusammenseins‘
von Kind und Erwachsenen, darstellt. Ebenso wie die Erfahrungen des Zusammenseins in der
intersubjektiven Bezogenheit das Empfinden zweier aufeinander ausgerichteter Subjektivitäten
– das gemeinsame Erleben innerer Zustände –voraussetzen, so schaffen nun auch auf dieser
neuen Stufe der verbalen Bezogenheit Kind und Mutter eine Erfahrung des Zusammenseins,
indem sie sich sprachlicher Symbole bedienen – gemeinsam entwickeln sie Bedeutungen, die
das persönliche Erleben betreffen“ (Stern 1992: 244).
Gelernt wird genau genommen nicht „Sprache“, sondern Sprechen; Wittgenstein
hatte darauf hingewiesen, dass man sich den Erwerb der Muttersprache nicht
vorstellen könne wie den Erwerb einer Fremdsprache (vgl. Buchholz 2006).
Sprechenlernen bleibt eingebunden in Szenen der vorsprachlichen Bezogenheit,
die den Worten höchst individuelle Bedeutungen verleiht, die sich erst allmählich in einen mehr „öffentlichen“ Sprachgebrauch einfügen. Sprechen lernen
trennt nicht die „Symbiose“ auf, sondern schafft neue Formen des „being-with“.
1.4 Die RIGs und die protonarrative Hülle
Später hat Stern (1996, 1997, 1998) seine Theorie erweitert. Von besonderer
Bedeutung sind die RIGs („representations of interactions, generalized“). Was
ein RIG ist, erschließt sich, wenn man beachtet, dass verschiedene Ereignisstrukturen schon in der Wahrnehmung geordnet und hinsichtlich gemeinsamer Merkmale abstrahiert werden. Repräsentiert werden also nicht einzelne Objekte oder
Szenen, sondern unter aktiver Beteiligung des sich entwickelnden Selbst werden
Ereignisstrukturen auf Gemeinsamkeiten durchmustert und diese gemeinsamen
Muster als Repräsentanzen gespeichert, nicht die einzelnen „Objekte“: „Immer,
wenn bei Vater die Kiefergelenke sich verdickten, weil er die Zähne zusammenbiss, wusste ich, dass er wütend werden würde“. Von dieser Art („Immer,
wenn...“), aber bereits vorsprachlich, sind RIGs gebildet.
Solche interaktiven Szenarien werden als Ereignisstrukturen beschrieben
und als ein Element neben fünf anderen einer neuen Theorie von grundlegenden
Repräsentationsformen eingeordnet. Diese sind:
80
Daniel N. Stern
1.
2.
3.
4.
5.
6.
die genannten Wahrnehmungsschemata (amodale und physiognomische Wahrnehmung
sowie die Vitalitätsaffekte),
sensu-motorische Schemata, wie die Hand-Auge-Koordination,
in späterer Entwicklung die Ausbildung von konzeptuellen Schemata (interaktive Symbole und Worte),
Ereignisstrukturen als Skripte für interpersonelle Szenarien und Handhabungen von gegenständlichen Objekten,
Affekt-Schemata in ihrer zeitlichen Gestalt und
die protonarrative Hülle.
Da die ersten 5 Elemente bereits besprochen sind, beschränke ich mich auf die
Erläuterung des Konzepts der protonarrativen Hülle.
Eine Narration hat eine Struktur, die man als Einleitung, Höhepunkt,
Abschluß und dann noch als Coda grob beschreiben könnte. Diese formalen
Elemente finden sich bei fast allen Erzählungen und wenn eines fehlt, etwa der
Höhepunkt, auf den eine Geschichte zuläuft, ergeben sich Nachfragen. Wir wissen gut (Nelson 1996), wie Kinder in solche Formate eingewiesen werden, indem Mütter ihnen gleichsam in konkrete Reformulierungen „einhelfen“, wenn
das Kind zu erzählen beginnt. Stern nimmt an, dass dieses Format bereits vorsprachlich als Ereignishülle die gesamte Erfahrung sinnvoll umhüllt und die
anderen Repräsentationsformate umfasst.
Stern (1997: 17) beschreibt, wie der Säugling ein interaktives Ereignis narrativ strukturiert wahrnehme und er versteht darunter „nicht einfach eine Geschichte, die man jemandem erzählt und die eine bestimmte Gestalt“ habe, sondern meint eher „eine Art und Weise, über menschliche Ereignisse zu denken“.
Hier geht Stern klar über das empirisch Beobachtbare hinaus, wenn er weiter
formuliert:
„Auch Babys denken in Termini wie ‚Was ist das Motiv, was ist das Ziel, und wie komme ich
dahin?‘ In anderen Worten: Sie denken nicht anders als im Sinne irgendeiner guten Geschichte
in einem Film, in einem Plot im Hinblick auf seinen logischen Ausgang.“ Dann fügt er an: „Aber in allen Erzählungen gibt es noch etwas jenseits des Plots, etwas, das dramatische Spannungslinie genannt wird. Damit ist gemeint, dass der Plot nicht eine Aufzählung von Ereignissen ist, sondern eine kohärente Sequenz hat, die sich emotional entwickelt, sich dann entspannt
und von neuem beginnt“ (ebd.: 17).
Auch wenn Stern mit der Vermutung, wie Babys denken, weit geht, muss eine
Theorie des Selbstempfindens zu dieser Annahme kommen. Empirisch beobachtbar ist, dass im Erzählen nicht nur Ereignisse sequentiell aufeinander folgen,
sondern affektive Momente der „Spannungslinie“ dokumentierbar sind und dass
sich hierin eine Sinngebung des Narrativen äußert, die über die Ereignisse hinaus
geht; das Selbst wendet sich erzählend an einen anderen, nicht, um nur Ereignisse bestätigt zu bekommen, sondern um gemeinsames Erleben zu schaffen und zu
teilen.
81
Michael B. Buchholz
Was in einer Erzählung die Coda ist, ist in der Erfahrung die Schlussbildung, die jedoch keineswegs in Worten als „Moral ‚von der Geschicht‘“ formuliert sein muss. Vielmehr verarbeite der „geistige Apparat“ (Stern 1998: 113)
mentale Vorgänge auf mehreren Ebenen zugleich. Es geht um Motive und Intentionen, Imaginationen und Bilder, die Gestalt von affektiven Verläufen und motorischen Aktionen, Erregungen, das Erleben von Zeit und Raum oder die Einspeisung von Ideen – dies alles „wird gleichzeitig parallel in sämtlichen mentalen Zentren und jeweils spezialisierten Bereichen“ (ebd.) so verarbeitet, dass
neue Eigenschaften emergieren können. Dornes (1997) spricht hier von narrativem Denken als Vorläufer des Erzählens. Was Ereignisstrukturen also umhüllt,
ist die aktive Leistung der Sinngebung, in deren Modus bereits Säuglinge sich
ihre Welt erlebend anzueignen versuchen. Sinn kommt nicht nur von mütterlicher „Sinninfusion“ (s.o.), sondern ist bereits rezeptiv in der protonarrativen
Hülle angelegt. Sinn muss in der Interaktion an Sinn anschließen. Dazu muss
mütterlicher Sinn kindlichen Sinn-„Rezeptoren“ angeboten werden. Dann antworten sie. Mit Sinn.
2
Abschließende Bemerkungen
Sterns empirische Forschung hat Klärungen geschaffen. Die Frage, ob Babys
bereits triebbestimmte Phantasien haben, ist entschieden; sie haben sie nicht. Sie
entwickeln sie nicht als Triebabkömmlinge, sondern in Interaktion mit menschlicher Umwelt. Verinnerlichungsprozesse finden statt, aber es werden nicht Repräsentanzen von Objekten oder Partialobjekten gebildet, sondern Interaktionsrepräsentanzen. Identität bildet sich interaktiv und intersubjektiv. Die Beschreibung
eines RIG ist eine hilfreiche Klärung. Das analogisierende und gestalthafte
Wahrnehmen und Denken wird rehabilitiert. Solche Denkformen sind nicht unreif. Sie sind primäre Formen des Weltzugangs, aus denen später kreative Prozesse hervorgehen. Der Aufbau des Selbstempfindens verläuft nicht in großen,
Jahre umfassenden Zeiträumen, sondern lässt sich nach Monaten differenziert
beschreiben. Prototypische Interaktionen lassen sich herausstellen.
Die Verschiebung des theoretischen Bezugssystems von der individuellen
„Tiefe“ zur interpersonellen Bezogenheit ab ovo hat die Konsequenz, dass individuelle Identität als etwas betrachtet werden muss, was nicht „da“ ist und deshalb auch nicht „gefunden“ werden kann. Redewendungen wie „man muss seine
Identität finden“ sind Alltagssprache, tatsächlich aber verwirrend. Identität wird
vielmehr prozessual in lokaler Interaktion generiert, sie hat eine beobachtbare
Geschichte, die dennoch unbewusst verläuft und den Selbstaufbau bestimmt.
Interaktion generiert solche emergente Oberfläche des Unbewussten, die in der
82
Daniel N. Stern
Identitätsdiskussion ihre Berücksichtigung und Beachtung finden sollte, ohne
dass übergreifende biographische Muster deswegen aus dem Blick zu verlieren
wären.
Primärliteratur
Boston Change Study Group; Bruschweiler-Stern, Nadia/Harrison, Alexandra
M./Lyons-Ruth, Karlen/Morgan, Alexander C./Nahum, Jeremy P./Stern,
Daniel N. et al. (2004): Das Implizite erklären: Die lokale Ebene und der
Mikroprozess der Veränderung in der analytischen Situation. In: Psyche – Z
Psychoanal, 58, S. 935-953.
Boston Change Process Study Group (2007): The foundational level of psychodynamic meaning: Implicit process in relation to conflict, defense and the
dynamic unconscious. In: Int. J. Psychoanalysis, 88, S. 843-860.
Stern, Daniel N. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: KlettCotta.
Stern, Daniel N. (1998): The process of therapeutic change involving implicit
knowledge: Some implications of developmental observations for adult
psychotherapy. In: Infant Mental Health Journal, 19, S. 107-125.
Stern, Daniel N. (1996): Ein Modell der Säuglingsrepräsentationen. In: Forum
der Psychoanalyse, 12/3, S. 187-203.
Stern, Daniel N. (1997): Das Objekt im subjektiven Erleben des Kindes. In: Zs.
f. psychoanal. Theorie und Praxis, XII, S. 8-21.
Stern, Daniel N. (1997): The Motherhood Constellation. A Unified View of
Parent-Infant Psychotherapy. New York: Basic Books.
Stern, Daniel N. (1998): Die Mütterlichkeitskonstellation: Mutter, Säugling und
Großmutter rund um die Geburt. In: Welter-Enderlin, R./Hildenbrand, B.
(Hrsg.): Gefühle und Systeme – Die emotionale Rahmung beraterischer und
therapeutischer Prozesse. Heidelberg: Carl-Auer.
Stern, Daniel N. (2004): The present moment in psychotherapy and everyday
life. New York: Norton.
Stern, Daniel N.; Sander, Lou W./Nahum, J. P./Harréison, Alexandra M./LyonsRuth, Karlen/Morgan, Alexander C. et al. (1998): Non-Interpretive Mechanisms in Psychoanalytic Therapy. In: Int. J. Psychoanal., 79, S. 903-921.
Stern, Daniel N.; Sander, Lou W./Nahum, J. P./Harréison, Alexandra M./LyonsRuth, Karlen/Morgan, Alexander C. et al. (2002): Nicht-deutende Mechanismen in der psychoanalytischen Therapie. Das „Etwas-Mehr“ der Deutung. In: Psyche - Z Psychoanal, 56, S. 974ff.
83
Michael B. Buchholz
Sekundärliteratur
Alemzadeh, Marjan (2008): Frühkindliches Selbstempfinden. Daniel N. Sterns
Entwicklungstheorie und seine Bedeutung für die Frühpädagogik. Marburg:
Tectum-Verlag.
Altmeyer, Martin/Thomä, Helmut (Hrsg.) (2006): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta.
Bruschweiler-Stern, Nadia/Harrison, Alexandra M./Lyons-Ruth, Karlen/Morgan,
Alexander C./Nahum, Jeremy P./Sander, Lou W. et al. (2002): Explicating
the Implicit: the local level and the microprocess of change in the analytic
situation. In: Intern. J. Psychoanal., 83, S. 1051-1062.
Buchholz, Michael B. (2006): Die Geburt der Sprache aus dem Geist der Musik.
In: Buchholz/Gödde 2006. S. 687-717.
Buchholz, Michael B. (2006): Konversation, Erzählung, Metapher. Der Beitrag
qualitativer Forschung zu einer relationalen Psychoanalyse. In: Altmeyer/
Thomä 2006, S. 282-314.
Buchholz, Michael B./Gödde, Günter (Hrsg.) (2005): Das Unbewusste in aktuellen Diskursen. Anschlüsse. Das Unbewusste, Bd. II. Giessen: Psychosozial.
Buchholz, Michael B./Gödde, Günter (Hrsg.) (2006): Das Unbewusste in der
Praxis – Erfahrungen verschiedener Professionen. Das Unbewusste, Bd. III.
Giessen: Psychosozial.
Butterworth, George (Hrsg.) (1982): Social Cognition. Studies of the Development of Understanding. Brighton: The Harvester Press.
Dornes, Martin (1993): Das beobachtete und rekonstruierte Kind. In: Psyche – Z
Psychoanal, 47, S. 896–902.
Dornes, Martin (1993): Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M.: Fischer.
Dornes, Martin (1997): Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten
Lebensjahre. Frankfurt a.M.: Fischer.
Dornes, Martin (2000): Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt a.M.: Fischer.
Dornes, Martin (2002): Ist die Kleinkindforschung irrelevant für die Psychoanalyse? Anmerkungen zu einer Kontroverse und zur psychoanalytischen Epistemologie. In: Psyche – Z Psychoanal, 56, S. 888ff.
Dornes, Martin (2004): Über Mentalisierung, Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst. In: Forum der Psychoanalyse, 20, S. 175-200.
Dornes, Martin (2006): Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung.
Frankfurt a.M.: Fischer.
Drews, Sybille/Brecht, Karen (1975): Psychoanalytische Ich-Psychologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
84
Daniel N. Stern
Emde, Robert N. (1990): Mobilizing Fundamental Models of Development:
Empathic Availability and Therapeutic Action. In: J. Amer. Psychoanal.
Assoc., 38, S. 881-914.
Fonagy, Peter; Gergely, György/Jurist, Elliott L.; Target, Mary (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: KlettCotta.
Freud, Siegmund (1904): Psychopathologie des Alltagslebens. Gesammelte
Werke, Bd. 4. Frankfurt a.M.: S. Fischer.
Freud, Siegmund (1915): Triebe und Triebschicksale. Gesammelte Werke, Bd.
10. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 209-232.
Geißler, Peter (2007): Entwicklungspsychologisch relevante Konzepte im Überblick. In: Geißler, Peter/Heisterkamp, Günter (2007), S. 99-165.
Geißler, Peter/Heisterkamp, Günter (Hrsg.) (2007): Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Ein Lehrbuch. Wien/New York: Springer.
Grossmann, Klaus E./Grossmann, Karin (1995): Frühkindliche Bindung und
Entwicklung individueller Psychodynamik über den Lebenslauf. In: Familiendynamik, 20, S. 171-192.
Hüther, G. (2005): Die vergebliche Suche der Hirnforscher nach der Region im
menschlichen Gehirn, in der Bewusstsein entsteht. In: Buchholz/Gödde
2005. S. 704-719.
Largo, Remo H. (19986): Babyjahre – Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht. Das andere Erziehungsbuch. München/Zürich: Piper.
Lichtenberg, Joseph D. (1983): Psychoanalysis and Infant Research. Hillsdale/London: Lawrence Erlbaum Associates.
Meltzoff, Andrew N./Gopnik, Alison/Repacholi, Betty M. (1999): Toddlers’
Understanding of Intentions, Desires and Emotions: Explorations of the
Dark Ages. In: Zelazo/Astington/Olson 1999. S. 17-42.
Nelson, Katherine (1996): Language in Cognitive Development. The Emergence
of the Mediated Mind. Cambridge: Cambridge University Press.
Papousek, Mechthild (1996): Die intuitive elterliche Kompetenz in der vorsprachlichen Kommunikation als Ansatz zur Diagnostik von präverbalen
Kommunikations- und Beziehungsstörungen. In: Kindheit und Entwicklung,
5, S. 140-146.
Schegloff, Emanuel (2007): Sequence Organization in Interaction. A Primer in
Conversation Analysis. Cambridge: Cambridge University Press.
Shotter, John/Newson, John (1982): An ecological approach to cognitive development: implicate orders, joint actions and intentionality. In: Butterworth
1982. S. 32-52.
85
Michael B. Buchholz
Tomasello, Michael (2001): Perceiving Intentions and Learning Words in the
Second Year of Life. In: Tomasello/Bates 2001. S. 111-128.
Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Tomasello, Michael/Bates, Elizabeth (Hrsg.) (2001): Language Development.
The Essential Readings. Oxford: Blackwell Publishing.
Welter-Enderlin, Rosmarie/Hildenbrand, Bruno (Hrsg.) (1998): Gefühle und
Systeme – Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse. Heidelberg: Carl-Auer.
Zelazo, Philip D.; Astington, Janet W.; Olson, David R. (Hrsg.) (1999): Developing Theories of Intention. Social Understanding and Self-Control. Mahwah, NJ/London: Lawrence Earlbaum.
Zepf, Siegfried/Zepf, Florian D. (2007): Libido und psychische Energie – Freuds
Konzept nochmals betrachtet. In: Forum der Psychoanalyse, 23, S. 315-330.
86
George Herbert Mead: Geist, Identität
und Gesellschaft aus der Perspektive des
Sozialbehaviorismus
Benjamin Jörissen
Biographie
George Herbert Mead (1863-1931) wuchs in einem familiären und sozialen Umfeld auf, das von einer Mischung aus protestantischer Orthodoxie einerseits und
sozialem Engagement andererseits geprägt war. Sein Vater, der bereits in Meads
achtzehntem Lebensjahr verstorbene Hiram Mead, war Pfarrer und Lehrer für
Geschichte und Theorie der Predigt (Homiletik) am Oberlin College in Ohio;
seine Mutter, Elisabeth Storrs Mead, war Lehrerin und ab 1890 Präsidentin des
soeben als College anerkannten Mount Holyoke Female Seminary and College –
im Übrigen eine der weltweit ersten, und bis heute in dieser Form bestehenden,
Hochschulen für Frauen. Mead selbst besuchte zunächst das Oberlin College, wo
er seinen langjährigen Freund und späteren Schwager Henry Castle kennenlernte.
Diese intellektuell lebhafte, von gemeinsamen philosophischen Interessen getragene Freundschaft brachte Mead in geistige Distanz zu den religiösen Dogmen
seines Herkunftsmilieus, damit zugleich aber auch zu den herrschenden Vorstellungen seiner Zeit über weltanschauliche und philosophische Grundfragen –
etwa über das, was unter Subjekt und Seele zu verstehen sei (Cook 1993: 3f.).
Die damit einhergehende Entfremdung von einem Umfeld, welches ein Abweichen von der herrschenden Meinung mit sozialen und beruflichen Sanktionen
beantwortete, stürzte den jungen Mead in eine existenzielle Krise, zumal er seit
dem Tode seines Vaters seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten musste (Joas
1979: 22).
Nach einigen Jahren setzte er in Harvard seine Studien fort. Er fand dort in
Josiah Royce einen einflussreichen philosophischen Lehrer und erlangte die
Aufmerksamkeit William James’, eines führenden Psychologen seiner Zeit und
Bruder des bekannten Romanautors Henry James, der ihm für einige Zeit eine
Anstellung als Hauslehrer gab.
87
Benjamin Jörissen
Nach Aufenthalten in Leipzig und Berlin, wo er u.a. bei Wilhelm Wundt
studierte, lehrte er ab 1892 an der University of Michigan Psychologie und Philosophie. Dort lernte Mead John Dewey kennen, mit dem ihn eine lebenslange
Freundschaft verband. Dewey, der erheblich produktivere und akademisch erfolgreichere von beiden, betonte in seinem Nachruf auf Mead, in welch hohem
Maße er Meads Denken verpflichtet sei („I dislike to think what my own thinking might have been were it not for the seminal ideas which I derived from
him“; Dewey 1931: 311). Dewey nahm 1894 einen Ruf an die neu gegründete
University of Chicago an und machte es zur Bedingung, dass Mead dort als Assistenzprofessor angestellt wurde. Der Pragmatismus als ein damals unerhört
modernes Paradigma ist eng mit den Arbeiten Meads, Deweys und anderen Chicagoer Philosophen und Sozialforschern verbunden. Während Dewey zehn Jahre
später zur Columbia University nach New York wechselte, blieb Mead zeitlebens in Chicago.
Für das Verständnis der Meadschen Schriften ist es sehr hilfreich, die gegensätzlichen gesellschaftlichen Kräfte zu verstehen, welche Meads frühe intellektuelle Biographie geprägt haben. Zum einen fühlte sich Mead offenbar seiner
orthodox religiösen Familie gegenüber verpflichtet – seine Mutter hatte als College-Präsidentin einen Ruf zu verlieren –, zum anderen sah er sich wohl auch
angesichts seiner ungünstigen ökonomischen Lage seit dem Tod des Vaters gezwungen, seine durchaus unorthodoxen Ideen nur sehr verhalten und indirekt zu
äußern. Mead hat in frühen Jahren kaum publiziert, hat sein unterbrochenes Dissertationsprojekt nicht fortgeführt, und hat zeitlebens kein einziges Buch veröffentlicht. Er war sicherlich nicht jemand, der seine Ideen nachdrücklich und
selbstbewusst zum Ausdruck brachte und kämpferisch für sie eintrat (Collins
1989). Meads Theorien zu Identität und Sozialität sind zwar ausgesprochen
komplex, doch erscheint der sprachliche Duktus in seinen Publikationen und
Notizen oft unnötig umständlich, bisweilen beinahe verklausuliert. Dies betrifft
auch den hier im Zentrum der Betrachtung stehenden Band Geist, Identität und
Gesellschaft aus Sicht des Sozialbehaviorismus: zum einen, was Terminologie
und Sprache betrifft, zum anderen aber hinsichtlich der Entstehungsgeschichte
dieses Buches, die angesichts seiner enormen Wirkung auf Soziologie, Sozialpsychologie und Erziehungswissenschaft des 20. Jahrhunderts sicherlich zu den
größeren Kuriositäten der Geistesgeschichte gerechnet werden kann.
88
George Herbert Mead
1
„Geist, Identität und Gesellschaft“
im Kontext des Gesamtwerkes
Mead hielt in Chicago regelmäßig eine Vorlesung, die sich großer Beliebtheit
erfreute. Sie taucht unter dem Titel „Social Psychology“ zum ersten Mal im
Winter 1907 auf; seit 1917 ist sie als „Advanced Social Psychology“ in den Verzeichnissen registriert (Throop/Ward 2006). Es war Meads Schüler Charles W.
Morris, der den Band auf der Basis von „zwei ausgezeichneten Vorlesungsmitschriften zweier Studenten [aus den Jahren 1927 und 1930, BJ] in Verbindung
mit Auszügen aus anderen Aufzeichnungen dieser Art und ausgewählten Passagen aus unveröffentlichten Manuskripten Meads“ (Morris in Mead 1973, 9)
zusammenstellte und im Jahre 1934, drei Jahre nach Meads Ableben also, veröffentlichte.
Die von Mead selbst publizierten Schriften und Aufsätze – immerhin an die
hundert Titel, darunter allerdings nicht wenige sehr kurze Beiträge zu lokalen
Belangen, Zeitungsartikel, Rezensionen etc. – sind in ihrer Wirkung in keiner
Weise mit dieser Vorlesungsmitschrift zu vergleichen. Dies dürfte nicht zuletzt
daran liegen, dass Mead sich einer Systematisierung seiner Gedanken widersetzte. Mead verband im Grunde zwei Denkstile miteinander. Einerseits war er ein
konsequent nicht-reduktionalistischer Denker, d.h. er verweigerte die Reduktion
komplexer Phänomene auf monokausale Erklärungsmodelle, so wie sie auch zu
Meads Zeiten verbreitet waren. Mead war ein erklärter Antidualist: die Trennung
von Geist und Welt oder Subjekt und Körper, wie sie dem europäischen Denken
(spätestens) seit Descartes’ Lehre von den beiden Substanzen – der denkenden
(res cogitans) und der ausgedehnten Körperwelt (res extensa) – selbstverständlich ist, stellte für Mead eine nicht akzeptable Reduktion (entweder auf geistlose
Natur oder auf weltlosen Idealismus) dar. Man muss Mead insofern durchaus auf
der Folie der Hegelschen Dialektik lesen (vgl. Honneth 1992): es ging ihm um
das Ganze dessen, was er den „sozialen Prozess“ nannte. Andererseits nun ist
Meads Denken von einer großen, ja geradezu intimen Nähe zu seinen Gegenständen geprägt. In seinen Notizen verfährt er niemals deduktiv, selten systematisch, taucht tief in die jeweils betrachteten Sachverhalte und ihre inneren Komplexitäten ab und versucht aus dieser „kreisende[n] Durcharbeitung einzelner
Thesen“ (Joas in Mead 1987a: 7) heraus immer wieder, Details als Momente
umfassender Zusammenhänge sichtbar zu machen.
Bei einer solchen Vorgehensweise läuft eine Systematisierung – zumal in
Buchform – immer Gefahr, Zusammenhänge zu fixieren, die für Mead a) an
sich fluide und dynamisch waren, und die er b) möglicherweise (noch) nicht in
einem für ihn zufriedenstellenden Maß beschrieben hatte. Und in der Tat kann
89
Benjamin Jörissen
man sagen, dass Geist, Identität und Gesellschaft genau dies vollzieht: es bietet
eine handhabbare Auswahl von Themen im Rahmen einer plausiblen Systematik
an, unter deren Architektur Mead zum Klassiker geworden ist, die aber der
Komplexität seines Denkens, wie er es in seinen späten Schriften ausgebreitet
hat, nur in Teilen gerecht wird. Tatsächlich scheint es der Fall zu sein, dass die
zugrundeliegende Vorlesung, wie Ellsworth Faris, langjähriger Kollege Meads
und damals Dekan der Soziologischen Fakultät in Chicago, im Rahmen einer
Rezension des Bandes berichtet, einen einführenden Charakter hatte, so dass
Mead für ihn zentrale Gedanken dort nicht aufgenommen hat:
„Der Kurs in Sozialpsychologie […] war zunächst als Einführung in Meads Konzeptionen geplant; es sollte ihm eine Möglichkeit geben, in seinem eigenen Kurs den anwachsenden Korpus
kontroverser Literatur zu diskutieren. Dass der Kurs tatsächlich geteilt wurde, mag erklären,
warum in den Notizen [damit sind wohl Meads Notizen gemeint, B.J.] der späten Periode bestimmte Themen nicht enthalten sind, die der Herausgeber [also Morris, B.J.] besonders betont,
so wie etwa die detaillierte Abhandlung [des Aspekts] der Integration“ (Faris 1936/1992; Übersetzung B.J.).1
Es ist also offenbar der Fall, dass Mead in der Vorlesung bzw. in diesem „course“ nicht; zumindest nicht eine vollständige „introduction to Mead“ gab. Nach
Faris Darstellung wurde die Veranstaltung geteilt – wie genau, erfahren wir leider nicht – so dass dort anscheinend Themen verhandelt wurden (wie das Problem der sozialen Integration), die Mead selbst zu diesem Zeitpunkt in dieser
Form nicht mehr beschäftigten. Es kam also möglicherweise schon an dieser
Stelle – folgt man der Darstellung Faris’ – zu einem Missverhältnis zwischen
Meads eigenem Forschungsstand und dem, was in der Vorlesung abgehandelt
und folglich in den Band aufgenommen wurde. Ein Blick auf die von Mead seit
Mitte der 1920er Jahre veröffentlichten Schriften macht diese Aussage plausibel,
auch wenn letztlich unklar bleibt, warum Morris, der schon 1925 über das philosophische Thema „Symbolism and Reality: A Study in the Nature of Mind“ bei
Mead promoviert hatte und insofern ein intimer Kenner des Gesamtzusammenhangs gewesen sein muss, dies in Kauf nahm.
Zudem moniert Faris deutlich, dass Morris seine eigene Sichtweise der
Dinge zu dominant eingebracht habe:
1 Faris formuliert den Sachverhalt hier leider nicht sehr deutlich; die Bezüge sind im Original nicht
leicht rekonstruierbar. Hier der Originaltext: „The course in social psychology […] was first
planned as an introduction to Mead and served also to give him an opportunity to discuss in his
own course the growing body of controversial literature. That the course was in fact divided will
explain the absence in the notes of the latter period of certain topics to which the editor calls attention, such as the detailed treatment of integration“ (Faris 1936/1992: 17).
90
George Herbert Mead
„The editor has, unfortunately, seen fit to give it another title and has taken the liberty to rearrange the material in a fashion that will be deprecated by many who knew Mead and thought
they understood him. […] Mind, self, and society is the reverse order to that which the structure of Mead's thought would seem to make appropriate. Not mind and then society; but society first and then minds arising within that society – such would probably have been the preference of him who spoke these works“ (Faris 1936/1992: 17).
Es geht hier nicht darum zu entscheiden, ob Morris’ oder Farris’ Sichtweise
zuzustimmen sei. Vielmehr gilt es nachdrücklich zu betonen, dass Geist, Identität und Gesellschaft grundsätzlich mit Vorsicht und entsprechenden Vorbehalten
– und vorzugsweise unter Einbezug der Aufsätze (Mead 1987a/b) – zu lesen ist.
Denn Morris’ Editionsarbeit war wohl zugleich ein Glückfall – insofern sie eines
der wichtigsten soziologischen Identitätskonzepte zugänglich und bekannt machte – wie auch ein Bärendienst, insofern sie letztendlich einer unterkomplexen
Wahrnehmung Meads, die die sozialphilosophischen Zusammenhänge nicht
selten völlig ausblendete, den Weg bereitete.2
2
Zum Identitätsbegriff in „Geist, Identität und Gesellschaft“
2.1 Vorab: Übersetzungsprobleme und ihre Folgen
Ein weiteres caveat, welches die Rezeption im deutschsprachigen Raum betrifft,
muss der Darstellung vorangestellt werden – es ist dies die leidige Übersetzungsproblematik. Über die üblichen Schwierigkeiten hinaus wurden in Geist,
Identität und Gesellschaft – im Folgenden als GIG abgekürzt – einige ausgesprochen problematische Entscheidungen getroffen. Neben Detailfragen wie der
häufigen Übersetzung von „meaning“ als „Sinn“ (und nicht etwa als „Bedeutung“)3 sind auch zentrale Konzepte betroffen – allem voran die Übersetzung
von „self“ als „Identität“. Angesichts der Existenz des englischen Wortes „iden-
2 Morris veröffentlichte zwar 1938 einige philosophische Schriften Meads unter dem Titel „Philosophy of the Act“; doch es ist symptomatisch für die Rezeption Meads, dass diese beiden Bände
niemals als solche übersetzt wurden (eine Auswahl aus beiden Bänden wurde 1969 unter dem Titel „Philosophie der Sozialität“ von Hansfried Kellner herausgegeben).
3 Aufgrund der Konnotation von „Sinn“ und „Sinnen“ („One can only sense a color once, in so far
as ‚color‘ means an immediate relationship of the light waves to the retina [...]“; Mead 1934, 84)
sollte die Übersetzung von „meaning“ als „Sinn“ nur dann erfolgen, wenn übergreifende Bedeutungszusammenhänge gemeint sind. Zumeist spricht Mead aber von der extensionalen Bedeutung
von Gesten. Die Frege'sche Unterscheidung von Bedeutung (Zeichen-Welt-Beziehung) und Sinn
(Zeichen-Zeichen-Beziehung) etwa ließe sich im Meadschen Text durchweg plausibel anwenden
(Frege 1892/1962).
91
Benjamin Jörissen
tity“ ist diese Entscheidung kaum verständlich. Der Hinweis des Übersetzers,
dass das Wort Identität „einer aktuellen Problemstellung“ (im Horizont der ausgehenden 1960er Jahre) entspreche (GIG: 442), ist nicht nachvollziehbar, denn
der Identitätsbegriff war schon damals alles andere als eindeutig. Zwei Passagen
aus dem englischen Original von GIG sollen vorführen, dass Mead „self“ und
„identity“ durchaus terminologisch unterschied:
„In that sense these two factors – one the dominance of the individual or group over other
groups, the other the sense of brotherhood and identity of different individuals in the same
group – came together in the democratic movement “ (Mead 1934: 287).
„It is an accomplishment that announces itself in the passage from the earlier form of play into
that of games, either the competitive or the more or less dramatic games, in which the child enters as a definite personality that maintains itself throughout. His interest passes from the story,
the fairy tale, the folk tale, to the connected accounts in which he can sustain a sympathetic
identity with the hero or the heroine in the rush of events. This not only involves a more or less
definitely organized self seen from the standpoints of those about him whose attitudes he takes,
but it involves, further, a functional interrelationship of this object-self with the biologic individual in his conduct“ (ebd.: 370f.).
In beiden Fällen wird „identity“ als „Identität mit ...“ (einer Gruppe, einer Romanfigur) verstanden, die ein organisiertes „self“ bereits voraussetzt. Insofern,
wie auch nachfolgend deutlich wird, das „self“ für Mead eine reflexive Figur der
Einheit des Selbst auf Basis sozialer Bedeutung, nicht aber eine der Identifikation mit anderen ist, ist die eigenmächtige Umbenennung der deutschen Übersetzung also terminologisch schlichtweg unplausibel. Das „self“ bezeichnet das
Ganze eines Prozesses, und nicht eine Selbstgleichheit oder Gleichheit mit anderem.
Ein zweites, analoges Problem betrifft die Meadschen Begriffe „I“ und
„me“. Sie wurden mangels eindeutiger deutscher Äquivalente als „Ich“ übersetzt,
und zwar kurioser Weise einmal in Kapitälchen (ICH) und einmal in einfacher
Großschrift (Ich). Im Ergebnis ist es de facto kaum möglich, den Text flüssig zu
lesen, geschweige denn, sich auf Basis der deutschen Übersetzung mündlich
über Mead auszutauschen, ohne in Missverständnisse zu geraten bzw. jedesmal
den Zusatz „in Kapitälchen“ zu verwenden.
Nachfolgend werden daher, um ein besseres Verständnis des Textes zu ermöglichen, alle Zitate als eigene Übersetzungen in Anlehnung an die deutsche
Übersetzung vorgenommen. Statt Identität, Ich und ICH werden die Begriffe
Selbst, Ich und Mich (immer in Kursivschrift) verwendet; zudem wird Bedeutung
statt Sinn dort verwendet, wo es um den Bezug von Gesten und Anschlusshandlungen geht.
92
George Herbert Mead
2.2 „Geist“: Sprache und Symbol als Grundlage sozialer Prozesse
Der englische Ausdruck „mind“ bezieht sich in aller Regel, wie etwa in der Subdisziplin der „Philosophy of Mind“, auf individuelle mentale Prozesse. Tatsächlich versteht Mead „mind“ jedoch nicht als individuelles Phänomen, sondern
eher als „objektiven Geist“ im Sinne Hegels: „Language as made up of significant symbols is what we mean by mind“ (Mead 1934: 192). Man kann in dieser
für den angelsächsischen Kontext ungewöhnlichen Begriffsverwendung eine
programmatische Setzung Meads sehen, der sich damit gegen die verengten
Konzeptionen sowohl in der Philosophie als auch in der Sozialpsychologie richtete. Zugleich wird daran sichtbar, dass Mead sich in recht kompromissloser
Weise zwischen zwei Stühle setzte, indem er einerseits das terminologische Feld
der Sozialpsychologie seiner Zeit okkupierte und mit seinem (von Morris so
betitelten) „Sozialbehaviorismus“ dem extrem reduktionistischen Behaviorismus
im Sinne eines Watson, Pawlow und später Skinner aktiv entgegentrat, zum
anderen aber beanspruchte, eine empirische Betrachtungsweise in philosophische
Diskurse einzubringen.
Mead sieht im Sprachgebrauch eine notwendige Voraussetzung zur Konstitution des bewussten Selbstverhältnisses. Wie weiter unten deutlich wird, besteht
der für ihn zentrale „Mechanismus“ der Identitätsgenese darin, die eigenen
Handlungen als Zeichen zu verstehen, die mit einer sozialen Bedeutung versehen
sind. Es sind (nur) die anderen, die uns sagen (können), wer wir sind. Um diese
Botschaft verstehen und auf sich selbst beziehen zu können, muss eine Verbindung der eigenen Handlungen und Handlungsimpulse mit den Reaktionen des
sozialen Umfeldes hergestellt werden, d.h. man muss sich zugleich als handelndes Individuum wie auch als Teil eines sozialen Zusammenhangs erfahren können. Nicht etwa im komplexen Denken, sondern in der in der „signifikanten
Geste“, also etwa der sprachlichen Äußerung, identifiziert Mead dieses Potential.
Insofern ist eine bestehende Sprache dem bewussten Selbstverhältnis des Individuums, das Mead „self“ nennt, logisch vorausgesetzt.
Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Ferdinand de Saussure, der Sprache
als eine Struktur betrachtete, welche Bedeutung über die Differenz sprachlicher
Zeichen erzeugt, stellt Mead seinen zentralen Begriff des „signifikanten Symbols“ nicht in einen zeichentheoretischen, sondern in einen handlungstheoretischen Kontext. Er denkt Bedeutung also nicht primär als Effekt der Differenz
von Zeichen, sondern als Verbindung eines Zeichens mit sozialen Handlungen.
Er spricht auch nicht in abstrahierender Weise von Zeichen, sondern von „signifikanten Symbolen“, die durch Gesten (gestures) und Lautgesten (vocal gestu-
93
Benjamin Jörissen
res) ausgedrückt werden.4 Die Bedeutung einer Geste liegt dabei generell in
dem, was sich in einem sozialen Kontext im Zusammenhang mit dieser Geste an
Handlungen oder an Handlungsdispositionen ergibt:
„Die Geste eines Organismus, das Ergebnis der sozialen Handlung, deren frühe Phase die Geste darstellt und die Antwort eines anderen Organismus auf die Geste sind die Relata einer dreifachen oder dreiseitigen Beziehung der Geste zum ersten Organismus, der Geste zum zweiten
Organismus und der Geste zu den nachfolgenden Phasen der betreffenden sozialen Handlung“
(Mead 1934: 76; Mead 1973: 115f.).
Bemerkenswerter Weise muss in diesem Prozess keines der beiden Individuen
(„Organismen“) sich der Bedeutung bewusst sein. Die Bedeutung der Geste ist
daher, vereinfacht gesprochen, nicht ein Zusatz, den sich Individuen im Kontext
von Handlungen denken, sondern sie liegt in den sozialen Prozessen selbst. Dies
ist nur dann möglich, wenn eine relative Gleichförmigkeit in den Reaktionen auf
Gesten stattfindet. Dies ist im Tierreich der Fall, wo innerhalb einer Art instinktgesteuerte Abläufe die Bedeutung von Gesten (z.B. Balz, Aggression) festlegen.
Beim Menschen aber existiert diese Gleichförmigkeit nicht in derselben
Weise. Das Bedeutungsgefüge ist ein kulturelles, und dies heißt zugleich: ein
historisch gewachsenes, veränderliches und somit fluides. Nun benötigt Mead
aber zum Beleg seiner Theorie der Sprache und des signifikanten Symbols eine
Erklärung dafür, woher die Einheit sprachlicher Bedeutungen stammt, wenn
diese nicht auf biologische Ursachen wie Instinkte zurückführbar ist. Immerhin
kommt dem signifikanten Symbol die Aufgabe zu, dass der soziale „Inhalt“ –
also z.B. die Bedeutung einer Geste – zugleich außerhalb wie innerhalb des Individuums vorhanden ist, d.h., dass die an einem sozialen Prozess beteiligten Individuen einer Geste dieselbe Bedeutung zuschreiben. Eine zentrale Stelle in GIG
lautet:
„Wir lösen ständig, insbesondere durch vokale Gesten, in uns selbst jene Reaktionen aus, die
wir auch in anderen Personen auslösen, und nehmen damit die Haltungen anderer Personen in
unser eigenes Verhalten herein. Die kritische Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der
menschlichen Erfahrung liegt eben in der Tatsache, daß der Reiz so beschaffen ist, daß er sich
auf das sprechende Individuum ebenso auswirkt wie auf andere“ (Mead 1973: 108).
Da Mead Theorien der Bedeutungsübernahme durch Nachahmung – und damit
die Bedeutung mimetischer Handlungsformen – ablehnt (vgl. Leys 1993), gelingt
es ihm letztlich nicht, dieses im Grunde genommen für ihn zentrale theoretische
4 Den Hintergrund hierzu bildet auch nicht ein sprach- oder zeichentheoretischer Diskurs – explizite Bezugnahmen etwa zu Peirce lassen sich in Meads Schriften nicht (oder zumindest kaum) finden –, sondern die Auseinandersetzung mit Darwins Arbeit über The Expression of the Emotions
in Man and Animals und Wundts Kritik an derselben (Darwin 1872; Mead 1973: 81ff.).
94
George Herbert Mead
Problem zu lösen. Er gerät in eine zirkuläre Argumentation, welche „die Entwicklung signifikanter Symbole durch die Übernahme der Einstellung des anderen und dann wiederum die Einstellungsübernahme mit Hilfe der Konzeption
signifikanter Symbole erklärt“ (Wagner 1993: 35). Es ist mithin klar und kann
wohl als Konsens in der Mead-Forschung betrachtet werden, dass Meads Theorie
der Sprache vor dem Hintergrund eines knappen Jahrhunderts sprachwissenschaftlicher und sprachphilosophischer Entwicklungen – darunter so wichtige,
ebenfalls handlungsorientierte Konzeptionen wie die Sprachspieltheorie des
späteren Wittgenstein – nicht mehr als belastbar betrachtet werden kann.
Man findet allerdings in GIG einen Hinweis darauf, dass es für seine Konzeption gar nicht unbedingt auf objektive Symbolidentität ankommt:
„Die Bedeutung dessen, was wir sagen, ist die Tendenz, darauf zu reagieren. Man bittet jemanden, einem Besucher einen Stuhl zu bringen. Man lässt im anderen die Tendenz aufkommen,
den Stuhl zu holen, aber wenn er zu langsam handelt, holt man den Stuhl selbst. Die Antwort
auf die vokale Geste ist das Tun einer bestimmten Sache, und man lässt in sich selbst dieselbe
Tendenz aufkommen. Man antwortet sich immer selbst, so wie andere Leute antworten. Man
nimmt an, dass diese Antwort zu einem gewissen Grad identisch [mit der eigenen] ist. Es ist
Handlung auf einer gemeinsamen Basis“ (vgl. Mead 1934: 67; Mead 1973: 106; Übersetzung
und Hervorhebung BJ).
Die Hervorhebung unterstreicht, worauf es im sozialen Prozess de facto ankommt: nicht auf vorgängig bestehende Einheit von Bedeutungen, sondern auf,
wie man heute formulieren würde, relative Verlässlichkeit von Verhaltenserwartungen. Voraussetzung ist also Vertrauen, das durch Erfahrung in einem relativ
homogenen Milieu erworben wurde, oder aber Zuversicht hinsichtlich bestimmter typischer Handlungsanschlüsse, die gesellschaftlichen Konventionen entsprechen (vgl. Luhmann 2001).
Der Text von Geist, Identität und Gesellschaft stößt hier an eine Grenze, die
Mead in anderen Arbeiten längst – d.h. bereits zum Zeitpunkt der Vorlesungsmitschriften – auf erheblich komplexere Weise bearbeitet hatte. Insbesondere ist
hier seine Perspektiventheorie zu nennen (Mead 1925; Mead 1927), die den
einfachen Symbolbezug durch ein ganzes Ensemble von Begriffen ergänzt, welches insgesamt erheblich weniger symbolzentriert erscheint. Dieser Ansatz übersteigt den Rahmen einer einführenden Darstellung erheblich, soll aber zumindest
ganz kurz angerissen werden, um die Eingangs aufgestellte Behauptung, dass
GIG der Komplexität des Meadschen Denkens – und auch seiner Sozialpsychologie – nicht gerecht wird, zu illustrieren.
Im Aufsatz über „Die Genesis der Identität und die soziale Kontrolle“ aus
dem Jahr 1925 beispielsweise – durchaus ein sozialpsychologischer Titel – spielt
der Aspekt der Einbildungskraft (imagery) eine zentrale Rolle. In GIG taucht
dieser ausschließlich in den angehängten „Ergänzenden Abhandlungen“ auf,
95
Benjamin Jörissen
ohne im Haupttext auch nur ein einziges Mal erwähnt (geschweige denn systematisch einbezogen) zu werden. Die Einbildungskraft, wird nun zum ausschlaggebenden Moment der Erklärung des „sozialen Objekts“. Dieses Objekt steht im
Zentrum eines multiperspektivisch gedachten sozialen Geschehens, bei dem das
soziale Objekt die Funktion der Koordination und Kontrolle sozialer Handlungen
übernimmt. Die einzelnen Perspektiven werden raumzeitlich theoretisiert: Im
Anschluss an die Philosophie Alfred N. Whiteheads und beeindruckt von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie entwirft Mead eine Art Sozialontologie,
die jegliche Form von Realität als komplexes Perspektivengeschehen auffasst
(Mead 1925: 307). Perspektiven sind Wahrnehmungsereignisse, die in ein eigenzeitliches Kontinuum eingebettet sind, welches für jedes Individuum ein anderes
ist. Das Selbst erscheint in ein komplexes Gefüge eingelassen: es ist körperlich in
einer materiellen Welt situiert, die zugleich nur als soziale existiert; es erscheint
zudem in einer Zeitlichkeit, die jede Gewissheit von Bedeutung in die Zukunft
einer Handlung oder Kooperation verlegt: Jeder im Prozess befindliche Handlungsvollzug findet in einer Gegenwart statt (genauer: konstituiert eine Gegenwart), von der aus betrachtet das Handlungsergebnis immer nur als Möglichkeit
gegeben ist:
„Die Realität hängt vom Erfolg des Handelns ab: gegenwärtige Realität ist eine Möglichkeit.
[…] Mit Hilfe des sozialen Mechanismus des signifikanten Symbols vermag der Organisamus
sich ‚nach dort‘ zu versetzen – als eine Möglichkeit seines Handelns, welche eine zunehmende
Wahrscheinlichkeit erlangt, insofern sie in die raum-zeitliche Struktur und die Erfordernisse
der komplexen Gesamt-Handlung paßt, von welcher dieses Verhalten des Organismus ein Teil
ist“ (Mead 1927: 222).
Man sieht, dass Mead in seinen späteren Arbeiten den Aspekt der Sprache in
erheblich komplexere Kontexte eingebettet hatte, die aus Morris’ Perspektive des
Symbolischen Interaktionismus offenbar weniger relevant erschienen. Dabei
läuft der hier skizzierte Standpunkt Meads letztlich darauf hinaus, dass eine Bedeutungsidentität sprachlicher Symbole zu einem gegebenen Zeitpunkt eines
laufenden sozialen Prozesses gar nicht festgestellt werden kann, denn es gibt
keinen überzeitlichen, objektiven Beobachter des Geschehens. Erst nach Vollendung der Handlungsphase (z.B. einer Kooperation) zeigt sich, ob die beteiligten
Perspektiven dasselbe „soziale Objekt“ im Blick hatten, ob also die Symbole der
Sprache tatsächlich von den Beteiligten mit ähnlichen oder kompatiblen Bedeutungen verbunden waren. Bezogen auf den Begriff des self bedeutet dies, dass
auch dieses sich immer nur in einer Zukunftsbewegung erfahren kann, und dass
es seiner „Bedeutung“ niemals in einer gegebenen Gegenwart „sicher“ sein kann.
96
George Herbert Mead
2.3 „Identität“: Das Selbst als prozessuale Einheit in der sozialen Handlung
Mit dem Ausdruck Selbst (self) beschreibt Mead eine reflexiv hergestellte bzw.
immer wieder reflexiv herzustellende Einheit über einen Prozess, in den handelnde Individuen stets involviert sind. Das Selbst ist für Mead eine Einheit, die
sich aus der Reflexion auf sich als handelndes Individuum im sozialen Prozess
ergibt. Obwohl in GIG nicht systematisch eine (epigenetische) Theorie der Entwicklung des self entfaltet wird, bietet sich diese Perspektive an, um den Gedankengang zu verdeutlichen.
Voraussetzung der Ausbildung erster Identitätsfragmente ist die Fähigkeit
des Individuums, „mit anderen Personen durch Symbole in Verbindung treten“
(Mead 1973: 191). Die Bedeutungen „signifikanter“, d.h. in einer Sprachgemeinschaft bekannter Symbole bestehen wie oben ausgeführt aus den Reaktionen
anderer im sozialen Handlungszusammenhang. Diese Reaktionen werden nach
Meads Vorstellung im sozialen Austausch erfahren und nach und nach zu, wie
man moderner sagen könnte, Reaktionsmustern internalisiert.5 Da es sich bei den
Wortbedeutungen immer um soziale Verhaltensweisen anderer Gruppenmitglieder handelt, und durch die Fähigkeit zum Sprachgebrauch potentiell ein Bewusstsein dieser Bedeutungen besteht, kann sich das Individuum nicht nur einzelne
Wortbedeutungen vergegenwärtigen, sondern es kann sich – da es sich die sozialen Haltungen der anderen angeeignet hat – in den organisierten Haltungen anderer selbst ansprechen. Diesen Vorgang der Rollenübernahme praktiziert das Kind
beispielsweise im Rollenspiel (play; vgl. Mead 1973: 113). Dabei löst es in sich
selbst die gleichen Reaktionen auf seine Handlungen aus, wie es sie außerhalb
des Spiels in den sozialen Interaktionspartnern (etwa Eltern oder Lehrer) auslöst.
„Das Kind sagt etwas als ein Charakter und antwortet als ein anderer Charakter, und diese
Antwort als anderer Charakter wird wieder zum Stimulus, als der vorherige Charakter zu antworten, und so nimmt die Konversation ihren Fortgang. Eine bestimmte organisierte Struktur
taucht in ihm auf, wie auch in seinem antwortenden Anderen, und dies hält die Gestenkonversation zwischen beiden aufrecht“ (vgl. Mead 1934: 151).
Das Kind spielt dabei aber nicht nur eine gesellschaftliche Rolle; es lernt auch,
seine eigene soziale Position aus dieser gespielten Perspektive der anderen zu
betrachten. Es bringt dabei, wie man mit Mead formulieren würde, innerhalb
bestimmter Aspekte seiner sozialen Welt (Eltern-, Geschwisterbeziehung etc.) in
5 Dies hat sich in der empirischen Säuglingsforschung bestätigt (vgl. Stern 1996). Auch eine gewisse Parallele zu Pierre Bourdieus Begriff des Habitus könnte gezogen werden: Mead spricht in diesem Zusammenhang von internalisierten Haltungen, die er als habits oder attitudes bezeichnet
(vgl. Aboulafia 1999; Schmidt 2006).
97
Benjamin Jörissen
sich selbst die Reaktionen Anderer auf sich selbst als soziales Objekt dieser
Anderen hervor. Auf diese Weise entsteht spielerisch ein Bewusstsein der eigenen sozialen Position (z.B. als Kind von Eltern).
Am Beispiel des Rollenspiels erläutert Mead insofern den für ihn fundamentalen Prozess, sich (metaphorisch gesprochen) mit den Augen anderer zu
sehen und dabei ein Bewusstsein seiner selbst zu entwickeln. Dieser Prozess der
Rollen- oder auch Perspektivenübernahme (role taking, taking the perspective)
hat in Entwicklungspsychologie und Sozialisationstheorie erhebliche Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Geulen 1982). Heute würde man das kindliche Spiel als
performative Handlungsform betrachten, in der sich Kinder mimetisch sozialen
Sinn aneignen (Gebauer/Wulf 1998).
Noch ein weiterer wichtiger Aspekt lässt sich am Beispiel des play verdeutlichen: Betrachtet man den fließenden Verlauf solcher Spiele – wenn z.B. ein
Kind mit einem Kaufladen allein spielt und abwechselnd die Rolle der Verkäufers und des Kunden nachspielt –, so kann man sie als eine Kette von Handlungen betrachten, die ihrerseits neue Handlungen hervorrufen. Wie der genaue
Verlauf des Spiels sein wird, ist dabei nicht vorhersagbar. In der Meadschen
„behavioristischen“ Terminologie – die an dieser Stelle besonderes sperrig auftritt – wird eine Handlung jeweils zum Stimulus für die nachfolgende Handlung
(Reaktion), die ihrerseits wieder zum Stimulus für die nächste wird, etc. Schaut
man noch genauer hin, so wird deutlich, dass das Kind spontan handelt, ohne
zunächst genau zu wissen, was und wie es dies macht. Insofern man grundsätzlich nicht gleichzeitig handeln und sich beim Handeln beobachten kann, trifft
dies nicht nur auf das kindliche Rollenspiel zu. Erst der Vollzug einer Handlung,
oder eines Handlungsanfangs, der die Handlung anzeigt, also zum Zeichen der
Handlung wird, lässt uns anhand des Handlungsimpulses (oder Handlungsergebnisses) bewusst werden, was wir gemacht haben, bzw. zu tun im Begriff sind.6
Wenn man dies nun als Phasenmodell der Handlung betrachtet: 1) eine Disposition, etwas Bestimmtes zu tun (z.B. das Spiel als Rahmung); 2) ein Handlungsimpuls; 3) das Bewusstwerden des Impulses und 4) gegebenenfalls der
Handlungsvollzug, so entspricht dies strukturell in etwa der Handlungstheorie,
die John Dewey in seinem einflussreichen Aufsatz The Reflex Arc Concept in
Psychology von 1896 entworfen hat. Das self ist etwas, das nicht etwa aus diesem Phasenablauf der Handlung als selbständige Struktur hervorgeht; vielmehr
ist es – als übergreifende Einheit – unmittelbar Teil oder Aspekt des sozialen
Prozesses. Dies wird klarer, wenn man die beiden Phasen des self betrachtet.
6 Natürlich kann man eine Handlungsintention ausführen (wollen), aber ob dies gelingt wie gedacht, lässt sich erst danach beobachten.
98
George Herbert Mead
2.4 „I“ und „me“
Die zweite und dritte Phase des vierphasigen Handlungsmodells interessieren
Mead im Hinblick auf das Selbstverhältnis von Individuen besonders: Die aktive
Phase des sozialen Handelns entspricht dem I, die reflexive dritte Phase (das
Bewusstwerden) dem me. Das handelnde „Ich“ erfährt sich immer nur in der
nachfolgenden Reflexion; es wird sich immer nur als „Mich“ gewahr. Das I als
Handlungsphase ist der Reiz für das me als Reaktion in der nachfolgenden Handlungsphase, das wiederum eine neue Aktion (I-Phase) auslöst. Betrachten wir I
und me genauer:
Das I ist also diejenige Instanz der Identität, welche der aktiven Handlungsphase entspricht. Man kann nicht zugleich handeln und über Handlung reflektieren; die Handlung des I wird dem Individuum daher nur anhand der nachfolgenden gesellschaftlichen Reaktion, deren internalisierte Form die Instanz des me
bildet, bewusst. Als insofern zunächst nicht kontrolliertes ist das I Quelle des
Neuen und Unvorhersehbaren sowohl im gesellschaftlichen Handlungskontext
als auch im inneren Dialog; ein inter- und intrasubjektiver Generator von Kontingenzen in Form einer
„plötzliche[n] Erfahrung eines Andrangs innerer Impulse, von denen nicht weiter auszumachen
ist, ob sie aus der vorsozialen Triebnatur, der schöpferischen Phantasie oder der moralischen
Sensibilität des Selbst entspringen. Mead will mit seinem Konzept [...] auf ein Reservoir an
psychischen Energien aufmerksam machen, das jedes Subjekt mit einer Vielzahl von unausgeschöpften Identitätsmöglichkeiten ausstattet“ (Honneth 1992: 131).
Das I ist bei genauer Betrachtung aber nicht vollkommen spontan. Es stellt bereits eine Perspektive auf die Welt dar (auch wenn diese Perspektive dem handelnden Individuum nicht bzw. noch nicht bewusst ist). Charles D. Bolton hat
auf diesen Umstand mit dem Argument hingewiesen, dass das I durchaus eine
soziale Sensibilität und Kreativität besitzt und nicht nur impulsiv agiert, und dass
es in dieser Hinsicht offenbar zu Entwicklungsprozessen fähig ist (Bolton 1981:
250); dass es also, wie man im Anschluss an Bourdieu sagen könnte, einen „sens
pratique“ ausbildet. Das I ist als Handlungsphase in die Zukunft gerichtet. Es ist
immer offen, worin das Resultat seiner Aktivität besteht. Es entwirft eine zukünftige Möglichkeit, über die erst dann Klarheit herrscht, wenn die Aktivität
des I bereits Vergangenheit und die Bedeutung seiner Aktion sich in der sozialen
Rückmeldung, im Bewusstsein des eigenen Handelns, das in Meads Begrifflichkeit vom me repräsentiert wird, manifestiert hat.
Das me steht demgegenüber für die reaktive Phase des Handlungsaktes. Zunächst entspricht es den Reaktionen des sozialen Umfelds auf die eigenen Aktionen (des I). Die Bedeutung einer Handlung oder einer vollzogenen Geste ist
99
Benjamin Jörissen
identisch mit den Reaktionen der Anderen auf diese; auf diese Weise werden die
Bedeutungen der Aktionen (beispielsweise auf bestimmte Lautgesten) nach und
nach zu voraussehbaren Verhaltenserwartungen. Als Teilidentität entsteht ein me
also durch die relative Homogenität der Aktions- und Reaktionsmuster in regelmäßig wiederholten Alltagssituationen. Das me ist dabei nichts anderes als ein
sich nach und nach im Handeln verfestigendes Wissen über sich aufgrund wiederholter, relativ ähnlicher sozialer Reaktionen, wie sie v.a. durch alltägliche
Ritualisierungen gegeben sind. Die zu seiner Zeit bemerkenswerte Einsicht
Meads lag nicht zuletzt in der Erkenntnis, dass jede Selbstbeziehung nur über
den Umweg des sozialen Raumes denkbar ist: Wir müssen, so Mead, „andere
sein, um wir selbst sein zu können“ (Mead 1973: 327). Im performativen Rollenspiel („play“) probiert das Kind verschiedene „me“, reagiert auf sich selbst aus
der Perspektive der Anderen (spielt etwa abwechselnd Kind und Mutter) und
bildet damit nicht so sehr dieses oder jenes konkrete Rollenverhalten als vielmehr die soziale Form des „sich-in-einer-Rolle-Verhaltens“ aus. Als immer wiederkehrendes selbstreflexives Moment besteht das me aus steten nachträglichen
Beurteilungs- und Festschreibungsakten (des I und seiner Aktionen).
Das Selbst schließlich ist eine Bezeichnung für das Ganze dieses Prozesses:
„Das Ich ruft das Mich hervor und reagiert auf es. Zusammengenommen konstituieren sie eine
Persönlichkeit, wie sie in der sozialen Erfahrung erscheint. Das Selbst ist im Wesentlichen ein
sozialer Prozess, der mit diesen beiden unterscheidbaren Phasen abläuft. Gäbe es diese Phasen
nicht, so gäbe es keine bewusste Verantwortlichkeit und keine neuen Erfahrungen“ (vgl. Mead
1934: 178; Mead 1973: 221).
Das, was als me erfahren wird, ist bereits eine erworbene soziale Reaktion auf
Handlungen – genau hierin sieht Mead den Mechanismus, mittels dessen das
Soziale sozusagen „in“ das Individuum hineingenommen wird. Insofern ich von
mir allein logisch betrachtet nichts wissen kann, weiß ich von mir immer nur
aufgrund der Reaktionen meiner sozialen Umwelt. Dies ist also nicht etwa eine
bewusste oder unbewusste Identifikation mit gesellschaftlichen Rollen und Normen, denn es existiert kein Selbst, das außerhalb dieser Sphäre des sozialen Prozesses überhaupt gedacht werden kann – ergo kann es sich auch auf dieser Ebene
nicht „mit“ etwas anderem identifizieren. Das self ist also in seinem Kern sozial;
das Individuum ist immer schon in Sozialität eingebettet. Für Mead ist dies eine
logische, nicht etwa eine empirische Aussage. Mead greift im Grunde die Logik
der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik aus der Phänomenologie des Geistes auf
und formt sie zu einer Theorie mikrologischer sozialer Prozessstrukturen um.
Die Einheit des self verlangt nach einer Form der Synthese. Während das
jüngere Kind der play-Phase die einzelnen me-Erfahrungen noch nicht zu einem
einheitlichen Selbst synthetisiert, ändert sich dies beim älteren Kind. Paradigma100
George Herbert Mead
tisch hierfür steht das Gruppen- oder Regelspiel (game). Wie Mead expliziert, ist
die game-Phase gerade dadurch gekennzeichnet, dass das Kind den Kreis seiner
sozialen Interaktionspartner wesentlich erweitert und Gruppen aufsucht (Vereine,
Cliquen etc.), die mit seiner Familie in keiner Verbindung stehen. Der Eintritt in
diese Phase vollständiger Teilnahme an sozialen Prozessen erfordert, dass die
jeweils als me repräsentierten gesellschaftlichen Haltungen zu einem Ganzen,
das Mead den generalized Other, also den generalisierten Anderen nennt, synthetisiert werden.
Erst an diesem „vollständigen sozialen Objekt“ (das z.B. ein gemeinsames
Handlungsziel in kollaborativen Prozessen sein kann, aber auch weitergehende
Ziele und Werte bezeichnen kann) kann sich ein komplexeres me herausbilden.
Das role taking wird dabei selbst generalisiert, die übernommene Perspektive ist
jetzt nicht mehr die einzelner wichtiger Bezugspersonen („signifikanter Anderer“, wie Mead sie nennt), sondern es ist die Gesamtperspektive (d.h. die Perspektive des „generalisierten Anderen“) auf einen sozialen Prozess. So, wie sich
bei der Übernahme der Einzelperspektive im Rollenspiel ein me herausbildet,
durch welches das Individuum sich selbst zum Objekt werden kann, bildet sich
bei der Übernahme der Gesamtperspektive ein me heraus, das die Gesamtheit der
sozialen Reaktionen und Rückmeldungen beinhaltet.
Dieses me beinhaltet also die organisierte Gesamtheit dessen, was das Individuum aufgrund der in seiner Gesellschaft jeweils vorhandenen Kategorien,
Begriffe, Werte etc. von sich weiß. Es ist somit eine individuell gebildete Perspektive auf erfahrene soziale Zuschreibungen, die jeweils in Handlungsvollzügen als Wissen-von-sich aktualisiert wird. Es ist die vom Individuum selbst synthetisierte oder auch konstruierte Antwort der sozialen Umwelt auf die – im
Übrigen ungestellte – Frage, wer es ist, bzw. (in Meads Worten) welche Bedeutung ihm als „sozialem Objekt“ des generalisierten Anderen zukommt. Viel eher
als der prozessuale und insofern diachron zu verstehende Begriff des self wäre
der Begriff des me geeignet, als „Identität“ (i.S. sozialer Identität) übersetzt zu
werden. Denn das self ist gerade nicht fest-gestellt, wie es eine Identität (zumindest zu einem gegebenen Zeitpunkt) sein muss. Es ist nicht einmal klar abgrenzbar vom sozialen Handlungskontext:
„Das Selbst ist nicht etwas, das zuerst da ist und dann in eine Beziehung mit anderen eintritt;
vielmehr ist es, sozusagen, ein Strudel [eddy] im sozialen Strom [current] und insofern immer
noch ein Teil des Stromes. Es ist ein Prozess, in dem sich das Individuum kontinuierlich im
Hinblick auf die Situation einstellt [adjust], deren Teil es ist, und auf die es reagierend einwirkt“ (Mead 1934: 182).
101
Benjamin Jörissen
2.5 „Gesellschaft“
So wie das self sich nicht aus dem sozialen Kontext herauslösen lässt, lässt sich
aus Meads Perspektive Gesellschaft nicht ohne den Beitrag der Individuen denken. Der „generalisierte Andere“, an dem das self sich bildet, ist im Grunde genommen „nur“ ein handlungsleitendes Prinzip. Mead legt großen Wert darauf,
den in diesem Begriff anklingenden Konventionalismus zu entkräften. Diesbezüglich sind zwei Aspekte zu betrachten.
Erstens kann der generalisierte Andere nur so einheitlich sein, wie es die
Gesellschaft ist, also (für Mead) der Kooperationszusammenhang der Individuen. In vormodernen, traditionalen Gesellschaften ist dies bekanntlich in hohem
Maß der Fall; in multikulturellen, urbanen Räumen wie dem Chicago des frühen
20. Jahrhunderts lässt sich wohl kaum plausibel eine Synthese der einzelnen
vorfindlichen Werte und Normen behaupten. Mead sah diese Vielfalt allerdings
als ein zu überwindendes Problem, und nicht etwa als (wie auch immer prekäre)
kulturelle Ressource. Er war sich der Tatsache bewusst, dass de facto der soziale
Prozess in der gesellschaftlichen Realität keine Einheit bildet. Ergo kann unter
solchen Bedingungen so etwas wie ein „generalisierter Anderer“ gar nicht existieren – und als Konsequenz kann sich auch auf der Ebene der Individuen kein
einheitliches Selbst bilden, denn dieses entsteht ja durch die Übernahme der
allgemeinen Perspektive. Der generalisierte Andere steht somit für eine regulative Idee; er verweist auf eine (bessere) Zukunft und nicht etwa auf eine rückwärtsgewandte, starre Einforderung überkommener Konventionen. Dies wird am
nachfolgenden Aspekt noch stärker sichtbar.
Denn zweitens denkt Mead gesellschaftliche Veränderung so, dass die Individuen aufgrund der Kreativität des I Neues in den sozialen Prozess einbringen.
Diesem Impuls schreibt Mead also letztlich jeden denkbaren gesellschaftlichen
Fortschritt zu. Wenn das Neue, wie es häufig in Umbruchsituationen der Fall ist,
auf der Basis der bestehenden Normen nicht anerkannt wird, so ist es dennoch
kommunikativ möglich, sich auf einen weiteren Horizont zu beziehen, auf einen
„größeren“ oder allgemeineren „generalisierten Anderen“ als den aktuell geltenden (vgl. Mead 1973: Kap. 28). Dies beginnt dort, wo die Individuen aufgrund
der strukturell implizierten „Kreativität des Handelns“ (Joas) Situationen verändern, indem sie neue Perspektiven entwickeln.
3
Wirkung und Ausblick
Zunächst ist noch einmal zu betonen, dass es in dem hier vorliegenden Kapitel
darum ging Geist, Identität und Gesellschaft als „Schlüsselwerk“ der Identitäts102
George Herbert Mead
forschung kritisch zu würdigen. Es ging an dieser Stelle nicht etwa um eine Gesamtwürdigung des Beitrags Meads zur Identitätstheorie unter Einbezug seiner
Originalschriften oder um weitergehende Anschlüsse (wenn auch zumindest
andeutungsweise skizziert wurde, in welche Komplexitätsdimensionen dies
führt; vgl. für die Sichtweise des Autors: Zirfas/Jörissen 2007: Kap. 7; Jörissen
2007: Kap. 10). Der hier diskutierte Band hat – trotz seiner offenkundig nicht
unproblematischen Textqualität – im Vergleich zu Meads eigenen Aufsatzveröffentlichungen sowie zu den sozialphilosophischen Bänden Philosophy of the
Present (1932) und Philosophy of the Act (1938) die weitaus breiteren Spuren in
der Rezeption hinterlassen.
Dies ist daran ersichtlich, dass Mead in Soziologie (vgl. z.B. Strauss
1959/1974; Berger/Luckmann 1969; Blumer 1969; Joas 1979; Baldwin 1986;
Habermas 1987; Bender 1989), Erziehungswissenschaft, insbesondere auch der
Sozialisationstheorie (vgl. etwa Mollenhauer 1972; Brumlik 1973; Geulen 1977;
Krappmann 1978; Lüscher 1990; Wagner 1993; Wittpoth 1994), der Anthropologie (vgl. etwa Raiser 1971; Cronk 1987; Gebauer/Wulf 1998) und der Phänomenologie (Bergmann/Hoffmann 1985; Rosenthal/Bourgeois 1991) als Architekt
einer umwälzenden Theorie der menschlichen Identität und ihrer Entwicklung
zum Klassiker geworden ist. Im Diskurs der Philosophie hingegen fand er niemals auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit wie etwa Dewey, Peirce oder
James. Neopragmatistische Philosophen wie Rorty (1987), Sandbothe (2000)
und Shusterman (2008) nehmen Mead allenfalls marginal zur Kenntnis (s. aber:
Aboulafia 1991; 2001 und natürlich die Arbeiten des Mead-Schülers Morris, z.B.
Morris 1946).
Was die gegenwärtige und zukünftige Bedeutung von Geist, Identität und
Gesellschaft betrifft – über seine historische Bedeutung und den festen Platz, den
dieser Band in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts als eines ihrer wichtigsten Werke innehält, hinaus –, so fällt meine Einschätzung, wie auch auf den
vorangegangenen Seiten deutlich wurde, ambivalent aus. Einerseits ist es m.E.
unbestreitbar, dass ein vollständiges Bild von Mead ohne diesen Band (bzw. eine
auf ihm beruhende Textzusammenstellung) sicherlich nicht denkbar wäre. Andererseits krankt die Edition auf mehreren Ebenen. Die Grundlage des Bandes, eine
(vertraut man der eingangs zitierten Anmerkung Elsworth Farris’) aus organisatorischen oder didaktischen Gründen thematisch beschränkte Vorlesung, ist für
sich genommen problematisch (wenn sie mit dem Anspruch eines eigenständigen
Theoriewerkes, und nicht als Einführung oder Vorlesungsskript, verbreitet wird).
Es ist unwahrscheinlich, dass Mead einen solchen Band unter Verzicht auf die
sozialphilosophischen Rahmungen und Anschlüsse als eigenständiges Theoriewerk publiziert hätte. Der Text ist durch viele Wiederholungen, wie sie ebenfalls
typisch für den didaktisierten Redestil einer Vorlesung sind, nur mühevoll lesbar.
103
Benjamin Jörissen
Die deutsche Übersetzung von Geist, Identität und Gesellschaft ist im
Grunde genommen – zumindest auf dem Stand der heutigen Meadforschung, die
von den Arbeiten Hans Joas’ und vielen anderen erheblich profitiert hat –
schlichtweg nicht mehr akzeptabel. Sie konfundiert zentrale Begriffe in einem
Maße, das beinahe mehr Schaden als Nutzen für das Verständnis der Theorie
Meads bewirkt.
Von dieser editorischen Problemlage abgesehen, die durch flankierende
Lektüre der Aufsätze und des im Internet vollständig erhältlichen Originaltextes
(s. Literaturverzeichnis) beinahe aller publizierten Schriften Meads erheblich
abgemildert werden kann, muss Geist, Identität und Gesellschaft nach wie vor,
und trotz einiger mittlerweile antiquierter und nicht mehr belastbarer Thesen
(insuffiziente Theorie der Symbolgenese, wenig überzeugende makrosoziologische Implikationen), immer noch zu den unumgänglichen Standardwerken der
Identitätsforschung gezählt werden. Sein konsequenter Antidualismus bzw. AntiReduktionismus, die theoretisch tief verankerte Einsicht in die primordiale Sozialität des Menschen, in seine körperliche Situiertheit, die zugleich eine soziale
ist, seine Konzeption der Perspektivenübernahme, die Mead als erster in dieser
Form erfasst und beschrieben hat, schließlich die prozessuale Beschreibung des
Selbst, das aus Konventionen hervorgeht und Kreativität bewirkt, die Betonung
der Wirkmächtigkeit der menschlichen Kreativität in Bezug auf das Soziale und
den Glauben daran, dass gesellschaftlicher Fortschritt auf dieser sozialen Basis
möglich ist – all diese Momente sind auch heute noch von einer ungebrochenen
Aktualität.
Und es dürfte wohl nicht wenige Rezipientinnen und Rezipienten auch heute noch (oder vielleicht gerade heute) überraschen, wenn sie im Erstkontakt mit
Geist, Identität und Gesellschaft argumentativ stringent aufgezeigt bekommen,
dass ihr individuelles Selbst dem Sozialen nicht entgegengesetzt, sondern jederzeit integraler Teil desselben ist.
104
George Herbert Mead
Primärliteratur7
Mead, George Herbert (1925): Die Genesis der Identität und die soziale Kontrolle. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp S. 299328.
Mead, George Herbert (1927): Die objektive Realität der Perspektiven. In: Ders.:
Gesammelte Aufsätze. Bd.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp S. 211-224.
Mead, George Herbert (1932): The Philosophy of the Present. LaSalle, Illinois:
Open Court.
Mead, George Herbert (1934): Mind Self and Society from the Standpoint of a
Social Behaviorist (Edited by Charles W. Morris). Chicago: University of
Chicago.
Mead, George Herbert (1938): The Philosophy of the Act (Edited by Charles W.
Morris with John M. Brewster, Albert M. Dunham and David Miller). Chicago: University of Chicago.
Mead, George Herbert (1987a): Gesammelte Aufsätze. Bd.1. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Mead, George Herbert (1987b): Gesammelte Aufsätze. Bd.2. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Sekundärliteratur8
Aboulafia, Mitchell (Hrsg.) (1991): Philosophy, social theory and the thought of
George Herbert Mead. New York: State University of New York Press.
Aboulafia, Mitchell (1999): A (neo) American in Paris: Bourdieu, Mead, and
Pragmatism. In: Shusterman, Richard (Hrsg.): Bourdieu: A Critical Reader.
Oxford: Blackwell, S. 153-174.
Aboulafia, Mitchell (2001): The cosmopolitan self: George Herbert Mead and
continental philosophy. Urbana: University of Illinois Press.
Baldwin, John D. (1986): George Herbert Mead. A Unifying Theory for Sociology. London: Sage.
Bender, Christiane (1989): Identität und Selbstreflexion. Zur reflexiven Konstruktion der sozialen Wirklichkeit in der Systemtheorie von N. Luhmann
7 Alle zitierten Originaltitel von G. H. Mead (und viele weitere Ressourcen) sind auf der Website
des Mead Projects der Brock University als digitalisierter Volltext kostenlos erhältlich:
http://www.brocku.ca/MeadProject/ (Abruf am 15.09.2009).
8 Eine vierbändige Sammlung an Sekundärliteratur zu Mead wurde von Peter Hamilton (1992)
herausgegeben.
105
Benjamin Jörissen
und im symbolischen Interaktionismus von G. H. Mead. Frankfurt a.M.: Peter Lang.
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Bergmann, Werner/Hoffman, Gisbert (1985): G. H. Mead und die Tradition der
Phänomenologie. In: Joas, Hans (Hrsg.): Das Problem der Intersubjektivität.
Neuere Beiträge zum Werk George Herbert Meads. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, S. 93-130.
Blumer, Herbert (1969): Symbolic Interactionism. Perspective and Method.
Berkeley: University of California Press.
Bolton, Charles D. (1981): Some Consequences of the Meadian Self. In: Symbolic Interaction 4/2, S. 245-259.
Brumlik, Micha (1973): Der Symbolische Interaktionismus und seine pädagogische Bedeutung. Frankfurt a.M.: Fischer Athenäum.
Collins, Randall (1989/1992): Toward a Neo-Median Sociology of Mind. In:
Hamilton, Peter: George Herbert Mead: Critical Assessments. Vol. I. London: Routledge, S. 263-296.
Darwin, Charles (1872): The Expression of the Emotions in Man and Animals.
New York.
Dewey, John (1896): The Reflex Arc Concept in Psychology. In: Psychological
Review 3, S. 357-370.
Dewey, John (1931): George Herbert Mead. Journal of Philosophy 28, S. 309314.
Faris, Ellsworth (1936/1992): Review of Mind, Self, and Society. In: Hamilton,
Peter: George Herbert Mead: Critical Assessments. Vol. I. London:
Routledge, S. 17-20.
Frege, Gottlob (1892/1962): Über Sinn und Bedeutung. In: Ders.: Funktion,
Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht, S. 38-63.
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (1998): Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches
Handeln in der sozialen Welt. Reinbek: Rowohlt.
Geulen, Dieter (1977): Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der
Sozialisationstheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Geulen, Dieter (Hrsg.) (1982): Perspektivenübernahme und soziales Handeln.
Texte zur sozial-kognitiven Entwicklung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1987): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2. Zur
Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hamilton, Peter (Hrsg.) (1992): George Herbert Mead: Critical Assessments. 4
Vols. London: Routledge.
106
George Herbert Mead
Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik
sozialer Konflikte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Joas, Hans (1989): Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werks von
G. H. Mead. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Joas, Hans (Hrsg.) (1985): Das Problem der Intersubjektivität. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Jörissen, Benjamin (2007): Beobachtungen der Realität. Die Frage nach der
Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien. Bielefeld: transcript.
Krappmann, Lothar (1978): Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart:
Klett-Cotta.
Luhmann, Niklas (2001): Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen. Probleme und
Alternativen. In: Hartmann, Martin/Offe, Claus (Hrsg.): Vertrauen. Die
Grundlage des sozialen Zusammenhalts. Frankfurt a.M.: Campus, S. 143160.
Leys, Ruth (1993): Mead’s Voices: Imitation as Foundation, or, The Struggle
against Mimesis. In: Critical Inquiry 19, S. 277-307.
Lüscher, Kurt (1990): Zur Perspektivik des Handelns in unserer Gegenwart.
Überlegungen im Anschluß an G. H. Mead. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 10/3, S. 255-267.
Mollenhauer, Klaus (1972): Theorien zum Erziehungsprozess. Zur Einführung in
erziehungswissenschaftliche Fragestellungen. München: Juventa.
Morris, Charles W. (1946): Signs, Language, and Behavior. Englewood Cliffs:
Prentice Hall.
Rorty, Richard (1987): Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Rosenthal, Sandra B./Bourgeois, Patrick L. (1991): Mead and Merleau-Ponty.
Toward a common vision. Albany: State University of New York Press.
Sandbothe, Mike (Hrsg.) (2000): Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle
Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie. Weilerswist: Velbrück.
Schmidt, Robert (2006): Geistige Arbeit als körperlicher Vollzug. Zur Perspektive einer vom Sport ausgehenden praxeologischen Sozialanalyse. In: Gugutzer, Robert (Hrsg.): Body Turn: Perspektiven der Soziologie des Körpers
und des Sports. Bielefeld: transcript, S. 297-319.
Strauss, Anselm (1974): Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Shusterman, Richard (2008): Body Consciousness. A Philosophy of Mindfulness
and Somaesthetics. Cambridge: Cambridge University Press.
107
Benjamin Jörissen
Stern, Daniel (1996): Die Lebenserfahrungen des Säuglings. Stuttgart: KlettCotta.
Throop, Robert/Ward, Lloyd Gordon Ward (2006): Research Note: Courses
Taught by Mead at the University of Chicago. On: The Mead Project.
Online:
http://www.brocku.ca/MeadProject/Timeline/CHICAGO.HTML
(Abruf am 15.09.2009).
Wagner, Hans-Josef (1993): Strukturen des Subjekts. Eine Studie im Anschluß
an George Herbert Mead. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Wittpoth, Jürgen (1994): Rahmungen und Spielräume des Selbst. Ein Beitrag zur
Theorie der Erwachsenensozialisation im Anschluß an George H. Mead und
Pierre Bourdieu. Frankfurt a.M.: Diesterweg.
Zirfas, Jörg/Jörissen, Benjamin (2007): Phänomenologien der Identität. Human-,
sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Wieesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
108
Die Persönlichkeitstheorie von Talcott Parsons
Matthias Junge
Einleitung
Bevor die Persönlichkeitstheorie von Talcott Parsons skizziert werden kann, sind
einige Vorbemerkungen zu treffen. Dazu gehört im Kontext dieses Sammelbandes zuerst, dass das Thema der Identität für Parsons nur am Rande eine Rolle
spielte. Für ihn fällt Identität und Ich-Identität unter eine problematische Selbstwahrnehmung, die sich im Zuge der Ausdifferenzierung und Pluralisierung von
Rollen ergibt. Sie benennt vor allem eine Form der Problematisierung der Einheitsforderung an den Rolleninhaber.
Zweitens ist zur Einordnung der Persönlichkeitstheorie von Parsons festzuhalten, dass er nicht über empirisch gegebene Persönlichkeiten spricht, sondern
über eine analytische, eine konzeptionelle Perspektive. Diese ergibt sich aus
seiner wissenschaftstheoretischen Konzeption des analytischen Realismus, die
auf seine Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Lawrence J. Henderson und
Alfred North Whitehead zurückgeht. Der analytische Realismus geht davon aus,
dass ein System ein „Begriffsschema und nicht das konkrete Phänomen“ (Wenzel 1990: 207) ist. Denn was über ein konkretes Phänomen erfahrbar ist, das
hängt von seiner Interpretation im Rahmen des Begriffsschemas ab. Parsons
selbst formuliert dies so:
„A system of scientific theory is generally abstract precisely because the facts it embodies do
not constitute a complete description of the concrete phenomena involved but are stated ‚in
terms of a conceptual scheme‘, that is, they embody only the facts about the phenomena which
are important to the theoretical system“ (Parsons 1968 I: 41).
Das Persönlichkeitssystem ist also zuerst eine analytische Konzeption eines von
drei Subsystemen des Handlungssystems, die wechselseitig auf ihre Leistungen
füreinander angewiesen sind, ohne deren Erfüllung das Handlungssystem nicht
existieren kann. Der Grund für diese perspektivische Wahl liegt darin, dass Parsons Handlungen als Handlungssysteme begreift, die aus Elementen zusammengesetzt sind, deren Zusammenspiel gesichert sein muss, damit Handlungen zustande kommen.
109
Matthias Junge
Persönlichkeitssystem, Sozialsystem und Kultursystem sind gemeinsam mit
dem am Rande noch zu erwähnenden Verhaltenssystem die vier Subsysteme des
Handlungssystems, deren wechselseitige Aufeinanderverwiesenheit die Konzeption sozialen Handelns theoretisch möglich macht. Es geht ihm nicht um die
Rekonstruktion konkreter Handlungen, Persönlichkeiten, Gesellschaften oder
Kulturen. Vielmehr geht es ihm um drei nur analytisch unterscheidbare Perspektiven auf einen einheitlichen Zusammenhang.
In den folgenden Ausführungen wird das Persönlichkeitssystem in den Mittelpunkt gestellt. Dabei wird zuerst das Persönlichkeitssystem in den Kontext der
Subsysteme des Handlungssystems eingeordnet (2.), sodann Institutionalisierung, Internalisierung und Sozialisation als Austauschprozesse zwischen Persönlichkeits-, Sozial- und Kultursystem beschrieben (3.), anschließend die Entwicklung des Persönlichkeitssystems rekonstruiert (4.) und abschließend die Rezeption und Kritik der Persönlichkeitstheorie von Parsons dargestellt (5.). Vor diesem
thematischen Beginn soll jedoch kurz die Biographie von Parsons vorgestellt
werden (1.).
1
Kurzbiographie
Parsons wurde am 13.2.1902 in Colorado Springs, USA geboren. Er ging auf das
angesehene Amherst College in Massachusetts und studierte ab 1924 an der
London School of Economics. 1927 promovierte er mit einer Arbeit über Max
Weber und Werner Sombart in Heidelberg. Aus Europa zurückkehrend lehrte er
Soziologie in Harvard, erhielt dort 1939 eine Professorenstelle auf Lebenszeit
und wurde bereits 1944 zum Vorsitzenden der Fakultät für Soziologie.
1949 übernimmt Parsons die Präsidentschaft der Amerikanischen Gesellschaft für Soziologie. Parsons hat über die bahnbrechende Studie von 1937 „The
Structure of Social Action“ hinaus in vielen weiteren Büchern Beiträge zur Entwicklung der soziologischen Theorie geleistet: darunter sind „The Social System“ von 1951, das im Kontext des Beitrages wichtige Werk „Toward a General
Theory of Action“ von 1952 und „Das System moderner Gesellschaften“ von
1971 hervorzuheben. Daneben hat er auch zur Medizinsoziologie, Bildungssoziologie oder der Wirtschaftssoziologie – hier ist vor allem das gemeinsam mit
Neil Smelser verfasste „Economy and Society“ von 1956 zu erwähnen – wegweisende Arbeiten beigesteuert. Parsons verstarb am 8.5.1979 nur wenige Tage
nach einer Festveranstaltung zum 50. Jahrestag seiner Heidelberger Promotion in
München.
110
Talcott Parsons
2
Das Persönlichkeitssystem im Kontext der Subsysteme des
Handlungssystems
Rahmenbedingung der Analyse ist eine im Wesentlichen nach Abschluss der
Arbeiten zur Handlungstheorie entwickelte Skizze der conditio humana. Jedes
menschliche Handeln, jedes menschliche Verhalten bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der Auseinandersetzung mit dem physiko-chemischen System, mit dem telischen System, mit dem Handlungssystem und mit dem System
des menschlichen Organismus. Von diesen vier Systemen interessiert im Folgenden vor allem das Handlungssystem, denn dieses Handlungssystem wiederum ist untergliedert in vier Systeme: das Persönlichkeitssystem, das Verhaltenssystem, das soziale System und das kulturelle System. Wesentlich ist an dieser
Vierergruppe, dass sie entlang der Logik des so genannten AGIL-Schemas miteinander zusammenhängen. Jedes der vier Teilsysteme erbringt eine der vier
Teilleistungen von Anpassung, Integration, Strukturerhaltung und Zielerreichung. Dem Persönlichkeitssystem wird dabei dem AGIL-Schema folgend die
Funktion der Zielerreichung zugeordnet.
Funktion
Subsysteme des
Handlungssystems
L (Normerhaltung)
Kulturelles System
I (Integration)
Soziales System
G (Zielerreichung)
Persönlichkeitssystem
A (Anpassung)
Verhaltenssystem
Kybernetische Regulierung
hohes Informationsmaß und
niedriges Energiemaß
niedriges
Informationsmaß
und hohes Energiemaß
Abbildung 1: Die Kybernetische Kontrollhierarchie
Das Persönlichkeitssystem erscheint in diesem Zusammenhang als zu steuerndes
System. Gesteuert wird das Persönlichkeitssystem direkt und indirekt. Das Persönlichkeitssystem wird direkt gesteuert durch das Sozialsystem und dieses wiederum wird gesteuert durch die Inputs des Kultursystems, so dass sich eine Kette
von Steuerungsprozessen ergibt. Das Kultursystem und die darin vorgegebenen
111
Matthias Junge
Werte werden vom Sozialsystem als Rollenerwartungen und Rollenvorschriften
konkretisiert und bestimmen zusammen die Anforderungen an das Persönlichkeitssystem: „the institutionalized organization of roles […] is central to the
organization of personality itself“ (Parsons/Shils/Olds 1952: 155). Dabei sind
Rollenerwartungen das zentrale Scharnier: In Rollenerwartungen werden zwei
Aspekte der Bedürfnisdisposition – gegenüber sozialen Objekten und gegenüber
Wertmustern – zusammen geführt und sozial standardisiert. „Role-expectations
[…] are […] a special way of organizing. […] two fundamental foci of needdispositions – social objects and value patterns“ (ebd.: 115, Fn. 8). Diese Zusammenführung geschieht im Hinblick auf Objekte durch die Festlegung erlaubter, normierter Handlungsweisen, in Bezug auf die Wertmuster durch Bestimmung sozial normierter Handlungsorientierungen respektive Handlungsintentionen.
Das Persönlichkeitssystem hat gerade deshalb eine hohe Last zu tragen,
weil es nicht nur extern gesteuert wird, sondern auch mit intern vorgegebenen
Bedürfnisdispositionen und Trieben ausgestattet ist. Beide Anforderungen müssen ausbalanciert werden, denn ohne eine Modulation von Bedürfnisdispositionen und Rollenerwartung kann das Persönlichkeitssystem seine Funktion für das
Handlungssystem, die Zielereichung, nicht erfüllen.
Es ist vor allem die von Parsons theoretischer Konzeption geforderte Übereinstimmung zwischen individueller Bedürfnisdisposition und den normativ
formulierten Rollenerwartungen des Sozialsystems, welche das Hauptproblem
des Persönlichkeitssystems ausmacht. Das Persönlichkeitssystem muss beide
Pole in Übereinstimmung bringen, um konform zu kulturell vorgegebenen und
über das Sozialsystem vermittelten Erwartungen handeln zu können. Parsons
geht davon aus, dass dies weitestgehend gelingt, wenngleich die Passung von
Persönlichkeitsstruktur und Sozialstruktur „is not exact“ (ebd.: 148).
Dabei verläuft die Steuerung der Bedürfnisdispositionen über einen recht
komplexen Mechanismus der Ausbildung von Kontrollstrukturen (vgl. ebd.:
149). Ausgegangen wird von einer aus der philosophischen Anthropologie spätestens seit Arnold Gehlen bekannten Mängelhaftigkeit der Instinktausstattung
des Menschen. Das bedeutet, dass der Mensch zwar über für die erfolgreiche
Selbststeuerung unzureichende Restinstinkte mit gesteuert wird, aber der nicht
Instinkt gesteuerte Teil einer Überformung bedarf. Bei Parsons geht die Interpretation dieses Sachverhaltes soweit, dass selbst der unmittelbarste Triebimpuls, in
der Freudschen Terminologie das Es, noch weitestgehend sozial überformt worden ist. Diese Annahme sichert in Parsons Konzeption die Möglichkeit der Behauptung einer Passung von Bedürfnisdisposition und Rollenerwartung.
Im kulturellen System werden für das Handlungssystem Werte zur Verfügung gestellt, im Sozialsystem werden für das Handlungssystem Normen ange112
Talcott Parsons
boten, und das Persönlichkeitssystem stellt regulierte Bedürfnisdispositionen zur
Verfügung. Werte definieren innerhalb der Logik des AGIL-Schemas Ziele.
Normen hingegen definieren die erlaubten Mittel. Um Werte auf Normen zu
beziehen sind Regeln ihrer statthaften Verbindung nötig. Diese legen fest, wie
das Persönlichkeitssystem seine Bedürfnisdispositionen befriedigen darf.
3
Die Austauschbeziehungen zwischen den Subsystemen:
Institutionalisierung, Internalisierung und Sozialisation
Um diesen Prozess zu ermöglichen, müssen die drei Subsysteme des Handlungssystems in wechselseitige Interpenetrationsbeziehungen zueinander treten. Interpenetration bedeutet bei Parsons, dass die Systeme wechselseitig füreinander
Ressourcen und Leistungen in Input- und Output-Beziehungen bereitstellen. Die
Prozesse, die diesen Leistungsaustausch ermöglichen sind Institutionalisierung,
Internalisierung und Sozialisation. Jeder dieser drei Prozesse stellt eine Verbindung zwischen je zwei der Subsysteme des Handlungssystems bereit: Institutionalisierung verbindet das Kultur- mit dem Sozialsystem, Internalisierung verknüpft Kultur- und Persönlichkeitssystem und Sozialisation schließlich schließt
Persönlichkeitssystem und Sozialsystem zusammen.
Das bedeutet, für den Austausch zwischen dem Kultursystem und dem Sozialsystem ist vor allem der Mechanismus der Institutionalisierung kultureller
Standards in Institutionen relevant. Institutionalisierung kultureller Standards ist
ein zweiseitiger Prozess. Es ist nicht nur so, dass das Kultursystem Werte vorgibt, die dann im Sozialsystem institutionalisiert werden, sondern auch so, dass
institutionalisierte Werte im Zuge ihrer Veränderung zurückwirken auf das System kultureller Standardsetzung und Werte.
Am Beispiel des Wandels der Institution Ehe kann dies nachvollzogen werden. Die Ehe ist eine Institution, die im Laufe der letzten 30 Jahre im Zuge der
Pluralisierung von Familienformen, etwa durch das Aufkommen nichtehelicher
Lebensgemeinschaften, nicht nur Konkurrenz durch weitere Muster von Lebensformen gefunden hat, sondern in dieser Konkurrenzbeziehung seinerseits partiell
neu bestimmt wird.
Der zweite Mechanismus ist die wechselseitige Durchdringung von Kultursystem und Persönlichkeitssystem. Dies geschieht mittels des Mechanismus der
Internalisierung. Auch Internalisierung ist kein einseitiger Vorgang. Er bedeutet
einerseits, dass das Persönlichkeitssystem ein im Kultursystem vorgegebenes
Wertmuster verinnerlicht. Aber weil diese Verinnerlichung nicht vollkommen
gelingt, führt sie zugleich zu einer Veränderung des Verinnerlichten und damit
113
Matthias Junge
auch zu einer Rückwirkung auf das Kultursystem. Exemplarisch lässt sich dies
an der Verinnerlichung von Rationalitätsimperativen für das Handeln zeigen.
Wenngleich zuletzt die Verinnerlichung instrumenteller Rationalität funktional
für das Persönlichkeitssystem im Kontext der anderen Subsysteme ist, so kann
doch ihre vollständige Verinnerlichung durch andere Rationalitätsvorstellungen
„verunreinigt“ sein und so zu einer Rückwirkung auf die Rationalitätsvorstellung
insgesamt beitragen.
Und schließlich ist drittens die Interpenetrationsbeziehung zwischen Sozialsystem und Persönlichkeitssystem zu betrachten, die von Parsons als Sozialisation konzipiert wird. Auch Sozialisation ist kein einseitiger Prozess, denn auch
hier wird zwar vom Persönlichkeitssystem eine bestimmte normative Erwartungsstruktur im Prozess der Sozialisation angeeignet, jedoch gleichzeitig im
Prozess der Aneignung verändert, umgeformt, transformiert. Diese Transformation wirkt dann zurück auf die Darstellung der Persönlichkeit im Sozialsystem.
Weil die Persönlichkeitstheorie von Parsons eng mit der Rollentheorie zusammen hängt, bietet sich als Beispiel die viel zitierte Lehrerrolle an. Lehrer
durchlaufen einen langen Sozialisationsprozess, bis sie zur Ausübung ihrer Rolle
zugelassen werden. Während dieser Zeit können die künftigen Lehrer unterschiedliche Bilder und Vorstellungen zentraler Merkmale der Lehrerrolle gewinnen und auf diese Weise die durch die Sozialisation als Lehrer geprägte normative Erwartungsstruktur verändern. Dies ist allerdings, wie frühe Burn-Outs bei
Berufsanfängern zeigen, ein schwieriger Prozess, der mit erheblichen Belastungen verbunden und Widerständen ausgesetzt ist.
Vor allem in dieser Konzeptualisierung der Sozialisation schlägt die Logik
der funktionalen Analyse durch, denn die Beschreibung des Prozesses „is presupposing the outcome of the interaction“ (Menzies 1976: 94). Parsons geht von
der Vorstellung eines vollständigen Interaktionsprozesses und -systems aus und
schließt von dort aus auf die funktionalen Erfordernisse des Sozialisationsprozesses zurück. Daraus ergibt sich für das Verständnis der Sozialisation eine tendenziell deterministische Interpretation. Vor allem die Eltern bestimmen das
Ergebnis der Sozialisation. Wenngleich Parsons die Bedeutung der PeerSozialisation bedenkt (vgl. etwa Parsons 1968: 95, 278-289), so steht sie doch
weit hinter der Bedeutung der Sozialisationsagenten Eltern zurück.
Erst wenn die Prozesse von Institutionalisierung, Internalisierung und Sozialisation so weit gediehen sind, dass eine hinreichende Gesamtinterpenetration
aller drei Subsysteme des Handlungssystems gewährleistet ist, können die Individuen auf der Grundlage sicherer Erwartungsbildung in Situationen handeln.
Denn ausgehend von seiner ursprünglichen, in „The Structure of Social Action“
1937 formulierten, Problematik der Lösung des Problems sozialer Ordnung, die
sich vor allem als eine Lösung des Problems der doppelten Kontingenz erweist,
114
Talcott Parsons
muss beachtet werden, dass jedes Handeln in einer Situation stabiler Erwartungen bedürftig ist.
Nur stabile und geteilte Erwartungen von Interaktionspartnern erlauben
nach Parsons Interaktion. Denn diese setzt voraus, dass das Problem doppelter
Kontingenz gelöst ist. Das Problem der doppelten Kontingenz ergibt sich (vgl.
Parsons/Shils 1951: 16), wenn man zwei Akteure annimmt, die ihr jeweiliges
Handeln am Handeln des Interaktionspartners ausrichten. Das ist eine Situation,
in der nichts geschehen wird. Denn Ego und Alter handeln erst dann, wenn jeweils der Andere gehandelt hat. Wie kann es dann aber zu einem Einstieg in eine
Interaktionsbeziehung kommen? Nach Parsons sind gemeinsame und zeitlich
stabile Wertorientierungen erforderlich, damit es überhaupt zur Interaktion
kommt. Diese müssen beiden Interaktionspartnern gleichermaßen verfügbar sein.
Hierfür ist nach Parsons die Internalisierung von Wertmustern der Orientierung
unverzichtbar.
Das Handeln in Situationen muss im Prinzip den aus dem AGIL-Schema
sich ergebenden pattern variables genügen. Die pattern variables stellen grundlegende Orientierungsalternativen in einer dichotomisierten Form in vier Dimensionen respektive Aspekten des Handelns bereit. In der Endfassung der pattern
variables haben sich vier von ursprünglich aus sozialpsychologischen Arbeiten
von Bales über Gruppenprozesse abgelesenen fünf Handlungsalternativen heraus
kristallisiert:
Traditionale Orientierung
Moderne Orientierung
Partikularismus
Universalismus
Zuschreibung
Leistungsorientierung
Diffusität
Spezifizität
Affektivität
affektive Neutralität
Abbildung 2: Die Orientierungsalternativen
Diese Handlungsalternativen sind: diffuse versus spezifische Handlungsorientierung, eine affektive versus eine affektiv-neutrale Orientierung, eine partikulare
versus eine universalistische Orientierung und eine Orientierung entlang der
Alternative von Zuschreibung oder Leistung. Das jeweils letztgenannte Element
in den Paaren steht für das moderne Orientierungsmuster, das jeweils erstge115
Matthias Junge
nannte Element innerhalb der Paarungen steht für eine traditionale Orientierungsweise.
4
Die Entwicklung des Persönlichkeitssystems
Entlang dieser Orientierungsalternativen beschreibt Parsons schließlich auch den
Prozess der Entwicklung des Persönlichkeitssystems, indem er die Entwicklungsprozesse der Aneignung und der Fähigkeit zur Auswahl innerhalb der pattern variables mit einer revidierten Variante des Freudschen Modells der Persönlichkeit rekonstruiert.
Im Rückgriff auf eine modifizierte Interpretation des Freudschen Persönlichkeitskonzepts unterscheidet Talcott Parsons das Es vom Ich und Über-Ich
und vom Ich-Ideal bzw. von der Ich-Identität. Alle vier Elemente des Persönlichkeitssystems werden im Zuge der Sozialisation schrittweise entwickelt. Dabei ist jedem Teilsystem des Persönlichkeitssystems wiederum eine der Funktionen des AGIL-Schemas zugeordnet. Dem Es wird dabei die der Idee der Steigerung der Anpassungsfähigkeit zugesprochen, für das Ich bleibt die Aufgabe der
Zielorganisation und Zielintegration zurück, für das Über-Ich besteht die Aufgabe in der schrittweisen Inklusion von Anforderungen und die Ich-Identität muss
schließlich die Wertgeneralisierung, d.h. die Bildung verallgemeinerungsfähiger
Standards leisten.
Diese vier Funktionen der Teilsysteme des Persönlichkeitssystems werden
während der Sozialisation erlernt. Der Sozialisationsprozess selbst wird von
Parsons entlang von drei Phasen skizziert. Beschrieb die Differenzierung von Es,
Ich, Über-Ich und Ich-Identität noch vier verschiedene funktionale Strukturmerkmale des Persönlichkeitssystems, so wird diese Skizze nun in eine Abfolge
von Entwicklungsphasen übersetzt. Denn jede dieser Funktionen und die Ausbildung der zugehörigen Orientierungsalternative werden im Ausgang von der
ursprünglichen symbiotischen Einheit zwischen Mutter und Kind durch Erweiterung des Kreises der Interaktionspartner entwickelt.
Die Mutter-Kind-Interaktion ist die erste Interaktionssituation des Kindes,
sie wird sodann über die Erweiterung des Kreises der Interaktionspartner um
Vater und Geschwister vergrößert, um schließlich nochmals eine Erweiterung
des Interaktionskreises um umfassendere soziale Interaktionssysteme zu erfahren. Diese drei Phasen werden expliziert anhand der Kindheit, dem Übergang
von Kindheit zur Jugend und dem Übergang von der Jugend zur Postadoleszenz.
In jeder dieser drei Entwicklungsphasen werden bestimmte grundlegende Leistungen im Sozialisationsprozess verankert, die letztlich zur Gesamtentwicklung
eines Persönlichkeitssystems beitragen.
116
Talcott Parsons
Parsons skizziert diese Entwicklungsschritte als Bewältigung krisenhafter
Übergänge einer oralen, einer analen, einer ödipalen Krise und schließlich der
Krise der Adoleszenz. In jeder dieser Krisen wird zugleich jeweils ein Element
der Orientierungsalternativen der pattern variables als normatives Orientierungsmuster angeeignet (vgl. Brandenburg 1971: 126). Die orale Krise reagiert
auf die erste Differenzierung der ursprünglichen symbiotischen Einheit von Mutter und Kind, in der das Kind seine direkte orale Abhängigkeit sowohl von der
Liebe wie auch von der Ernährungsgrundlage der Mutter erfährt. Diese orale
Abhängigkeit wird in der analen Krise überwunden, indem die Liebesabhängigkeit von der Mutter zum Gegenstand wird und erkannt werden kann, dass spezifische versus diffuse Interessen miteinander in Konflikt stehen können. Die Liebesabhängigkeit wiederum führt in eine ödipale Krise hinein, in der vor allem die
Orientierungsalternative Affektivität versus affektive Neutralität erlernt wird,
indem durch das Hinzutreten des Vaters die Interaktionsdyade Mutter und Kind
zur Interaktionstriade erweitert wird. Die ödipale Krise geht über in die Phase
der Latenz, in der der soziale Kreis um Peer-groups und die Schule erweitert
wird und dort insbesondere die Orientierungsalternativen von Universalismus
und Partikularismus erlernt werden können. Diese Phase wiederum geht über in
die kritische Phase der Adoleszenz, die schließlich in die Reife einmündet. In der
Krise der Adoleszenz werden einerseits weitere Differenzierungen innerhalb der
erlernten Orientierungsmuster Spezifizität versus Diffusität, Affektivität versus
affektive Neutralität und Universalismus versus Partikularismus entwickelt.
Andererseits wird vor allem die Differenz zwischen Zuschreibung und Leistung
in den Kontexten von Peer-groups, Schule und größeren sozialen Interaktionskreisen erlernt. Mit der Reife schließlich gelten alle Krisen als bewältigt und die
Verfügung über die Orientierungsalternativen als gesichert.
5
Die Rezeption von Parsons Persönlichkeitstheorie
Dieses hochkomplexe Schema, welches sich sowohl als Struktur- wie auch als
Funktions- und Prozessanalyse des Persönlichkeitssystems lesen lässt, ist für die
empirische Erforschung von Sozialisationsprozessen in der damaligen Zeit eine
bahnbrechende Leistung gewesen, weil sie aufbauend auf einer Auseinandersetzung mit der Freudschen Persönlichkeitstheorie Anhaltspunkte für die Analyse
des Zusammenhangs von Persönlichkeitssystem, sozialem System und Kultursystem gab.
Allerdings ist diese Persönlichkeitstheorie nicht ohne Einwände geblieben.
Zu den kritischen Vorbehalten gehören in der Gegenwart Überlegungen, die
davon ausgehen, dass gerade die vorausgesetzte Idee der Einheit eines Persön117
Matthias Junge
lichkeitssystems unter postmodernen Bedingungen nicht mehr gewährleistet
werden kann (vgl. Junge 2004). Spätestens seit der sozialtheoretischen und sozialphilosophischen Erörterungen von Lyotard über das Ende der MetaErzählungen hat sich auch in der Sozialisationstheorie schrittweise eine Tendenz
entfaltet, nicht mehr von der fiktiven Unterstellung einer einheitlichen Persönlichkeit auszugehen, sondern vielmehr das Selbst als ein multiples Selbst, als ein
Amalgam vielfältiger Teil-Selbste (vgl. Bilden 1997) zu verstehen und insofern
das Konzept der Einheitlichkeit einer Persönlichkeit beiseite zu legen.
In Bezug auf das Konstruktionsprinzip und die theoretisch geforderte Passung von Bedürfnisdispositionen zu Erwartungsstrukturen hat Dennis Wrong
(1961; Parsons Replik 1962) den Einwand eines übersozialisierten Konzepts des
Menschen gegenüber Parsons vorgetragen. Denn für die Theorieanlage von Parsons ist bezeichnend, dass sie von einer vollständigen sozialen und kulturellen
Überformung aller Elemente des Persönlichkeitssystems einschließlich des Es
ausgeht. Diese vollständige Bestimmung aller Impulse durch soziale und kulturelle Einflüsse kann als eine übermäßige Soziologisierung des Zusammenhangs,
als Annahme einer übermäßigen sozialen Überformung des Persönlichkeitssystems in Frage gestellt werden.
An diesen Einwand von Wrong schloss sich später eine weitere fundamentale Kritik der Theoriestruktur von Parsons an, der insbesondere immanenter
Funktionalismus vorgeworfen wurde. In neuerer Zeit hat dann Jürgen Habermas
(1981) ebenfalls dem Parsons’schen Modell eine kulturelle Determination von
Handlungsorientierungen vorgeworfen, die nur unzureichend die Dimension des
verständigungsorientierten Handelns berücksichtige. In diesem Zusammenhang
bündeln sich diesbezügliche Kritiken in der Beurteilung, dass Parsons im Prinzip
nicht von einer autonomen Persönlichkeit ausgeht, sondern nur eine „semiautonomous“ Persönlichkeit behaupten kann, weil „society predominates over
the individual“ (Turkel 1990: 267).
Auf einer mittleren Abstraktionsebene der Kritik sind sodann die Einwände
von Lothar Krappmann (1969) zum Rollenkonzept zu erwähnen. Denn die Rollentheorie von Parsons beruht auf einer Reihe von idealisierten Annahmen, die
bezweifelt werden können: Parsons unterstellt in seiner Rollentheorie, dass die
institutionalisierte Rollennorm und die Rolleninterpretation der Rolleninhaber
übereinstimmen; zudem wird verlangt, dass das Rollenhandeln eines Akteurs nur
an einer einzigen Rolle orientiert ist; weiterhin wird angenommen, dass die Interpretation der Rollenpartner im Hinblick auf ihre Erwartungen deckungsgleich
sind und schließlich wird davon ausgegangen, dass das gesellschaftliche Wertmuster und die individuellen Bedürfnisse zueinander passen (vgl. Krappmann
1969: 100f.). Alle vier Annahmen lassen sich sowohl empirisch wie auch theoretisch in Frage stellen. So muss etwa theoretisch davon ausgegangen werden, dass
118
Talcott Parsons
ein solches Rollenmodell eine vollkommene Konstanz, eine vollkommene
Gleichartigkeit und Deckungsgleichheit von Rolle, Rollenerwartung und Rollenhandeln unterstellen muss und somit jede Interpretationsleistung des Subjekts,
des handelnden Akteurs, des Rollenhandelnden auszuschließen hat.
Allerdings trifft diese Kritik nicht vollständig zu, berücksichtigt Parsons
doch explizit diese Möglichkeit:
„The upshot of these considerations is that, though in a fundamental sense personality is a
function of the institutionally organized role-expectations of the social system in which ego is
involved, in an equally fundamental sense, it cannot be even approximately fully determined
by this aspect of its structure“ (Parsons/Shils/Olds 1952: 156).
Dieser Perspektive hat er jedoch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, da sein
Hauptinteresse auf der identischen Passung von Bedürfnisdispositionen und
Rollenerwartungen lag.
Unabhängig von diesen vier kritischen Bezugnahmen – aus der postmodernen Diskussion, aus der Kritik am Konzept des übersozialisierten Menschen, aus
der Kritik am Konzept einer kulturellen Determination aller Handlungsorientierungen unter Vernachlässigung des verständigungsorientierten Handelns und der
Kritik an der statischen Struktur des Rollenmodells – lässt sich dennoch für die
Parsons’sche Persönlichkeitstheorie festhalten, dass sie einen entscheidenden
Schritt zur Erfassung der Bedeutung von Sozialisationsprozessen für die Reproduktion von Persönlichkeitssystemen, Sozialsystemen und Kultursystemen geleistet hat.
Wenngleich es irritieren mag, dass Persönlichkeit, Sozial- und Kultursystem
nur als analytische Kategorien konzeptionell in Anschlag gebracht werden, weil
der Fokus auf die Möglichkeit des sozialen Handelns gerichtet wird, so ist doch
darauf hinzuweisen, dass gerade diese analytische Taxonomie die Grundlage für
die Entwicklung einer systematischen Sozialisationsforschung, Persönlichkeitsforschung und systematisch entfalteten Persönlichkeitstheorie gelegt hat.
Vor dem Hintergrund der Persönlichkeitstheorie von Parsons lassen sich
auch gegenwärtige Diskurse der Psychologie um Borderline-Syndrome, eine
Zunahme narzisstischer Störungen und ähnliche Erscheinungen gut abbilden,
weil sie nämlich jeweils Störungen im Persönlichkeitssystem anzeigen, die insgesamt zu Störungen im Handlungssystem beitragen. Man kann also auch mit
diesem theoretischen Rahmen gegenwärtige Probleme, die sich in der Perspektive der Psychologie bei der Betrachtung von Persönlichkeiten ergeben, rekonstruieren als Störungen des notwendigen Gleichklangs zwischen Verhaltenssystem, Persönlichkeitssystem, Sozialsystem und Kultursystem, die insgesamt zu
einer Störung des Handlungssystems und auch der Handlungsfähigkeit von Persönlichkeitssystemen beitragen.
119
Matthias Junge
Primärliteratur
Parsons, Talcott/Bales, Robert F. (1951): Family, socialization and interaction
process. London: Routledge.
Parsons, Talcott/Shils Edward A./Olds, James (1952): Values, Motives, and
Systems of Action. In: Talcott Parsons/Edward A. Shils (Eds.) (1952): Toward a General Theory of Action. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, S. 47-275.
Parsons, Talcott (1962): Individual Autonomy and Social Pressure: An Answer
to Dennis H. Wrong. In: Psychoanalysis and Psychoanalytic Review, Vol.
49, S. 70-80.
Parsons, Talcott (1968): The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers. 2 Vols.
New York: Free Press (orig. 1937).
Parsons, Talcott (1968): Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt a.M.: EVA.
(orig. 1964).
Sekundärliteratur
Bilden, Helga (1997): Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger
Teil-Selbste. Zur Pluralität in Individuum und Gesellschaft. In: Heiner
Keupp/Renate Höfer (Hrsg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle
Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 227249.
Brandenburg, Alois Günter (1971): Systemzwang und Autonomie. Gesellschaft
und Persönlichkeit in der soziologischen Theorie von Talcott Parsons. Darstellung und Kritik. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag.
Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Junge, Matthias (2002): Ambivalenz: eine Schlüsselkategorie der Soziologie von
Zygmunt Bauman. In: Matthias Junge/Thomas Kron (Hrsg.): Zygmunt
Bauman. Soziologie zwischen Postmoderne und Ethik. Opladen: Leske &
Budrich, S. 81-101.
Junge, Matthias (2004): Sozialisationstheorien vor dem Hintergrund von Modernisierung, Individualisierung und Postmodernisierung. In: Dagmar Hoffmann/Hans Merkens (Hrsg.): Jugendsoziologische Sozialisationstheorie.
Impulse für die Jugendforschung. Weinheim/München: Juventa, S. 35-50.
120
Talcott Parsons
Krappmann, Lothar (1969): Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart:
Klett-Cotta.
Menzies, Ken (1976): Talcott Parsons and the Social Image of Man. London;
Henley; Boston: Routledge & Kegan Paul.
Münch, Richard (1982): Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge
von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Turkel, Gerald (1990): The Weakening of Tensions: Parsons on the Individual
and Society. In: Current Perspectives in Social Theory, Vol. 10, S. 253-270.
Wenzel, Harald (1990): Die Ordnung des Handelns. Talcott Parsons’ Theorie des
allgemeinen Handlungssystems. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Wrong, Dennis H. (1961): The Oversocialized Conception of Man in Modern
Sociology. In: American Sociological Review, Vol. 26, No. 2, S. 183-193.
121
Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der
Bewältigung beschädigter Identität
Michael von Engelhardt
Einleitung
Erving Goffman war ein überaus innovativer Soziologe, dessen herausragende
Bedeutung als empirisch ausgerichteter Theoretiker erst nach seinem Tode 1982
voll erkannt wurde (vgl. Drew/Wooton 1988; Hettlage/Lenz 1991; Burns 1992;
Maning 1992; Smith 2006; Raab 2008). Diese herausragende Bedeutung zeigt
sich in einer breiten wissenschaftlichen Rezeption weit über die Grenzen der
Soziologie hinaus. Einige seiner wichtigen Werke – darunter vor allem „Wir alle
spielen Theater“ und die hier zu behandelnde Arbeit „Stigma“ – wurden und
werden auch außerhalb der Wissenschaft mit großem Interesse aufgenommen.
Goffman hat mit seinen Arbeiten ganz entscheidend zur „Alltagswende“ in der
Soziologie und den angrenzenden Wissenschaften beigetragen. Im Zentrum
seines Forschungsinteresses steht die unmittelbare soziale Interaktion, in der sich
die Menschen direkt als Körper-Leib-Wesen begegnen und eine gemeinsame
Wirklichkeit herzustellen versuchen. Dieser Bereich des zwischenmenschlichen
Alltagslebens stellt für Goffman eine gesellschaftliche Wirklichkeit „sui generis“
dar, die zwar in einem Zusammenhang mit der übergeordneten Sozialstruktur
und Kultur der Gesellschaft steht, die daraus aber nicht einfach abgeleitet werden
kann und die deshalb einer gesonderten Erforschung bedarf.
In seinem reichhaltigen Werk untersucht Goffman an unterschiedlichen
Phänomenen und in unterschiedlichen Perspektiven die Regeln und Mechanismen, mit denen die Menschen ihr Alltagsleben als gemeinsamen Interaktionszusammenhang gestalten und wie sie dabei ihre Identität – die eigene und die der
Anderen – konstituieren. Seine Arbeiten weisen Goffman als einen genauen
Beobachter und Analytiker der sozialen Wirklichkeit des Alltagslebens aus, der
empirisch gehaltvolle Theorie mit einer anschaulichen und unterhaltsamen Darstellung zu verbinden wusste. Er war ausgesprochen kreativ in der Entwicklung
neuer Konzepte und Kategorien, von denen viele zu einem festen Bestandteil der
Sozialwissenschaften geworden sind.
123
Michael von Engelhardt
Goffman selbst hat in seiner letzten Arbeit die „Interaktionsordnung“ zum
durchgehenden Thema seiner wissenschaftlichen Untersuchungen erklärt (Goffman 1994), eine Selbstcharakterisierung, die sich mittlerweile in der Sekundärliteratur weitgehend durchgesetzt hat (vgl. Drew/Wooton 1988; Hettlage/Lenz
1991; Raab 2008). Berücksichtigt man, dass es Goffman bei der Untersuchung
der sozialen Interaktion immer zugleich auch um die Identität der Interaktionspartner geht, so kann sein Werk zutreffender als eine Soziologie der Interaktion
und Identität im Alltagsleben bezeichnet werden.
Goffman hat sich zeitlebens dagegen gewehrt, eindeutig bestimmten Schulen zugeordnet zu werden. Ebenso hat er sich auch nicht darum bemüht, eine
eigene Schule zu begründen. Er hat eine Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Strömungen in sein Werk aufgenommen (vgl. Hettlage/Lenz 1991; Smith
2006; Raab 2008), die er für sein eigenes Anliegen zu nutzen wusste, ohne diese
Rückgriffe und Bezüge immer klar deutlich gemacht zu haben. Ganz offensichtlich steht Goffman in der Tradition des am interpretativen Paradigma orientierten
Interaktionismus und der auf Charles H. Cooley und vor allem Georg H. Mead
zurückgehenden Identitätstheorie. Er setzt sich aber vom Symbolischen Interaktionismus ab, weil er meint, dass dieser nicht hinreichend die historischgesellschaftlichen Bedingungen und die Regelstrukturen der Interaktion und
Identität berücksichtigt. Durch den Rückgriff auf Emile Durkheim und Georg
Simmel, die kritische Aufnahme von Anregungen aus der Sozialphänomenologie
von Alfred Schütz und die Öffnung gegenüber der Verhaltensforschung hat
Goffman eine eigenständige Soziologie der Interaktion und Identität im Alltagsleben entwickelt, die anschlussfähig ist gegenüber unterschiedlichsten sozialwissenschaftlichen Paradigmen. Der hier vorgestellten Arbeit „Stigma“ kommt für
die Behandlung des Themas Identität eine herausragende Bedeutung zu.
1
Biographie
Erving Goffman wurde am 11. Juli 1922 als Kind jüdischer Einwanderer in Alberta, Kanada geboren. Er studierte zunächst an der University of Toronto und
erwarb dort 1945 den Bachelor of Arts. Anschließend setzte er sein Studium an
der University of Chicago fort, wo Everett C. Hughes und W. Lloyd Warner
seine wichtigsten akademischen Lehrer waren. Nach dem Erwerb des Masters of
Arts 1949 wechselte Goffman an die University of Edingburgh. Aus einem längeren Forschungsaufenthalt auf den Shetlandinseln ging seine 1953 abgeschlossene Dissertation hervor, deren Ergebnisse auch in sein erstes Buch „Wir alle
spielen Theater“ (1956, dt. 1969) eingegangen sind. In dieser Publikation zeigte
sich schon früh seine wissenschaftliche Eigenständigkeit und Unabhängigkeit
124
Erving Goffman
gegenüber seinen akademischen Lehrern. In der Zeit zwischen 1954 und 1957
war Goffman an verschiedenen Einrichtungen beschäftigt und unternahm Forschungen im Bereich des Gesundheitswesens, deren Ergebnisse in seinem zweiten Buch „Asyle“ (1961, dt. 1972) eingegangen sind. 1958 ging er an die University of California (Berkeley), wo er 1962 zum Full Professor ernannt wurde
und eine wissenschaftlich sehr produktive Zeit durchlebte, was unter anderem
einen Niederschlag in den Büchern „Stigma“ (1963, dt. 1967), „Verhalten in
sozialen Situationen“ (1963, dt. 1971) und „Interaktionsrituale“ (1967, dt.1971)
fand. In den folgenden Jahren erfuhr Goffman eine wachsende Anerkennung
unter Kollegen und zog zunehmend das Interesse der Studenten auf sich. Um
dem öffentlichen Interesse an seiner Person und den Turbulenzen der Studentenbewegung zu entgehen und sich stärker seinen wissenschaftlichen Arbeiten
widmen zu können, folgte er 1969 einem Ruf an die ruhigere University of
Pennsylvania in Philadelphia. Hier verfasste er unter anderem „Das Individuum
im öffentlichen Austausch“ (1971, dt. 1974), „Rahmen-Analyse“ (1974, dt.
1977), „Geschlecht und Werbung“ (1979, dt. 1981) und „Rede-Weisen“ (1981,
dt. 2005). Im Jahre 1981 wurde Goffman, der sich selbst immer als ein Außenseiter verstanden hatte, zum Präsidenten der American Sociological Association
gewählt. Dieses Amt konnte er aber wegen einer schweren Krebs-Erkrankung
nicht mehr antreten. Erving Goffman starb am 20. November 1982 im Alter von
60 Jahren.
2
Identität und Stigma
In dem hier zu behandelnden Werk untersucht Goffman zwei zusammenhängende Themenkomplexe – das Stigma und die personale Identität. Im Vordergrund
steht zunächst das soziale Phänomen des Stigmas, worunter der Makel von Personen mit diskriminierender Wirkung zu verstehen ist. Diese Thematik hat dem
Buch den Haupt-Titel gegeben. Unter Rückgriff auf reichhaltiges empirisches
Material aus der Stigmaforschung, eigene empirische Beobachtungen und literarische Zeugnisse beschreibt und analysiert Goffman auf minutiöse Weise das
soziale Phänomen des Stigmas. Dabei entwickelt er schrittweise einen begrifflich-theoretischen Rahmen, der auf den Entwurf einer allgemeinen Identitätstheorie hinausläuft. So wird das Phänomen Stigma als eine spezifische Ausprägung
menschlicher Identität ausgewiesen und verständlich gemacht. Zugleich werden
über die eingehende Beschäftigung mit dem Phänomen Stigma die allgemeinen
Strukturen und Prozesse personaler Identität herausgearbeitet. Dabei wendet
Goffman die seine Forschungen insgesamt leitende Maxime an, die davon ausgeht, dass die Mechanismen der sozialen Wirklichkeit dann besonders gut er125
Michael von Engelhardt
kannt werden können, wenn sie (wie im Falle des Stigmas) nicht reibungslos
funktionieren. Gegen Ende seiner Arbeit geht Goffman noch einen Schritt weiter
im Nachweis des engen Zusammenhangs von Identität und Stigma. Die klare
Aufteilung der Menschen in Normale und Personen mit einem Stigma, auf der
Goffman zunächst seine Untersuchung aufbaut, wird nun von ihm aufgegeben.
Er zeigt auf, dass das Stigma als Abweichung von den jeweiligen sozialen Normalitätsstandards zu jedweder Identität dazugehört, freilich in unterschiedlichem
Ausmaß und in unterschiedlichen Formen.
Das bedeutet, dass die Arbeit von Goffman auf doppelte Weise gelesen
werden kann. Zum einen handelt es sich um eine Abhandlung über das spezielle
soziale Phänomen des Stigmas, das als eine spezifische Ausformung der Identität
interpretiert wird. Zum anderen handelt es sich um eine Abhandlung über das
allgemeine Phänomen der personalen Identität, in der dem Stigma eine grundlegende Bedeutung zugewiesen wird.
Die nachfolgende Darstellung orientiert sich bewusst nicht an dem Entwicklungsgang der Abhandlung von Goffman, die ihren eigenen Reiz hat, aber auch
mit einigen Verständnisschwierigkeiten verbunden ist. Sie ist vielmehr auf die
systematische Herausarbeitung der hier im Vorgriff umrissenen Gesamtkonzeption ausgerichtet.
2.1 Fremdidentität und Selbstidentität
Grundlegend für die in „Stigma“ entwickelte Konzeption personaler Identität ist
die systematische Berücksichtigung der doppelten Perspektive und ihrer Verschränkung, die für die soziale Konstitution von Identität bestimmend ist. Zum
einen geht es um die Wahrnehmung und Zuweisung von Identität im Hinblick
auf das soziale Gegenüber oder, wenn man die Position der identifizierten Person
einnimmt, um die Identitätsbestimmung durch die Anderen. Die Identitätsbestimmung des Gegenübers bildet eine notwendige Voraussetzung für die soziale
Interaktion, weil durch sie die Verhaltenserwartung im Hinblick auf das soziale
Gegenüber und das eigene Verhalten gesteuert werden (Goffman 1967: 9f.).
Zum anderen geht es um die Identität der Person selbst, um ihre Selbstidentität, die Goffman im Anschluss an Erik H. Erikson „Ich-Identität“ nennt (ebd.:
132ff.). Unter Ich-Identität versteht Goffman das subjektive Empfinden der Person von ihrer eigenen Situation und ihrer Eigenart sowie ihrer Kontinuität (im
Wechsel sozialer Rollen und Situationen und im Wandel der Biographie), das
sich als Ergebnis der verschiedenen sozialen Erfahrungen herausbildet. Die IchIdentität ist mit einer nach innen auf die eigene Person und einer nach außen auf
die soziale Umwelt ausgerichteten Wahrnehmung und Reflexivität ausgestattet
126
Erving Goffman
und enthält die gleichen kulturellen Muster, die auch bei der Identitätsbestimmung des Gegenübers oder der Identitätsbestimmung durch die Anderen Anwendung finden. Zu ihr gehört die Auseinandersetzung mit den für die Person
relevanten Identitätsnormen und Identitätszuweisungen durch die Anderen. Die
Ich-Identität bildet eine notwendige Voraussetzung für das Eingehen von Interaktionsbeziehungen und deren Ausgestaltung in Ausrichtung auf das jeweilige
soziale Gegenüber und auf die jeweilige soziale Situation. Sie findet ihren Ausdruck in der Art und Weise, wie sich die Person in der jeweiligen Interaktion zur
Darstellung bringt. In der sozialen Interaktion kreuzen sich die Identitätsbestimmung des Gegenübers bzw. die Identitätsbestimmung durch die Anderen und die
Ich-Identität und beeinflussen sich gegenseitig. Soziale Interaktion setzt Fremdund Selbstidentität voraus und gestaltet sie zugleich.
2.2 Soziale und persönliche Identität
Personale Identität enthält die beiden Aspekte der allgemeinen Sozialität und der
individuellen Personalität des Menschen, was Goffman mit der Unterscheidung
zwischen sozialer und persönlicher Identität berücksichtigt. Die soziale Identität
(ebd.: 9ff.) ist auf die Zugehörigkeit des Menschen zu übergeordneten Einheiten,
gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Rollen (zum Beispiel Geschlecht, Nationalität, soziale Klasse, Beruf) und die damit verbundenen Eigenschaften ausgerichtet. Die persönliche Identität (ebd.: 72ff.) hebt die Unverwechselbarkeit jeder
Einzelperson hervor, die sich an ihrer körperlichen Erscheinung, an ihrem Namen, an der besonderen Kombination und Ausprägung von Merkmalen (der
sozialen Identität) und vor allem an ihrer Biographie festmachen lässt. Die soziale Identität ist durch eine Abstufung von allgemeinen und spezifischen Bestimmungen (etwa als allgemeines Gesellschaftsmitglied, als Mitglied sozialer Gruppen und kultureller Milieus, als Inhaber von Rollen im Berufs- und Privatleben)
und einer damit einhergehenden Pluralität gekennzeichnet. Während die soziale
Identität wegen der Mehrfachzugehörigkeit des (modernen) Menschen zu verschiedenen sozialen Gruppen, Kulturen und Rollen eine Pluralität aufweist, ist
die persönliche Identität wegen der Nicht-Austauschbarkeit der Person und ihrer
Biographie durch Einmaligkeit gekennzeichnet (ebd.: 81). Die persönliche Identität vereinigt in sich die Pluralität der sozialen Identitäten und den Wandel der
Biographie.
Soziale und persönliche Identität sind miteinander verbunden und erhalten
je nach sozialer Situation (etwa bei der zufälligen Begegnung von Passanten, im
Berufsleben oder beim privaten und intimen Zusammensein) eine unterschiedliche Gewichtung. Mit der zunehmenden Nähe in der Sozialbeziehung tritt die
127
Michael von Engelhardt
persönliche Identität in den Vordergrund. Außerdem kommt ihr in modernen
Gesellschaften eine darüber hinausgehende grundlegende und durchgehende
Bedeutung zu (ebd.: 77f.). Als Mitglied der modernen Gesellschaft muss der
Mensch jederzeit seine persönliche Identität durch (möglichst fälschungssichere
und meist an seine physische Existenz gebundene) Identitätsdokumente nachweisen können und nachweisen, nicht zuletzt auch dann, wenn er den berechtigten Anspruch auf seine soziale Identität (Ausbildungsstand, Beruf, Staatsangehörigkeit, Berechtigung zum Fahren eines Autos, Krankheits- oder Gesundheitsstand, Straffreiheit) durchsetzen möchte.
Über die soziale und die persönliche Identität erfolgt die Identifizierung des
Gegenübers bzw. die Identifizierung durch die Anderen (ebd.: 132). Die IchIdentität der Person als subjektive Erfahrung und Selbstreflexion geht in diesen
beiden Aspekten nicht auf, greift aber in der Wahrnehmung und Bestimmung des
eigenen Selbst auf sie zurück und ist im Handeln und in der Selbstdarstellung auf
sie bezogen (ebd.: 133f.). Die Ich-Identität der Person steuert die soziale und
persönliche Identität in Bezug auf die soziale Umwelt. Der Pluralität der sozialen
Identität entspricht eine „Vielzahl von Ichs“ (ebd.: 81), zwischen denen der
Mensch zu wechseln hat. Der Einheit und Einmaligkeit der persönlichen Identität
entspricht die Einheit der Ich-Identität der Person, die diese Pluralität auf sich
vereinigt und den Wechsel vornimmt und die in ihre eine, nicht austauschbare
Biographie eingebunden ist.
2.3 „Erwartete“ und „tatsächliche“ Identität
Die personale Identität ist mit der Sozialstruktur und der Kultur der Gesellschaft
verbunden. Die Gesellschaft und ihre unterschiedlichen kulturellen Milieus liefern die Mittel (ebd.: 9f.), um Personen, denen wir begegnen, mehr oder minder
eindeutig einer sozialen Kategorie zuzuordnen und ihnen damit eine soziale
Identität zuzuweisen. Dabei findet ein kulturelles Muster Anwendung, mit dem
die Merkmale, Eigenschaften und Verhaltensweisen definiert werden, die erfüllt
sein müssen, damit eine Person zu Recht der jeweiligen sozialen Kategorie (etwa
Mann, Frau, Einheimischer, Zugewanderter, Arzt, Patient, Arbeiter, Manager)
zugeordnet werden kann. Der Vorgang der Identifizierung des Gegenübers hat
immer einen tentativen und vorläufigen Charakter und stellt in diesem Sinne eine
Erwartung oder Antizipation der sozialen Identität des Gegenübers dar, die beim
näheren Hinsehen und im weiteren Kontakt bestätigt oder auch widerlegt werden
kann. Um dies zu berücksichtigen unterscheidet Goffman zwischen der erwarteten oder antizipierten Identität, die er auch „virtuelle Identität“ („virtual identity“) nennt und der „tatsächlichen Identität“ („acutal identity“) (ebd.: 10), die sich
128
Erving Goffman
auf das bezieht, was sich als zutreffende Bestimmung der betreffenden Person
erweist. Im Alltagsleben treten neben mehr oder minder großen Übereinstimmungen immer wieder auch Diskrepanzen zwischen antizipierter oder erwarteter
und (wahrgenommener) tatsächlicher Identität auf, die zu weiteren Prozessen der
Identitätsbestimmung führen.
Eine Diskrepanz zwischen der zunächst erwarteten und tatsächlichen Identität kann bedeuten, dass die betreffende Person nicht der richtigen sozialen Personenkategorie zugeordnet wurde und dass deshalb eine Korrektur vorgenommen werden muss (eine vermeintliche Frau erweist sich als Mann, ein Einwanderer als Alteingesessener, ein Arzt als Pflegekraft). Diese Diskrepanz kann aber
auch bedeuten, dass die Zuordnung zwar zutrifft, dass die Person aber nicht über
die Eigenschaften und Verhaltensweisen verfügt, die normalerweise von der
entsprechenden Personengruppe erwartet werden. Daran wird deutlich, dass mit
den kulturellen Mustern sozialer Identität immer auch normative Identitätsstandards verbunden sind. Die Eigenschaften und Verhaltensweisen können in positiver oder negativer Weise von den erwarteten Identitätsstandards abweichen.
2.4 Stigma als Normabweichung
In den Bereich der negativen Abweichung der tatsächlichen Identität von den
normativen Identitätsstandards fällt das Phänomen des Stigmas (ebd.: 11). Hierbei handelt es sich um Fehler, Unzulänglichkeiten und Handikaps, die unvereinbar mit den jeweiligen normativen Identitätserwartungen oder Identitätsstandards
sind und die zu einer Diskreditierung des betreffenden Menschen führen, womit
ihm die vollgültige Anerkennung als eine normale Person entzogen wird. Dadurch wird der Mensch zu einer Person mit beschädigter Identität („spoiled identity“).
Goffman unterscheidet drei Typen von Stigmata (ebd.: 12f.). Zum einen
werden Stigmata mit körperlichen Beeinträchtigungen (Verunstaltungen, Verletzungen und Behinderungen) verbunden, zum anderen mit psychosozialen Eigenschaften, die als Charakterfehler gelten (etwa Willensschwäche, unnatürliche
Leidenschaften, Unehrenhaftigkeit) und die in einen Zusammenhang gebracht
werden mit Phänomenen wie Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Drogensucht,
Homosexualität, Arbeitslosigkeit, Selbstmordversuche und radikales politisches
Verhalten. Zum dritten werden Stigmata an Großgruppen geknüpft (Rasse, Kultur, Nation, soziale Klasse, Religion), was bedeutet, dass das Stigma von Generation zu Generation sozial vererbt wird. Diese Einteilung gibt aber nur einen
groben Überblick über die Vielfalt gravierender und weniger gravierender Stigmata, die Goffman in seine Analyse einbezieht.
129
Michael von Engelhardt
Nicht die Eigenschaften und Verhaltensweisen an sich stellen ein Stigma
mit diskreditierender Wirkung dar, vielmehr ergibt sich dies erst aus deren Verhältnis zu dem jeweiligen normativen Kontext. So können bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen in einer Teilkultur der Gesellschaft zu den positiven Erwartungen einer anerkannten Identität und damit zur Normalität gehören,
während sie in einer anderen Teilkultur ein Stigma darstellen. Im Zuge des gesellschaftlich-kulturellen Wandels kann eine Eigenschaft (etwa Homosexualität,
Geschiedensein) von einem Stigma zur Normalität werden, ebenso vollzieht sich
auch der umgekehrte Prozess von der Normalität zum Stigma (etwa der körperlich strafende Vater).
Stigmata werden häufig mit abwertenden Bezeichnungen (Krüppel, Bastard,
Schwachsinniger) verbunden (ebd.: 13f.). Sie gehen einher mit Alltagstheorien,
die sich auf die Ursachen des Stigmas (Schuld, Strafe) beziehen, die die Minderwertigkeit oder Gefährlichkeit der stigmatisierten Person begründen und die
das zunächst identifizierte Merkmal der Abweichung von der unterstellten Normalität (Blindheit, dunkle Hautfarbe) mit einer ganzen Kette weiterer Eigenschaften verknüpfen. Dadurch erhält das Stigma einen ausgreifenden und umfassenden Charakter.
Den Personen mit einem Stigma stehen die Normalen gegenüber, die für
Goffman dadurch definiert sind, dass sie nicht von den vorherrschenden normativen Erwartungen abweichen (ebd.: 13). Die kulturellen Muster sozialer Identität und die mit ihnen verbundenen normativen Identitätsstandards bzw. Normalitätsvorstellungen, die in der Wahrnehmung und Zuweisung von Identität im
Hinblick auf das soziale Gegenüber angewendet werden, bilden auch einen Bestandteil der subjektiven Ich-Identität (ebd.: 16f.) und steuern in analoger Weise
die Wahrnehmung und Zuweisung der Selbstidentität. Die normativen Identitätsstandards gehen in das Ich-Ideal ein, von dem aus das Ich (als subjektive Erfahrung der tatsächlichen Identität) wahrgenommen und eingeschätzt wird. Normale
und Personen mit abweichenden Stigma-Eigenschaften internalisieren in ihrer
Sozialisation die Identitätsmuster und Normalitätsvorstellungen, vor deren Hintergrund sie sich und die Anderen wahrnehmen und sozial identifizieren.
2.5 Entwicklungsverläufe
Personen mit Eigenschaften, die von der kulturell gesetzten Normalität abweichen, durchlaufen eine sehr unterschiedliche biographische Entwicklung (ebd.:
45ff.), was Goffman „moralischer Werdegang“ nennt, je nachdem, ob es sich um
angeborene und sozial vererbte oder um erst später „erworbene“ Eigenschaften
handelt. Wenn sich das familiale Umfeld entsprechend verhält, können Kinder
130
Erving Goffman
mit körperlichen und geistigen Einschränkungen zunächst so aufwachsen, dass
diese Einschränkungen für sie eine weitgehend normale Selbstverständlichkeit
darstellen. Das gleiche gilt für das Aufwachsen in einem sozialen Milieu, das
negativ von der dominanten Kultur der Gesellschaft abweicht und von dieser
ausgegrenzt wird. Der mit dem Heranwachsen einhergehende Kontakt mit einer
sich ausweitenden sozialen Umwelt (ein wichtiger Einschnitt stellt in der Regel
der Eintritt in die Schule dar) schließt dann die Konfrontation mit den Normalitätsvorstellungen der Gesellschaft ein, was bedeutet, dass die stigmatisierende
Abweichung der eigenen Person nun mehr oder minder drastisch erfahren wird.
Anders sieht die Entwicklung aus, wenn die Normalitätsstandards schon früh
verinnerlicht werden und entsprechend früh die Erfahrung gemacht wird, dass
die eigene Person mit einem stigmatisierenden Makel behaftet ist. Davon sind
die Entwicklungen zu unterscheiden, bei denen erst im Verlauf der Biographie
problematische Eigenschaften (durch Krankheit, Unfall, eigenes und fremdes
Verhalten) auftreten, die die Person dazu zwingen, sich vor dem Hintergrund der
bisher für selbstverständlich gehaltenen Normalitätsvorstellungen als Person mit
einem Stigma wahrzunehmen. Eine weitere andere Entwicklung ist dann gegeben, wenn eine Person aus ihrer Herkunftskultur in eine andere Kultur wechselt
(etwa durch Migration, aber auch durch soziale Mobilität) und dabei mit veränderten Normalitätsstandards konfrontiert wird, durch die sie zum stigmatisierten
Abweichler wird.
In jedem Fall ist sich die betreffende Person (früher oder später) bewusst,
dass sie stigmatisierende Eigenschaften auf sich vereinigt und nicht den normativen Erwartungen und gängigen Idealen der Normalität entspricht Daraus entsteht
für die Ich-Identität eine „Spannung zwischen Ich-Ideal und Ich“ (ebd.: 16f.), die
mit Selbsthass und Selbstverachtung einhergehen kann. Diese Spannung kann
verstärkt werden durch das Zusammentreffen mit den Normalen. Sie kann aber
auch gerade in der einsamen Selbstkonfrontation besonders deutlich und
schmerzlich erfahren werden. Dafür führt Goffman als Beispiel Personen mit
körperlichen Verunstaltungen an, denen beim Blick in den Spiegel ihr stigmatisierender Makel, den sie zeitweilig durchaus vergessen können, besonders brutal
entgegentritt (ebd.). Dieses Beispiel ist deshalb besonders gut gewählt, weil die
Spiegelsituation im direkten und übertragenen Sinne die für die Ich-Identität
konstitutive Selbstkonfrontation repräsentiert, in der die Person sich aus der
Perspektive der für sie relevanten allgemeinen kulturellen Identitätsmuster wahrnimmt, beurteilt und identifiziert (im Sinne des „looking-glas-self“ von Ch. H.
Cooley).
Wie später noch zu zeigen sein wird, besteht ein breites Spektrum unterschiedlicher biographischer Entwicklungen und Verhaltensweisen im Umgang
mit der Abweichung von den Normalitätsstandards, das die Möglichkeit ein131
Michael von Engelhardt
schließt, die Spannung durch Veränderung der eigenen Person, aber auch durch
die Veränderung der Identitätsnormen bzw. des Ich-Ideals zu mildern oder zu
beseitigen und offensiv gegenüber der sozialen Umwelt, den Anspruch auf Anerkennung als normale Person zu vertreten.
2.6 Identität in „Wir alle spielen Theater“
Nachdem nun zentrale Elemente der Identitätskonzeption aus „Stigma“ dargelegt
worden sind, soll, ehe die Darstellung fortgesetzt wird, kurz auf die Identitätskonzeption eingegangen werden, die Goffman in seiner ersten Buchveröffentlichung „Wir alle spielen Theater“ (1969) entworfen hat. Bei näherer Betrachtung
zeigt sich, dass er in „Stigma“ auf diese frühere Konzeption (mit einer etwas
anderen Begrifflichkeit) zurückgreift und dass er sie zugleich weiterentwickelt,
ohne dies allerdings (bis auf wenige Hinweise) explizit deutlich zu machen.
In „Wir alle spielen Theater“ bedient sich Goffman der Theatermetapher,
um personale Identität in das Interaktionsgeschehen zwischen der Person – als
„Darsteller“ und als „Darstellung“ – und dem sozialen Gegenüber – als „Publikum“ – einzubinden. Goffman unterscheidet hier zwischen der Person oder dem
Selbst als Darsteller und der Person oder dem Selbst als Darstellung. Dem entspricht in „Stigma“ die Ich-Identität der Person, die sich durch ihre Erscheinung
und ihr Verhalten zur Darstellung bringt. Die Person als Darsteller in „Wir alle
spielen Theater“ orientiert sich in ihrer Selbstdarstellung an normativen Rollenwartungen und Selbstbildern und an dem Publikum. In der Selbstdarstellung
bringt die Person die von ihr jeweils gespielte soziale Rolle zur Darstellung,
wobei die Vielfalt der (einzunehmenden) Rollen in der Vielfalt der Darstellungen
des Selbst zum Ausdruck kommt. Neben den sozialen Aspekten ist auch die
persönliche Seite von Bedeutung, die sich auf die unverwechselbaren Merkmale
der Person beziehen. Damit wird (aus der Perspektive der sich darstellenden
Person und des wahrnehmenden Publikums) systematisch die soziale und persönliche Identität berücksichtigt, die später in „Stigma“ eine zentrale Bedeutung
erhält (Goffman verweist hier auch ausdrücklich auf seine frühere Arbeit, 1967:
74).
Die Zuschauer in „Wir alle spielen Theater“ orientieren sich in ihrer Wahrnehmung und Identifizierung des ihnen gegenüber dargestellten Selbst und der
dargestellten Rollen ebenfalls an allgemeinen und rollenspezifischen normativen
Erwartungen. Im Selbstverhältnis und im Verhältnis zwischen Darsteller und
Publikum können vielfältige Spannungen und Diskrepanzen zwischen normativen Erwartungen, angestrebten Wirkungen und tatsächlicher Wahrnehmung und
erzielter Wirkung auftreten. Dies wird in „Stigma“ als Spannung zwischen nor132
Erving Goffman
mativ erwarteter Identität und tatsächlicher Identität und als Spannung zwischen
beanspruchter und von der sozialen Umwelt zugewiesener oder zugestandener
Identität aufgegriffen. Die Zuschauer in „Wir alle spielen Theater“ sind in
„Stigma“ die Personen, die ihr soziales Gegenüber wahrnehmen und ihm eine
Identität zuweisen oder (aus der Sicht des Identifizierten) die Anderen. Diese
Perspektive findet in „Stigma“ eine wesentlich stärkere Beachtung.
2.7 Körperzeichen und Informationen
Durch die bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass Goffman
unter personaler Identität ein kulturelles Erwartungs- und Wahrnehmungsmuster
versteht, das auf das soziale Gegenüber und auf die eigene Person angewendet
wird. Dabei kommt dem Körper als Ausdruck von Identität eine gewichtige Bedeutung zu. Körperliche Attribute (Aussehen, Kleidung, Verhalten, Sprache)
stellen für Goffman Zeichen dar (1969: 58ff.), die auf die soziale Identität der
Person verweisen. Diese verkörperten Zeichen können Status- oder auch Prestigesymbole, aber auch Stigmasymbole sein. Sie sind durch ihre „Sichtbarkeit“
oder besser: „Wahrnehmbarkeit“ (Goffman 1967: 64f.) hervorgehoben, die unterschiedliche Grade der „Aufdringlichkeit“ oder Auffälligkeit annehmen kann.
Neben diesen körpergebundenen Zeichen dient eine Vielzahl anderer Informationen der Bestimmung sozialer Identität. Für die persönliche Identifizierung der
Person bildet ihr Körper mit seinen unverwechselbaren Merkmalen den entscheidenden Bezugspunkt (ebd.: 73f.). Daran werden alle weiteren Informationen über die Person, ihr Name, die Informationen über ihre soziale Identität und
ihre Biographie gebunden. Die Identitätsdokumente (zum Beispiel Personalausweis), die dem Nachweis der persönlichen Identität dienen, sind mit dem Körper
der Person (über Foto, Unterschrift, Fingerabdruck) verknüpft.
In der Perspektive auf ihre soziale Identität hat sich die Person mit den jeweils gültigen Identitätsnormen auseinanderzusetzen und daran ihre Selbstdarstellung und ihr Mitteilungsverhalten auszurichten. In der Perspektive auf ihre
persönliche Identität geht es darum, was sie ihrem sozialen Gegenüber an Informationen aus den verschiedenen Lebenszusammenhängen und aus ihrer Biographie mitteilt. Während sich die Normen im Hinblick auf die soziale Identität auf
die normalerweise erwünschten Eigenschaften und Verhaltensweisen beziehen,
beziehen sich die Normen im Hinblick auf die persönliche Identität auf das Informationsverhalten (ebd.: 83). In der modernen (amerikanischen) Gesellschaft
gilt die Norm, über sich wahrheitsgemäß Auskunft zu geben. Je stärker eine
Person (in Vergangenheit und Gegenwart) von dem sozial Erwünschten und
Erwarteten abweicht, desto stärker ist sie verpflichtet, ihren Mitmenschen dar133
Michael von Engelhardt
über Auskunft zu geben, freilich in einer je nach Gegenüber und sozialer Situation abgestuften und spezifizierten Weise. Nur derjenige, der nichts zu verbergen
hat, hat das Recht auf Verschwiegenheit.
2.8 Umgangsweisen der Normalen
Das Zusammentreffen von Normalen und Personen mit stigmatisierenden Eigenschaften stellt eine schwierige Situation dar, die für beide Seiten mit (sich wechselseitig steigernden) Unsicherheiten verbunden ist (ebd.: 22ff.). Für Goffman
wird an solchen Situationen exemplarisch und besonders offensichtlich deutlich,
wie wenig selbstverständlich und wie überaus voraussetzungsvoll generell soziale Interaktionen und die dabei ablaufenden Prozesse der wechselseitigen Darstellung und Wahrnehmung von Identität sind.
Die Normalen gestalten die Interaktion mit Personen mit einem Stigma auf
sehr unterschiedliche Weise. Dabei begegnen sie ihrem Gegenüber mit einer
unterschiedlichen Identitätsdefinition, zugleich nehmen sie dabei Einfluss auf die
allgemeinen normativen Bestimmungen von Normalität und Abweichung. Normale können der gesellschaftlich gängigen Stigmatisierung folgen und die betreffenden Personen dementsprechend diskriminieren. In einer Art Umkehrung können sie sich aber auch bemühen, diese Personen bewusst besser zu behandeln als
sie es ihrer eigentlichen Auffassung nach verdienen, was die Betroffenen (wenn
sie dies spüren) als eine besondere Art der Diskriminierung empfinden. Die
Normalen können aber auch versuchen, den offensichtlichen Schwierigkeiten
einer Interaktion zu entgehen, indem sie die Person mit einem Makel schlicht
übersehen und sie damit so behandeln als sei sie nicht vorhanden und ein „Niemand“ (ebd.: 29). Weither können die Normalen können sich offensiv gegen die
ausgrenzende Stigmatisierung wenden (ebd.: 30ff.). Sie können sich für die Interessen der entsprechenden Personengruppe einsetzen, sie können von ihnen als
„Ehrenmitglieder“ (ebd.: 40) aufgenommen werden und als Vermittler zur Welt
der Normalen fungieren. Schließlich können sie mit ihrem Gegenüber so umgehen, dass dessen abweichendes Merkmal zur Nebensache wird oder seinen Charakter der Abweichung verliert. Damit tragen sie zur Normalisierung und zur
Beseitigung der bisherigen Stigmatisierung sowie zum Wandel der Normalitätsstandards für personale Identität bei.
134
Erving Goffman
2.9 Diskreditierte und Diskreditierbare
Die Personen mit stigmatisierenden Eigenschaften und Verhaltensweisen gehen
ebenfalls im Selbstverhältnis und im Verhältnis zur sozialen Außenwelt sehr
unterschiedlich mit ihrem Stigma um. Das von der Ich-Identität generell zu leistende Identitätsmanagement nimmt für diese Personen die Form des unterschiedlich ausgestalteten Stigmamanagements an. Dabei unterscheidet Goffman zwei
Konstellationen (ebd.: 12, 56f.). In der einen ist das Stigma der Umwelt bekannt
(bzw. die Person geht davon aus), weil es als verkörpertes Zeichen (zum Beispiel
ein körperlicher oder sprachlicher Makel) unmittelbar wahrnehmbar ist oder weil
das Gegenüber (durch andere Informationen) darüber Bescheid weiß. Dadurch
wird der Mensch zu einer durch das Stigma diskreditierten Person mit einer beschädigten Identität.
In der anderen Konstellation ist der Umwelt das Stigma nicht bekannt (bzw.
die Person geht davon aus). Dadurch wird der Mensch zu einer potentiell diskreditierbaren Person. Die meisten Menschen mit einem Stigma haben es im Wechsel der sozialen Situationen und des sozialen Gegenübers und im Verlauf ihrer
Biographie mit einem Wechsel zwischen diesen beiden Konstellationen zu tun.
Ob sich jemand im Zustand des Diskreditierten oder des Diskreditierbaren befindet (oder glaubt, sich darin zu befinden), hat weitreichende Auswirkungen auf
seinen Umgang mit dem Stigma, das heißt auf das Stigmamanagement. Im Zustand des Diskreditierten steht die soziale, im Zustand des Diskreditierbaren die
persönliche Identität im Vordergrund.
Personen, deren Stigma bekannt ist, müssen sich direkt mit der Spannung
zwischen den (verinnerlichten und ihnen entgegengebrachten) Normalitätsnormen und ihrer Abweichung von diesen Normen auseinandersetzen. Sie tun dies
auf sehr unterschiedliche Weise (ebd.: 18ff.). Sie können sich (um der Verachtung und Beschämung zu entgehen) soweit wie möglich aus jeglichen sozialen
Kontakten mit den Normalen zurückziehen. Sie können das ihnen entgegengebrachte diskreditierende Verhalten mehr oder minder akzeptieren oder hinnehmen. Sie können aber auch versuchen, ihren Makel zu überspielen. Wenn es sich
um ein körpergebundenes Stigmazeichen handelt, können sie darauf achten, dass
dessen Aufdringlichkeit möglichst stark abgeschwächt wird, um es so in den
Hintergrund der Aufmerksamkeit zu rücken (ebd.: 128ff.) In einer umgekehrten
Strategie können diese Personen aber auch ihren Makel deutlich hervorheben
oder auch versuchen, aus ihm einen sekundären Nutzen (Mitleid, Zuwendung,
Hilfen, Absenken von Ansprüchen) zu ziehen. Durch das Erbringen besonderer
Leistungen (etwa sportlicher Art bei körperlicher Behinderung) können die
betreffenden Personen sich bemühen, ihr Handikap zu kompensieren und dessen
stigmatisierende Wirkung zu relativieren. Schließlich gibt es auch die Möglich135
Michael von Engelhardt
keit, sich durch die Veränderung der eigenen Person (etwa durch Operationen,
nachgeholte Bildungsabschlüsse, Therapien, Entziehungskuren) den Normalitätsstandards anzunähern.
Den bisher genannten Umgangsweisen liegt eine mehr oder minder starke
Identifikation mit den vorherrschenden Normalitäts- und Identitätsstandards
zugrunde. Es lassen sich aber auch verschiedene Formen der Auseinandersetzung
beobachten, in denen solche Identifikationen aufgegeben und durch modifizierte
positive Identitätsvorstellungen ersetzt werden, was mit einer veränderten Konstellation von Ich-Ideal und Ich in der Ich-Identität einhergeht. So können Personen, die von (zunächst) besonders schlimm erlebten Beeinträchtigungen (schwere Erkrankung, Erblinden) getroffen wurden, dies im weiteren Verlauf als eine
besondere Chance für ihre Entwicklung deuten, die ihnen eine persönliche Bereicherung ermöglicht, die den meisten Normalen verwehrt ist (ebd.: 20). Personen mit abweichenden Eigenschaften können aber auch sich und ihrer sozialen
Umwelt deutlich machen, dass sie ganz normale Menschen sind, die zu Recht
den Anspruch auf eine vollgültig anerkannte Identität erheben. Soziale Bewegungen und Interessenorganisationen setzen sich zum Teil mit großem Erfolg für
die volle Anerkennung der von ihnen vertretenen Gruppen und die Beseitigung
von deren Diskriminierung ein (ebd.: 33ff.). Dies bewirkt eine Veränderung und
Ausdifferenzierung der vorherrschenden Vorstellungen von Normalität. Personen, die sich von dem konventionellen Bild des Normalen mehr oder minder
deutlich absetzen und dies selbstbewusst vertreten, können zu einer Umkehrung
beitragen, sodass nun der konventionell Normale zum negativen Abweichler
wird.
Personen, deren Stigma in der jeweiligen sozialen Umwelt nicht bekannt ist
(bzw. die davon ausgehen), die sich also im Zustand der (potentiell) Diskreditierbaren befinden, haben die Möglichkeit, ihre Fehler oder Makel zu verheimlichen und zu verschleiern oder aber einzugestehen. Im Fall der Diskreditierten
besteht das Stigmamanagement in einem „Spannungsmanagement“, das sich auf
den Umgang mit der (der Umwelt bekannten) Abweichung der tatsächlichen
Identität von der normativen Identitätserwartung bezieht. Im Fall der Diskreditierbaren geht es um ein „Informationsmanagement“ (ebd.: 56f.), mit dem die
Information über die (der Umwelt nicht bekannten) Abweichung gesteuert wird.
Dabei haben sich die betroffenen Personen mit der für die persönliche Identität
bedeutsamen (oben erwähnten) Norm, über sich wahrheitsgemäß Auskunft geben zu müssen, auseinandersetzten.
Die Diskreditierbaren können versuchen, dadurch als Normale wahrgenommen und behandelt zu werden, dass sie darauf achten, dass die jeweilige
soziale Umwelt keine Kenntnis von dem Stigma, dessen Ursprung in der biographischen Vergangenheit oder in der Gegenwart liegen kann, erhält. Diese Infor136
Erving Goffman
mationskontrolle, die von Goffman als ein „Täuschen“ („passing“) (ebd.: 57,
94ff.) über die tatsächliche Identität der betreffenden Person bezeichnet wird, ist
zum Teil relativ einfach, zum Teil sehr schwierig durchzuführen und mit einer
Reihe von Gefahren verbunden (Entdecktwerden, Erpressung). Wenn der Fehler
oder Makel als körpergebundenes Stigmazeichen der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich ist, muss sich die Anstrengung auf ein Verdecken und Verbergen („covering“) richten (ebd.: 128ff.). Ist dies nicht vollständig möglich, so geht
es darum (wie oben schon angesprochen), ihm zumindest seine Aufdringlichkeit
in der Wahrnehmung zu nehmen und es so in den Hintergrund der Aufmerksamkeit zu rücken. Personen mit einem geheimen Stigma können natürlich auch
(ebenso wie Personen mit einem bekannten Stigma) versuchen, sich durch unterschiedliche Anstrengungen der Veränderung ihrer selbst den Identitätsnormen
anzupassen. Schließlich können sie auch in dem Sinne offensiv mit ihrem Stigma
umgehen, dass sie es ihrer Umwelt gegenüber offenbaren (ebd.: 126f.). Damit
eröffnen sich für sie die verschiedenen oben beschriebenen Formen der Bewältigung offensichtlicher oder bekannter Stigmata.
Wenn Personen mit einem Fehler oder Makel (in der einen oder anderen
Form) versuchen, sich als Normale zu geben und wenn Normale versuchen, sie
auch als Normale zu behandeln, so gelingt dies häufig nicht vollständig. Beide
Seiten können dann (jede für sich oder auch im Zusammenspiel) so tun, als wären die Abweichler normal. Damit wird der Schein der Normalität gewahrt und
eine „Schein-Normalität“ (ebd.: 153) praktiziert.
2.10 Die Normalität des Stigmas
Goffman führt seine hier referierte Analyse auf der Grundlage einer klaren Gegenüberstellung der Normalen auf der einen und der Personen mit einem Stigma
auf der anderen Seite durch. Gegen Ende seiner Arbeit – darauf wurde eingangs
hingewiesen – löst er diese einfache Gegenüberstellung auf und führt aus, dass es
sich dabei um eine künstliche Trennung handelt (ebd.: 156ff.). Damit macht er
deutlich, dass die Strukturen und Prozesse, die er mit Hilfe dieser Gegenüberstellung besonders klar hat herausarbeiten können, als allgemeine Charakteristika
personaler Identität anzusehen sind.
Normen, die eine notwendige Voraussetzung für den Zusammenhalt von
Gruppen und Gesellschaften und für die soziale Interaktion bilden, sind ein bestimmendes Moment personaler Identität im Selbst- und Fremdverhältnis. Die
Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Identitätsnormen und tatsächlicher
Identität stellt ein Grundelement der Ich-Identität und der Fremdidentität und der
sozialen Interaktion dar. Goffman betont, dass jeder die Erfahrung macht, dass er
137
Michael von Engelhardt
in den verschiedenen Phasen seiner Biographie und in den wechselnden sozialen
Situationen seines Lebenszusammenhangs mal stärker, mal schwächer von den
für ihn relevanten Identitätsnormen abweicht. Ebenso macht jeder die Erfahrung,
dass sein soziales Gegenüber von den Identitätsnormen in unterschiedlichem
Maße abweicht. Auch wenn erhebliche Unterschiede bestehen zwischen Personen mit kleineren und vorübergehenden Abweichungen und solchen Personen
mit einem gravierenden Stigma, das ihre Biographie und ihren Lebenszusammenhang nahezu vollständig bestimmt, so gleichen sich dennoch die grundlegenden Prozesse.
Identitätsnormen sind Identitätsideale, denen die wenigsten voll entsprechen
können und denen auch nicht alle folgen wollen. Stigmamanagement (als Spannungs- und Informationsmanagement) ist ein Bestandteil des von jedem Gesellschaftsmitglied zu leistenden Identitätsmanagements. Der Umgang mit der
Normabweichung des sozialen Gegenübers ist ein Grundelement sozialer Interaktion. So sind nach Goffman unter „Normalen“ und „Stigmatisierten“ nicht
zwei abgrenzbare Personengruppen zu verstehen. Vielmehr handelt es sich für
ihn dabei um zwei (in einem gemeinsamen normativen kulturellen Kontext miteinander verbundene) Perspektiven oder Rollen, die von jedem Menschen im
Wechsel eingenommen werden (ebd.: 169f.).
3
Einschätzung und Wirkung
Die von Goffman in „Stigma“ durchgeführte Analyse und die dabei entwickelte
begrifflich- theoretische Konzeption stellt eine herausragende und weiterführende Leistung im Hinblick auf die beiden Themenkomplexe der Identität und der
sozialen Abweichung bzw. des Stigmas dar. Dies schließt vor allem auch die
überzeugende Integration des Stigmaphänomens in die Identitätskonzeption ein.
Die grundsätzliche Perspektive auf Normabweichung und ihre Bewältigung, mit
der eine Vielzahl äußerst heterogener Phänomene in gleicher Weise beschrieben
und analysiert wird, bedeutet einen besonderen Vorzug dieser Arbeit. Zugleich
wird aber auch deutlich, dass für die angemessene Bearbeitung der Identitätsthematik eine systematische Berücksichtung der grundlegenden Unterschiede
dieser Phänomene erforderlich ist. Goffman war sich (wie er am Ende seiner
Arbeit anmerkt) durchaus bewusst, dass bei einer weitergehenden Analyse diese
Unterschiede herauszuarbeiten sind. Er war allerdings der Meinung, dass dies
erst sinnvoll auf der Grundlage einer allgemeinen Theorie, die er mit seiner Arbeit angestrebt hat, möglich ist.
Die in „Stigma“ entwickelte und empirisch erprobte Konzeption personaler
Identität eröffnet zum einen die Perspektive zu Subjekt- und Entwicklungstheo138
Erving Goffman
rien der Psychologie und Sozialpsychologie und der Biographieforschung. Zum
anderen eröffnet sie die Perspektive zu organisationssoziologischen, sozialstrukturellen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen. Personale Identität wird als
spannungsreicher Prozess der soziokulturellen und psychosozialen Konstruktion
gefasst, der als Interaktion in der Sozialwelt und im Selbstverhältnis der Person
abläuft und durch Vorläufigkeit, Mehrperspektivität und Pluralität gekennzeichnet ist. Damit setzt sich diese Konzeption deutlich von allen essentialistischen
Ansätzen personaler Identität ab. Dieses Verständnis von personaler Identität hat
auf vielfältige Weise Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden, mal implizit, mal explizit, manchmal auch in einer stark verkürzten Weise. Neben einer
eher allgemeinen Aufnahme ist diese Konzeption personaler Identität zum einen
in die neuere Stigmaforschung und die Soziologie des abweichenden Verhaltens
aufgenommen worden. Zum anderen wurden wichtige Element dieser Konzeption in die Identitätstheorien von Jürgen Habermas (1973) und Lothar Krappmann
(1976) eingearbeitet. Von dort aus hat das Identitätskonzept von Goffman eine
weitere Verbreitung erfahren, ohne dass allerdings immer hinreichend berücksichtigt wurde, dass es von beiden Autoren modifiziert und den eigenen Anliegen angepasst wurde. Wer sich mit der von Goffman in „Stigma“ entwickelten
Theorie personaler Identität und der damit verknüpften Theorie des Stigmas
vertraut machen will, sollte auf den Ursprungstext zurückgreifen.
Primärliteratur
Goffman, Erving (1967): Stigma. Über die Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Aus dem Amerikanischen von
Frigga Haug. Titel der Originalausgabe: Stigma. Notes on the Management
of Spoiled Identity. Englewood Cliffs: Printice Hall 1963).
Goffman, Erving (1969): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im
Alltag. München: Piper.
Goffman, Erving (1971): Interaktionsrituale. Über das Verhalten in direkter
Interaktion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Goffman, Erving (1972): Asyle. Über die Situation psychiatrischer Patienten und
anderer Insassen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation
von Alltagserfahrungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Goffman, Erving (1981): Geschlecht und Werbung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Goffman, Erving (1994): Die Interaktionsordnung. In: Ders.: Interaktion und
Geschlecht. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 50-104.
139
Michael von Engelhardt
Sekundärliteratur
Burns, Tom (1992): Erving Goffman. London/New York: Routledge.
Drew, Paul/Wooton, Anthony (Hrsg.) (1988): Erving Goffman. Exploring the
Interaction Order. Cambridge: Polity Press.
Habermas, Jürgen (1973): Stichworte zur Theorie der Sozialisation. In: Ders.:
Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 118194.
Hettlage, Robert/Lenz, Karl (Hrsg.) (1991): Erving Goffman. Ein Klassiker der
zweiten Generation. Bern/Stuttgart: Haupt.
Krappmann, Lothar (1976): Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart:
Klett.
Maning, Philip K. (1992): Erving Goffman and Modern Sociology. Cambridge:
Polity Press.
Raab, Jürgen (2008): Erving Goffman. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz.
Smith, Gregory W. H. (2006): Erving Goffman. London/New York: Routledge.
140
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
Einführung
Negative Dialektik – „Es soll das also sein […] eine Dialektik nicht der Identität sondern der
Nichtidentität. Es handelt sich um den Entwurf einer Philosophie, die nicht den Begriff der
Identität von Sein und Denken voraussetzt und auch nicht in ihm terminiert, sondern die gerade
das Gegenteil, also das Auseinanderweisen von Begriff und Sache, von Subjekt und Objekt,
und ihre Unversöhntheit, artikulieren will“ (Adorno 2003a: 15f.).
Diese kurze Textpassage, entnommen aus der 2003 publizierten Vorlesung über
„Negative Dialektik“, die Adorno im Wintersemester 1965/66 gehalten hat, gibt
dem Zuhörer und Leser einen ersten Hinweis, was es mit einer „Negativen Dialektik“ auf sich hat. Adorno beginnt mit einer Negativbestimmung: Er setzt sich
ab von einer Philosophie, die auf die Identität von Sein und Denken bzw. von
Natur und Geist ausgerichtet ist oder die von dieser Identität ihren Ausgang
nimmt.
Was auf den ersten Blick so direkt und einfach klingt, erweist sich bei näherem Hinsehen als Provokation. Wenn die Wirklichkeit und wie wir diese Wirklichkeit repräsentieren nicht „identisch“ sind, was passiert dann mit dem Anspruch auf Wahrheit, der gerade mit diesem Zusammenstimmen von Sache und
Gedachtem zu tun hat? Kann das Denken überhaupt den Anspruch des Begreifens aufgeben? Welche Konsequenzen hat das Auseinanderweisen von Sein und
Denken für das Selbstverständnis des Menschen: für seine Beziehungen zu den
Mitmenschen, zu den Dingen und zu sich selbst? Impliziert nicht die von Adorno
behauptete „Störung“ im Zusammenhang von Denken und Sein auch eine grundsätzliche Unstimmigkeit in unseren Vorstellungen, die wir von uns selbst, von
anderen Menschen und von den Dingen haben? Wenn man eine solche „Störung“ annimmt, ist dann nicht jeder Wahrheitsanspruch zugleich ein Machtanspruch, der dem scheinbar Begriffenen Gewalt antut?
Diese ersten Überlegungen vermögen die Schwindel erregenden Implikationen zu verdeutlichen, die in Adornos Äußerung stecken. Der Entwurf der von
Adorno anvisierten Philosophie fügt der philosophischen Tradition nicht einen
141
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
weiteren Ansatz hinzu, sondern stellt den Hintergrund, aus dem philosophische
Fragen ihre Motivation und ihre Ziele (bislang) schöpf(t)en, radikal in Frage. Die
Radikalität Adornos liegt in eben jener Abwendung von „Identität“ begründet,
welche das abendländische Denken wesentlich kennzeichnet; denn diese steht für
das Aufschließen der Welt durch Erkenntnis ein und sie gewährt durch eine
Selbstbestimmung des Menschen die Suche nach einem „Grund“ für richtiges
moralisches Handeln.
Adornos Einsatz liest sich jedoch nicht als eine dezisionistische Absage an
alle Philosophie. Der Leser kann hingegen den Eindruck gewinnen, dass der
Blick auf die Nichtidentität von einem Anspruch und einer Verpflichtung getragen ist: Es geht darum, den Dingen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem
gezeigt wird, dass das, was wir uns begrifflich unter diesen vorstellen, nicht alles
ist. Auch diese kurze Bestimmung, worum es einer negativen Dialektik im Sinne
Adornos geht, ist alles andere als geradlinig und bescheiden. Wie sollte es möglich sein auf der Grundlage eines mit Begriffen operierenden Denkens eben jenes
zur Geltung zu bringen, was sich diesem gerade entzieht?
Adorno ist sich der Paradoxie seines Anliegens bewusst. Statt eines erkenntnistheoretischen Vokabulars („aufweisen“ oder „beweisen“) spricht er in
der oben angegeben Textstelle– vorsichtig – von einer Artikulation der Unversöhntheit von Begriff und Sache. An einer Stelle in der „Negativen Dialektik“
heißt es: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“ (Adorno 1966 [i.F. abgekürzt ND]: 21). Der
Begriff der Utopie benennt die Schwierigkeiten, die mit dem philosophischen
Projekt verbunden sind, die Spur der Unversöhntheit von Begriff und Sache
aufzunehmen. Was kann man sich angesichts dessen von einer Lektüre der „Negativen Dialektik“ erhoffen? Wenn Adorno Zweifel an der Möglichkeit von
Dialektik äußert (vgl. ebd.), dann legt er der „Negativen Dialektik“ die Verpflichtung auf, noch die ihr inhärenten Grenzen selbst zu reflektieren. Die kritische Perspektive verlangt die Selbstkritik des Kritikers. In einer Darstellung wie
eben der vorliegenden ist daher zu bedenken: Es gibt eine Unversöhntheit der
Darstellung mit der in ihr verhandelten Sache. Im Sinne der „Negativen Dialektik“ ist kritisch zu fragen, aufgrund welcher Gedankengänge, Konzepte und
Themen eine Identität zwischen der „Negativen Dialektik“ und der Negativen
Dialektik behauptet wird. Auf welche Weise vermeinen wir z.B. ein philosophisches Werk durch seinen „Autor“ zu bündeln bzw. zu identifizieren?
Der Anspruch des Nichtidentischen meldet sich demnach sowohl auf der
Ebene des Gegenstandes als auch auf der Ebene der Methode an. So verwundert
es kaum, dass die „Negative Dialektik“ nicht im Stil einer großen philosophischen Abhandlung geschrieben ist, sondern aus episodischen und in sich schillernden Sequenzen besteht, die sich einer geradlinigen Bestimmung – „damit
142
Theodor W. Adorno
verhält es sich so und so“ – entziehen. Für die „Negative Dialektik“ ist eine Orientierung an den Grenzen des Begreifbaren und am Scheitern noch dieser Orientierung bedeutsam.
Im Folgenden wird diese Denkfigur im Hinblick auf „Identität“ weiter ausgeführt. Zuvor werden jedoch einige biographische Anhaltspunkte zu Adorno
gegeben und an die wichtigsten geistesgeschichtlichen Hintergründe erinnert.
Leben und Denken sind bei Adorno so eng miteinander verknüpft, dass ein Verweis auf den Niederschlag von Erfahrungen im Denken nicht hinreicht. Nach
Adorno ist vielmehr die Metapher des „Niederschlags“, welche den Bereichen
der erfahrenen Praxis und der Reflexion immer schon ihren je eigenen Ort zugewiesen hat, zu hinterfragen. Auch wenn die „Negative Dialektik“ ein philosophisches Buch ist und ihre Bezugskontexte aus der philosophischen Denktradition
stammen, so ist nach Adorno – nicht zuletzt vor dem zu skizzierenden geistesgeschichtlichen Hintergrund – das Bild einer in sich abgekapselten Philosophie, die
sich selbstgenügsam der Reflexion widmet, zurückzuweisen. Im dritten Abschnitt wird eine knappe Rekonstruktion der „Negativen Dialektik“ unter besonderer Berücksichtigung des „Schicksals der Identität“ gegeben. Der Ausdruck
„Schicksal der Identität“ verweist hier zum einen auf die fragwürdige Bestimmung dieses Konzepts in den Human- und Sozialwissenschaften. Zum anderen
werden damit die nicht unproblematischen Konsequenzen für jene menschlichen
Selbstbeschreibungen gefasst, die auf den Identitätsbegriff rekurrieren. Adornos
negativ dialektische Perspektive auf das Verhältnis von Natur und Geist gibt den
Blick auf eine Urgeschichte von Subjektivität und Objektivität frei, die anhand
der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno näher erläutert
werden kann. Im letzten Abschnitt werden einige Einwände gegen das Identitätsdenken der „Negativen Dialektik“ diskutiert und die Frage nach ihrer heutigen Relevanz aufgeworfen.
1
Leben und geistesgeschichtlicher Kontext
Geboren wurde Adorno am 11. September 1903 in Frankfurt am Main (vgl. Jay
1976; Wiggershaus 1988; Claussen 2003). Sein Vater Oskar Wiesengrund führte
die Weingroßhandlung der Familie weiter; die Mutter Maria Calvelli-Adorno
della Piana war eine Sängerin. Die bürgerlich-liberalen Verhältnisse, in denen
Adorno aufwuchs, vor allem die musikalische Prägung durch seine Mutter und
die eng verbundene Tante spielten für seine intellektuelle Entwicklung und Bildung eine wichtige Rolle. Der als besonders begabt geltende Schüler Wiesengrund erhielt eine musikalische Ausbildung an einem namhaften Konservatorium
in Frankfurt, übersprang in seiner Gymnasialzeit ein Schuljahr und las jeden
143
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
Samstag gemeinsam mit Siegfried Kracauer, dem Publizisten, Soziologen und
späteren Filmwissenschaftler, die „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel
Kant.
Im Jahr 1921 begann Adorno in Frankfurt das Studium der Philosophie,
Psychologie und Musikwissenschaft. Im Rahmen seiner philosophischen Studien
machte er bald die Bekanntschaft mit Max Horkheimer, der mit seinem Beitrag
„Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) eben jener Denkhaltung den Namen
gab, die auch Adorno zeit seines Lebens angetrieben hat.
Die für die Kritische Theorie wichtigen philosophischen Bezüge nahmen ihren Ausgang jedoch nicht von der akademischen Philosophie, welche in den
1920er Jahren stark von der Phänomenologie und dem Neukantianismus dominiert wurde. Es waren hingegen junge Intellektuelle oft mit einem jüdischen
Hintergrund – zu nennen sind hier Walter Benjamin, Ernst Bloch und Georg
Lukács –, die zu wichtigen Bezugspunkten für Adornos (philosophische) Selbstverständigung wurden. Ihrer Auffassung nach befand sich die Welt in einem
Zustand gesellschaftlicher Verkehrung, die eine radikale Kritik und eine Perspektive auf die Überwindung des Standes der „vollendeten Sündhaftigkeit“
(Lukács) erforderlich machte.
Wichtig für die Konzeptionalisierung dieser Gesellschaftskritik war die Abkehr von einer idealistischen Auffassung menschlicher Selbst- und Geschichtsmächtigkeit. Die materialistische Bestimmtheit der Geschichte durch objektive
Prozesse wurde durch die These einer allgemeinen Verdinglichung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft konkretisiert, wie Marx sie im Kapitel „Der
Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ in „Das Kapital“ beschrieben
hat. Dort behauptet Marx, dass die Form der Ware den Menschen den gesellschaftlichen Charakter der Arbeit verschleiere, unter der die Ware produziert
werde. Das Gesellschaftliche erscheine als etwas die Arbeitsprodukte gegenständlich Betreffendes, so dass die Aspekte menschlicher Arbeit und Sozialität
als dingliche, d.h. als dem menschlichen Handeln äußerliche Verhältnisse wahrgenommen würden.
Die These der Verdinglichung aufgreifend wurde in den 1920er Jahren kontrovers diskutiert, wie die Stellung des so genannten Proletariats, der in der kapitalistischen Gesellschaft „ausgebeuteten Klasse“, angesichts der Verdinglichung
zu sehen und inwiefern eine intellektuelle Durchdringung des Fetischismus möglich ist. Mit dem Scheitern der revolutionären Arbeiterbewegungen verblasste
die Hoffnung, eine revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse
könnte durch das Proletariat herbeigeführt werden. Im gleichen Zuge schien eine
intellektuelle und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen notwendig, welche einerseits die Integrativität des Kapitalismus und andererseits den Aufschwung klassenübergreifender Massenphänomene
144
Theodor W. Adorno
verständlich machen konnte, darunter insbesondere das Entstehen nationalistischer Bewegungen. Das 1923 gegründete „Institut für Sozialforschung“ übernahm – seit 1931 mit Horkheimer als Institutsdirektor – die Aufgabe der umgreifenden Analyse des sozialen Lebens, bei der die „Wechselwirkungen zwischen
der wirtschaftlichen Grundlage, den politisch-juristischen Faktoren bis zu den
letzten Verästelungen des geistigen Lebens in Gemeinschaft und Gesellschaft“
herausgearbeitet werden sollten; so wurde dies vom ersten designierten Direktor
des Instituts Gerlach in seinem Gründungsmemorandum im Jahre 1922 formuliert (vgl. dazu Gesellschaft für Sozialforschung 1925: 12, zit. n. von Friedeburg).
Adorno sollte in den ersten Jahren nach Gründung noch nicht Mitglied des
Instituts sein. Nach dem Abschluss seines Studiums mit dem Doktor der Philosophie studierte Adorno zunächst in Wien Komposition bei Alban Berg, einem
aufsteigenden Komponisten der neuen Musik. Adorno entschied sich dann doch
für die Philosophie und verfolgte zurück in Frankfurt seine akademische Karriere
weiter: Seine Habilitationsschrift ist betitelt mit „Die Konstruktion des Ästhetischen bei Kierkegaard“. Wie anderen Denkern und Wissenschaftlern wurde
Adorno jedoch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die
Lehrbefugnis entzogen, so dass auch er sich gezwungen sah, Deutschland zu
verlassen. Im Jahre 1938 floh Adorno mit seiner Frau Gretel schließlich in die
USA.
Dort angekommen arbeitete Adorno vermittelt durch den schon im amerikanischen Exil lebenden Horkheimer an einer empirischen Untersuchung über
den Rundfunk am Institut für Sozialforschung mit, das Horkheimer rechtzeitig
von Frankfurt an die Columbia University in New York übergesiedelt hatte.
Später zog Adorno an die Westküste, wo er an einem Projekt über den Antisemitismus mitwirkte, im dem unter Rückgriff auf die Freudsche Psychoanalyse die
Entstehung des „autoritären Charakters“ theoretisch konzeptionalisiert und empirisch untersucht wurde. Zu dieser Zeit entsteht auch die zusammen mit Horkheimer verfasste „Dialektik der Aufklärung“, so der Titel der Textsammlung, die
1947 im Amsterdamer Verlag Querido erschien. Die „Minima Moralia“, eine
Aphorismensammlung, die Adorno Horkheimer widmete, entstand auch zur Zeit
des amerikanischen Exils. In diesen Schriften drückt sich auf unterschiedliche
Weise die Einsicht aus, dass der Vernunft eine Irrationalität innewohnt, die nicht
einfach abgespalten werden kann. Der Weg, der vom Land der Dichter und Denker zum Ort der fabrikmäßigen Vernichtung von Menschen führt, ist ein direkter
Weg – und er wirkt sich auf den Standort der eigenen Überlegungen aus. Adorno
hat sich persönlich und sachlich im Bewusstsein dieses irreversiblen geschichtlichen Einschnitts bewegt.
145
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
Im Jahre 1949 kehrte Adorno auf die Bitte der Philosophischen Fakultät der
Frankfurter Universität nach Deutschland zurück. Hier vertrat er zunächst die
Stelle von Horkheimer, bevor er dann 1956 als ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie berufen wurde. Auch das Institut für Sozialforschung
wurde wieder in Frankfurt angesiedelt und Adorno leitete dies in den 1960er
Jahren. In der Frankfurter Zeit ist Adorno stark an den soziologischen Projekten
des Instituts für Sozialforschung beteiligt; in der Öffentlichkeit wird er u.a. nach
seinen Radiovorträgen zur „Mündigkeit“ als herausragender Intellektueller und
Kulturkritiker wahrgenommen. In diesen Jahren gewinnt auch der Einsatz einer
kritischen Gesellschaftstheorie schärfere Konturen. Disziplinintern kommt es in
der Soziologie zum so genannten Positivismusstreit (1961), bei dem die Kritische Theorie Position gegenüber einer Auffassung bezieht, Sozialwissenschaft
könnte in einem kritisch-rationalen Modus und d.h. ohne Berücksichtigung ihrer
eigenen gesellschaftlichen Vermitteltheit betrieben werden. 1966 erscheint dann
die Negative Dialektik, nach eigenen Angaben das „Hauptwerk“ Adornos.
Ein tiefer Einschnitt in den letzten Lebensjahren waren für Adorno die Erfahrungen mit der herrschaftskritischen und emanzipatorisch orientierten Studentenbewegung. Adorno sympathisierte mit den Studierenden, war aber nicht bereit, ihre Protestaktionen vorbehaltlos zu unterstützen. Im Januar 1969 besetzten
Studierende das Institut für Sozialforschung, um eine Diskussion über die gegenwärtigen politischen Verhältnisse zu erzwingen. Adorno ließ das Institut von
der Polizei räumen. Der Protest der Studierenden richtete sich nun also auch
gegen den kritischen Theoretiker, der die von den Studierenden provozierten
Eskalationen als Teil jener narzisstischen Verkennung verstand, die er in den
Autoritätsstudien analysiert hatte.
Adorno starb im Sommer 1969 an einem Herzinfarkt.
2
„Negative Dialektik“
Wie schon im Einführungsteil beschrieben ist es das Anliegen „Negativer Dialektik“, die Unversöhntheit von Begriff und Sache aufscheinen zu lassen. Um
diesem Anliegen Raum zu verschaffen, bedarf es einer Brechung hinsichtlich der
Selbstverständlichkeit, mit der die klassischen philosophischen Konzepte (wie
z.B. Subjekt, Methode, Theorie) unsere Vorstellungen von der Welt, von uns
selbst (und auch von unseren Vorstellungen) organisieren. Die damit verbundenen Konsequenzen sind schon genannt worden. Die „Negative Dialektik“ fordert
dazu auf, die „Mächtigkeit unseres Denkens“ zu hinterfragen. In der Vorrede zur
„Negativen Dialektik“ schreibt Adorno, dass sich die Aufgabe stelle, „den Trug
konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen“ (ND: 10). Der Anspruch einer Ver146
Theodor W. Adorno
söhnung von Begriff und Sache wird durch die Bezugnahme auf ein solches
konstitutives und verfügendes Subjekt erhoben. Sich von ihm zu distanzieren
verlangt ein Misstrauen gegenüber einem „Verstehen“, das uns etwas unmittelbar in einem unverstellten Zusammenhang zur Ansicht bringen soll oder auch
gegenüber einer Auffassung, nach der „Theorie“ als ein unbeeinträchtigtes, distanziertes Zusehen zu verstehen ist.
Adornos Kritik am Selbstvertrauen des Denkens lässt sich durch den Hinweis auf
die Bestimmungskraft gesellschaftlicher Dynamiken kritisch theoretisch einbetten: Ein Denken, das vermeintlich jenseits von gesellschaftlichen Verpflichtungen z.B. über Fragen der menschlichen Freiheit oder Gleichheit reflektiert, übersieht, wie sehr diese Fragen, aber auch die Reflexion selbst von gesellschaftlichen Bestimmungen abhängen. Im Folgenden sollen Aspekte dieser gesellschaftlichen Bestimmtheit am Konzept der „Identität“ exemplarisch nachvollzogen
werden. Zuvor soll kurz der Aufbau der „Negativen Dialektik“ skizziert werden.
Nach einer kurzen Vorrede, in der Adorno sein alternatives philosophisches
Projekt ankündigt und grob den Aufbau skizziert, folgt eine längere Einleitung,
in der einige wichtige Motive einer möglichen Annäherung an das sich prinzipiell entziehende Nichtidentische eingeführt werden. Die Überlegungen laufen
auf ein Verständnis „philosophischer Erfahrung“ zu, in der dem Objekt – über
den identifizierenden Zugriff des Subjekts hinaus – Geltung verschafft wird,
ohne dabei in positivistischer Manier einer subjektlosen Rationalität das Wort zu
reden. Der erste ca. 70 Seiten umfassende Teil der „Negativen Dialektik“ stellt
eine Auseinandersetzung mit der Ontologie dar, die nach Auffassung Adornos
die (philosophische) Diskussion in Deutschland ohne Sensibilität für die jüngste
politische Vergangenheit prägt. Der ungefähr gleich starke zweite Teil steht
unter dem Titel „Negative Dialektik. Begriff und Kategorien“. Adorno spricht
hier – wie bereits angedeutet – von einem gebrochenen Verhältnis zu den Konzepten der philosophischen bzw. idealistischen Tradition. Die Analyse ihrer
Subsumptionen und Identifizierungen kann dem Denken ermöglichen, zu sich
selbst als gesellschaftlich-geschichtlich Vermitteltem ein anderes Verhältnis
einzunehmen. Im dritten Teil werden „Modelle negativer Dialektik“ vorgestellt.
Diese sollen die „Negative Dialektik“ in ihrer Sachhaltigkeit und Materialität
greifbar machen. Dafür eignen sich keine Beispiele, die immer beliebig und
austauschbar bleiben. Die hier vorgeführten Modelle orientieren sich an den
leitenden Schlüsselbegriffen der Moralphilosophie, der Geschichtsphilosophie
und der Metaphysik.
Im zweiten Teil der „Negativen Dialektik“ beschreibt Adorno „Identität“ als
eine Figur, in der sich ein erkenntnistheoretischer Begründungs- und ein gesellschaftlicher Herrschaftsanspruch auf eigentümliche Weise kreuzen:
147
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
„Identität ist die Urform der Ideologie. Sie wird als Adäquanz an die daran unterdrückte Sache
genossen; Adäquanz war stets auch Unterjochung unter Beherrschungsziele, insofern ihr eigener Widerspruch. Nach der unsäglichen Anstrengung, die es der Gattung Mensch bereitet haben muß, den Primat der Identität auch gegen sich selbst herzustellen, frohlockt sie und kostet
ihren Sieg aus, indem sie ihn zur Bestimmung der besiegten Sache macht: was dieser widerfuhr, muß sie als ihr An sich präsentieren. Ideologie dankt ihre Resistenzkraft gegen Aufklärung der Komplizität mit identifizierendem Denken: mit Denken überhaupt“ (ND 151).
Die Textstelle ist nach Stil und inhaltlicher Dichte typisch für die „Negative Dia
lektik“. Der Text ist bestimmt durch eine verdichtende Prägnanz einerseits und
durch auf den ersten Blick differierende Bezüge andererseits, z.B. der Verbindung von philosophischer Argumentation und der Beschreibung menschlicher
Verhaltensweisen.
Zu klären ist zunächst, warum mit der in der Identität liegenden „Adäquanz“ von Natur und Geist, von Sache und Begriff, ein Verhältnis der Unterdrückung und Herrschaft verbunden ist. Die These lässt sich beispielhaft anhand
der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft plausibel machen. Die neuzeitliche Wissenschaft zielt – vermittels einer objektivierenden Erkenntnis – auf eine
Verfügungsposition gegenüber der Natur ab. Die zu erkennenden Gegenstände
kommen dabei nur noch so in den Blick, wie sie auf der Basis experimenteller
Erkenntnismethoden erscheinen: als allgemeine und notwendige Kausalzusammenhänge. Die Identität oder Übereinstimmung von Gegenstand und Begriff,
wie zum Beispiel bei Descartes formuliert, beruht auf einer rigiden methodischen
Kontrolle, mit der sich das erkennende Subjekt zum Gegenstand in ein Verhältnis setzt. Nur auf der Grundlage einer solchen methodischen Kontrolle konnte
sich eine Mathematisierung der Naturbetrachtung vollziehen (d.h. eine Bemessung nach einem abstrahierenden Maßstab, der nicht aus den Gegenständen
selbst gewonnen wird), die schließlich zur technisch-instrumentellen Beherrschung der Natur führt. In diesem Sinn spricht Descartes vom Menschen als
„maitre et possesseur de la nature“, als Herr und Eigentümer der Natur. Descartes, an der Schwelle zur Neuzeit, brauchte allerdings noch einen Gott, der für
die Möglichkeit einer Übereinstimmung von Begriff und Sache bürgen sollte.
Die instrumentelle Beherrschung ist indes nur eine Konsequenz aus der Haltung der Verfügung gegenüber den Gegenständen, an denen nichts unbegriffen
bleiben soll. Was immer sich der Vermessung sperrt, kann sich nach dieser Wissenschaftsauffassung nur vorläufig seiner Bestimmung entziehen. Das NichtErkannte ist das Noch-Nicht-Erkannte. Objektivierende Erkenntnis und Verfügungslogik bilden zwei Seiten einer Medaille: Die geistige Aufschließung der
Natur begründet nach Adorno ein Verhältnis der Herrschaft. Eine Steigerung
dieser Logik findet sich dann im logischen Positivismus des 20. Jahrhunderts:
Dort ist die Verwendung von Konzepten nur noch dann wissenschaftlich zuläs148
Theodor W. Adorno
sig, wenn sie sich operationalisieren lassen, d.h. wenn sie im Rahmen von empirischen Beobachtungen überprüft werden können.
Die Anpassungsmacht der Identität richtet sich jedoch nicht nur auf die Erkenntnisgegenstände. Adorno bemerkt in der oben zitierten Textstelle, dass die
Gattung Mensch den Vorrang der Identität, ihre Orientierung an eben dieser
Kategorie, sich selbst gegenüber durchsetzen musste – in Form einer „unsäglichen Anstrengung“. Gemäß dem oben angeführten Erkenntnisideal der neuzeitlichen Wissenschaft musste auch das Subjekt sich der Erkenntnis gemäß in eine
Übereinstimmung mit sich bringen. Das hat damit zu tun, dass die Methoden zur
Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnis zugleich Regeln des Verstandesgebrauchs und also Selbstreglementierungen enthalten: Das Subjekt muss für
eine „objektive Erkenntnis“ an sich selbst alles „Nur-Subjektive“, was einer
intersubjektiven Prüfung nicht standhält oder diese stören könnte, eliminieren. Es
wird auf die Selbstübereinstimmung eines abstrakten Erkenntnissubjekts verpflichtet, die alles Naturhafte, d.h. alle Bezüge, welche sich der begrifflichen
Durchdringung entziehen oder den funktional definierten Prozess der Erkenntnisgewinnung stören, auszuschließen gebietet. Adorno betont die eigentümliche
Verkehrung, die darin liegt, dass dieser Zusammenhang nicht als Restriktion
wahrgenommen wird, sondern mit dem Einrücken in die Verfügungsposition
geradezu gefeiert wird. Die mit der Identität verbundene Selbstverkennung, die
Adorno Ideologie nennt, wird deswegen nicht durchsichtig, weil sie mit der begrifflichen Identifikationslogik des Denkens verwandt ist.
Die Herausbildung einer solchen Identität, die als eine Selbsteliminierung
des Selbst verstanden werden kann, wird von Horkheimer und Adorno in ihrem
gemeinsamen Essay-Band „Dialektik der Aufklärung“ rekonstruiert. Dieser Text
erlaubt daher, die Kategorie der Identität im größeren Zusammenhang einer
Rationalitäts- und Gesellschaftskritik Adornos weiterzuverfolgen.
Die zentrale These der „Dialektik der Aufklärung“ ist, dass die fortschreitende Naturbeherrschung zu einer Naturverfallenheit des Menschen, zu einem
Rückfall „von Aufklärung in Mythologie“ (Horkheimer/Adorno 1986 [i.F. abgekürzt DA]: 14) führe. Dies wird an der Geschichte der Aufklärung nachvollzogen, die mit der Abkehr vom mythischen Denken in der Antike aufgenommen
wird. Im Mythos existieren die Menschen noch im Rahmen eines übergeordneten
Schicksalszusammenhangs, z.B. einer göttlichen Einflussnahme, denen gegenüber sie sich nicht unabhängig situieren können. Der Mensch besaß also gegenüber der göttlichen Ordnung keine eigene Identität. Subjekt und Objekt gehörten
ungeschieden einem sie übergreifenden Zusammenhang an. Doch schon im mythischen Zeitalter bahnt sich eine Verselbständigung strategischer Rationalität an,
die zuvor im göttlichen Schicksalszusammenhang „gebunden“ gewesen war.
Dieser von Horkheimer und Adorno an der Homerischen „Odyssee“ nachvollzo149
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
gene Sachverhalt, bildet eine zentrale Umschlagstelle in der geschichtlichen
Herausbildung eines identischen Subjekts.
Odysseus wird im Homerischen Epos als der Listige bezeichnet, weil es ihm
gelingt, sich gegenüber den mythischen Kräften, die ungebrochen auf ihn wirken, zu behaupten. Im zwölften Gesang muss Odysseus bei seiner Rückfahrt von
Troja z.B. jene Küste passieren, an der die Sirenen die Seefahrer durch ihren
Gesang ins Verderben locken. Odysseus, der von der Gefahr weiß, entgeht diesem Schicksal, indem er sich von seiner Mannschaft an den Mast des Schiffes
fesseln lässt, während diese – die Ohren mit Wachs verstopft – nur darauf achtet,
mit aller Kraft zu rudern. Die Mannschaft kann das Flehen und Bitten von Odysseus, losgebunden zu werden, als der Gesang erschallt, nicht hören. Odysseus
unterliegt also dem Gesang, entzieht bzw. widersetzt sich durch seine List jedoch
der damit verbundenen Konsequenz.
Horkheimer und Adorno sehen in Odysseus den Archetyp bürgerlicher
Selbstbehauptung: Odysseus gewinnt seine Subjektivität gegenüber den mythischen Mächten gerade im Opfer, dessen Funktion zuvor darin bestand, ein
Gleichgewicht mit den göttlichen Mächten herzustellen. Odysseus macht das
Opfer nun zu einem Selbstopfer: Um sich gegen die Sirenen behaupten zu können, muss er seinen Wünschen Gewalt antun, sich unfähig machen, der Verlockung zu folgen. Die Selbstbehauptung wird durch eine Selbstunterdrückung
erkauft – sie vollzieht sich über die Aufopferung souveräner Selbstbestimmung.
Nach Horkheimer und Adorno ist die Geschichte der Zivilisation eine Geschichte der Entsagung oder – wie es von Horkheimer und Adorno auch bezeichnet
wird – einer Introversion des Opfers (DA: 73).
Mit dieser Versagung, diesem Hineinnehmen des Opfers in sich selbst, bildet sich allererst Identität heraus:
„Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen
Stufen an, und stets war die Lockung es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart“ (DA: 50).
Identität bedeutet, einen Ort einzunehmen, an den sich das Selbst aus seiner
Beschäftigung mit der Welt zurückgezogen hat. Zunächst ist das noch der göttliche Kosmos, später die berechenbar gemachte Welt.
Das Beispiel des Odysseus ermöglicht es Horkheimer und Adorno, einen
weiteren wichtigen Aspekt hervorzuheben. Auf dem Schiff etabliert sich durch
Arbeitsteilung, d.h. durch die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit,
ein Herrschaftszusammenhang zwischen Odysseus und der Mannschaft, die auf
das Rudern verpflichtet wird, ohne die Früchte dieser Arbeit genießen zu kön150
Theodor W. Adorno
nen. Die geistige Arbeit herrscht über die körperliche Arbeit – dieses Hierarchieverhältnis wird, so wird in der „Negativen Dialektik“ gesagt, philosophisch
durch den Vorrang eines wissenden und Erkenntnis begründenden Subjekts gegenüber einem nachgeordneten und verstreuten empirischen Subjekt instituiert.
Dies ist der Punkt, an dem Rationalitäts- bzw. Identitätskritik und Gesellschaftskritik bei Adorno zusammenlaufen. Um dies genauer auszuführen ist das
Tauschprinzip, das nach Adorno mit dem Identifikationsprinzip „urverwandt“
(vgl. ND: 149) ist, genauer zu beleuchten.
Beim Tausch in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft geht es ebenso
wie bei der begrifflichen Abstraktion darum, von den konkreten Qualitäten eines
Gegenstandes abzusehen um eine Austauschbarkeit mit anderen Gegenständen
möglich zu machen. Zuletzt wird die Vergleichbarkeit des Werts unterschiedlicher Gegenstände über einen Geldwert beziffert. Entscheidend für die Logik des
Tausches ist mithin ein Messen, bei dem alles Besondere abgeschnitten wird. So
wird die je besondere arbeitende Tätigkeit des Menschen durch die Arbeitszeit,
vergleichbar, qualifizierbar, identifizierbar gemacht.
Die Annahme eines identischen und allgemeinen Subjekts erscheint nun als
logisch konsequente Steigerung des Tauschprinzips. Denn hier werden zum
einen alle Prozesse des Denkens unter die Logik geistiger Qualifizierung gestellt
und zum anderen der Denkende selbst auf eine übergeordnete Allgemeinheit
dieses Denkens verpflichtet. Mit dem funktionalen Selbstopfer des Erkennenden
schließt sich der Kreis zur ersten Textstelle. In seiner Funktionalität für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verdeutlicht sich zugleich die gesellschaftliche Vermitteltheit der sich fortsetzenden Naturbeherrschung: „Der von der Philosophie verklärte und einzig dem erkennenden Subjekt zugeschriebene Abstraktionsvorgang spielt sich in der tatsächlichen Tauschgesellschaft ab“ (ND: 180).
Das erkennende bzw. Erkenntnis begründende Subjekt hat demnach, wie Adorno
hier im Anschluss an ein Buch von Alfred Sohn-Rethel argumentiert, die Formstruktur der Ware.
Das identische Subjekt als allgemeines Wissenssubjekt zahlt, wie schon bei
Odysseus gezeigt werden konnte, einen Preis, indem es sich einem Ding anähnelt. In seiner „Theorie der Halbbildung“ formuliert Adorno diesen Regressionsvorgang folgendermaßen: Natur triumphiert
„gerade vermöge ihrer Bändigung stets wieder über den Bändiger, der nicht umsonst ihr, einst
durch Magie, schließlich durch strenge szientifische Objektivität, sich anähnelt. Im Prozess
solcher Anähnelung, der Eliminierung des Subjekts um seiner Selbsterhaltung willen, behauptete sich das Gegenteil dessen, als was er sich weiß, das bloße unmenschliche Naturverhältnis“
(Adorno 2003b: 95).
151
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
Das Subjekt reduziert sich im Rahmen des wissenschaftlichen Erkenntnisideals
zu einem Objekt. Als ein solches wird es nun durch eine humanwissenschaftliche
Vermessung auch behandelt. Es wird zum Ort einer disziplinierenden Unterwerfung, die sich selbst wiederum auf ein objektivierendes Wissen stützt, das den
Anspruch erhebt, die „Sache“ des Subjekts auf den Begriff zu bringen. Diese
Logik wird dann später von Foucault (1977) entwickelt, der – wenn auch mit
einem anderen methodischen Zugang – ebenfalls auf eine „Subjektivierung“
verweist, in der sich das (identifizierte) Subjekt als Effekt von Unterwerfungsprozessen zeigt. So bildet z.B. den Gegenstand der Medizin ein Exemplar der
Gattung Mensch mit spezifischen physischen Dysfunktionalitäten. Diese sind
bezifferbar und haben im Kontext des aktuellen Gesundheitsprogramms einen
definierten Tauschwert, z.B. „Body Mass Index“ oder „Kostenübernahme durch
die Krankenkasse“.
Wo der Mensch selbst zum austauschbaren Exemplar wird, ist für Horkheimer und Adorno der Weg, der nach Auschwitz führt, bereits eingeschlagen.
Der Fortschritt der Aufklärung, die sich im wissenden Verfügungsanspruch gegenüber jeglichem Besonderen und Anderen abdichten muss, wird eins mit einem mythologischen Rückschritt, mit der Möglichkeit von Barbarei. Eine „repressive Egalität“ (DA: 29) greift um sich. Alles, was sich dieser Egalität entzieht, wird weg geschnitten oder vernichtet. In seinen „Minima Moralia“ deckt
Adorno die Aggression dieses Sichgleichmachens in (persönlich erfahrenen)
alltäglichen gesellschaftlichen Praktiken auf.
Welche Konsequenzen sind aus der Überlegung, dass „Identität“ im Rahmen der Urgeschichte des Subjekts als Aufopferung und Anpassung zu begreifen
ist, zu ziehen? Ein Rückgang hinter die Anpassung, eine Restitution in der Ungeschiedenheit von Natur und Geist ist kein Ausweg. An der aufklärerischen Perspektive, am identifizierenden Denken ist festzuhalten, auch und nur wenn man
um deren zerstörerisches Potential weiß (DA: 13). Mit Blick auf die Kategorie
der Identität formuliert Adorno die aporetische Figur so:
„Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus. Das
rückt nahe genug an Hegel. Die Demarkationslinie zu ihm wird schwerlich von einzelnen Distinktionen gezogen; vielmehr von der Absicht: ob Bewußtsein, theoretisch und in praktischer
Konsequenz, Identität als Letztes, Absolutes behauptet und verstärken möchte, oder als den universalen Zwangsapparat erfährt, dessen es schließlich auch bedarf, um dem universalen
Zwang sich zu entwinden (...). Der Totalität ist zu opponieren, indem sie der Nichtidentität mit
sich überführt wird, die sie dem eigenen Begriff nach verleugnet. Dadurch ist die negative Dialektik, als an ihrem Ausgang, gebunden an die obersten Kategorien von Identitätsphilosophie.
Insofern bleibt auch sie falsch, identitätslogisch, selbst das, wogegen sie gedacht wird“ (ND:
150).
152
Theodor W. Adorno
Im ersten Satz dieser umfangreichen Textstelle scheint Adorno einen Ausweg
aus der Anpassungslogik des Identitätsdenkens anzubieten. Die Gesellschaft
wäre über das identifizierende Denken hinaus, wenn es ihr gelänge, keinem
Menschen mehr einen Teil seiner lebendigen Arbeit vorzuenthalten. Damit wäre
eine rationale Identität erreicht. Was auf den ersten Blick wie ein gesellschaftspolitisches Programm – die Überwindung der kapitalistischen Lebensform –
klingt, dessen Realisierbarkeit man nun zu prüfen hätte, wird im weiteren Verlauf des Textes weiter bestimmt.
Adorno sagt, dass die Umschreibung nahe an Hegel heranrücke und es nicht
leicht sei, die Differenz zu diesem zu markieren. Das bedeutet aber, dass eine
solche Differenz zu Hegel, der die Weiterentwicklung von Vernunft und Geschichte zusammen gedacht hat, besteht. Diese Differenz hat mit der Haltung
und der Absicht gegenüber der Identitätskategorie zu tun. Den Satz über die
Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise als eine gesellschaftspolitische Forderung zu lesen, würde bedeuten, ungebrochen an der Identitätskategorie als oberstem Ziel festzuhalten. Es wird dann davon ausgegangen, dass das
Problem identifiziert werden kann und dass sich die Probleme auch als solche
erschließen lassen. Im darauf folgenden Satz gibt Adorno indessen zu bedenken,
dass im Rahmen eines universalen Zwangszusammenhangs keine Position zugänglich ist, von der aus eine uneingeschränkte Analyse, was als Problem oder
Zwang zu bestimmen ist, möglich ist. Dann aber kann das Problem nicht allein in
der kapitalistischen Produktionsweise lokalisiert werden und der Rückbezug auf
eine nicht entfremdete, dem Menschen als solchen zukommende Arbeit erscheint
ebenso problematisch.
Im Gegensatz zu Hegels Negation der Negation führt Adorno die Dialektik
nicht zu einer positiven Synthese, sondern hält an der Negation in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit fest. Über diese bestimmte Negation positiv hinauszugehen,
würde bedeuten, das Moment des Nicht-Identischen auszublenden, das im Prozess der Negation Kontur gewinnt. Und dennoch bleibt die negative Dialektik
mit den Gegenständen ihrer Kritik verstrickt, wie Adorno oben sagt: Die negative Dialektik bleibe an die obersten Kategorien der Identitätsphilosophie gebunden.
3
Zum Standort „Negativer Dialektik“: Der Weg der Kritik
Die kritischen Einwände, die gegen die negative Dialektik geltend gemacht worden sind, setzen nicht zuletzt bei der Kategorie der „Identität“ an (vgl. hierzu
Schnädelbach 1983, s.u., sowie Theunissen 1983, Wellmer 1985 und Thyen
1989). Problematisiert worden ist insbesondere die Reichweite des Identitätsbe153
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
griffs bei Adorno: Er fasst darunter das Prinzip der Identität, wie die Logik es
formuliert (A=A), Tautologien, Klassifikationen, Subsumtionen etc. Auf diese
Weise entstehe, so die Kritiker, ein großer Assoziationszusammenhang, in dem
sich „Identität“ zu einer alles umgreifenden Herrschaft – einem „Verblendungszusammenhang“ – verdichtet. Eine solche „Ontologie des falschen Zustands“ sei
aber nicht zu retten, da sie Interpretationen und Aussagen als unmittelbare Realität begreife, ohne dies systematisch rechtfertigen zu können. Das Projekt einer
„negativen Dialektik“ könne nur dann aufrechterhalten werden, wenn die unbestimmte Assoziationskraft des Nichtidentischen durch eine Konstruktion des
Rationalen gebrochen werde, wenn die bestimmten Negationen selbst noch einmal in ihrer identifizierenden Kraft rational begründet würden (vgl. Schnädelbach 1983: 89).
Diesem vielfach vorgetragenen Einwand, der den identifizierenden Geltungsanspruch der Analysen Adornos einklagt, lässt sich entgegnen, dass dieser
selbst zum Untersuchungsgegenstand einer negativen Dialektik gehört; denn
Adorno verwendet die Identitätskategorie in seinen Einzelanalysen nicht, um
Aussagen mit Wahrheitsanspruch zu formulieren, sondern als „Problemanzeigen“, die zum Weiterdenken oder zum Widerspruch auffordern. In dieser Lesart
zielt das „Nichtidentische“ auf eine situative bzw. konstellative Reflexion hinsichtlich der Grenzen von Rationalität und eben nicht auf die identifizierende
Denunziation eines allumfassenden Verblendungszusammenhangs, die für sich
selbst jene wissenschaftliche Wahrheit behauptet, deren systematische Grenzen
sie diesem vorwirft.
Während auf diese Weise der Vorwurf einer „Ontologie des falschen Zustands“ relativiert werden kann, so ist damit noch nicht die große interne Kohärenz und Allgemeinheit gerechtfertigt, welche die negative Dialektik bestimmt
(vgl. Gamm 1985: 145f.). So verweise Adorno zwar immer wieder auf die Notwendigkeit eines konkreten oder materialen Vorgehens; die immanente Kritik
würde jedoch der Logik einer allgemeinen Strukturierung folgen, die von einem
geschlossenen Beziehungsrahmen bestimmt sei. Trotz der hohen Variabilität in
den Themen und in der sprachlichen Darstellung würden bestimmte Reflexionsfiguren, z.B. die Kritik einer identitätslogischen Differenz von Wesen und Erscheinung, wiederholt auftauchen.
Neben der Kritik an den wiederkehrenden Strategien Adornos wird das
Vorgehen der bestimmten Negation problematisiert; denn diese sei, wie im Anschluss an Hegel gesagt werden könne, mit der „Verspätung der Philosophie“
konfrontiert. Die negative Dialektik funktioniere auf der Grundlage bestimmter
Negation wesenslogisch, da sie den zu kritisierenden Gegenstand an begrifflichen Maßstäben messe. Auf diese Weise könne der Geschichtlichkeit des Philosophierens, wie Adorno sie selbst einmal mit dem Hegelschen Diktum des „Zeit154
Theodor W. Adorno
kern(s) der Wahrheit“ (Adorno 2003c: 471f.) eingefordert hat, nicht genüge
getan werden. Der Einwand lautet demnach, dass die negative Dialektik ihre
eigene Arbeit nicht wirklich aufnehmen könne, da der Ausdruck ihrer Kritik in
einer Weise idealistisch verstrickt sei, dass diese Kritik und die Falschheit der zu
problematisierenden Identifikation nicht mehr auseinander gehalten werden
könnten.
In der obigen Textstelle weist Adorno selbst auf diese Verstrickung der negativen Dialektik mit der Identitätsphilosophie hin. Diese Aussage könnte indessen als „Strategie“ gelesen werden, sich von einer weiteren philosophischen
Rechtfertigung der Vorgehensweise zu entlasten und gegen Einwände zu immunisieren. Dieser Angriff wird jedoch der negativen Dialektik schon wegen ihres
gebrochenen Verhältnisses zu Wahrheit und Geltung nicht gerecht. Gerade das
Anlegen eben dieser Kriterien an das Denken muss nach Adorno problematisiert
werden. Der Umgang der „Negativen Dialektik“ mit diesem Anspruch ist bislang
in der Forschung nicht zureichend diskutiert worden.
Adorno legt im negativ dialektischen Denken den Fokus nicht auf die Tragfähigkeit der unternommenen Identifikation und die Begründbarkeit der damit
zusammen hängenden Negation. In der „Negativen Dialektik“ werden Bestimmung und Negation durch eine problematische Identifikation des Gegebenen,
z.B. durch die im obigen Zitat genannte Kategorie der „Totalität“, gegeneinander
in Bewegung gebracht. Diese Kategorie stellt eine metaphysische Konstruktion
dar, die zum einen dem Gegebenen, z.B. der positivistischen Produktion von
Fakten, entgegengesetzt wird, um auf die falsche Einheit von Begriff und Gegenstand hinzuweisen. Zum anderen impliziert die Kategorie eine Selbstanwendung der Kritik, da mit der Entlarvung der methodisch kontrolliert verfahrenden
Wissenschaft gleichzeitig die Entlarvung selbst problematisiert wird, z.B. mit der
Problematisierung der Alternativen zur kapitalistischen Lebensweise. Die „Solidarität mit Metaphysik“ (ND: 400) z.B. der Totalität ist eine, die die Unbegründbarkeit des Metaphysischen immer schon in Rechnung stellt. Die bestimmte
Negation legt es auf ein Kraftfeld von Identifikation und Widerspruch an, das
nur als dialektisches Geschehen „das Eingeständnis seiner Falschheit lesen
[lehrt]“ (vgl. DA: 25).
Stellt man die „Negative Dialektik“ als eine philosophische Arbeit dar, die
im Rahmen ihrer Befassung mit Gegenständen noch den Ort und den Einsatz des
eigenen Ausgangspunkts in seiner Komplizenschaft mit dem zu Kritisierenden
berücksichtigt, so verlieren andere Einwände an Bedeutung, die gegen Adornos
Philosophieren vorgebracht wurden. Der Zusammenhang von Kritik und Selbstkritik kann unter anderem zeigen, dass der Vorwurf an Adorno, dessen Kulturkritik sei konservativ und werde gegenwärtigen Kulturproduktionen nicht gerecht (vgl. Kellner 2002; Prokop 2003), nicht greift; denn Adorno geht es weder
155
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
um die Ausspielung der populären Kultur gegenüber der Hochkultur noch um die
Beschwörung unverfälschter Ursprünge der Kultur vor ihrem Verfall. Die Verstrickung der Kultur mit den Bedingungen, welche die Umsetzung der bürgerlichen Ziele der Kultur verhindern, bedarf hingegen einer genaueren Analyse –
und das gilt insbesondere dahingehend, wie gegenwärtig Kultur in Form von
Kulturprodukten unser Verhältnis zu derselben formieren.
Mit der Betonung der philosophisch-praktischen Bestimmung der „Negativen Dialektik“ steht Adorno in großer Nähe zu Denkern wie Ludwig Wittgenstein und Michel Foucault, deren philosophische Einsätze sich theoretischen
Skalierungen sperren (vgl. Foucault 1996: 82; Demmerling 1999; Wellmer
2007). Angesichts dieser philosophisch-praktischen Bestimmtheit negativer
Dialektik ist auch eine Situierung zu relativieren, die Jürgen Habermas einst
vorgenommen hat. Dieser hatte in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ behauptet, die „Negative Dialektik“ sei nicht mehr aktuell, da sich im
Zuge von philosophischen Weiterentwicklungen ein Szenenwechsel, eine
„sprachphilosophische Wendung“ abgespielt habe (vgl. Habermas 1981: bes.
523ff.). Eine Einordnung der negativen Dialektik im Sinne von Paradigmata
scheint der gedanklichen Arbeit, der es beständig um Neueinsätze des Denkens
gegangen ist (vgl. Adorno 2003a: 14), nicht gerecht zu werden.
Es ist die Selbstauseinandersetzung im Denken, die Frage nach dem Umgang mit der Fehlbarkeit des eigenen reflexiven Einsatzes und mit der Intransparenz der eigenen Situierung in einer Welt mit anderen, von der aus eine Standortbestimmung der negativen Dialektik Adornos in den heutigen Human- und
Sozialwissenschaften vorgenommen werden kann. Diesbezüglich ist zum einen
eine auffällige Nicht-Rezeption zu verzeichnen, z.B. in der Erziehungswissenschaft (vgl. Kelle 1992), die sich stärker an den Arbeiten von Jürgen Habermas
orientiert hat, welche sich scheinbar besser für eine Überführung in pädagogische Programmatiken eigneten. Zum anderen gibt es in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie Bezugnahmen auf Adorno, welche die Kritik an einer konstitutiven Subjektivität für eine kategoriale Reflexion pädagogischer Grundbegriffe
fruchtbar zu machen versucht (vgl. Schäfer 2004; Thompson 2006).
Auch in anderen Disziplinen, z.B. der Soziologie und der Philosophie, lässt
sich feststellen, dass sich die fachlichen Traditionen nicht über die negative Dialektik Adornos fortgeschrieben haben. Es gibt dennoch ein gesteigertes Interesse
an Adornos Denken. Dieses knüpft nicht an der „Negativen Dialektik“ als
Hauptwerk an, sondern an den in ihr liegenden Implikationen für eine Situierung
von Vernunft, Kultur und Moral.
Aus einer ethischen Perspektive hat z.B. Judith Butler in ihren Frankfurter
Adorno-Vorlesungen „Kritik der ethischen Gewalt“ den Versuch unternommen,
mit und nach Adorno ethische Verantwortlichkeit ohne ein selbsttransparentes,
156
Theodor W. Adorno
rationales und identisches Subjekt zu denken. Eine ästhetische Perspektive einnehmend hat Christoph Menke (1991) die Nähe Adornos zum poststrukturalistischen Sprachdenken und differenztheoretischen Verständigungen hinsichtlich
der Konstitution von Bedeutungen und der Subversion ihrer Identität aufgewiesen. Darüber hinaus werden Adornos mikrologische und konstellative Annäherungen an Sprache in kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen als Anregung
wahrgenommen, so dass lang bestehende Entgegensetzungen, z.B. die von (kultur-)Kritischer Theorie und Cultural Studies, überwindbar erscheinen.
Primärliteratur
Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. [Zit. ND]. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. (2003a): Vorlesung über Negative Dialektik. Hrsg. v. Tiedemann, Rolf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. (1959/2003b): Theorie der Halbbildung. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Hrsg. v. Tiedemann, Rolf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 93-121.
Adorno, Theodor W. (2003c): Wozu noch Philosophie. In: Ders.: Kulturkritik
und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Gesammelte Schriften, Bd. 10.2.
Hrsg. v. Tiedemann, Rolf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 459-474.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1986): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. [Zit. DA]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
(Ein großer Teil der Schriften Adornos ist im Rahmen der Editionen „Gesammelte Schriften“ und „Nachgelassene Schriften“ beim Suhrkamp Verlag erschienen oder in Vorbereitung.)
Sekundärliteratur
Böhme, Gernot (2004): Eingedenken der Natur im Subjekt – oder: die Geburt
des Subjekts aus dem Schmerz. In: Gruschka/Oevermann, S. 97-108.
Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Claussen, Detlev (2003): Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. Frankfurt a.M.:
Fischer.
Demmerling, Christoph (1994): Sprache und Verdinglichung. Wittgenstein,
Adorno und das Projekt einer kritischen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
157
Alfred Schäfer & Christiane Thompson
Descartes, René (1992): Meditationes de prima philosophia. Hamburg: Meiner.
Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio
Trombadori. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Friedeburg, Ludwig von: Geschichte des Instituts für Sozialforschung. Online:
http://www.ifs.uni-frankfurt.de/institut/geschichte.htm
(Abruf
am
16.08.2008).
Gamm, Gerhard (1985): Sur-realität und Vernunft. Zum Verhältnis von System
und Kritik bei Theodor W. Adorno. In: Ders.: (Hrsg.): Angesichts objektiver Verblendung. Über Paradoxien kritischer Theorie. Tübingen: edition im
Konkursbuchverlag, S. 115-191.
Gruschka, Andreas/Oevermann, Ulrich (2004) (Hrsg.): Die Lebendigkeit der
kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno. Wetzlar: Büchse der
Pandora.
Habermas, Jürgen/Friedeburg, Ludwig von (1983) (Hrsg.): Adorno-Konferenz
1983. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Honneth, Axel (1989): Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Honneth, Axel (2005) (Hrsg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter AdornoKonferenz 2003. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Honneth, Axel/Menke, Christoph (2006): Negative Dialektik. Berlin: Akademie
Verlag.
Huhn, Tom (2004) (Hrsg.): The Cambridge Companion to Adorno. Cambridge:
University Press.
Jay, Martin (1976): Dialektische Phantasie. Frankfurt a.M.: Fischer.
Kelle, Helga (1992b): Die neue Adorno-Rezeption in der Erziehungswissenschaft. In: Pädagogische Rundschau 46, S. 429-441.
Kellner, Douglas (2002): The Frankfurt School and British Cultural Studies:
“The Missed Articulation”. In: Nealon, Jeffrey/Irr, Caren (Hrsg.): Rethinking the Frankfurt School. Alternative Legacies of Cultural Critique. Albany:
State University of New York Press, S. 31-58.
Küpper, Joachim/Menke, Christoph (2003) (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer
Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Menke, Christoph (1991): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung
nach Adorno und Derrida. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Näher, Jürgen (1984): Die Negative Dialektik Adornos. Einführung – Dialog.
Opladen: Leske & Budrich.
158
Theodor W. Adorno
Prokop, Dieter (2003): Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie. Hamburg: VSA.
Schäfer, Alfred (2002): Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres
Sturzes. Anmerkungen zur kritischen Rhetorik Adornos. In: Dörpinghaus,
Andreas/Helmer, Karl (Hrsg.): Rhetorik – Argumentation – Geltung. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 205-220.
Schäfer, Alfred (2004): Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim: Beltz.
Schmid Noerr, Gunzelin (1990): Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur
Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers,
Adornos und Marcuses. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Schnädelbach, Herbert (1983): Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion
des Rationalen bei Adorno. In: Habermas/Friedeburg, S. 66-93.
Theunissen, Michael (1983): Negativität bei Adorno. In: Habermas/Friedeburg,
S. 41-65.
Thompson, Christiane (2006): Adorno and the Borders of Experience. The Significance of the Nonidentical for a “Different” Theory of Bildung. In: Educational Theory 56/1, S. 69-87.
Thyen, Anke (1989): Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des
Nichtidentischen bei Adorno. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Wellmer, Albrecht (1985): Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Wellmer, Albrecht (2007): Ludwig Wittgenstein. Über die Schwierigkeiten einer
Rezeption seiner Philosophie und ihre Stellung zur Philosophie Adornos. In:
Ders.: Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, S. 255-265.
Wiggershaus, Rolf (1988): Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische
Entwicklung – Politische Bedeutung. München: dtv.
159
Jürgen Habermas: Identität, Kommunikation
und Moral
Dieter Geulen
Einleitung
Jürgen Habermas ist wohl der meistdiskutierte Sozialphilosoph der Gegenwart,
und seine Wirkung erstreckt sich weit über die Generation seiner Schüler in
Deutschland hinaus auf die internationale Diskussion politischer Theorie und
Ethik. Habermas ist ein überaus anregender, allerdings auch anspruchsvoller
Autor, der über einen viele Disziplinen (Philosophie, Soziologie, Politik, Geschichte, Psychologie u.a.) umfassenden breiten Fundus verfügt, stets auch die
neueste Literatur und Diskussion kritisch und konstruktiv rezipiert und in große,
oft überraschende und visionär erscheinende Zusammenhänge bringt. Seine
Interessen und sein vorliegendes Werk, bisher allein rund 50 Bücher und Sammelbände (s. die Bibliographie bei Pinzani 2007), umfassen einerseits eine große
Spannweite scheinbar disparater Themen von der soziologischen Makrotheorie
unter politischer und historischer Perspektive bis zur Theorie sprachlicher Kommunikation im Alltag, zur Ethik und zu psychologischen, neuerdings auch religionsphilosophischen Fragen, nicht zuletzt auch zu Problemen der Wissenschaftstheorie.
Andererseits zeichnet sich mit fortschreitender Entwicklung seines Werkes
eine immer deutlichere Fokussierung auf ein Kernthema ab, das sich mit dem
Titel seines Hauptwerkes „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) bezeichnen und als Versuch charakterisieren ließe, eine Theorie der Gesellschaft
auf der Grundlage vernünftiger, verständigungsorientierter und herrschaftsfreier
Kommunikation der Subjekte zu entwerfen.
Vielleicht kann man von drei Polen in Habermas’ Denken sprechen, nämlich erstens dem konkreten Menschen, zweitens der Gesellschaft und ihrer Eigengesetzlichkeit, in der er immer schon lebt und die er zu gestalten versucht,
und drittens der metatheoretischen Reflexion und Kritik einschlägiger Autoren.
Wir gehen im folgenden zunächst auf seine Biographie sowie auf die Entwicklung seines zentralen Gedankengangs ein und wenden uns dann der Frage
161
Dieter Geulen
zu, wie Habermas den Begriff der Identität verwendet und zu anderen Begriffen
in seinem Werk, insbesondere zu dem der Kommunikation und der Moral, in
Beziehung setzt; zum Schluss folgen einige kritische Bemerkungen. Ich stütze
mich auf die im Text jeweils angegebenen Schriften Habermas’ sowie im folgenden Abschnitt auch auf A. Pinzani (2007); einführende Darstellungen liegen
außerdem von D. Horster (1999) und H. Brunkhorst (2006) vor. Eine ausführliche polemische Auseinandersetzung mit Habermas’ Identitätstheorie hat J. Belgrad (1992) vorgelegt.
1
Biographie
Jürgen Habermas wurde 1929 in Düsseldorf geboren und wuchs in Gummersbach auf. Er gehört also einer Generation an, die den Nationalsozialismus und
den Zweiten Weltkrieg als Heranwachsende, in einer Phase erwachenden politischen Bewusstseins, erlebt hat. Hier mag ein Grund dafür liegen, dass der hochbegabte Habermas sich später der kritischen Theorie der Gesellschaft, die von
der Frankfurter Schule (vor allem M. Horkheimer und Th. W. Adorno) seit den
dreißiger Jahren entwickelt worden war, zuwandte und deren gewichtigster Vertreter in der Gegenwart er geworden ist.
Habermas studierte zwischen 1949 und 1954 in Göttingen und Bonn Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie und promovierte in Philosophie bei E. Rothacker über Schelling. Das akademische Klima,
in dem er sich bewegte, war zu dieser Zeit noch stark durch die im Deutschland
des 19. Jahrhunderts blühende Historische Schule, die Idee einer verstehenden
Geisteswissenschaft im Sinne Diltheys und eine auf Humboldt zurückgehende
Philosophie der Sprache bestimmt. Er hat auch die seit den späten 20er Jahren in
der deutschen Philosophie zu beobachtende Rückwendung auf den Menschen
und die philosophische Anthropologie aufgenommen, wovon sein Artikel für das
Fischer-Lexikon von 1958 zeugt. Dies erscheint uns insofern bedeutsam, als hier
eine Wurzel für sein Interesse an der Identitätsthematik zu vermuten ist, die ja
auf das konkrete Subjekt und nicht auf abstrakte Gesellschaftstheorie zentriert
ist.
Bald wurden unter dem Einfluss Blochs und Adornos die im Nationalsozialismus verfemten Schriften „linker“ Denker wie Marx, Lukács und Freud wieder
in die Diskussion eingeführt, die Habermas tief beeindruckten und die ebenfalls
einen Bezug zur später aufgenommenen Identitätsthematik stiften – so zunächst
vor allem die Entfremdungstheorie des jungen Marx sowie Lukacs’ Theorie der
Verdinglichung. Auch Habermas’ erste lebensgeschichtliche Erfahrungen mit
den autoritären und totalitären Zügen des Nazi-Staats könnten in diese Richtung
162
Jürgen Habermas
gewirkt haben, vermutlich allerdings noch stärker als Antrieb zur Entwicklung
seiner Theorie des kommunikativen Handelns, die ja in bester demokratischer
Tradition die politische Willensbildung wieder in die Hand der Subjekte zurückholen will. Jedenfalls äußert er schon als Student (1953) in einer Rezension für
die Frankfurter Allgemeine Zeitung seine kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus anlässlich der Neuauflage eines Buches von Heidegger, in dem
dessen Parteinahme offen und unkommentiert erkennbar geblieben war.
Nach der Promotion 1954 arbeitete Habermas zunächst als Journalist und
erhielt 1956 am Frankfurter Institut für Sozialforschung eine Stelle als Forschungsassistent bei Adorno, der ihn förderte. Hier gewann er schrittweise Zugang zu den klassischen Arbeiten dieses Instituts, z.B. zu Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ (1947) sowie zu Hegel als wichtiger Quelle.
Der Plan einer Habilitation in Frankfurt traf auf Bedenken Horkheimers, dem
Habermas’ linkes politisches Engagement nicht geheuer war, und Habermas ging
zu W. Abendroth nach Marburg, wo er sich 1961 in politischer Wissenschaft mit
der Arbeit über „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ habilitierte.
Er wurde zunächst außerordentlicher Professor in Heidelberg, kam dort
stärker mit Gadamers Theorie der Hermeneutik in Berührung und begann, sich
mit der vom späten Wittgenstein ausgehenden Sprachtheorie und dem amerikanischen Pragmatismus auseinanderzusetzen. Diese in der englischen Sprechakttheorie (Austin, Searle) fortgesetzten Einflüsse sind wohl neben den oben genannten politischen Erfahrungen von entscheidender Bedeutung für die weitere
Entwicklung seiner Theorie sprachlicher Kommunikation. 1964 übernahm Habermas den Lehrstuhl Horkheimers für Philosophie und Soziologie in Frankfurt.
1971 wurde er (zusammen mit C.-F. von Weizsäcker) Direktor des neuen MaxPlanck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlichtechnischen Welt in Starnberg, das er 1981 wieder verließ, um nach Frankfurt
zurückzukehren, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 lehrte. Habermas beteiligt sich weiterhin höchst aktiv am politisch engagierten wissenschaftlichen Diskurs.
2
Zum Prozess des Werkes
Wir wollen nun den Gedankengang skizzieren, der von Habermas’ Verständnis
von Demokratie als räsonnierender Öffentlichkeit zur Analyse eben dieser Art
des Räsonnements, die er später „kommunikatives Handeln“ bzw. „Diskurs“
nennt, fortschreitet. Dies kann – angesichts seines komplexen Werkes selbstverständlich mit den gebotenen Einschränkungen – vielleicht als Habermas’ zentrales Thema angesehen werden. Es bildet auch den Rahmen, in dem der Identitäts163
Dieter Geulen
begriff zwar nicht den wichtigsten, aber doch einen wesentlichen Platz einnimmt.
Wie wichtig schon dem jungen Habermas der Demokratie-Gedanke ist,
wird in seiner Einleitung zu der (mit L.v. Friedeburg herausgegebenen) Untersuchung „Student und Politik“ (1961) deutlich, wo er F. Neumann zustimmend wie
folgt zitiert:
„Demokratie [...] ist nicht eine Staatsform wie irgendeine andere; ihr Wesen besteht vielmehr
darin, dass sie die weitreichenden gesellschaftlichen Wandlungen vollstreckt, die die Freiheit
der Menschen steigern und am Ende vielleicht ganz herstellen können. Demokratie arbeitet an
der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein“ (Habermas 1961: 15).
In seiner großen Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit
(1962) arbeitet er genauer heraus, wie sich auf dem Boden antiker Tradition das
moderne Demokratieverständnis im Zusammenhang der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft gebildet hat, nämlich als durch eine bestimmte Art des Räsonnements konstituierte Öffentlichkeit, in der die Herrschaftsverhältnisse der
Ständegesellschaft abgelöst werden durch eine gemeinschaftliche, auf vernünftigem Diskurs aller basierenden und daher von ihnen geteilten politischen Willensbildung.
„Bürgerliche Öffentlichkeit lässt sich vorerst als die Sphäre der zum Publikum versammelten
Privatleute begreifen; diese beanspruchen die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit alsbald gegen die öffentliche Gewalt selbst, um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des
Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen. Eigentümlich und geschichtlich
ohne Vorbild ist das Medium dieser politischen Auseinandersetzung: das öffentliche Räsonnement“ (ebd.: 38, Hervorh. D.G.).
Man beachte, dass Habermas über Demokratie hier nicht im Stil abstrakter Rechte oder einer Theorie demokratischer Institutionen redet, wie es etwa politikwissenschaftlichen Lehrbüchern entspräche, sondern als bestimmten Verhaltensweisen konkreter Individuen im Umgang miteinander.
Soll dieses Räsonnement in dem angegebenen Sinne funktionieren, so muss
es bestimmten Kriterien genügen (vgl. ebd.: 47f.). Erstens müssen die Beteiligten
von Statusdifferenzen absehen und sich alle als ebenbürtig betrachten. Dieser
Gedanke wird später mit dem Begriff der „herrschaftsfreien Kommunikation“
formuliert. Zweitens müssen alle möglichen Themen problematisiert werden
können, insbesondere solche, die bislang nicht als fragwürdig oder die als tabuisiert galten. Dies ist wichtig, weil sich hinter solchen Selbstverständlichkeiten
und Tabus (etwa Dogmen der Kirche) unhinterfragte Herrschaftsansprüche verbergen können. Diesen Typ Kommunikation hat Habermas später „Diskurs“
164
Jürgen Habermas
genannt. Drittens soll die so diskutierende Öffentlichkeit nicht exklusiv, sondern
muss prinzipiell unabgeschlossen und für alle offen sein. Später fügt er fünftens
hinzu, dass der Diskurs „verständigungsorientiert“, mit dem Ziel eines Konsenses geführt werden soll (Habermas 1981, I: 385ff.). Aus alldem folgt sechstens
wiederum, dass das Räsonnement, damit alle ihm zustimmen bzw. sich zu entsprechendem Handeln verpflichtet fühlen können, eine entsprechende Allgemeinheit bzw. Abstraktheit aufweisen muss, wie sie uns z.B. in der Gestalt der
Gesetze geläufig ist.
Nun liegt in dem hier angesprochenen Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem ein philosophisches Problem, das unser Thema der Identität berührt.
Daher sei die entsprechende Passage aus Habermas’ vorliegendem Buch ausführlicher zitiert:
„Die Kriterien der Generalität und Abstraktheit, die die Gesetzesnorm auszeichnen, mussten
für die Privatleute, die sich im Kommunikationsprozeß der literarischen Öffentlichkeit ihrer
aus der Intimsphäre hervorgehenden Subjektivität versichern, eine eigentümliche Evidenz haben. Denn als Publikum stehen sie bereits unter dem unausgesprochenen Gesetz einer Parität
der Gebildeten, dessen abstrakte Allgemeinheit einzig die Gewähr dafür bietet, dass die ihm
ebenso abstrakt, als ,bloße Menschen‘, subsumierten Individuen gerade durch sie in ihrer Subjektivität freigesetzt werden. […] Das öffentliche Räsonnement des bürgerlichen Publikums
vollzieht sich im Prinzip unter Absehung von allen sozial und politisch präformierten Rängen
nach allgemeinen Regeln, die, weil sie den Individuen als solchen streng äußerlich bleiben, der
literarischen Entfaltung ihrer Innerlichkeit; weil sie allgemein gelten, dem Vereinzelten; weil
sie objektiv sind, dem Subjektivsten; weil sie abstrakt sind, dem Konkretesten einen Spielraum
sichern. Gleichzeitig beansprucht, was unter solchen Bedingungen aus dem öffentlichen Räsonnement resultiert, Vernünftigkeit; ihrer Idee nach verlangt eine aus der Kraft des besseren
Arguments geborene öffentliche Meinung jene moralisch prätentiöse Rationalität, die das
Rechte und das Richtige in einem zu treffen sucht“ (Habermas 1962: 66).
Das Problem, das hier deutlich wird, besteht darin, dass das Individuelle doch
mit dem Allgemeinen (im Hegelschen Sinne) „vermittelt“ werden soll, dass, kurz
gesagt, die Individuen einerseits das Allgemeine akzeptieren, sich mit ihm identifizieren, andererseits aber ihre individuelle Subjektivität dabei nicht aufgeben,
sondern im Gegenteil einbringen sollen. In der vorliegenden Stelle belässt Habermas es jedoch bei einer abstrakten Gegenüberstellung: das Allgemeine bleibt
den Individuen „streng äußerlich“, und ihre „Innerlichkeit“, das „Vereinzelte“
und das „Subjektivste“ entfalten sich nur in einem vom Allgemeinen nicht besetzten „Spielraum“. Diese Stelle mag uns für das Problem der Vermittlung von
Allgemeinem und Individuellem sensibilisieren, und wir wollen es im Auge
behalten.
Die reife Fassung seiner Diskurstheorie, die später nur noch vertieft wird
(1981), findet Habermas schon in seinen um 1970 entstandenen und in Princeton
gehaltenen Vorlesungen (1984, Kap. 1, bes.: 110ff). Sie ist deutlich durch seine
165
Dieter Geulen
Auseinandersetzung mit der von J. L. Austin und J. R. Searle in den 60er Jahren
vorgelegten Theorie der Sprechakte bestimmt.
In Kürze besagt sie folgendes: Funktionierende sprachliche Kommunikation
setzt einen Hintergrundkonsens der Beteiligten voraus, in dem sie sich an der
Vorstellung einer „idealen Sprechsituation“ orientieren. Diese ist dadurch zu
kennzeichnen, dass jeder Beteiligte die folgenden vier „Geltungsansprüche“
erhebt, d.h. gegenüber seinen Partnern einfordert bzw. ihnen zugesteht.
1.
2.
3.
4.
Jede Äußerung muss so abgefasst sein, dass sie für die anderen „verständlich“ (in einem
durchaus alltagssprachlichen Sinne) ist.
Es wird unterstellt, dass Äußerungen in ihrem sachlichen, d.h. auf Gegenstände bezogenen Gehalt im Prinzip „wahr“ sind.
Der Anteil der Äußerung, der als eine soziale Handlung zu verstehen ist (in der Terminologie der Sprechakttheorie der „illokutionäre Gehalt“, z.B. ob sie als Mitteilung, Frage,
Aufforderung, Rüge usw. zu verstehen ist) muss „richtig“ sein, d.h. allgemein für die
betreffende Situation anerkannten Normen entsprechen.
Die Äußerung muss „wahrhaftig“ sein, d.h. das zum Ausdruck bringen, was der Sprecher
subjektiv tatsächlich meint.
Die Theorie behauptet nicht, dass alle Kommunikation empirisch immer genau
diesen Ansprüchen genügte, trotzdem müssen wir sie „kontrafaktisch“ immer
erheben, weil andernfalls Kommunikation als solche sinnlos würde. Wenn wir
zum Beispiel auf die Wahrhaftigkeitsforderung verzichten, also Lügen prinzipiell
zulassen würden, würden wir anderen Menschen kaum mehr zuhören, weil wir ja
nicht wissen können, ob sie gerade lügen oder die Wahrheit sagen.
3
Der Begriff der Identität
Nach dem Überblick über den zentralen Gedankengang in Habermas’ Werk
wenden wir uns jetzt der Frage zu, wie er den Begriff der Identität verwendet
und damit in Beziehung setzt. Seine einschlägigen Äußerungen lassen sich im
Wesentlichen auf die Zeit zwischen 1963 und 1981 datieren und zeigen mehrere
Entwicklungsschritte. Wenn ich recht sehe, hat Habermas als einer der ersten den
Begriff der Identität in dem hier interessierenden Sinne in die neuere deutschsprachige Diskussion eingeführt, ja diese geradezu initiiert, und zwar schon in
seinen 1963/64 in Heidelberg gehaltenen Vorlesungen über „Positivismus,
Pragmatismus und Historismus“ im Zusammenhang mit seiner Besprechung
Diltheys (Habermas 1968a, Kap. II: 178ff.).
Zwar geht es an dieser Stelle um die unterschiedliche methodologische Haltung von Natur- bzw. Geisteswissenschaften, wobei Diltheys Position, genauer
sein Begriff von Hermeneutik, am Beispiel der Autobiographie erörtert wird. Es
166
Jürgen Habermas
ist jedoch bemerkenswert, dass Habermas sich bei diesem Stichwort offenkundig
weniger für die Methodologie, sondern zunehmend für die darin implizierte
Identitätsthematik interessiert. So arbeitet er heraus, dass für Dilthey die Autobiographie eine verstehende und im sprachlichen Medium artikulierte Rekonstruktion der Lebensereignisse ist, in der das Subjekt selbst erst eine Einheit –
seine Identität eben – herstellt.
„Die Einheit der Lebensgeschichte konstituiert sich durch das Aufstocken retrospektiver Deutungen, die implizit immer den gesamten Lebenslauf einschließlich aller früheren Interpretationen umfassen. […] Die Lebenserfahrung integriert die in einem Lebenslauf konvergierenden
Lebensbezüge zur Einheit einer individuellen Lebensgeschichte. Diese Einheit ist verankert in
der Identität eines Ich und in der Artikulation eines Sinnes oder einer Bedeutung. Die Identität
des Ich bestimmt sich zunächst in der Dimension der Zeit als die Synthesis der in Mannigfaltigkeit fortrückenden Erlebnisse: sie stiftet die Kontinuität des lebensgeschichtlichen Zusammenhangs im Strom psychischer Ereignisse“ (Habermas 1968a: 193f.).
Bis hierher bezieht sich der Identitätsbegriff nur auf den zeitlichen, „vertikalen“ Lebenszusammenhang des einzelnen Subjekts. Wir merken kritisch an, dass Habermas in diesem
Zusammenhang nicht auf die relevante, psychoanalytisch ausgerichtete Theorie E.H.
Eriksons (1959) eingeht, was mit dem Kontext der Lehrveranstaltung zusammenhängen
mag; allerdings hat er sich auch später nicht mit ihr auseinandergesetzt.
Nun taucht die Identitätsfrage, wie auch in der neueren Diskussion betont
wird (vgl. insbesondere den Identitätsbegriff bei Goffman), noch in einem weiteren Sinne auf, nämlich in aktuellen Interaktionen gegenüber anderen Subjekten;
man kann hier von der „horizontalen“ Ebene im Identitätsbegriff sprechen. Dilthey erwähnt dies eher beiläufig, Habermas erkennt aber, dass bei Dilthey selbst
ein Schlüssel liegt, der es ermöglicht, diese wesentliche Dimension mit der lebensgeschichtlichen theoretisch zu verbinden: die Sprache. Sie ist einerseits, wie
oben erwähnt, das Medium, in dem das Subjekt seine individuelle Lebensgeschichte bzw. deren Einheit artikuliert, andererseits ist sie auch das intersubjektive Medium unserer Kommunikation mit Anderen.
„Die reflexive Lebenserfahrung, die die Kontinuität der Lebensgeschichte durch ein kumulatives Sich-selber-Verstehen als eine Staffel autobiographischer Deutungen herstellt, muß sich
immer schon im Medium der Verständigung mit anderen Subjekten bewegen. Mich selbst verstehe ich allein in jener ‚Sphäre von Gemeinsamkeit‘, in der ich gleichzeitig den Anderen in
dessen Objektivationen verstehe; denn unser beider Lebensäußerungen artikulieren sich in derselben, für uns intersubjektiv verbindlichen Sprache“ (ebd.: 197).
Ein weiteres Moment in unserer Vorstellung von unserer Identität ist, was wir
mit Begriffen wie „Individualität“, „Einzigartigkeit“ oder „Unvertretbarkeit“ u.ä.
zu bezeichnen pflegen. Wenn ich von meiner Identität spreche, unterstelle ich,
dass es wirklich meine Identität und nicht die irgendeines eines anderen ist. Wie
Habermas in seiner Dilthey-Interpretation nun weiter zeigt, bietet die Sprache
167
Dieter Geulen
auch einen Schlüssel zur Lösung des oben erwähnten Problems der Vermittlung
von Allgemeinem und Individuellem. Einerseits nämlich ist die Sprache allgemein und es haben alle in gleicher Weise Anteil an ihr, aber gleichzeitig bietet
sie uns die Möglichkeit, unsere Individualität, z.B. unsere individuellen Ansichten, Wünsche, Meinungen usw. gegenüber Anderen auszudrücken.
„Das Spezifische an dieser sprachlich strukturierten Gemeinsamkeit ist […], dass in ihr individuierte Einzelne kommunizieren. Auf dem Boden der Intersubjektivität kommen sie in einem
Allgemeinen derart überein, dass sie sich miteinander identifizieren und gegenseitig als gleichartige Subjekte ebenso erkennen wie anerkennen; gleichzeitig können die Einzelnen in der
Kommunikation auch voneinander Abstand halten und gegeneinander die unveräußerliche Identität ihres Ich behaupten. Die Gemeinsamkeit, die auf der intersubjektiven Geltung sprachlicher Symbole beruht, ermöglicht beides in einem: die gegenseitige Identifikation und das
Festhalten an der Nicht-Identität des Einen mit dem Anderen“ (ebd.: 198f.).
Habermas geht noch einen Schritt weiter, indem er die retrospektive Deutung des
Lebenslaufs als „Kommunikation mit sich selbst“ auffasst und die These aufstellt, dass „Selbstbewußtsein“ sich im „Schnittpunkt“ der horizontalen Ebene
der sprachlichen Verständigung mit Anderen und der vertikalen Ebene, der
sprachlichen Deutung der eigenen Lebensgeschichte, konstituiere (ebd.).
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Habermas in der hier vorgeführten
Denkfigur nicht erst auf Dilthey, sondern natürlich schon auf Hegel zurückgreift,
wie auch ein 1967 veröffentlichter Festschriftbeitrag zeigt (Habermas 1968b).
Hier führt er aus, dass bei Hegel die Erfahrung des Selbstbewusstseins sich „aus
der Erfahrung der Interaktion, in der ich mich mit den Augen des anderen Subjekts sehen lerne“ ergibt, dass erst auf der Basis „wechselseitiger Anerkennung“
Selbstbewusstsein sich bildet, „das an der Spiegelung meiner im Bewußtsein
eines anderen Subjektes festgemacht sein muß“ (ebd.: 13). In Hegels Philosophie
spielt das hier genannte Moment der „Anerkennung“ eine wichtige Rolle (Näheres zu dem Bezug auf Hegel s. Belgrad 1992:150ff.).
Anlässlich seiner Besprechung der Hermeneutik H.G. Gadamers sowie K.
Heinrichs in einem wissenschaftstheoretischen Zusammenhang führt Habermas
(1967: 153ff.) die Analyse des Verhältnisses von Identität und Sprache differenzierter fort. Wenn unsere Sprache logisch völlig präzise und eindeutig festgelegt
wäre wie z.B. in der Mathematik, was von dem logischen Empirismus nahe stehenden Philosophen (insbesondere B. Russell) gefordert worden ist, würde sie
keinen Raum mehr für die Darstellung unserer individuellen Identität mehr lassen; diese würde sich wieder im Allgemeinen auflösen. Daher hat es durchaus
einen guten Sinn, dass unsere Umgangssprache in gewissem Maße unpräzise,
mehrdeutig, „porös“, und die Intersubjektivität umgangssprachlicher Kommunikation stets eine „gebrochene“ ist. Ihre Struktur ist eine „Balance“ zwischen der
168
Jürgen Habermas
Notwendigkeit einer intersubjektiven Verständigung einerseits und der Wahrung
unserer individuellen Identität andererseits.
„Eine ungebrochene Intersubjektivität der geltenden Grammatik würde gewiß Identität der Bedeutung und damit konstante Relationen des Verstehens erst ermöglichen, aber zugleich die Identität des Ich in der Kommunikation mit anderen vernichten. […] Sprachen, die nach innen
nicht mehr porös sind und zu starren Systemen sich verfestigen, tilgen die Brechungen der Intersubjektivität und zugleich den hermeneutischen Abstand der Individuen untereinander. Sie
ermöglichen nicht länger die verletzbare Balance zwischen Trennung und Vereinigung, in der
sich die Identität eines jeden Ich einspielen muß“ (ebd.).
Allerdings ist es dann notwendig, dass wir über die Fähigkeit verfügen, eine
solch uneindeutige Situation dennoch zu verstehen und ihr einen Sinn zu geben,
dies ist der Platz der Hermeneutik. „Das hermeneutische Verstehen setzt an den
Bruchstellen ein; es kompensiert die Gebrochenheit der Intersubjektivität“
(ebd.).
Angeregt durch Goffman weist Habermas auf ein weiteres Problem in der
„horizontalen“ Dimension hin (vgl. Habermas 1973: 195ff.). Typischerweise
stehen wir im Alltagshandeln nicht nur einem Anderen gegenüber, sondern wir
nehmen mehrere Rollen ein und haben es entsprechend mit verschiedenen Partnern zu tun, und deren Rollenerwartungen passen oft nicht zueinander, ja sind
eventuell sogar unvereinbar. Dadurch entsteht zum einen das Problem, wie wir
solche Rollenkonflikte in unserem Handeln lösen, ohne die Beziehung zu einem
dieser Rollenpartner aufs Spiel zu setzen, zum anderen entsteht das Problem, wie
wir angesichts der Pluralität von Rollenerwartungen und deren Widersprüchen
noch unsere Identität definieren können. Dies ist nur möglich durch Rekurs auf
subjektive Ressourcen, durch die wir diese Vielheit wiederum subjektiv integrieren. Dies wäre neben der Integration der biographischen Dimension also eine
zweite geforderte Integrationsleistung unseres Ich.
4
Die Theorie der kognitiven Entwicklung
Bis etwa 1967 bewegt sich Habermas’ Denken über Identität im Wesentlichen in
dem von Hegel bis zur Gadamer’schen Hermeneutik abgesteckten philosophischen Rahmen, wie wir sahen. In den darauf folgenden Jahren tritt das Thema
zurück, um dann um 1974 erneut und mit interessanten Erweiterungen wieder
aufzutauchen. Habermas hatte sich inzwischen intensiver mit Piagets Theorie der
kognitiven Entwicklung und der von L. Kohlberg vorgelegten Theorie der Entwicklung des moralischen Bewusstseins beschäftigt.
Welche Bedeutung hat eine psychologische Theorie der kognitiven Entwicklung für das Bewusstsein von Identität? Nun, es ist offensichtlich, dass die
169
Dieter Geulen
in der Sprache der Philosophie noch mit Begriffen wie „retrospektive Deutung“
bzw. „Reflexion“ genannten Prozesse (s.o.), in denen sich unsere Identität konstituiert, auch in die Sprache der erfahrungswissenschaftlichen Psychologie überführt werden können, sie sind nichts anderes als kognitive Prozesse, die uns
mittels begrifflicher Schemata und Strukturen die Welt im weitesten Sinne – der
Sachen, der anderen Subjekte und unserer eigenen inneren Ereignisse – zu Bewußtsein bringen; ohne Begriffe wäre, wie schon Kant uns gelehrt hat, Erkenntnis nicht möglich. Der Philosoph Habermas stellt sich der Konsequenz, beim
Thema „Identität“ den Anschluss an die Psychologie und ihre Begrifflichkeit zu
suchen, zunächst allerdings nur zögernd:
„Fürs erste genügt die Vorstellung, dass das Ich seine Identität ausbildet, indem sich die innere
Natur auf dem Wege über eine Integration in die stufenweise entwickelten Strukturen des kognitiven, sprachlichen und interaktiven Austauschs mit der Umwelt reflektieren lernt. Sie lernt
damit zugleich, ihre Einheit zu wahren“ (Habermas 1974a: 192f.).
Aber diese Konsequenz ist tatsächlich unausweichlich, wenn, wie wir inzwischen wissen, unser kognitiver Apparat sich erst im Laufe einer langen, von vielen
sozialisatorischen Einflüssen der Umwelt abhängigen und daher nur empirisch,
nicht a priori zu erfassenden Entwicklung, herausbildet (vgl. Geulen 2005).
Nun ist einsichtig, dass eine Vorstellung auch von Identität nicht den begrifflichen Rahmen überschreiten kann, der durch den jeweiligen kognitiven
Entwicklungsstand des betreffenden Subjekts vorgegeben ist. Daher ergibt sich
die auch von Habermas im Folgenden angenommen These, dass die Form unserer Vorstellung von Identität von unserem kognitiven Entwicklungsstand abhängig ist. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es geht hier nicht schon um die
Genese einer inhaltlich bestimmten Identität selbst, sondern um die der begrifflichen Voraussetzungen dafür, eine solche überhaupt konstruieren zu können.
Die Entwicklungstheorie des frühen Piaget ist für die Analyse der Identitätsentwicklung besonders geeignet, insbesondere seine Analyse des Übergangs
vom kindlichen Egozentrismus – in dem das Subjekt die Welt nur aus seiner
eigenen Perspektive wahrnimmt, aber eben deshalb diese Perspektive selbst nicht
reflexiv objektivieren kann – hin zu einer „Dezentrierung“, in der es seine Position im Rahmen eines umfassenderen Systems, damit auch von der Position
anderer Subjekte aus „objektiv“ betrachten kann. Mit der Beschreibung dieser
mentalen Operation nähert Piaget sich übrigens Hegel und auch Mead.
Wir möchten hier den Hinweis einfügen, dass sich in Erweiterung des Ansatzes von Piaget, dessen Interesse sich im Laufe seines späteren Werkes immer
mehr auf die Entwicklung des logisch-mathematischen Denkens verlagerte, das
für die Identitätsentwicklung jedoch weniger relevant ist, seit den späten 1950er
Jahren eine eigene Forschungsrichtung zur sozial-kognitiven Entwicklung her170
Jürgen Habermas
ausgebildet hat, die die zur Erfassung von Ich und Anderen innerhalb eines sozialen Zusammenhangs notwendigen begrifflichen Schemata in ihrer Entwicklung
untersucht. So hat insbesondere R. Selman eine Entwicklungssequenz aufgezeigt, in der das Kind nach Überwindung seines ursprünglichen Egozentrismus
zuerst erkennt, dass andere eine andere Perspektive von einer Situation haben,
weil sie einen anderen Informationsstand oder, später, andere Absichten und
Wertvorstellungen haben; dann lernt es, sich selbst und sein Verhältnis zu einem
Anderen aus der Sicht eines unparteiischen Dritten, und schließlich aus der Perspektive des unpersönlichen sozialen Systems insgesamt zu betrachten (vgl.
hierzu Geulen 1982). Jede dieser Stufen impliziert offensichtlich eine Begrifflichkeit, in der nicht nur die Anderen bzw. der soziale Kontext, sondern in entsprechend spezifischer Weise auch die eigene Identität gefasst wird, etwa als
„Egoist“, als „Partner eines Anderen“, als „Mitglied einer Gruppe“ oder als „Teil
einer abstrakten Gemeinschaft“.
Habermas weist in diesem Zusammenhang auf das auch methodisch wichtige Detail hin, dass die Identitätsentwicklung einhergeht mit der Entstehung von
„Ich-Abgrenzungen“, begrifflichen Unterscheidungen des eigenen Ich von anderen Gegebenheiten, in denen eben erst eine „Definition“ (dieser Ausdruck bedeut
ja wörtlich „Abgrenzung“) des eigenen Ich bzw. der eigenen Identität entsteht
(Habermas 1974a: 194ff., 211). Habermas hat, an den vorliegenden Stellen nicht
ganz eindeutig, anscheinend vor allem die folgenden Abgrenzungen im Auge:
1.
2.
3.
die Abgrenzung zur Welt der äußeren Natur und ihrer Gegenstände (die schon im Säuglingsalter eingeleitet wird);
die Abgrenzung von anderen Handlungssubjekten; an anderer Stelle nennt Habermas die
davon wohl zu unterscheidende Abgrenzung von gesellschaftlichen Normen und Institutionen (bei Piaget etwa wäre dies der Übergang von der „heteronomen“ zur „autonomen“
Moral im frühen Schulalter);
die Abgrenzung vom vorgefundenen konventionellen Gebrauch der Sprache. Sicher ist
die Liste der für die Identitätsbildung eines Menschen relevanten Abgrenzungen noch
weit länger.
Der Zusammenhang mit der sozial-kognitiven Entwicklung führt uns direkt weiter zu der Theorie der Entwicklung des moralischen Bewusstseins, die L. Kohlberg in den 1960er bis 1980er Jahren aufgebaut hat (vgl. Kohlberg 1996). Diese
Theorie geht in wesentlichen Annahmen einerseits von der ebengenannten Theorie des frühen Piaget und der Forschung zur sozial-kognitiven Entwicklung,
andererseits von der Tradition der philosophischen Ethik aus, stützt sich auf
eigene empirische Daten (vor allem Tiefeninterviews zu einem jeweils vorgelegten moralischen Dilemma) und ist die in den letzten Jahrzehnten am meisten
diskutierte Theorie zum Thema. Es überrascht nicht, dass sie auf Habermas mit
seinem auf gesellschaftliches Handeln fokussierten Forschungsprogramm, das ja
171
Dieter Geulen
schon im Ansatz einen Bezug auf Moral impliziert, von großem Einfluss war,
insbesondere auf seine Diskurstheorie, aber auch auf seine späteren Überlegungen zum Identitätsbegriff. Daher sei hier ein kurzer Blick auf Kohlbergs Theorie
eingeschaltet.
Kohlberg fand auf der Grundlage der von ihm geführten Interviews heraus,
dass sich die Entwicklung des moralischen Bewusstseins – also der Auffassung
davon, was für rechtens („just“) gehalten wird – im Jugend- bis frühen Erwachsenenalter in einer bestimmten, bei allen Individuen gleichen, lückenlosen und
nicht umkehrbaren Abfolge von drei Niveaus vollzieht, die sich ihrerseits in je
zwei Stufen, insgesamt also sechs, unterteilen lassen. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht automatisch, sondern sie bedarf einer Anregung durch Erfahrungen von Konflikten und moralischen Diskursen mit Anderen. Hier müssen wir
uns auf die Angabe einiger charakterisierender Stichworte beschränken (nach
Kohlberg 1996: 126ff.).
I. „Präkonventionelles Niveau
1. Stufe der „heteronomen Moralität“: Regeln müssen eingehalten werden,
weil ihre Übertretung mit Strafe bedroht ist; Gehorsam ist Selbstwert; Personen
und Sachen soll kein Schaden zugefügt werden; Handlungen werden nur von
außen, nicht nach ihren Intentionen beurteilt; Perspektiven anderer werden nicht
berücksichtigt.
2. Stufe „Individualismus, Zielbewusstsein und Austausch“: Regeln sind zu
befolgen, wenn es jemandes Interessen bzw. Bedürfnissen dient; eigene Interessen befriedigen und andere dasselbe tun lassen; Einsicht, dass die Interessen
verschiedener Individuen in Konflikt stehen können; ein Austausch muss fair
sein.
II. „Konventionelles Niveau“
3. Stufe „Wechselseitige Erwartungen, Beziehungen und interpersonelle
Konformität“: den Erwartungen entsprechen, die andere (Nahestehende, Freunde
usw.) an mich als Träger einer bestimmten Rolle herantragen; ehrenwerte Absichten haben; sich um andere sorgen; Beziehungen pflegen; in den Augen der
anderen „ein guter Kerl“ sein.
4. Stufe „Soziales System und Gewissen“: Gesetze sind zu befolgen und
Pflichten zu erfüllen, weil und so weit sie im Dienste der jeweiligen Institution
bzw. der Gesellschaft stehen, um deren Funktionieren zu gewährleisten; Orientierung am System.
III. „Postkonventionelles Niveau“, prinzipiengeleitete Moral; steht über
faktischen Gesetzen, wenn diese dagegen verstoßen.
172
Jürgen Habermas
5. Stufe „sozialer Kontrakt und individuelle Rechte“: Bewusstsein, dass
Menschen unterschiedliche Meinungen und Werte vertreten, auf deren Verwirklichung sie ein Recht beanspruchen; ein Ausgleich erfordert einen Kontrakt, in
dem jeder als gleichberechtigter Partner anerkannt ist; daher ist das Rechtssystem selbst zu schützen.
6. Stufe der „universalen ethischen Prinzipien“: Orientierung an selbstbestimmten universalen ethischen Prinzipien, z.B. dem der Gleichheit und Würde
aller Menschen.
Von Kohlberg selbst wie auch in der ihn begleitenden kritischen Diskussion sind
die Beschreibungen und Abgrenzungen dieser Stufen immer wieder modifiziert
worden. Hinsichtlich der Annahmen über Universalität und Unumkehrbarkeit der
Sequenz hat die empirische Forschung zu gewissen Einschränkungen geführt.
Auch hat sich gezeigt, dass wirkliches Handeln von vielen weiteren Bedingungen abhängig ist und keineswegs konsequent nur dem moralischen Bewusstsein
folgt. Das tangiert jedoch nicht den hier interessierenden Gesichtspunkt, dass
sowohl in sozialphilosophischer (etwa im Sinne Habermas’) wie übrigens auch
in pädagogischer Hinsicht (etwa als Erziehungsziel) die höchste, postkonventionelle moralische Orientierung als ein empirisch zu realisierender normativer
Bezugspunkt angenommen werden kann.
Was nun den Begriff der Identität betrifft, so ist, ähnlich wie im oben erwähnten Zusammenhang der sozial-kognitiven Entwicklung, in jedem Verständnis von Moral – also auch im Fall jeder der hier genannten Stufen – immer schon
ein bestimmter Begriff sowohl von Anderen als auch von mir selbst als sozial
Handelndem enthalten, einfach deshalb, weil es auch beim scheinbar abstrakten
Thema „Moral“ letztlich immer auch um die Frage geht, wie ich mich gegenüber
Anderen verhalten soll. Jede Vorstellung von Moral enthält also zumindest implizit einen entsprechend charakteristischen Begriff von meiner Identität als
soziales und moralisches Wesen, zum Beispiel auf der dritten Stufe als „guter
Kumpel“ oder auf der vierten Stufe als „einer, der sich für das Ganze verantwortlich fühlt“. Kohlberg selbst weist darauf hin, dass die drei Niveaus als drei unterschiedliche Typen von Beziehungen zwischen dem Selbst und den gesellschaftlichen Regeln und Erwartungen verstanden werden können (ebd.: 127), damit also
den Begriff von diesem Selbst mit bestimmen. Diese Beziehung könnte übrigens
auch umgekehrt gelesen werden in dem Sinne, dass unsere Identität bestimmt,
nach welcher Moral wir uns verhalten (etwa nach dem Motto: Sage mir, als wen
du dich siehst, und ich weiß, was man von dir erwarten kann).
Ist auf dem zweiten Niveau die Identität noch durch Rollen bestimmt, so
verwandeln sich auf dem dritten, postkonventionellen Niveau die Rollenträger
„in Personen, die ihre Identität unabhängig von konkreten Rollen und besonde173
Dieter Geulen
ren Normensystemen behaupten können“ (Habermas 1974b: 80). Der Jugendliche, der an diesem Übergang steht,
„rechnet damit, dass sich traditionell eingewöhnte Lebensformen als bloße Konventionen, als
unvernünftig erweisen können. Darum muß er sein Ich hinter die Linien aller besonderen Rollen und Normen zurücknehmen und einzig über die abstrakte Fähigkeit stabilisieren, sich in beliebigen Situationen als jemand glaubwürdig darzustellen, der auch angesichts unvereinbarer
Rollenerwartungen und im Durchgang durch eine Folge widersprüchlicher Lebensabschnitte
den Forderungen nach Konsistenz genügen kann. Die Rollenidentität wird durch Ich-Identität
abgelöst; die Akteure begegnen sich, sozusagen durch ihren objektiven Lebenszusammenhang
hindurch, als Individuen“ (ebd.).
Überblickt man die Entwicklung des moralischen Bewusstseins bzw. der entsprechenden Identitätsvorstellungen als ganze, so ist zu sehen, dass es sich um
einen Prozess zunehmender Abstraktion und auch Reflexivität handelt (vgl. ebd.:
79f.): die Orientierung am eigenen Leib auf dem ersten Niveau wird auf dem
zweiten Niveau abgelöst durch den Bezugspunkt einer allgemeineren und anonymen sozialen Rolle, die auch ein anderer einnehmen könnte, schließlich wird
die Orientierung an Prinzipien erreicht, die über alle möglichen Rollennormen
hinausgehen. Und es wird möglich, die jeweils überwundenen Entwicklungsstufen in ihrer Relativität zu objektivieren und zu kritisieren: leibgebundene Impulse müssen angesichts von Rollenanforderungen diszipliniert werden, später erkennen wir, dass Rollenanforderungen bzw. Normen und Institutionen unserer
Gesellschaft im Lichte allgemeinerer ethischer Prinzipien kritisiert werden können.
Das genuine Feld einer Diskussion des Moralproblems ist weniger die Theorie der Identität als die Theorie sozialen bzw. kommunikativen Handelns, Habermas’ zentrales Projekt (s.o.). Durch die Verknüpfung mit der Kohlberg’schen
Moraltheorie wird die zunächst scheinbar nur deskriptive Theorie des kommunikativen Handelns weiterentwickelt zu einer Diskursethik. Habermas versucht
zunächst (ebd.: 84f.), seine Idee einer Diskursethik im Rahmen der Kohlberg’schen Stufentheorie zu etablieren, und zwar als eine hinzuzufügende siebte
Stufe, bei der die Rechtfertigung von Normen nicht mehr der Verallgemeinerungsfähigkeit durch das einzelne Subjekt überlassen bleibt (wie in der Kantischen Ethik des kategorischen Imperativs), sondern durch „das gemeinschaftlich
befolgte Verfahren der diskursiven Einlösung von normativen Geltungsansprüchen“ zustande kommt (ebd.: 85; Habermas 1983: 73ff.). Auf die philosophische
Problematik dieses Vorschlages (z.B. kann es unter gewissen Umständen eine
seriöse ethische Option sein, den „Diskurs“ zu verweigern) wie auch auf die
Frage der empirischen Relevanz kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen
werden. Denn wenn, wie bereits Kohlberg feststellte, schon die sechste Stufe nur
von ganz wenige Individuen erreicht wird, fragt man sich, ob das Postulat einer
174
Jürgen Habermas
siebten Stufe nicht völlig utopisch wäre; dies aber widerspricht (glücklicherweise) der Alltagserfahrung.
Doch scheint dieser Vorschlag auch gar nicht notwendig zu sein, enthalten
doch schon Habermas’ frühere Formulierungen seiner Theorie des kommunikativen Handelns implizit alle hier ethisch relevanten Annahmen, nämlich Gleichberechtigung für alle Teilnehmer, die Offenheit für alle herrschaftsbezogenen
Themen, die Verständigungsorientierung und vor allem das in den oben genannten „Geltungsansprüchen“ (s.o. 3) implizierte Postulat, in den Anderen Subjekte
wie meinesgleichen zu sehen. Habermas selbst merkt an, dass „in den Strukturen
verständigungsorientierten Handelns jene Reziprozitäten und Anerkennungsverhältnisse immer schon vorausgesetzt sind, um die alle moralischen Ideen kreisen
– im Alltag wie in den philosophischen Ethiken“ (Habermas 1983: 141). Den
Zusammenhängen zwischen seiner Theorie des Diskurses und der Tradition der
philosophischen Ethik bis in die Gegenwart ist Habermas in zwei eigenen Aufsätzen (ebd.: Kap.3, 4) weiter nachgegangen, in denen auch die Bezüge zu anderen Autoren, insbesondere zu K.-O. Apel (vgl. ebd.: 53ff. und die Widmung des
Bandes), ausführlicher erörtert werden.
Eine solche Diskursethik funktioniert praktisch nicht mehr als individuelle,
sondern nur als von allen geteilte Ethik, sonst käme ja kein Diskurs zustande. So
kommt Habermas zu einem gegenüber vormodernen, auch nationalistischen
Formen neuen Begriff von kollektiver Identität als idealer Kommunikationsgemeinschaft. „Die kollektive Identität ist heute nur noch in reflexiver Gestalt
denkbar, nämlich so, dass sie im Bewußtsein allgemeiner und gleicher Chancen
der Teilnahme an solchen Kommunikationsprozessen begründet ist, in denen
Identitätsbildung als kontinuierlicher Lernprozeß stattfindet“ (Habermas 1974:
116).
5
Kritik
Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns bzw. des Diskurses kann als
ein groß angelegter, auf alle möglichen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Quellen gestützter, letztlich normativ orientierter Versuch angesehen
werden, zu zeigen, dass und wie eine Theorie moderner Gegenwartsgesellschaften mit der Tatsache und den Ansprüchen der von ihnen hervorgebrachten aufgeklärt-reflektierten Individuen vereinbar ist. Die Vermittlung wird von Habermas in der Kategorie des sprachlichen Diskurses gedacht. Damit holt er ein Problem wieder ein, das in neueren Versuchen zu einer Theorie der Gesellschaft (so
insbesondere bei Parsons und Luhmann), die diese nur noch als verselbständigtes
„System“ begreifen und in deren Begrifflichkeit die Subjekte gar nicht mehr
175
Dieter Geulen
vorkommen, eliminiert worden war. Der Begriff der Identität dient Habermas als
wesentlicher Baustein zur Konzeptualisierung der subjektiven Ebene, und wir
sahen, wie fruchtbar dieser Begriff zur Beschreibung relevanter Phänomene
verwendet werden kann.
Die Art und Weise, wie Habermas diesen Begriff verwendet, offenbart jedoch auch einige Probleme, die in diesem Begriff selbst angelegt sind und entsprechend auch bei anderen Autoren zu diskutieren wären. Zunächst fällt auf,
dass Habermas in den verschiedenen Entwicklungsstadien seines Werkes dem
Begriff unterschiedliche Bedeutungen zuspricht, z.B. als Ergebnis einer autobiographischen Selbstreflexion, als subjektive „Synthese“ disparater Gegebenheiten
(in einem auf Kant anspielenden Sinne), als sprachliches Phänomen, als „Selbstbild“, als Art und Weise, wie ein Individuum sich gegenüber anderen darstellt,
als Substrat der moralischen Orientierung usw., von der klassischen Definition in
der Logik noch ganz abgesehen. Man kann diese Aussagen noch nicht als gesicherte, sondern nur als mehr oder weniger plausible Hypothesen ansehen. Aus
erfahrungswissenschaftlich-analytischer, aber auch aus philosophischer Sicht
handelt es sich hier zunächst einmal um zu unterscheidende Phänomene, die
vielleicht auf eine noch empirisch zu erforschende Weise miteinander zusammenhängen, vielleicht aber auch nicht. Durch die vielfältigen Bestimmungen
wird der Begriff der Identität mit Bedeutungen überfrachtet und ungenau, und
das liegt wohl daran, dass Habermas diesem eigentlich engen Begriff alles zuschreibt, was ihm auf der subjektiven Ebene bedeutsam erscheint.
Hinzu kommt, dass die Verwendung des Substantivs „die Identität“ für eine
Fülle durchaus disparater subjektiver Phänomene einem reifizierenden Missverständnis Vorschub leistet, der Annahme nämlich, dass „die Identität“ ein realer
Gegenstand sei, irgendein Ding in unserem Kopfe, das wir zwar „besitzen“, doch
nur noch nicht so richtig erkannt haben. Tatsächlich ist ein solcher Begriff jedoch, wie uns neuere Wissenschaftstheorien lehren, nur eine in gewissem Maße
willkürliche Konstruktion, um bestimmte interessierende Phänomene zusammenzufassen und kommunikativ handhabbar zu machen; diese Phänomene könnten jedoch auch in ganz anderen Kontexten und entsprechend anders konzeptualisiert werden (Grundsätzliches zu dieser Problematik bei Ryle 1969).
Eine weitere Frage ist, ob es denn tatsächlich zutrifft, dass wir uns in Bezug
auf unser bisheriges Leben und in Bezug auf die verschiedenen sozialen Kontexte, in denen wir uns im Alltag bewegen, immer als etwas „Identisches“ wahrnehmen. Ebenso gut könnte man auch begründet behaupten, dass „ich“ je verschieden, also „ein anderer“ bin. Die Verwendung desselben Personalpronomens
wäre kein Beweis für „Identität“ im hier verstandenen Sinne, ebenso wenig wie
der Personalausweis oder der Platz in einer Kartei. Auch in der wissenschaftlichen Literatur mehren sich vielmehr die Hinweise darauf, dass das Konzept einer
176
Jürgen Habermas
fragmentierten oder sich wandelnden Identität dem gegenwärtigen Lebensgefühl
angemessener ist. Das wäre wiederum ein Hinweis darauf, dass das klassische
Identitätskonzept, wie es Habermas vertritt, an eine bestimmte historische, sagen
wir: die bürgerliche Verfassung unserer Gesellschaft mit ihren auf Dauer gestellten ökonomischen und rechtlichen Beziehungen gebunden ist. Eine solche Relativierung hätte Konsequenzen im Hinblick darauf, wie weit es auch heute noch –
oder vielleicht wieder – vertretbar ist, dieses Konzept mit einem normativen
Anspruch vorzutragen.
Primärliteratur
Habermas, Jürgen (1961): Reflexionen über den Begriff der politischen Beteiligung. In: Ders. et al.: Student und Politik. Neuwied: Luchterhand, S. 11-55.
Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied u.a.:
Luchterhand.
Habermas, Jürgen (1967): Zur Logik der Sozialwissenschaften. Sonderheft der
Philosophischen Rundschau. Tübingen: Mohr.
Habermas, Jürgen (1968a): Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a.M.: 1968.
Habermas, Jürgen (1968b): Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels
Jenenser „Philosophie des Geistes“. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als
„Ideologie“. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-47.
Habermas, Jürgen (1973): Kultur und Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1974a): Notizen zur Entwicklung der Interaktionskompetenz.
In: Ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M. 1984, S. 187-225.
Habermas, Jürgen (1974b): Moralentwicklung und Ich-Identität. In: Ders.: Zur
Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
1976, S. 63-91.
Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde.,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1984): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
177
Dieter Geulen
Sekundärliteratur
Belgrad, Jürgen (1992): Identität als Spiel. Eine Kritik des Identitätskonzepts
von Habermas. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Brunkhorst, Hauke (2006): Habermas. Leipzig: Reclam.
Geulen, Dieter (Hrsg.) (1982): Perspektivenübernahme und soziales Handeln.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Geulen, Dieter (2005): Subjektorientierte Sozialisationstheorie. Sozialisation als
Epigenese des Subjekts in Interaktion mit der gesellschaftlichen Umwelt.
Weinheim u.a.: Juventa.
Horster, Detlef (1999): Jürgen Habermas. Zur Einführung. Hamburg: Junius.
Kohlberg, Lawrence (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Pinzani, Alessandro (2007): Jürgen Habermas. München: Beck.
Ryle, Gilbert (1969): Der Begriff des Geistes. Stuttgart: Reclam (zuerst amerik.
1949).
178
Das Konzept der balancierenden Identität
von Lothar Krappmann
Hermann Veith
Einleitung
Tagtäglich begegnen wir Menschen in den unterschiedlichsten Situationen. Dabei unterstellen wir, ohne weiter darüber nachzudenken, dass die Anderen schon
wissen werden, wie man sich den jeweiligen Umständen entsprechend zu verhalten hat. Ganz beiläufig jedoch vergewissern wir uns dennoch, mit wem wir es
eigentlich zu tun haben. Kommt man schließlich miteinander persönlich ins
Gespräch, interessiert uns, wer die Anderen sind und was sie von uns wollen
könnten. Im gleichen Augenblick, in dem wir das tun, geben wir ihnen mit unserer Körperhaltung und Sprache die Gelegenheit ebenso zu erkunden, in welcher
Weise wir uns selbst am sozialen Geschehen zu beteiligen beabsichtigen. Ohne
dieses wechselseitige Sondieren und Interpretieren wären soziale Interaktionsprozesse nicht denkbar. Um an ihnen teilnehmen zu können, müssen wir in der
Lage sein, im Horizont vermeintlich geteilter kultureller Wissensbestände und
sozialer Normsysteme, unser eigenes Welt-, Rollen- und Selbstverständnis in
Beziehung zu setzen zu den Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnissen
wechselnder Gegenüber. Dass wir dieses können, ist die Wirkung von Sozialisation. Im Sozialisationsprozess entwickelt man in der Auseinandersetzung mit
und in Beziehungen zu Anderen vom ersten Lebenstag an, neben dem kulturellen
Sinnverständnis und den sozialen Bindungen, auch jene personalen Sprach- und
Handlungsfähigkeiten, die erforderlich sind, um in unterschiedlichen und sich
wandelnden Handlungsbezügen eine eigene Identität auszubilden, aufrechtzuerhalten und zu verändern.
Ausgehend von diesen sozialanthropologischen Überlegungen, die ansatzweise von George Herbert Mead in den 1920er Jahren formuliert wurden und
über den Symbolischen Interaktionismus in den späten 1950er Jahren Eingang in
die sozialwissenschaftliche Diskussion gefunden haben, hat Lothar Krappmann
Ende der Sechziger Jahre in einer grundlagentheoretisch anspruchsvollen Analyse die These begründet, dass die Teilnahme an sozialen Interaktionsprozessen
179
Hermann Veith
und die Aufnahme interpersoneller Beziehungen die Menschen beständig nötigt,
sich an den tatsächlichen oder zu erwartenden Reaktionen ihrer Mitmenschen auf
das eigene Verhalten zu orientieren. Unter Rückgriff auf frühere Erfahrungen
und unter Berücksichtigung der Anforderungen der aktuellen Handlungssituation
sind die Einzelnen immer wieder von Neuem gezwungen, sich mit konkurrierenden Situationsdeutungen, divergenten Rollenerwartungen und differenten Identitätsentwürfen auseinanderzusetzen, diese zu interpretieren und sich wechselseitig über mögliche Handlungsperspektiven zu verständigen. Ein zu „starres
Selbstbild“ würde hierbei die Kreativität der Akteure zu stark beeinträchtigen
und damit ihre Teilhabechancen an interpretationsbedürftigen Interaktionsprozessen verringern, was wiederum eine Destabilisierung sozialer Systeme zur
Folge hätte. Soziologisch betrachtet, bezeichnet Identität also kein unveränderliches Wesensmerkmal der Person, sondern ein dynamisch sich entwickelndes
subjektives Potenzial zum balancierenden Ausgleich der verschiedenen, an den
Einzelnen herangetragenen Vergesellschaftungs- und Individualisierungserwartungen.
Mit diesem interaktionistischen – im heutigen Verständnis durchaus auch
„sozial-konstruktivistischen“ – Ansatz, war es Krappmann möglich, die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung subjektiver Interpretationsleistungen, auf
der Höhe der damaligen internationalen Diskussion, plausibel zu begründen. Im
folgenden Beitrag wird versucht, den klassischen Gehalt der als Dissertationsschrift eingereichten und vor nunmehr 40 Jahren im Klett-Cotta Verlag erstmals
erschienenen Monografie über „Soziologische Dimensionen der Identität“ herauszuarbeiten, aber gleichzeitig auch deutlich zu machen, dass die bis heute
vielzitierten „Grundqualifikationen“ des interaktionistischen Rollenhandelns
dringend einer auf die „strukturellen Bedingungen der Teilhabe an Interaktionsprozessen“ in der Gegenwartsgesellschaft bezogenen Neuinterpretation bedürfen.
Dazu ist es erforderlich, zunächst das Ausgangsproblem und die damalige Diskussionslage in Erinnerung zu rufen (1), auf die sich Krappmann bezog und auf
die er mit dem Konzept der balancierenden Ich-Identität (2) und der Analyse der
damit verbundenen identitätsfördernden Fähigkeiten (3) eine neuartige, auch
bildungstheoretisch und pädagogisch folgenreiche Antwort gab. Seine diesbezüglichen Überlegungen wurden in den 1970er Jahren auch außerhalb der Soziologie wahrgenommen und breit rezipiert (4).
Lothar Krappmann (*1936) selbst war über 30 Jahre lang am Berliner MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung aktiv. Dort beschäftigte er sich zunächst
mit Fragen der sozialen Chancenungleichheit und der schichtspezifischen Sozialisation (Krappmann/Kreppner/Oevermann 1976). Ende der Siebziger Jahre
begann er dann zusammen mit Hans Oswald eine groß angelegte Studie zur Erforschung der sozialen Beziehungen und Interaktionspraktiken in der „Sozial180
Lothar Krappmann
welt“ von Schülern (Oswald/Krappmann 1995). Mitte der 1990er Jahre übernahm er den Vorsitz der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung des 10.
Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung, der seinerzeit für großen Wirbel sorgte, weil die darin vorgetragene Beobachtung, dass die Zahl der Kinder,
die in Deutschland unter Armutsbedingungen aufwachsen, beständig zunehme,
von der damaligen Familienministerin energisch bestritten wurde. Kurz nach
seiner Emeritierung wurde Krappmann, der weiterhin wissenschaftlich publiziert, in den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes gewählt, dem er bis heute
angehört. Sein „Identitätsbuch“ ist inzwischen in der 10. Auflage erschienen und
gehört zum Grundlehrbestand der sozialwissenschaftlichen Disziplinen.
1
Zur Mikroanalyse sozialer Interaktionsprozesse
Zum Verständnis der Krappmann’schen Argumentation ist es erforderlich, kurz
auf einige, damals die Zeit bestimmende gesellschaftspolitische Konstellationen
hinzuweisen. Im Schatten des sich zuspitzenden und nach dem Bau der Berliner
Mauer zementierten Ost-West-Konflikts formierte sich auch in der Bundesrepublik, und hier insbesondere in der jüngeren Generation, eine gesellschafts- und
traditionskritische Bewegung, die außerparlamentarisch für eine stärkere Verankerung von Bürgerrechten in der Demokratie eintrat. Empört über die mangelnde
Bereitschaft der Elterngeneration sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit überhaupt auseinanderzusetzen und provoziert durch die kleinbürgerliche, vom schnellen wirtschaftlichen Wohlstand gesättigte Spießigkeit mit Wohnzimmerschrank, Nierentisch und Sofakissen, ausgrenzendem Klatsch und Doppelmoral, geriet der biedermeierlich zur Schau gestellte Konformismus der großen und kleinen Leute in die Kritik. In den Augen der jüngeren Sozialwissenschaftler erschien vor diesem Hintergrund die Annahme, dass im Sozialisationsprozess die nachwachsende Generation die sozialen Rollen der Älteren einfach
„übernehmen“ würde, in jeder Hinsicht inakzeptabel. Die Autonomie des Einzelnen konnte sich unmöglich nur auf die Freiheit des Individuums zur Ausgestaltung internalisierter, konventionell definierter sozialer Verhaltenserwartungen
beschränken. Genau dieses aber war die Lehrauffassung, die über die amerikanische Soziologie importiert, die gesellschaftswissenschaftlichen Diskussionen in
Westdeutschland Ende der 1950er Jahre inspirierte. Die von Ralph Linton, Robert K. Merton und Talcott Parsons entwickelten rollentheoretischen Modelle
erschienen attraktiv, weil es mit ihrer Hilfe möglich wurde, unter Rückgriff auf
Max Weber und die europäische Vorkriegstradition, die Realität demokratischer
Industriegesellschaften mit einfachen, aber trennscharfen und systematisch miteinander verbundenen Begriffen zu analysieren. Sie erschienen aber zugleich
181
Hermann Veith
auch provokativ, weil sie den Prozess der Identitätsbildung auf einfaches Rollenlernen reduzierten und damit einem vermeintlich kruden Anpassungsdenken das
Wort redeten (Dahrendorf 1958; Wurzbacher 1963; Dreitzel 1968; Habermas
1968). Mit seiner Analyse der strukturellen Bedingungen „für die Teilnahme an
Interaktionsprozessen“ nahm Lothar Krappmann die wichtigsten Einwände, die
zwischenzeitlich in der amerikanischen Diskussion gegen die Rollentheorie vorgetragen wurden, auf und bereicherte die Debatte mit der These, dass die Fähigkeiten, die das Individuum in die Lage versetzen, den normativen Anforderungen
des sozialen Systems zu entsprechen, darin bestehen, diese zu interpretieren –
d.h. im praktischen Handeln die eigenen Auffassungen, Erwartungen und Bedürfnisse als Ausdruck individueller Identität zu präsentieren und sich zugleich
Stellung nehmend zu den Welt-, Rollen- und Selbstvorstellungen potenzieller
Handlungspartner zu verhalten. Was das alltagspraktisch bedeutet und welche
theoretischen Konsequenzen sich daraus ergeben, soll im Folgenden anhand
eines von Lothar Krappmann selbst geschilderten Beispiels illustriert (1.1), theoretisch erläutert (1.2) und vertiefend kommentiert (1.3) werden.
1.1 Wie lernt man jemanden kennen? – Rollenhandeln heute und damals
Stellen Sie sich zur Einstimmung zunächst einmal vor, Sie treffen heute auf einer
von Freunden veranstalteten Party einen ihnen noch unbekannten Menschen, der
augenblicklich Ihr Interesse weckt. Was würden Sie unternehmen, um diese
Person kennen zu lernen? Würden Sie aktiv nach einer Kontaktgelegenheit suchen oder abwarten, bis man sie einander vorstellt? Sehr wahrscheinlich ist, dass
Sie das Gefühl beschleicht, sie müssten selbst initiativ werden. Dabei spielt ihre
Geschlechtszugehörigkeit kaum eine Rolle. Das war nicht immer so. Folgt man
Lothar Krappmanns damaliger Schilderung einer solchen Szene, werden die
Unterschiede sofort sichtbar: Statt mit der uns heute geläufigen Redewendung,
„zwei Leute treffen sich auf einer Fete“, beginnt Krappmann seine Beschreibung
folgendermaßen: Ein „unternehmungslustiger Mann“ begegnet einem ihm noch
unbekannten „Mädchen“. Nach den ersten, noch sehr dezent und flüchtig ausgetauschten gegenseitigen Blicken kommen Freunde hinzu und machen die beiden
miteinander bekannt. Man begrüßt sich kurz und höflich und dann ergreift der
„Herr“ – wie es die Geschlechterrolle damals von ihm verlangte – die Initiative.
Er verwickelt die „Dame“ in ein unverfängliches Gespräch. Man redet über ganz
„allgemeine Themen, über die jeder etwas sagen kann. Dabei versucht er, herauszufinden, ‚wie sie ist‘, und auch sie bemüht sich, einen Eindruck von ihm zu
gewinnen.“ Während er noch dabei ist seine vermeintlichen Vorzüge ins beste
Licht zu rücken, stellt sich die Angesprochene intuitiv die Frage, was ihr Gegen182
Lothar Krappmann
über eigentlich von ihr will. Sie sondiert mit defensivem Augenaufschlag seine
„Absichten“ und erwägt, ob sie ihn ermuntern sollte, weiter zu machen oder ob
es vielleicht klüger wäre, ihn vorsichtig, aber entschieden in seine Schranken zu
weisen. All das geschieht innerhalb von nur wenigen Sekundenbruchteilen. Gesetzt den Fall die Fortsetzung der Unterhaltung erscheint ihr reizvoll, dann muss
sie ihrem Gegenüber entsprechende Signale senden. Der junge Mann wiederum,
der sich noch, während er Konversation betreibt, fragt, ob dieses „Mädchen“
tatsächlich die Anstrengung lohnt, muss, wenn er weitergehende „Absichten“
hat, im Verlauf des Abends herausfinden, ob sie bereit ist, sich mit ihm zu verabreden.
„Fordert er sie unvermittelt auf, am nächsten Wochenende allein mit ihm wegzufahren, riskiert
er eine Absage und den Abbruch der Beziehung überhaupt. Lädt er sie hingegen ein, sich einer
größeren Gruppe von Freunden und Bekannten anzuschließen, die jeden Samstagnachmittag
gemeinsam zum Schwimmen gehen, hat er größere Aussichten auf Erfolg“ (Krappmann 1969:
32f.).
Sollten Sie sich jetzt nach der Lektüre dieser Passage über die patriarchale Attitüde ärgern, die in der Rede vom „unternehmungslustigen Mann“ und vom „jungen Mädchen“ zum Ausdruck kommt, bedenken Sie, dass auch wir die Kinder
unserer Zeit sind. Es wäre also völlig voreilig, aus dieser heute historisch erscheinenden Schilderung Rückschlüsse auf die Qualität des Buches insgesamt zu
ziehen. Tatsächlich ging es Krappmann ausschließlich darum, anhand der Praktiken der Kontaktaufnahme und des Datings auf die Grundfertigkeiten hinzuweisen, die Handelnde benötigen, um überhaupt miteinander in Beziehung treten,
handeln und kommunizieren zu können. Was die Szene deutlich zum Ausdruck
bringt, ist die Tatsache, dass sich Menschen in Interaktionsprozessen als Personen über bestimmte soziale Rollen definieren und identifizieren – im dargestellten Fall zunächst über die Geschlechterrollen. Je verbindlicher dabei die gesellschaftlichen Rollenerwartungen sind, desto selbstverständlicher erscheint es den
handelnden Personen, dass ihre Gegenüber wissen, wie man sich zu verhalten
hat. In der geschilderten Partyszene orientieren sich die Beteiligten an den damals noch geltenden komplementären Geschlechterrollenordnungen. Das entbindet sie aber nicht – und hier setzt Krappmann ein – von der Notwendigkeit, die
mit ihren Rollen verbundenen Situationsdefinitionen und wechselseitigen Erwartungshaltungen, dem Interaktionsverlauf entsprechend, beständig neu zu interpretieren. Von den Einzelnen wird also verlangt, dass sie für sich erkennen, was
die Handlungssituation von ihnen erfordert. Gleichzeitig müssen sie dem jeweiligen Gegenüber zu verstehen geben, wie sie selbst die Lage wahrnehmen und
die Perspektiven für den weiteren Handlungsverlauf einschätzen.
183
Hermann Veith
Das klingt zunächst so banal, dass man die Pointe dieser Analyse allzu
leicht übersieht. Denn ganz intuitiv wissen wir, dass die Erwartungen die Menschen aneinander herantragen, sehr unterschiedlich sein können und eine vermeintlich gleiche Handlungssituation von den Beteiligten vollständig anders
interpretiert werden kann. Insofern ist es also vollkommen „normal“, dass sich
die Handelnden in der sozialen Interaktionspraxis wechselseitig vergewissern,
mit wem sie es zu tun haben und welche Erwartungen und Situationsdeutungen
dabei relevant sind. Weniger „normal“ hingegen erscheinen Interaktionszusammenhänge, in denen die Vorstellungen der Handlungspartner „vollständig übereinstimmen“ beziehungsweise „überhaupt keine Gemeinsamkeit aufweisen“
(ebd.: 33). Im ersten Fall gingen die Personen unterschiedslos in ihren sozialen
Rollen auf; im zweiten hingegen würden sich die Einzelnen, unfähig zu Kooperation und Kommunikation, in ihren Individualrollen wie in voneinander abgeschotteten Parallelwelten bewegen. Der Zugang zur Subjektivität des Anderen
bliebe verschlossen.
Aus dieser Beobachtung zog Krappmann den Schluss, dass die symbolischen und normativen Ordnungen, an denen sich Handelnde orientieren, die
Handlungssituation und die Einstellungen der Akteure nicht determinieren, sondern nur vorstrukturieren. Die Individuen haben also nicht nur die Chance, Situationsdefinitionen und Rollenerwartungen für sich und wechselseitig zu interpretieren, vielmehr werden sie durch die im Interaktionsprozess selbst zu Tage tretenden Unklarheiten, Divergenzen und Widersprüche geradezu genötigt, einander ihre Identität zu präsentieren und ihr eigenes Welt-, Rollen- und Selbstverständnis auf eine praktische Bewährungsprobe zu stellen. Dieses wechselseitige,
die eigene Identität exponierende Interpretieren von Rollenerwartungen ist auch
deshalb notwendig, weil es Gesellschaften in der Regel nicht gelingt, alle systemrelevanten Rollen „durch eindeutige und untereinander konsistente Anweisungen zu erfassen“ (ebd.: 126) und zu integrieren.
1.2 Rollenhandeln als praktischer Vollzug sozialer Verhaltensvorschriften
Mitte der Fünfziger Jahre herrschte in der amerikanischen Soziologie die von
Talcott Parsons vorgetragene Auffassung vor, dass in einer funktionierenden und
stabilen Gesellschaft die Ziele, die die Akteure verfolgen, in Übereinstimmung
mit den anerkannten kulturellen Werten an institutionalisierte, wechselseitig
miteinander verflochtene soziale Positionen gekoppelt sind, aus denen sich die
Rechte und Pflichten der Handelnden in unterschiedlichen Sozialsystemen und
wechselnden Handlungskontexten ergeben (Parsons 1951). Die Einzelnen wissen, weil sie es im Sozialisationsprozess unter der integrierenden Kontrolle von
184
Lothar Krappmann
Bezugspersonen und Bezugsgruppen gelernt haben, was „man“ in welchen Situationen gegenseitig voneinander erwarten darf und verhalten sich dementsprechend normkonform. Dadurch wiederum wird der Fortgang von Interaktionen
gesichert und die Stabilität sozialer Beziehungen und Systeme gewährleistet.
Maßgeblich dafür sind die sozialen Rollen, die die Einzelnen im biografischen
Entwicklungsprozess „übernehmen“ und die sie in Übereinstimmung mit den
daran angeknüpften Rollenerwartungen mit zunehmendem Internalisierungsgrad
auch aus eigenem Antrieb ausgestalten. Allerdings sind die Möglichkeiten zur
Ausgestaltung des Rollenhandelns in der beschriebenen Lesart der strukturfunktionalistischen Theorie sehr eng, denn die Variationsmöglichkeiten liegen stets
nur innerhalb eines gesellschaftlich abgesteckten konventionellen Rahmens.
Ausgehend von diesen Prämissen, lassen sich die Bedingungen für erfolgreiches
Rollenhandeln in der Theorie folgendermaßen konkretisieren:
1.
2.
3.
4.
Die dem Handeln einer Person zugrundeliegenden internalisierten Motive, Gefühle, Werthaltungen und Überzeugungen müssen mit den geltenden gesellschaftlichen Wertorientierungen, Bewertungsstandards, Normen und Vorstellungsweisen übereinstimmen.
Die normativen Rechte und Pflichten, die eine Person mit einer bestimmten Rolle übernimmt, müssen miteinander kompatibel sein und mit den übrigen Rollen dieser Person
harmonieren.
Das Situations- und Rollenverständnis von Interaktionspartnern muss sich decken. Um
gemeinsames Handeln zu gewährleisten, ist es erforderlich, dass jeder in der Lage ist,
auch die Rolle des Anderen zu übernehmen. Dies setzt voraus, dass jeder weiß, was in
welcher Rolle zu tun oder zu unterlassen ist.
Die Erwartungen der Handelnden müssen sich komplementär ergänzen und zudem jedem
die Chance zur individuellen Bedürfnisbefriedigung eröffnen, ansonsten wäre der Fortgang der sozialen Interaktion stark gefährdet.
Bezogen auf die von Krappmann beschriebene Partysituation lassen sich diese
rollentheoretischen Axiome wie folgt konkretisieren:
1.
2.
3.
4.
Die subjektiven Absichten der beiden jungen Leute entsprechen den gesellschaftlichen
Wertvorstellungen der damaligen Zeit, d.h. Ihr Interesse am Kennenlernen kann oder
darf, ohne durch ein schlechtes Gewissen belastet zu werden, nicht weiter gehen als die
kulturelle Sexualmoral dies billigt.
Beide müssen sich sicher sein können, dass derjenige, der Avancen macht oder erwidert,
es auch tatsächlich ernst meint und nicht gleichzeitig schwadroniert oder gar Beziehungen zu anderen Partnern unterhält.
Die jungen Leute wissen, dass eine Party ein legitimer Ort für die Aufnahme weitergehender privater Kontakte ist, wobei die Frau damit rechnen kann, dass der in der komplementären Position sich befindende junge Mann die Initiative ergreift.
Beide müssen sich klar darüber sein, dass der Weg von der Kontaktaufnahme zur Beziehung nur in heterosexuellen Bahnen verlaufen kann und dabei keinesfalls einen OneNight-Stand zum Ziel haben darf. Damit die Fortsetzung ihrer Beziehung für beide
gleichwertige Befriedigungsqualitäten beinhaltet, sollte sie auch mit langfristig angelegten Eheperspektiven verbunden sein.
185
Hermann Veith
Tatsächlich erscheinen diese Bedingungen sozial verlässlichen Rollenhandelns,
und zwar nicht nur für uns heute, sondern auch schon für die damaligen Verhältnisse etwas überzogen, obgleich der soziale Konformitätszwang noch sehr stark
ausgeprägt war. Man denke hierbei nur an die in den fünfziger Jahren in amerikanischen Filmkomödien so populäre Figur des „notorischen Junggesellen“, der
zwar stets auf dem Sprung ist, die Herzen eroberungsbereiter und eifersuchtsschwangerer junger Frauen zu erobern, sich aber zuletzt doch in den Armen der
Auserwählten zum treuen Ehemann wandelt – zumindest gingen die Kinobesucher in dieser Illusion nach Hause. Wie eng der normative Rahmen war, lässt
sich auch an den Protagonisten und Symbolen der Avantgarde des kulturellen
Wandels erkennen. So konzertierten zum Beispiel die jungen Rock- und Beatmusiker, bevor sie in Jeans schlüpften und sich die Haare wachsen ließen, zu
Beginn der 1960er Jahre noch in Anzügen und Krawatten. Aber die Art und
Weise wie sie sich dabei ausdrückten, zeigte überdeutlich, dass sie mit den überkommenen Formen des „role-taking“ – also der Übernahme bürgerlicher Rollenmuster – gebrochen hatten und nach neuen Wegen einer kreativen, die Subjektivität der Person stärker prononcierenden Interpretation sozialer Rollen suchten.
1.3 Rollenhandeln als Interpretation von Verhaltenserwartungen
Vor diesem hier nur angedeuteten soziokulturellen Hintergrund geriet im Sog der
erstarkenden Bürgerrechtsbewegung und des politischen Umschwungs in den
USA auch das Konzept des normenkonformen Rollenhandelns massiv in die
Kritik. Ralph Turner (1962) gab, als einer der exponiertesten Vertreter der neuen
Schule des Symbolischen Interaktionismus, zu bedenken, dass Rollenhandeln
nicht lediglich als Übernahme und praktischer Vollzug sozialer Verhaltensvorschriften begriffen werden könne (role-taking), sondern von den Einzelnen immer auch ein aktives „role-making“ erfordern würde. Die von vielen Seiten vorgetragenen Einwände, die auch Lothar Krappmann aufgriff, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1.
186
Eine vollständige Internalisierung gesellschaftlicher Normen hätte zur Folge, dass eine
Person in der kontrafaktischen Überzeugung aus eigenem Willen zu handeln, ausschließlich in ihren sozialen Rollen aufginge. Solche Identifikationen sind aber alles andere als
die Regel. Tatsächlich sind Menschen sehr wohl in der Lage, zwischen ihren subjektiven
Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnissen auf der einen und gesellschaftlichen Situationsdefinitionen, Anforderungen und Interessen auf der anderen Seite deutlich zu unterscheiden. Darüber hinaus sind sie auch befähigt, sich von sozialen Rollenerwartungen,
die ihnen als Zumutungen erscheinen, zu distanzieren (Goffman 1959).
Lothar Krappmann
2.
3.
4.
In hochgradig differenzierten Gesellschaften sind die Erwartungen, die eine Person mit
einer bestimmten Rolle übernimmt, sozialsystem- und bezugsgruppentypisch spezifiziert
und teilweise ohne inneren Zusammenhang (Merton 1957). Deshalb erscheinen die Erwartungen, die an die Einzelnen in den unterschiedlichen Lebensbereichen herangetragen werden, in sich selbst vielschichtig und konflikthaltig (Dahrendorf 1958). Zwischen
den unterschiedlichen normativen Anforderungen gibt es Polyvalenzen, Unstimmigkeiten
und Widersprüche, die nicht im Sozialsystem ausgeglichen, sondern von den Einzelnen
psychisch ausbalanciert werden müssen (Krappmann 1969).
Soziales Handeln ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Interaktionspartner
aufeinander beziehbare Vorstellungen über die Situation und die dafür geltenden normativen Regeln haben. Das bedeutet aber nicht, dass sich das Rollenverständnis der beteiligten Akteure decken muss (Habermas 1968). Im Gegenteil: gerade die Unwägbarkeiten
einer normativ nur vorstrukturierten Handlungssituation fordern die Einzelnen beständig
dazu heraus, wechselseitig herauszufinden, „welche Erwartungen überhaupt bestehen,
worauf sie sich beziehen und welche als vorrangig betrachtet werden“ (Krappmann
1969: 117) müssen. „Role-taking“ ist zwar eine notwendige, aber für den Verlauf von Interaktionsprozessen keinesfalls hinreichende Bedingung. Tatsächlich verlangt jede Handlungssituation von den Akteuren kreative Interpretationsleistungen und wechselseitige
Aushandlungsprozesse (Turner 1962).
In modernen Marktgesellschaften gibt es ausgeprägte Strukturen sozialer Ungleichheit,
die sich in Form von unterschiedlichen Verteilungskonflikten manifestieren (Gouldner
1959). Die im strukturfunktionalistischen Modell des Rollenhandelns postulierte „Komplementarität der Erwartungen“ kann bei fehlender Reziprozität der Bedürfnisbefriedigung „nur unter Zwang“ (Habermas 1968: 8) gesichert werden. Und selbst dann, wenn
die gesellschaftlichen Chancen gegenseitiger Bedürfnisbefriedigung sehr hoch sind, ist
es dennoch „nicht wahrscheinlich“, dass sich dieser Zustand einstellt, weil die Bedürfnisse der Einzelnen höchst different sind (Krappmann 1969).
Unter „normalen“ Umständen – so lässt sich Krappmanns Quintessenz aus der
Kritik der rollentheoretischen Positionen zusammenfassen – ist jeder Akteur, der
eine soziale Rolle übernimmt, dazu gezwungen, sich der mit dieser Rolle verbundenen Verhaltenserwartungen interpretativ zu vergewissern. Erst die Interpretation der situations- und rollenbezogenen Erwartungen auf der Folie der
eigenen biografischen Vorerfahrungen, und unter Berücksichtigung anderweitiger sozialer Einbindungen und Beziehungsverhältnisse, ermöglicht es dem Einzelnen sich überhaupt an sozialen Interaktionen zu beteiligen und dabei eine
eigene Identität zu präsentieren, zu entwickeln, zu behaupten oder zu revidieren.
In diesem Sinn begreift Krappmann Identität gleichermaßen als Bedingung und
Produkt der Beteiligung des Individuums an sozialen Interaktionsprozessen.
2
Das Konzept der balancierenden Identität
Dadurch, dass die Praxis des Rollenhandelns den Akteuren beständig abverlangt,
in der Interpretation ihrer jeweiligen sozialen Rollen auch ihre individuelle Einzigartigkeit zum Ausdruck zu bringen, ist die persönliche Identität weder für den
187
Hermann Veith
Einzelnen „ein unverlierbarer Besitz, noch ist garantiert, dass sie von Handlungspartnern über die Abfolge von Ereignissen hinweg anerkannt wird“
(Krappmann 1994: 715). „Identität“ manifestiert und bewährt sich deshalb in
jeder Interaktion in der kreativen Interpretation von Rollenerwartungen (2.1).
Ich-Identität ist dabei die Form, in der sich eine Person als besonderes Individuum mit unverwechselbaren Merkmalen im sozialen Raum positioniert und
präsentiert (2.2). Verlangt wird von ihr dabei, dass sie zwischen ihren subjektiven Bedürfnissen, Erwartungen und Vorstellungen einerseits und den ohnehin
interpretationsbedürftigen gesellschaftlichen Interessenlagen, Rollenerwartungen
und Situationsdeutungen andererseits zu balancieren lernt (2.3).
2.1 Interaktion und Interpretation
Nach Krappmanns Auffassung sind die Menschen als soziale Wesen schon aus
anthropologischen Gründen auf Gesellschaft, Kooperation und Kommunikation
mit ihresgleichen angewiesen. Als zielgerichtet handelnde Personen orientieren
sie sich dabei an symbolisch strukturierten Sinnmustern, die ihre Wahrnehmung
der Sach- und Sozialwelt sowie ihre eigenen Selbstkonzepte bestimmen. Im
sozialen Interaktionsprozess werden diese Sinnmuster auf die Situation und die
gegenseitigen Verhaltenserwartungen der beteiligten Akteure bezogen. In modernen, arbeitsteilig differenzierten Gesellschaften mit ihren unterschiedlichen
sozialen Lebensbereichen können diese speziellen Verhaltenserwartungen jedoch
nicht mehr bruchlos aus allgemeinen Normen abgeleitet werden. Tatsächlich
operieren die verschiedenen Sozialsysteme nach ihren je eigenen Rationalitätskriterien, so dass im Alltagshandeln, in Abhängigkeit vom jeweiligen Bezugssystem oder der jeweiligen Bezugsgruppe, verschiedene Situationsdeutungen und
Rollenerwartungen miteinander konkurrieren und in Konflikt liegen. Wer sich
hier zurechtfinden will, muss in der Lage sein, seine eigenen Vorstellungen,
Erwartungen und Bedürfnisse seinen Handlungspartnern mitzuteilen und gleichzeitig deren Situationsverständnis und Erwartungshaltungen zu antizipieren.
Die Beteiligung an sozialen Interaktions- und Kommunikationsprozessen
setzt also – im Gegensatz zu den rollentheoretischen Grundannahmen – keinen,
durch Sozialisation vollständig gesicherten normativen Konsens voraus. Tatsächlich zwingen die „Unklarheiten, Unstimmigkeiten und Widersprüche“ (Krappmann 1997: 81), die in der Praxis des sozialen Handelns auftreten, die Akteure
dazu, die Spielräume, die mit den Rollen, in denen sie sich begegnen, verbunden
sind, auszuloten und zu interpretieren. Der Fortgang von Interaktionen hängt im
Weiteren dann davon ab, wie es den Handelnden gelingt, die wechselseitig mitgeteilten und wahrgenommenen Situationsdefinitionen, Rollenerwartungen und
188
Lothar Krappmann
Identitätsentwürfe in einen tragfähigen Arbeitskonsens zu überführen. Die individuellen Möglichkeiten zur Interpretation von Tatsachen, Normen und Erlebnissen auf der einen, subjektiven Überzeugungen, sozialen Rollen und biografischen Selbstentwürfen auf der anderen Seite sind aber stets gesellschaftlich limitiert. Liegen die diesbezüglichen Auffassungen der Einzelnen zu weit auseinander oder zu weit weg von den geltenden Normen, wird die Interaktion mit hoher
Wahrscheinlichkeit „abgebrochen, weil die Partner nicht mit einem befriedigenden Verlauf rechnen können“ (Krappmann 1969: 34). Bezogen auf die zuvor
beschriebene Partyszene bedeutet dieses, dass:
1.
2.
3.
4.
sich die beiden jungen Leute zu verstehen geben müssen, wie sie selbst ihre Rolle in der
Situation zu interpretieren gedenken. Sie werden also sehr wahrscheinlich versuchen in
Erfahrung zu bringen, in welchem Ausmaß die Normen der kulturellen Sexualmoral akzeptiert und verinnerlicht sind. Möglicherweise signalisieren sie sich, dass sie an einem
zunächst unverbindlich bleibenden, aber Intimität nicht ausschließenden Kontakt interessiert sind. Dementsprechend würden sie sich „locker“ geben.
sich beide klar machen müssen, das ein Annäherungsversuch in keinem Fall bedeutet,
dass die initiativ werdende Person zur Zeit ungebunden ist. Darum ist es wichtig, dass sie
im Gespräch erkunden, ob es bereits Andere gibt und wie viel Konflikt- und Stresspotenzial mit einer Konkurrenzsituation verbunden wäre.
beide zunächst einmal wechselseitig erkunden müssen, ob sich ihr Geschlechterrollenverständnis deckt. In den späten 1960er Jahren bedeutete dieses, in Erfahrung zu bringen,
in welchem Umfang jemand noch im traditionellen Geschlechterrollenverständnis verhaftet ist oder bereits Emanzipationsambitionen hat.
beide sich bei einer Intensivierung ihrer Beziehungen darüber Gedanken machen müssen, einerseits in welcher sozialen Form dieses geschehen kann und andererseits, wie sie
sicherstellen, dass für beide die gleichen Befriedigungsqualitäten eintreten. Bei beginnenden Partnerschaften muss also auch geklärt werden, wie die Verantwortlichkeiten bei
der Verhütung aufgeteilt werden.
Diese neuen, im strukturfunktionalistischen Modell des Rollenhandelns so nicht
vorgesehenen Erkundungs-, Interpretations- und Aushandlungsprozesse setzen
jedoch noch immer voraus, dass sich die Handelnden auf einen zwar im Hintergrund bleibenden, aber zumindest noch immer verlässlichen Vorrat an lebensweltlichen Deutungsmustern stützen können.
2.2 Ich-Identität
Erwachsene Menschen unterhalten verschiedene Beziehungen und agieren in
verschiedenen Sozialsystemen, Gruppen und Rollen. Die Formen, in denen sie
sich dabei in Interaktionsprozesse einbringen, sind situations- und erfahrungsabhängig. Grundsätzlich werden die Einzelnen in jeder sozialen Interaktionssituation mit Erwartungen konfrontiert, die sich sowohl auf Merkmale ihrer Rolle als
189
Hermann Veith
auch auf Kennzeichen ihrer individuellen Persönlichkeit beziehen. In Anlehnung
an Erving Goffman (1959) spricht Krappmann in diesem Zusammenhang von
„sozialer“ und „persönlicher“ Identität. Mit Blick auf die „soziale Identität“
erwarten Interaktionspartner voneinander, dass man sich in seinem Verhalten
und Handeln an vorgegebenen Rollenerwartungen orientiert. Hinsichtlich der
„persönlichen Identität“ hingegen wird gefordert, dass jeder sich als einzigartiges
Individuum mit erkennbar unterscheidbarer Biographie darstellt. Da diese Erwartungen nicht nur auf die Anderen bezogen sind, sondern die eigene Person mit
einschließen, ist es nicht möglich, die individuelle Identität losgelöst von Kultur
und Gesellschaft zu interpretieren. Das „Ich“ kann sich seiner selbst nur auf der
Grundlage der Antizipation sozialer Verhaltenserwartungen und der konkreten
Reaktionen auf sein geäußertes Verhalten vergewissern. Insofern ist die dabei
entstehende „Ich-Identität“ kein fester Besitz der Person, sondern die subjektive
Form unter der sich die Einzelnen in konkreten Handlungssituationen wechselseitig wahrnehmen und ihre Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnisse zueinander in Beziehung setzen.
Für Krappmann von besonderem Interesse ist dabei die Frage, wie erwachsene Personen mit Anforderungen, die mit ihrer sozialen Rolle und ihren unterschiedlichen Interaktionsbeteiligungen verknüpft sind, umgehen und diese in der
konkreten Handlungspraxis so in ihr Verhalten integrieren, dass sie als einzigartige Individuen mit je individuellen Lebensgeschichten wahrgenommen und anerkannt werden können. Denn um ihre Interaktionsbeteiligungen nicht zu gefährden, dürfen die Einzelnen weder den rollenbezogenen Normalitätsansprüchen noch den personenbezogenen Individualisierungserwartungen vollständig
nachgeben. Im ersten Fall würde es den Einzelnen nicht gelingen ihre IchIdentität außerhalb ihrer sozialen Rollen zu entfalten; im zweiten Fall hingegen
würden die individuellen Identitätsentwürfe außerhalb der Reichweite der gesellschaftlich anerkannten Variationen liegen. Die Ich-Identität wäre aber ebenfalls
bedroht, wenn Interaktionsteilnehmer die Übernahme sozialer Rollen verweigern
würden oder aber die Erwartung, etwas Persönliches in die Interaktion einzubringen, als Zumutung zurückwiesen bzw. schlichtweg nicht erfüllen könnten.
2.3 Balancierende Identität
Diese von den Einzelnen in der Interaktionspraxis zu erbringenden Erkundungs-,
Interpretations-, Integrations- und Präsentationsleistungen werden mit dem Grad
der internen Differenzierung von Gesellschaftssystemen zunehmend anspruchsvoller. Denn mit steigender System- und Symbolkomplexität nimmt der allgemeine Informationsbedarf zu, während der wechselseitige Interpretationsauf190
Lothar Krappmann
wand wächst und die individuellen Anspruchshaltungen vielgestaltiger werden.
Gleiches gilt auch für die biografischen Entwicklungsverläufe, die sich mit den
strukturellen Veränderungen im Sozialsystem diversifizieren. Beide Tendenzen
zusammen haben zur Folge, dass der Verlauf von Interaktionen unklarer, offener
und subjektabhängiger wird. Die Handelnden sehen sich somit gezwungen, in
ihrer Handlungspraxis selbst in Erfahrung zu bringen, was im Interaktionsprozess als verbindlich akzeptierbare Situationsdefinition, Rollenerwartung und
Handlungsorientierung gelten kann. Dies geschieht, indem sie sich in die Rolle
ihrer Gegenüber und der Gesellschaft versetzen, um zu antizipieren, was die
Situation von ihnen als Interaktionsteilnehmer verlangt (soziale Identität).
Zugleich müssen sie erkunden, welche Möglichkeiten ihnen offen stehen, um
ihre individuelle, durch ihre Biographie verbürgte Einzigartigkeit zum Ausdruck
zu bringen (persönliche Identität). Angesichts dieser in der Struktur sozialer
Interaktionen selbst begründet liegenden Interpretationsanforderungen müssen
die Akteure lernen, die sozialen und personalen Fremd- und Selbstzuschreibungen so auszubalancieren, dass sie eine anerkennungsfähige Ich-Identität ausbilden, behaupten und weiterentwickeln können. Im Einzelnen geht es darum:
1.
2.
3.
4.
eine Autonomie gewährleistende Balance zu finden zwischen den wahrgenommenen sozialen Normen und den im Sozialisationsprozess verinnerlichten, moralisch stabilisierten
Rollenerwartungen, die nicht nur verpflichtende Verhaltensanweisungen beinhalten,
sondern dem Einzelnen die Möglichkeit zur Reflexion eröffnen.
eine Individualität erzeugende Balance herzustellen zwischen den sozialen Anforderungen, mit denen sich eine Person in einer Handlungssituation konfrontiert sieht und ihren
anderweitigen sozialen Beteiligungen, mit denen Erwartungen verbunden sind, die in ihrer Gesamtheit deutlich über das hinausgehen, was in der konkreten Interaktion verlangt
wird. Nur indem die Einzelnen diese für sie typischen Mehrbeteiligungen in den je aktuellen Interaktionsprozess einfließen lassen, gewinnen sie für die Anderen persönlich unterscheidbare Konturen.
eine die Einzigartigkeit der Person zum Ausdruck bringende Balance zwischen den individuellen Ambitionen zur Selbstdarstellung und den anerkennenden Reaktionen der Anderen, von denen es abhängt, ob die Identitätspräsentation auf Zustimmung oder Ablehnung stößt.
eine die Kontinuität des persönlichen Erlebniszusammenhangs gewährleistende Balance
zu halten zwischen der eigenen biografischen Lebensgeschichte, die beständig neu zu interpretieren ist und den auf den institutionalisierten Lebenslauf bezogenen sozialen Erwartungen und Anforderungsstrukturen.
Kennzeichen einer gelungenen Identitätsbildung ist eine ausgewogene Verknüpfung der
„sozialen Beteiligungen des Individuums aus der Perspektive der gegenwärtigen Handlungssituation zu einer Biographie, die einen Zusammenhang, wenngleich nicht notwendigerweise eine konsistente Abfolge zwischen den Ereignissen im Leben des Betreffenden herstellt“
(Krappmann 1969: 9).
191
Hermann Veith
Zur Herstellung dieser Balance zwischen sozialen und personalen Identitätsanforderungen benötigen die Einzelnen besondere Fähigkeiten, die im Folgenden –
auch in der Absicht, Krappmanns Ansatz zu aktualisieren – etwas genauer betrachtet werden.
3
Identitätsfördernde Fähigkeiten
Die Teilnahme an interpretations- und aushandlungsbedürftigen Interaktionsprozessen setzt voraus, dass die Einzelnen in der Lage sind, ihre Vorstellungen,
Erwartungen und Bedürfnisse in ihrer sozialen Rolleninterpretation anerkennungsfähig, und ohne die Balance ihrer Ich-Identität zu gefährden, wechselseitig
zur Geltung zu bringen. Das damit verbundene Problem, ihre je individuellen
Situationsdefinitionen und Rollenerwartungen aufeinander abstimmen zu müssen, lösen die Handelnden dadurch, dass sie auf ihre im Sozialisationsprozess
erworbenen lebensweltlichen Wissensvorräte und Deutungsmuster zurückgreifen
und versuchen einen tragfähigen Arbeitskonsens herzustellen. Diese Fähigkeiten
sind grundlegend. In global verfassten, ökonomisch und multimedial vernetzen
Gesellschaften mit hohem Individualisierungspotenzial und starker ethnischer
und kultureller Pluralisierung reichen die von Krappmann beschriebenen identitätsfördernden Grundqualifikationen des interaktionistischen Rollenhandelns
heutzutage jedoch nicht mehr hin, um den systemischen Abstimmungs-, sozialen
Koordinierungs- und psychischen Integrationsbedarf zu decken. Denn noch bevor die Einzelnen damit beginnen können, ihre Situationsdefinitionen, Verhaltenserwartungen und Identitätsentwürfe abzugleichen, müssen sie sich darüber
informieren, auf welcher kulturellen Grundlage, mit welchen sozialen Optionen
und unter welchen biografischen Prämissen sie sich selbst und ihre Welt wahrnehmen.
Was es bedeutet, wenn die lebensweltlichen Verständigungsgrundlagen
immer diffuser und deshalb im Interaktionsprozess selbst zum Thema werden,
lässt sich anhand der eingangs beschriebenen Partyszene gut illustrieren. Für die
handelnden Personen ist es heutzutage wichtig:
1.
2.
3.
192
in Erfahrung zu bringen, welche Arten von Gelegenheiten sich ihnen überhaupt bei solchen Veranstaltungen bieten und ob diese den persönlichen Vorstellungen, Erwartungen
und Bedürfnissen entsprechen. Dazu ist es erforderlich, die Situationswahrnehmungen
der Anderen zu erkunden und sie mit den eigenen zu vergleichen.
sich klar zu machen, dass Kontaktaufnahmen grundsätzlich unverfänglich sind und niemand dem anderen über seine sonstigen sozialen Beteiligungen oder Beziehungen Rechenschaft schuldet.
sich gegenseitig darüber zu informieren, wer man ist, wie man die Welt im Allgemeinen
und die Situation im Besonderen sieht. Dazu gehört es auch, sich wechselseitig zu ver-
Lothar Krappmann
4.
stehen zu geben, wie man die Geschlechterrollen zu interpretieren gedenkt und welche
sexuellen Orientierungen man bevorzugt.
sich zu vergegenwärtigen, dass die wechselseitig unterstellte Unverbindlichkeit auch die
Aussichten auf Bedürfnisbefriedigung beeinflusst. Das Investment in einen One-NightStand erscheint dabei oft reizvoller als eine auf längere Fristen angelegte Strategie der
Beziehungsvorbereitung.
Wenn sich heute also die Handelnden selbst in einer durch das äußere PartySetting gerahmten Handlungssituation nicht mehr darauf verlassen können, dass
die Anderen annähernd ähnliche Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnisse
haben, besteht das im Interaktionsprozess von den Einzelnen zu lösende Problem
darin, sich wechselseitig das Hintergrundwissen zu beschaffen, das durch Sozialisation und Lebenswelt nicht mehr verlässlich gesichert wird. Insofern haben
sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Krappmann noch als unterstützende Bedingungen der Entwicklung einer balancierenden Ich-Identität begreifen
konnte, in den letzten vier Jahrzehnten doch erheblich gewandelt. Das heißt
nicht, dass die Kompetenz zum interpretierenden Rollenhandeln unbedeutend
geworden ist – im Gegenteil verlangen komplexere soziale Handlungsanforderungen noch weitergehende Handlungsfähigkeiten, denn zerfaserte kulturelle
Sinnsysteme und heterogene soziale Normen lassen den Individuen mehr als nur
Spielräume zur Interpretation und Ausgestaltung von sozialen Rollen offen.
Tatsächlich sehen sich die Einzelnen immer wieder gezwungen, in performativen
Praktiken ihren symbolischen Verständnishorizont selbst zu konstruieren, neue
soziale Gestaltungsmöglichkeiten zu entwickeln und die eigenen biografischen
Lebensziele beständig neu zu überdenken.
Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, das Spektrum der identitätsfördernden Handlungsfähigkeiten, die Krappmann als Rollendistanz, Empathie,
Ambiguitätstoleranz und Identitätspräsentation konkretisierte, kritisch zu überprüfen. Diese einfach nur als „Kompetenzen“ auszuweisen und unverändert in
die aktuellen kompetenztheoretischen Diskussionen einzuführen, wie es vielfach
schon geschehen ist, erscheint schlicht unzulässig. Im Folgenden soll deshalb der
Versuch unternommen werden, von den Krappmann’schen „Grundqualifikationen“ der rolleninterpretierenden Interaktion ausgehend, die Kompetenzen zu
beschreiben, die die Beteiligung an sozialen Interaktionen aus heutiger Sicht
erfordert.
Dazu gehören: auf der Grundlage der Fähigkeit zur Rollenübernahme, die
Kompetenz zur Ko-Konstruktion sozialer Perspektiven (3.1); in Erweiterung der
Fähigkeit zur Rollendistanz, die Kompetenz zur reflexiven Norminterpretation
(3.2); die Kompetenz zur emotionalen Empathie, die Krappmann noch mit der
Fähigkeit zum „role-taking“ gleichsetzte (3.3); die Kompetenz mit Kontingenzen
umzugehen, zu der es weiterhin auch gehört Frustrationen auszuhalten (3.4); die
193
Hermann Veith
Kompetenzen zum kommunikativen Handeln in unterschiedlichen Situationen
(3.5) sowie die Fähigkeit zur performativen Identitätsdarstellung (3.6).
3.1 Von der Rollenübernahme zur Ko-Konstruktion sozialer Perspektiven
Von jeder Person, die sich an sozialen Interaktionsprozessen beteiligen will, wird
verlangt, dass sie in der Lage ist, sich ein Bild von der Situation zu machen und
die Erwartungshaltungen und Bedürfnisse der jeweiligen Gegenüber zu antizipieren. Diese komplexe Verstehensleistung, die in Anlehnung an George Herbert
Mead als „Rollenübernahme“ bezeichnet wird, erfolgt „dadurch, dass ein Interaktionspartner sich an die Stelle seines Gegenübers versetzt und die Situation aus
dessen Perspektive betrachtet. Auch sich selbst sieht er folglich dann mit den
Augen und aus dem Blickfeld des anderen“ (Krappmann 1969: 39). Wie Krappmann später selbst an anderer Stelle betonte, muss die Annahme, dass soziale
Rollen und die damit verknüpften Perspektiven in der starken Version „übernommen“, in der schwächeren Lesart „interpretiert“ werden, heute unter konstruktivistischen Vorzeichen revidiert werden (Krappmann/Oswald 1994). Die
lebensweltlichen Sinnvorräte stehen den Akteuren in erster Linie als Ressourcen
zur praktischen Verständigung über die Rahmenbedingungen ihres Handelns zur
Verfügung. Folglich spielen bei der kommunikativen Herstellung einer gemeinsamen Situationsdefinition die individuellen Vorerfahrungen und die subjektiven
Erlebnisweisen eine maßgebliche Rolle. Gleichzeitig geht es in der sozialen
Interaktionspraxis darum, die individuellen Deutungsschemata, Rollenerwartungen und Bedürfnishaltungen aufeinander abzustimmen. Für diese Form der kokonstruierenden Passung wäre Interpretieren als strukturierende Tätigkeit zu
wenig. Tatsächlich müssen die am Interaktionsprozess Beteiligten das Bezugssystem, in dem sie handeln zugleich entwickeln und zur praktischen Überprüfung frei geben, indem sie ihre individuellen Haltungen zur Diskussion stellen.
Die damit verbundene Kompetenz, über die sozialen Perspektiven der Interaktionspartner hinaus, kulturelle Sinngebungen und gesellschaftliche Normen zu
erschließen, ist aufgrund der Unvorhersehbarkeit von Interaktionsverläufen geradezu auf Gelegenheiten zur wechselseitigen Stellungnahme, Begründung und
Prüfung der vorgetragenen Sichtweisen angewiesen.
194
Lothar Krappmann
3.2 Von der Rollendistanz zur reflexiven Normbegründung
In Gesellschaften, in denen die Einzelnen mit sehr unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden oder sich teilweise widersprechenden Rollenerwartungen
konfrontiert werden, muss das „Ich“ bei seinen Bemühungen eine tragfähige
Balance zwischen sozialen Konformitätsansprüchen und individuellen Selbstverwirklichungsambitionen zu finden, hinreichend „interpretatorische Kraft“
entwickeln, um nicht völlig hinter seinen Rollen zu verschwinden oder sich in
einem exaltierten Individualismus zu verlieren. Es muss, wie Krappmann in
Anlehnung an Goffman hervorhebt, die Fähigkeit erwerben, eine innere Distanz
gegenüber seinen Rollen zu markieren. Wenn die Einzelnen heute aber soziale
Rollen nicht einfach nur übernehmen oder interpretieren, sondern sie kreativ
weiterentwickeln und dabei auch die Normen, von denen sie ihre Beteiligung an
sozialen Interaktionsprozessen abhängig machen, in Frage stellen und verändern,
dann reicht die Fähigkeit zur Rollendistanz nicht mehr aus, um die entsprechende Reflexions- und Gestaltungskompetenz zu beschreiben. Tatsächlich geht es
darum, dass die Akteure befähigt sind, auf der Grundlage internalisierter Normen, ihr Handeln auch in Bezug auf dessen praktische Folgen zu begründen,
wobei das strategische Kalkül, dem sie dabei folgen, gerade in Bezug auf die
Berücksichtigung der Interessen anderer, erhebliche ethische Fragen aufwirft.
Die Kompetenz zur reflexiven Normbegründung endet nicht mit der naheliegenden Rechtfertigung des eigenen Verhaltens, ihre moralische Qualität gewinnt sie
vielmehr erst durch die Einbeziehung der Gesamtheit der gesellschaftlichen
Regeln sozialen Handelns.
3.3 Empathie als emotionale Kompetenz
Empathie bedeutet bei Krappmann im Wesentlichen die Fähigkeit zur antizipatorischen Rollenübernahme. Dass dabei auch den Motiven und Gefühlshaltungen
eine wichtige Funktion zukommt, räumt er durchaus ein. Gleichwohl sieht er im
„Einfühlungsvermögen“ (Krappmann 1969: 143) in erster Linie eine kognitive
Fähigkeit. In der heutigen Diskussion wird Empathie hingegen als emotionale
Kompetenz verstanden, die in der Fähigkeit besteht, die „Gefühlsregungen anderer nachvollziehend mitzuerleben“ (Silbereisen/Ahnert 2002: 612). Diese Fähigkeit erscheint praktisch umso bedeutender, je unklarer, mehrdeutiger und unvorhersehbarer sich eine Handlungssituation den Interaktionspartnern darbietet.
Wenn man sich über die für das gemeinsame Handeln maßgeblichen Situationsdefinitionen und Verhaltenserwartungen erst vorverständigen muss, wird die
195
Hermann Veith
gegenseitige Wahrnehmung der Gefühlslagen der Beteiligten zu einem ersten
und deshalb überaus wichtigen Baustein im kommunikativen Informationsaustausch. Insofern wird Empathie heute zu Recht als eine eigenständige Kompetenz begriffen, auf deren Grundlage die Handelnden spontan und intuitiv einen
Zugang zur Subjektivität ihrer Gegenüber gewinnen können.
3.4 Von der Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz zum
Kontingenzmanagement
Wenn sich die Handelnden im Horizont interpretationsbedürftiger Rollen gegenseitig ihrer Identität vergewissern, dann ist nach Krappmanns Auffassung immer
damit zu rechnen, dass die Einzelnen zu Konzessionen gezwungen sind und die
Interaktion unter den ausgehandelten Bedingungen mit Befriedigungseinbußen
verbunden ist. Die Fähigkeit, darüber hinaus auch mehrdeutige und widersprüchliche Anforderungen auszuhalten, bezeichnet Krappmann als Ambiguitätstoleranz. Ambiguitätstoleranz setzt voraus, dass die Interaktionsteilnehmer tatsächlich innerhalb einer vorgegebenen Rahmenordnung die Anstrengung des gemeinsamen Aushandelns und Interpretierens von Rollenerwartungen auf sich
nehmen. Die Akteure müssen unter diesen Bedingungen immer auch mit Frustrationen rechnen, die aus dem Missverhältnis zwischen ihren Erwartungen und
Wünschen resultieren. Unter der Voraussetzung, dass die Teilnahme an Interaktionen jedoch selbst den Charakter einer Option gewinnt, ist es nicht mehr zwingend, dass widersprüchliche Anforderungen ausgehalten oder Frustrationen in
Kauf genommen werden. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass Interaktionen bei
geringen Befriedigungsaussichten abgebrochen werden. Das wiederum bedeutet,
dass es mit zunehmender Systemkomplexität umso wichtiger wird, nicht Ambiguitäten, sondern Kontingenzen auszuhalten. Die Einzelnen sollten darüber hinaus in der Lage sein, mit potenzieller Unübersichtlichkeit, normativer Vielfalt
und Unsicherheit, aber auch mit Unlusterlebnissen, Befriedigungsaufschub oder
gar ausbleibender Befriedigung konstruktiv umzugehen, ohne sich durch Verdrängung oder Verleugnung den damit verbundenen Risiken, Zumutungen und
Identitätsbedrohungen zu entziehen.
3.5 Kommunikative Kompetenz
Die Verständigung über Situationsdefinitionen und „die Auseinandersetzung
über gegenseitige Erwartungen zwischen Interaktionspartnern“ (Krappmann
1969: 12) ist in gleicher Weise wie die Artikulation subjektiver Bedürfnisse auf
196
Lothar Krappmann
Kommunikation und Sprache angewiesen. Das gilt auch unter den veränderten
Bedingungen globaler Vergesellschaftung. In einer medial hoch vernetzten und
auf Dauerkommunikation gestellten Umwelt müssen die Einzelnen sogar in
besonderer Weise zum kommunikativen Handeln befähigt sein. Dies gilt nicht
nur mit Blick auf die Beherrschung der Erstsprache und eventuell weiterer Sprachen, sondern auch in Rücksicht auf die Folgen der Omnipräsenz digitaler Medien in der Alltagswelt. Sprachliche Kommunikation wird hier vielfach auf den
Austausch von spezifischen Informationen reduziert, so dass in vielen Interaktionsformen das rationale Potential der Sprache als Medium der Verständigung,
Handlungskoordination und Sozialisation (Habermas 1981) unausgeschöpft
bleibt. Das Problem besteht also nicht nur darin, dass die Sprache durch stereotypen oder formelhaften Gebrauch erstarrt oder inhaltsleer wird (Krappmann
1969: 84), sondern auch darin, dass die Teilnehmer an Kommunikationsprozessen die diskursiven Verständigungsfunktionen der Sprache nicht mehr voll in
Anspruch nehmen. Genau dieses aber erfordert und ermöglicht kommunikative
Kompetenz.
3.6 Von der interpretativen Identitätsdarstellung zur performativen
Selbstkreation
In der klassischen Lesart gelten Rollen als anerkannte, aber interpretationsbedürftige normative Muster, in denen die Individuen ihre soziale und personale
Identität zum Ausdruck bringen. Die Möglichkeiten zur Rolleninterpretation sind
dabei sowohl durch den sozialen Handlungskontext begrenzt als auch durch die
Persönlichkeitsstrukturen, die Krappmann in Anlehnung an Erik H. Erikson
durch die Art der Lösung der im biografischen Entwicklungsverlauf „durchlebten Konflikte“ bestimmt sieht. In dem Augenblick allerdings, in dem die Einzelnen als Bedingung ihrer Teilnahme an sozialen Interaktionsprozessen wesentliche Elemente ihrer sozialen Rolle selbst entwickeln oder sogar erfinden müssen,
reicht die Interpretation als Mittel der Identitätspräsentation nicht mehr aus.
Heute wird verlangt, dass sich die Akteure aus dem Fundus der kulturellen Sinnangebote bedienen, um in performativen – das heißt das individuelle Welt-, Rollen- und Selbstverständnis zum Ausdruck, zur Mitteilung und zur Darstellung
bringenden – Akten ihr persönliches Selbst immer wieder neu zu kreieren.
197
Hermann Veith
4
Bedeutung und Rezeption
Es ist zweifellos Lothar Krappmanns Verdienst, gezeigt zu haben, dass sich die
Fähigkeiten, die Menschen zur Aufnahme und Fortsetzung sozialer Interaktionen
benötigen, erst in der von subjektiven Identitätsentwürfen getragenen Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt ausbilden, stabilisieren und verändern. Mit
Hilfe des Konzepts der balancierenden Ich-Identität war es möglich, die gesellschaftlichen, organisatorischen und pragmatischen Rahmenbedingungen für
gelingende und riskante Sozialisations-, Lern- und Bildungsprozesse zu beschreiben. Eine starke Ich-Identität als individuelles Entwicklungs- und gesellschaftliches Bildungsziel zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, in ihrem Handeln
Vergesellschaftungsanforderungen und Individualisierungserwartungen ausgewogen zu integrieren. Sie kann sich aber nur entwickeln, wenn:
ƒ
ƒ
ƒ
die ökonomischen, politischen oder sozialen Verhältnisse nicht durch Formen der Ungleichheit asymmetrisch verzerrt sind und einzelne Systeme, Organisationen oder Gruppen den Einfluss und die Macht besitzen ihre partikularen Interessen und Situationsdefinitionen durchzusetzen.
die gesellschaftliche Kommunikation und das institutionalisierte Normensystem hinreichend Spielräume für die individuelle Ausgestaltung, Um- oder Neuinterpretation von
sozialen Rollen bietet.
in der sozialen Interaktions- und Kommunikationspraxis die Einzelnen die gleichen
Chancen und Gelegenheiten haben, ihre Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnisse
sowohl in der Kooperation als auch im Konflikt mit anderen zur Geltung zu bringen.
Vor diesem Hintergrund müssen gerade in der pädagogischen Praxis institutionelle Arrangements hergestellt werden, die gleichberechtigte, auf Reziprozität
zielende Interaktionen ermöglichen und den Akteuren zugleich die Möglichkeit
eröffnen, wechselseitig zu ihren Situations-, Rollen- und Selbstinterpretationen
Stellung zu nehmen. Identitätsbildungsprozesse gelingen dort, wo die Einzelnen
in einem Klima der gegenseitigen Wertschätzung die Erfahrung machen, dass
das, was sie selbst von sich in die Interaktionspraxis einbringen als ihr persönlicher Beitrag auch Ernst genommen wird und Anerkennung finden kann. Nicht
zuletzt aufgrund dieser normativen Implikationen wurde Krappmanns Buch zu
Beginn der 1970er Jahre in der Erziehungswissenschaft dankbar aufgegriffen
und rezipiert (Brumlik 1973). Denn im Sog der Bildungsreform erschienen die
klassischen Bildungsideale, die mit der geisteswissenschaftlichen Orientierung in
der Pädagogik bis dahin verbunden waren, stark revisionsbedürftig (Dahmer/Weniger 1968). Krappmanns Analyse eröffnete hier eine vielversprechende
Perspektive. Auch in anderen Studien wurde mit interaktionsanalytischen Mitteln
gearbeitet und beispielsweise dargestellt, wie die Schule als Organisation ihre
Ziele geradezu sinnwidrig und rücksichtslos gegen die Bildungsinteressen der
198
Lothar Krappmann
Schüler durchsetzte. Ihr „heimlicher Lehrplan“ würde allenfalls die Ausbildung
von pädagogisch fragwürdigen, dem Schulerfolg häufig abträglichen „Strategien
der Identitätsbehauptung“ unterstützen (Zinnecker 1975). Wer sich in einer durch
überkommene Unterrichtstraditionen geprägten Schulumwelt von seiner sozialen
Rolle als Schüler distanzieren muss, um den Schultag zu überstehen, würde nicht
nur die Motivation zum Lernen verlieren, sondern zudem dazu verleitet, sich die
Anerkennung, die ihm im Unterricht vorenthalten wird, auf anderen, vielfach mit
biografischen Risiken belasteten Wegen zu holen (Wellendorf 1973). Die interaktionistische Theorie der Etikettierung bot weiterhin eine Erklärung dafür an,
wie mit großer Definitionsmacht vorgetragene Fremdzuschreibungen die Balance von sozialer und personaler Identität gefährden (Brusten/Hurrelmann 1973).
Diese alarmierenden Befunde führten in der schulpädagogischen Diskussion
dazu, den Unterricht stärker unter der Perspektive sozialer Erfahrungen und der
damit verbundenen Gelegenheiten zur kommunikativen Perspektivenübernahme
und zur kritischen Reflexion zu thematisieren (Tillmann 1976).
Auch in der Psychologie wurde Krappmanns Beitrag zur Identitätsdiskussion zur Kenntnis genommen und vor allem im Kontext der sozialen Kognitionsforschung (Edelstein/Habermas 1984), der Peergroup-Forschung (Petillon 1980;
Schneewind 1994) und der Sozialpsychologie (Keupp 1989) thematisiert.
Gleichwohl betrachtete man das Konzept der sozialen Identität sehr kritisch.
Zwar wurde nicht bestritten, dass die Merkmale der Einzigartigkeit im sozialen
Raum und der Kohärenz der rollenbezogenen Selbstdefinitionen neben der biografischen Kontinuität wesentliche Voraussetzungen für konsistentes Verhalten
beschreiben, aber die Fokussierung auf die handlungsstrukturierenden Leistungen erschien im Licht psychologischer Ansprüche insgesamt zu schmal.
In der Soziologie schließlich avancierte Krappmanns Monographie schon in
den 1970er Jahren als Beitrag zur sozialisationstheoretischen Diskussion über
Ich-Entwicklung, Identitätsbildung und Interaktionskompetenz (Döbert/Habermas/Nunner-Winkler 1977; Tillmann 1989) zum Klassiker. Das Buch hat seither
in der Soziologieausbildung der Bundesrepublik einen festen Platz. Da Krappmanns Konzept der balancierenden Identität auf die Lebens- und Handlungsbedingungen in kapitalistisch geprägten Industriegesellschaften bezogen war, gerieten seine handlungstheoretischen Prämissen zu Beginn der 1980er Jahre jedoch
von zwei Seiten unter Druck: Unter postmodernen, aber auch unter systemtheoretischen Vorzeichen erschien die epistemologische Figur eines handlungsfähigen Subjekts als grandiose Selbsttäuschung einer Generation von modernistisch
eingestellten Sozialwissenschaftlern, die in ihren Theorien dem Individuum die
Last einer nicht mehr zu erbringenden kulturellen, gesellschaftlichen und biografischen Integrationsleistung aufbürdeten (Lenzen 1991).
199
Hermann Veith
Im Kontext der Individualisierungstheorie hingegen wurde argumentiert,
dass das gesellschaftliche Institutionensystem, in dem sich die moderne IchIdentität bilden konnte, in Auflösung begriffen sei. Die großen einheitsstiftenden
religiösen und kulturellen Deutungsmuster, so die These, würden ebenso wie die
bürgerlichen Lebensformen und die industriegesellschaftlichen Lebensverlaufsmodelle ihre Integrationskraft verlieren (Beck 1986). Die Folge sei, dass die
Individuen in der Praxis der sozialen Interaktion unentwegt zur „Identitätsarbeit“
gezwungen wären (Keupp/Höfer 1997) und jeder seine je eigene Biographie
„basteln“ müsste (Hitzler/Honer 1994).
Im Kern laufen diese kritischen Einwände darauf hinaus, dass sich mit den
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der sozialen Interaktion auch die Formen
der Identitätsdarstellung gewandelt haben. Die von Krappmann beschriebenen
Grundqualifikationen des interaktionistischen Rollenhandelns reichen somit
nicht mehr aus, um die Kompetenzen zu beschreiben, die soziales Handeln heutzutage erfordert. Das Buch gibt jedoch eine Fragestellung vor, die grundlagentheoretisch noch immer von Bedeutung ist. Insofern gilt es zu Recht als Klassiker.
Primärliteratur
Krappmann, Lothar (1969/200510): Soziologische Dimensionen der Identität:
Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen.
Stuttgart: Klett-Cotta.
Krappmann, Lothar (1994): Identität. In: Lenzen, Dieter: Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 1. Aggression bis Interdisziplinarität. Reinbek: Rowohlt,
S. 715-719.
Krappmann, Lothar (1997): Die Identitätsproblematik nach Erikson aus einer
interaktionistischen Sicht. In: Keupp/Höfer (1997), S. 66-92.
Krappmann, Lothar/Oevermann, Ulrich/Kreppner, Kurt (1976): Was kommt
nach der schichtspezifischen Sozialisationsforschung? In: Lepsius, Mario
Rainer: Zwischenbilanz der Soziologie. Stuttgart: Enke, S. 258-264.
Krappmann, Lothar/Oswald, Hans (Hrsg.) (1994): Youniss, James: Soziale Konstruktion und psychische Entwicklung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Krappmann, Lothar/Oswald, Hans (1995): Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim/München: Juventa.
200
Lothar Krappmann
Sekundärliteratur
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Brumlik, Micha (1973): Der symbolische Interaktionismus und seine pädagogische Bedeutung. Frankfurt a.M.: Fischer.
Brusten, Manfred/Hurrelmann, Klaus (1973): Abweichendes Verhalten in der
Schule. Eine Untersuchung zu Prozessen der Stigmatisierung. München:
Juventa.
Dahmer, Ilse/Weniger, Erich (Hrsg.) (1968): Geisteswissenschaftliche Pädagogik
am Ausgang ihrer Epoche. Weinheim/Berlin: Beltz.
Dahrendorf, Ralf (1958/197715): Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Opladen:
Westdeutscher Verlag.
Döbert, Rainer/Habermas, Jürgen/Nunner-Winkler, Gertrud (Hrsg.) (1977):
Entwicklung des Ichs. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Dreitzel, Hans-Peter (1968): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der
Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Stuttgart: Enke.
Edelstein, Wolfgang/Habermas, Jürgen (Hrsg.) (1984): Soziale Interaktion und
soziales Verstehen: Beiträge zur Entwicklung der Interaktionskompetenz.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Erikson, Erik Homburger (1959/199716): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Goffman, Erving (1959): The Presentation of Self in Everyday Life. New York:
Doubleday Anchor. (1969): Wir alle spielen Theater. München: Piper.
Gouldner, Alwin (1959): Reziprozität und Autonomie in der funktionalen Theorie. In: Hartmann, Heinz (Hrsg.) (19732): Moderne amerikanische Soziologie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 371-393.
Habermas, Jürgen (1968): Thesen zur Theorie der Sozialisation. Stichworte und
Literatur zur Vorlesung im Sommer-Semester 1968. S. auch: Stichworte zur
Theorie der Sozialisation. In: Ders. (1973): Kultur und Kritik. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, S. 118-194.
Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hitzler, Ronald/Honer, Anne (1994): Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 307-315.
201
Hermann Veith
Keupp, Heiner (1989): Auf der Suche nach der verlorenen Identität. In: Keupp,
Heiner/Bilden, Helga: Verunsicherungen. Das Subjekt im gesellschaftlichen
Wandel. Göttingen/Toronto/Zürich: Hogrefe Verlag, S. 47-69.
Keupp, Heiner/Höfer, Renate (Hrsg.) (1997): Identitätsarbeit heute: Klassische
und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Leipold, Bernhard/Greve, Werner (2008): Sozialisation, Selbstbild und Identität.
In: Hurrelmann, Klaus/Grundmann, Matthias/Walper, Sabine: Handbuch
Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel: Beltz, S. 398-409.
Lenzen, Dieter (1991): Moderne Jugendforschung und postmoderne Jugend.
Was leistet noch das Identitätskonzept? In: Helsper, Werner (Hrsg.): Jugend
zwischen Moderne und Postmoderne. Opladen: Leske & Budrich, S. 41-56.
Mead, George Herbert (1934/1965): Mind, Self and Society. Chicago: University
Press. (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Merton, Robert K. (1957): Social theory and Social Structure. New York: The
Free Press. (1995): Soziologische Theorie und soziale Struktur (1995). Berlin: de Gruyter.
Parsons, Talcott (1951): The social system. London: Tavistock Publications.
Petillon, Hanns (1980): Soziale Beziehungen in Schulklassen: Weinheim/Basel:
Beltz.
Schneewind, Klaus A. (Hrsg.) (1994): Psychologie der Erziehung und Sozialisation. Göttingen/Bern/Toronto/Seattle: Hogrefe Verlag.
Silbereisen, Rainer. K./Ahnert, Lieselotte (2002): Soziale Kognition: Entwicklung von sozialem Wissen und Verstehen. In: Oerter, Rolf/Montada, Leo
(Hrsg.): Entwicklungspsychologie. München: PVU, S. 590-618.
Tillmann, Klaus-Jürgen (1976): Unterricht als soziales Erfahrungsfeld. Frankfurt
a.M.: Fischer.
Tillmann, Klaus-Jürgen (1989): Sozialisationstheorien: Eine Einführung in den
Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Reinbek:
Rowohlt.
Turner, Ralph H. (1962): Rollenübernahme: Prozeß versus Konformität. In:
Auwärter, Manfred/Kirsch, Edith/Schröter, Klaus (Hrsg.) (1976): Seminar:
Kommunikation, Interaktion, Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 115139.
Wellendorf, Franz (1973): Schulische Sozialisation und Identität. Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution. Weinheim/Basel: Beltz.
Wurzbacher, Gerhard (Hrsg.) (1963): Der Mensch als soziales und personales
Wesen. Stuttgart: Enke.
Zinnecker, Jürgen (Hrsg.) (1975): Der heimliche Lehrplan. Untersuchungen zum
Schulunterricht. Weinheim/Basel: Beltz.
202
Reflexive Moderne und ambivalente Existentialität –
Anthony Giddens als Identitäts-Theoretiker
Joachim Renn
Einleitung: „Konsequenzen der Moderne“ und
Individualisierung
Die Arbeiten des englischen Soziologen Anthony Giddens (geb. 1938)1 haben
mindestens zwei zentrale Schwerpunkte: Zum einen entwickelte Giddens ausgehend von eher empirischen Forschungsfragen (vgl. Giddens 1981) im Laufe der
vergangenen drei Jahrzehnte seinen Ansatz zu einem eigenen – im weitesten
Sinne „praxistheoretischen“2 – soziologischen Paradigma, das den Dualismus der
klassischen soziologischen Konzeptualisierungen des Verhältnisses zwischen
„Struktur“ und „Handlung“ überwinden soll: die Theorie der „Dualität“ von
Handlung und Struktur, bzw. der „Strukturation“ (Giddens 1984, 1997). Den
zweiten Schwerpunkt bildet der Versuch einer umfassenden Zeitdiagnose, die
den Zustand und die relevanten Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft(en) auf
Begriffe bringen soll, die aus der Anwendung der genannten theoretischen Überlegungen auf das Phänomen einer gewandelten Moderne hervorgehen (Giddens
1996a, 1997, 1999). Hier steht Giddens inhaltlich und kooperativ in enger Verbindung mit der Soziologie einer „zweiten“ oder auch „reflexiven“ Moderne, die
1 Anthony Giddens lehrte Soziologie von 1985 bis 1996 am King´s College an der University of
Cambridge, bekleidete ab 1989 temporär eine Professur an der University of California Santa
Barbara war von 1997 bis 2003/4 Direktor der „London School of Economics and Political Science“; er ist bekannt für seine halb beratende, halb gestaltende Position einer Politik des „dritten
Weges” (Giddens 2000) zwischen Sozialismus und Kapitalismus, die von – schwer einschätzbarem – Einfluss auf die Politik der „New Labour Party“, besonders auf die Agenda des britischen
Premiers Tony Blair, war.
2 Zur „Praxistheorie“ lassen sich aktuell (d.h. im Unterschied zu älteren auf Marx zurückgehenden
„praxisphilosophischen“ Ansätzen, die ihrerseits ihre aktuellen Ausläufer haben) eine Reihe von
Ansätzen zählen, die sich darin einig sind, dass „Praktiken“ eine Realitätsebene sui generis darstellen, die weder von subjektiven Entscheidungen, Sinnsetzungen, Deutungen, noch von allgemeinen Strukturen, Zeichensystemen und Diskursen determiniert werden (Bourdieu 1979, 1987;
Joas 1996; Turner 1994; Schatzki 1996).
203
Joachim Renn
mit dem Münchner Soziologen Ulrich Beck verbunden wird (Beck 1986;
Beck/Giddens/Lash 1996). Das Modell einer „reflexiven“ Moderne bildet gewissermaßen eine moderate Alternative gegenüber postmodernistischen Grabgesängen (Lyotard 1986) auf das gesamte Projekt einer Moderne, die das Erbe der
Aufklärung im Sinne einer „unverkürzten“ Rationalisierung angetreten hat (Habermas 1985). „Reflexivität“ bezieht sich dabei in erster Linie auf das im globalen Maßstab und mit globalem Problembezug gewachsene Krisenbewusstsein, in
dem nicht mehr objektive „Gefahren“, sondern „Risiken“ drohen, also hausgemachte Probleme, die der Modernisierung und Rationalisierung selbst entspringen (Giddens 1996a: 16ff.). Zu den zentralen Stichworten dieser diagnostischen
Skizze gehören die beiden Leitbegriffe „Individualisierung“ und „Nebenfolgen“
(Beck et al. 2001; Giddens 1997: 62f.). Während die Überlegungen zum Problem
der „Nebenfolgen“ einem älteren Thema (Merton 1936) einen neuen Zuschnitt
geben – die Betonung der allgemeinen Steuerungskrisen, die sich in unerwünschten, nicht intendierten Nebenfolgen zeigen – steht der Titel der „Individualisierung“ für die Diagnose eines säkularen Bruchs mit vormodernen und klassisch
modernen Formen der Vergesellschaftung des Individuums. Mit der viel diskutierten Individualisierungsthese (der Annahme angewachsener sozialer bzw.
institutioneller Zwänge zur Entscheidung über die jeweils eigene Lebensführung) wird direkt deutlich, dass die beiden zentralen Ausrichtungen der Giddens’schen Soziologie („Strukturation“ und „reflexive Moderne“) implizite und
explizite Konsequenzen für die Theorie und die empirische Untersuchung typischer Muster oder Formen der Identität von Personen haben. Damit reiht sich
die Giddens’sche Handlungstheorie indirekt und in vielen Schriften auch direkt
(1991) in den vielstimmigen Diskurs über „moderne Identität“ ein.
Die Form und der Inhalt der individuellen Identität der einzelnen Person –
die faktischen Ansprüche und Anforderungen an die „Selbstbestimmung“, der
jeweils eigene „Charakter“, aber auch der allgemeine Begriff der Identität – sind
in der Moderne dauerhaft unsicher und umstritten. Sowohl in der privaten und
alltäglichen Lebensführung als auch in der kollektiven, politischen oder kulturellen Auseinandersetzung um Ansprüche und Rechte auf ein „gelingendes Leben“
bzw. um Anforderungen an eine „verantwortungsvolle Persönlichkeit“ stehen
nicht nur jeweils einzelne Modelle der je eigenen Identität zur Diskussion; die
Frage, was „Identität“ der Person überhaupt heißen soll, worin sie allgemein
besteht, wo in einem verbindlichen und verpflichtenden Sinne die Grenze zwischen „pathologischen“ und „nicht-pathologischen“, zwischen freien und unfreien Identitäten zu ziehen ist, wird durch die Relativierung traditionaler Gewissheiten, durch die Vermehrung sozial ermöglichter Alternativen und die Erweiterung des Spielraums individueller Entscheidungen in einen Sog der dauerhaften
Kontroversen und Suchbewegungen gezogen, die auch in den philosophischen
204
Anthony Giddens
und sozialwissenschaftlichen Diskursen ihre Spuren hinterlassen (vgl. Renn/
Straub 2002).
In der Soziologie ist die relativ grobe und bei historischer Detaillierung sicher präzisierungsbedürftige Unterscheidung zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften als eine Arbeitshypothese tief verankert (so auch bei Giddens: 1996b). Wenn man sich dieser Unterscheidung um der typisierenden Zuspitzung willen trotz berechtigter Vorbehalte zunächst einmal bedient, dann
lassen sich Identitätskonzepte in einer entsprechenden Zweiteilung sehr allgemein sortieren in typische traditionale und moderne Formate. Die Identität von
Personen – die praktisch bewährte Übereinstimmung der Person mit sich selbst
und ihre Wiedererkennbarkeit über eine Mannigfaltigkeit von Ereignissen hinweg – ist im traditionellen Modus eine unbefragte Selbstverständlichkeit; Kriterien der Identifizierung werden durch stabile, also prinzipiell lebenslang gültige
Zuordnungen der Personen zu stabilen Positionen in einer hierarchisch gegliederten Sozialstruktur (segmentäre Gliederungen, Stände, Kasten, Korporationen und
auch noch: „Klassen“) dem Zweifel, der Verpflichtung zur Interpretation und
Entscheidung nahezu vollständig entzogen. Die entsprechenden Reflexionsformen: subjektive Selbstbilder und soziale Semantiken (schriftliche Selbstaussagen
und offizielle, legitime Typisierungen personaler Identität in juridischen Praktiken, philosophischen und theologischen Schriften) stellen gerade aufgrund der
praktisch eingespielten Selbstverständlichkeit jener Zuordnung der Personen in
eine für natürlich und alternativlos gehaltene Sozialstruktur die prinzipielle Kontingenz der sozial konstituierten Identitätsformate nicht in Rechnung. Aus der
geburtsständischen Festlegung von typischem Charakter und typischer Biographie folgt der Eindruck, dass die Person in ihrem Kern, in ihrem Wesen zum
einen eine lebenslange substantielle Einheit bildet, zum anderen entsprechend
dieser Einheit – so sie nicht korrumpiert oder „besessen“ ist – ihren angemessenen Platz in der hierarchisierten sozialen Ordnung einnimmt.
Das ändert sich in der und durch die Modernisierung, in den Worten von
Anthony Giddens:
„The reflexivity of modernity extends into the core of the self. Put in another way, in the context of a post-traditional order, the self becomes a reflexive project. Transitions in individuals’
lives have always demanded psychic reorganisations, something which was often ritualised in
traditional cultures in the shape of rites de passage. But in such cultures where things stayed
more or less the same from generation to generation on the level of the collectivity, the
changed identity was clearly staked out – as when an individual moved from adolescence into
adulthood. In the setting of modernity, by contrast, the altered self has to be explored and constructed as a part of a reflexive process of connecting personal and social change“ (Giddens
1991: 32f.).
205
Joachim Renn
Die komplexen Übergänge in moderne Identitätsformate lassen sich in grober
Abkürzung auf das Phänomen der oben bereits angesprochenen Individualisierung beziehen. Der zunächst auf Oberschichten begrenzte Prozess der Differenzierung zwischen reflektierter „Innerlichkeit“ und äußerer, erkennbarer Aktivität
der Person (Fürstenerziehung und religiöses Tagebuch, dann ästhetische Reflexion und [zunächst: romantische] Intimisierung der Zweierbeziehung) diffundiert
über verschiedene Kanäle (über Kopie durch aufstrebende Eliten niedrigerer
Stände, durch Ausdehnung der Literalität, des Bildungswesen, durch objektive
Differenzierungen im Zug der Arbeitsteilung) in immer ausgedehntere Bereiche
der alltäglichen Muster der Selbstbetrachtung. Form und Ergebnis dieser Prozesse können als das Ineinandergreifen einer subjektiven und einer objektiven Individualisierung der Identität von Personen begriffen werden. Mindestens seit
Georg Simmels Beobachtung der Multiplikation von sozialen Kreisen und ihrer
Überschneidungen (Simmel 1983) fällt auf, dass der Trend zunehmender sozialer
Differenzierung und Arbeitsteilung (Durkheim 1977) die einzelnen Personen
individualisiert.
Objektive Individualisierung vollzieht sich dabei durch die Abkoppelung
von funktionalen bzw. rationalisierten Handlungskontexten (z.B.: Berufsrollen,
Trennung von Haushalt und Arbeit, Trennung von Ausbildung und familialer
Sozialisation) aus den vormaligen Verquickungen von stratifikatorischer Schichtung und ökonomischen, politischen und rechtlichen Handlungszusammenhängen. Die zuvor verwandtschaftlich fundierte und netzwerkbasierte Positionierung
der Personen in sozialen Lagen wird zunehmend (nicht für alle Strata, nicht für
alle Geschlechter im gleichen Rhythmus) ersetzt durch auf individualisierende
Weise leistungsbezogene „Inklusion“ aller Personen in funktionale Bereiche
(Luhmann 1989). Lage und Lebenslauf der Menschen ist ihnen nicht qua Zugehörigkeit zu einem Stand, einer Familie in die Wiege gelegt, sondern wird in
Abhängigkeit von individuellen Leistungen und Aspirationen im Kontext von
Ausbildungsorganisationen, universal-individualistischen Rechtsverhältnissen
und Arbeitsmärkten erworben (vgl. Hradil 1992).
Diese objektive Individualisierung hat ihre intentionale Entsprechung (nicht
notwendig ihre „Folge“, denn Struktur und Handlung stehen, wie Giddens auf
seine Weise betont, in keinem einseitigen Determinationsverhältnis; vgl. Giddens, 1997; siehe weiter unten) in Phänomenen der subjektiven Individualisierung. Diese drückt sich in der kulturellen Durchsetzung individualistischer
Selbstdeutungsmuster aus: in der moralischen und kulturellen Betonung der
Autonomie der einzelnen Person und ihrer Ansprüche auf ein persönliches Lebensglück. Die philosophische Artikulation der entsprechenden Semantik ist
zunächst die aufgeklärte Idee der Autonomie des Subjekts, danach das romantische und später hermeneutische Modell der inneren Unendlichkeit einer Person,
206
Anthony Giddens
deren Identität vor allem in ihrem reflexiven Verhältnis zu ihrer besonderen und
optionalen Lebensgeschichte (Giddens 1996b: 52ff., 85ff.) besteht. Die Identität
der Person wandelt sich bis auf die Ebene der alltäglichen Aspirationen hinein
von der vorsozial gegebenen Substanz (der man „gerecht“ werden kann oder
nicht) zu einem Projekt, das man „selbst“ entwerfen und realisieren muss (Taylor
1989, 2002). Das bedeutet zum einen, dass die Identität im Takt der Moderne
verzeitlicht wird; sie steht nicht qua Geburt (oder Adoption) fest, erschöpft sich
nicht im Ensemble zugeschriebener Eigenschaften und Rechte und Pflichten,
sondern sie ist einer Entwicklung und der Deutung durch die Person selbst unterworfen. Der zweite Aspekt des Projektcharakters der Identität betrifft indessen
die Zielvorstellung, die mit der Zukunft der Geschichte, die einer und eine sind,
und dann gegebenenfalls erzählen kann (Ricœur 1990), verbunden wird. Der
Lebenslauf ist mehr als die Aktualisierung eines vielleicht zunächst unbekannten, aber ob origo festgelegten „Schicksals“, er ist dem Anspruch nach das Ergebnis der transitorischen Selbstbestimmung und dynamischen Selbstverwirklichung. In extremis ist das Individuum sein jeweils eigenes Kunstprodukt. Die
popularisierte, alltäglich gewordene Aspiration auf „Selbstverwirklichung“ ist
nicht nur das Musterbeispiel für „postmaterialistische“ Wertorientierung (Inglehart 1989), die auf die massenwirksame Hebung des Wohlstandsniveaus und
deshalb auf die Freisetzung von Zeit für und von Interesse an der eigenen Individualität zurückzuführen ist.
„Selbstverwirklichung“ bedeutet auch, erstens dass die Person ihr jeweils
eigenes Ziel (auf selbst schon individualisierende Weise) finden, d.h. definieren
und dann auch das Ziel und die mögliche Verfehlung desselben „selbst“ verantworten muss, zweitens dass Personen damit ein hoher Anspruch an die Steigerung der Qualität ihrer Lebensführung und die letztinstanzliche Verantwortung
sozial aufgenötigt wird.3
3 Den Nötigungscharakter der sozialen Zuschreibung von „Autonomie“, nicht primär als Zusicherung von Freiheit, sondern als Zuschreibung von Verantwortlichkeit für funktionale Zurechnungsfähigkeit, betont besonders die Foucaultsche Analyse der „Subjektivierungen“, die im Zuge der
Ausdehnung von Disziplinar- und Kontrolltechniken (Dispositive) vormals unthematische Individualitäten dem Zugriff der Diskurse und Techniken unterwerfen (Foucault 1983, 1994). Foucault
steht für die skeptische Rekonstruktion der Modernisierung von personalen Identitäten, die auf
den Bahnen der harschen Nietzscheanischen Kritik am christlichen Humanismus und der psychoanalytischen Zweifel an der Transparenz des autonomen Subjektes für sich selbst hinter der Vorderseite der aufklärerischen Emanzipation die Rückseite einer subtilen, durch die Körper und
Selbstverhältnisse hindurch wirkenden heteronomen Mobilisierung der „Subjekte“ sichtbar machen will.
207
Joachim Renn
1
Dualität von „Handlung und Struktur“:
Die Theorie der „Strukturation“
Der Prozess der Individualisierung als Charakteristikum des Übergangs zu modernen und dann spätmodernen (zweite Moderne) Identitätsformaten lässt sich
offensichtlich auf verschiedene Weise beschreiben, interpretieren und erklären.
Die Probleme einer konsistenten und adäquaten Rekonstruktion beginnen bereits
bei der logischen Frage, inwieweit Individualisierung ein paradoxer Prozess ist,
allein weil „Individualität“ (in Abwandlungen Hegelscher Analysen des
Gebrauchs des Personalpronomens der ersten Person: „ich ist immer ein anderer
ich“) als gesellschaftliches Format keine individuelle Form personaler Identität
ist, sondern die allgemeine Identitäts-Vorschrift, allgemeine Identitätsvorschriften hinter sich zulassen (ohne die Grenzen akzeptabler, anerkennungswürdiger
oder -fähiger Selbstentwürfe zu überschreiten), das hat schon Simmel als Paradoxie des allgemeinen Individualismus beschrieben (Simmel 1983; vgl.: Luhmann 1989). Ebenso erzeugt schon allein die soziologische Attitüde der Analyse
von Identitätskonzepten eine notorische Ambivalenz der Einschätzung, da die
Rückführung von „semantischen“ Identitätsformaten auf soziale Strukturen,
Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung etc., den normativen Anspruch auf
subjektive Autonomie genetisch auf heteronome Konstitutionsbedingungen zurückführen muss (also nur empirische Geltung beschreiben kann). Ist also die
Freisetzung von Spielräumen personaler Selbst(er-)findung ein Zuwachs an persönlicher Freiheit und Selbstbestimmungskompetenz oder vielmehr eine Umwandlung von Herrschaft aus der direkten personalen und körperlichen Unterwerfung in die subtilen Mechanismen auferlegter Entscheidungszwänge (Foucault 1994)?
Es ist für die Bearbeitung solcher Fragen notwendig, theoretisch Rechenschaft darüber zu geben, wie das Verhältnis zwischen 1. subjektiven Motiven,
Intentionen und Bedürfnissen, Handlungen und 2. sozialen Handlungszwängen,
Normen, Institutionen, Typisierungen und Normalitätsstandards gewissermaßen
„grundsätzlich“ zu betrachten ist. Deshalb und auf diesem Umweg ist der Giddens’sche Beitrag zum Problem des Verhältnisses zwischen „Handlung“ und
„Struktur“ bzw. zwischen individuellem „Akteur“ und sozialen Institutionen, die
Theorie der „Dualität von Struktur“ („Strukturation“), für die soziologische Identitätstheorie direkt von Bedeutung, nicht nur, weil ihre zeitdiagnostischen Anwendungen u.a. das Individuum und seine Identität zum Thema machen.
Giddens` Strukturationstheorie ist wie andere nichtpositivistische soziologische Theorien nicht als empirische Generalisierung gedacht, sie folgt nicht dem
(problematischen) Modell der induktiven Abstraktion von Begriffen und Prinzi208
Anthony Giddens
pien aus der Fülle des vermeintlich objektiv zugänglichen Materials. Dazu verpflichten schon die Zugeständnisse, die nach Giddens an die hermeneutische
Vorstellung über die Begriffsabhängigkeit des Gegenstandsbezugs gemacht
werden müssen, auf die sich Giddens in seiner methodischen Reflexion über
„interpretative Soziologie“ unter dem Titel einer „doppelten Hermeneutik“ skizzenhaft beruft (Giddens 1984).
Deswegen bewegen sich die Begriffe und Prinzipien der Giddens’schen
Theorie zwar auf einem allgemeinen Niveau, es folgt aus ihnen allerdings keine
allgemeine deskriptive Theorie der konkreten historischen Prozesse sozialen
Wandels, für diese bieten die theoretischen Begriffe nur heuristische bzw. aufschließende Instrumente an. Aus diesem Grund wird die empirische Frage nach
modernen Identitätskonzepten nicht schon durch die begriffliche Bestimmung
der Rolle sozialer Akteure in strukturierten sozialen Zusammenhängen präjudiziert (Balog 2001: 202).
Gleichwohl stellt Giddens allgemeine Behauptungen ausdrücklich „ontologischen“ Charakters auf, zu denen eine Einschätzung der Freiheitsspielräume der
Individuen auf der Ebene von „Sozialität“ überhaupt gehört, so dass Fragen der
Kriterien für die Bewertung des Freiheitsgrades moderner Identitätsformate –
anders als in konstruktivistischen Theorien wie der Systemtheorie oder einer
bestimmten Lesart der Wissenssoziologie – nicht deskriptiv an den Gegenstand
zurückgespielt werden müssen (so dass Geltung nur als soziale Geltung in Erscheinung treten könnte).
Die Analyse der prinzipiellen Freiheitsgrade der Akteure, d.h. bei Giddens
immer: der Spielräume der individuellen Handelnden mit Einschlüssen gewisser
Formen kollektiven Handelns, bewegt sich ausdrücklich und programmatisch
zwischen den soziologischen Polen des „Subjektivismus“ und des „Objektivismus“. Bezogen auf bekannte Ansätze heißt das, dass sich Giddens zugleich 1.
von der strukturfunktionalistischen (Talcott Parsons) bzw. strukturtheoretischen
(Peter M. Blau) oder strukturalistischen (Claude Levy Strauss) Position aber
auch von Durkheim und 2. von interaktionistischen Ansätzen, vom „symbolischen Interaktionismus“ (George Herbert Mead, Anselm Strauss), der Phänomenologie (Alfred Schütz) und der „Ethnomethodologie“ (Harold Garfinkel) distanzieren will. Das systematische Argument für diese doppelte Absetzungsbewegung gewinnt Giddens in unverkennbarer Verwandtschaft mit Bourdieus Habitustheorie (Bourdieu 1979) aus der Zuschreibung entsprechender Einseitigkeiten
der genannten Theorien: Strukturtheorien sehen die sozialen Akteure als rein
passive Vollstrecker von Strukturmustern und Rollendefinition und verzeichnen
damit ihren konstitutiven, gewissermaßen „kreativen“ (Joas 1996) Anteil an der
Produktion von Gesellschaft. Interaktionistische Theorien unterschätzen und
missachten in ihrer Insistenz auf die Aushandlungsfreiheiten der Individuen in
209
Joachim Renn
der Interaktion komplementär zur strukturalistischen Vereinseitigung die Macht
und Wirkung von strukturellen Rahmenbedingungen. Die Theorie der Strukturation will beides: die Freiheit der einzelnen Handlung bzw. der handelnden Person von der kausalen, dem Naturgesetz nachempfundenen, Determinierung durch
Strukturvorgaben und die Ordnungsleistung generalisierter Muster, die trotz
individueller Handlungsspielräume als Rahmen und Zwänge wirken, sich gleichsam als Schienen bemerkbar machen, auf denen soziale Interaktionen laufen, um
Situationen und Personen auf geordnete und erwartbare Weise über weite Räume
und Zeiten hinweg zu koordinieren.
Im Zentrum der „Dualität“ der Struktur steht darum erstens die Giddens’sche Vorstellung, dass Strukturen beide Eigenschaften aufweisen: sie prägen einzelne Handlungen und werden von ihnen geprägt, und zweitens die Identifizierung eines ontologisch ausgezeichneten Mediums diachroner und synchroner Sozialität: die „Praktiken“. Praxis bildet den zentralen Begriff, was Kommentatoren dazu verführt, Giddens unter eine allgemeine „Praxistheorie“ zu
subsumieren (Reckwitz 2007). Die Pointe (und die erheblichen Schwierigkeiten)
der Giddens’schen Analyse sozialer Praktiken, ihrer allgemeinen Form mit Bezug auf Strukturmomente innerhalb immer spezifischer Situationen, besteht in
einer nicht immer hinreichend konsistenten, wenn auch inspirierenden, Verknüpfung unterschiedlicher Handlungstheorien. Zum einen setzt Giddens stark auf die
Bedeutung „impliziten Wissens“, das er mit Rekurs zugleich auf Heidegger
(praktische Vertrautheit) und auf Wittgenstein („Lebensform“, also kollektiver
Charakter jener Vertrautheit) erläutert: soziales Handeln vollzieht sich über weite
Strecken im Modus der Routine, wobei eingespielte, pragmatisch typische Handlungsweisen abgerufen werden, solange kein Anlass zu Bedenken entsteht (Giddens, 1997: 51ff.).
Zum anderen aber stattet Giddens die individuellen Akteure, denen er mit
großer Sympathie stets höchste praktische Intelligenz attestiert, mit dem Vermögen einer (jederzeit) abrufbaren Reflexion auf Bedingungen, Ziele und Normen
des Handelns aus. Die „Reflexivität“ der zweiten Moderne gründet geradezu in
der generellen Reflexionsfähigkeit handelnder Individuen, so dass Giddens bei
Lichte besehen eben doch ein wesentliches Element der Bestimmung moderner
Identität in die zweifellos universalistisch verstandene Bestimmung des handelnden Subjekts überhaupt hineinlegt, obwohl die volle Entfaltung der Dialektik
zwischen Routine, Regeln, Konventionen und individuellen „postkonventionellen“ Abweichungen, kreativen Formen der Selbstkonstitution durchaus eine
historisch kontingente Formation sein könnte (anderenfalls als Spezifikum moderner Identität ja nicht in Betracht käme). Zu gewissen theoretischen Spannungen führt dabei die Zusammenstellung von einerseits hermeneutischpragmatistischen Motiven der Handlungstheorie (Handeln ist situationsspezifi210
Anthony Giddens
sche Regelanwendung, die durch die Regeln nicht determiniert ist, also „kreative“ Aspekte aufweist; Giddens 1997: 73), andererseits einer am Begriff der unbewussten Aggregation von Handlungsfolgen angelehnte Erklärung von Ordnungsbildung (Giddens 1996a, 1999), die nicht als „geplant“ gelten kann, und
drittens Momente eher rationalistischer Handlungstheorien, die das bewusste und
überlegte Handeln im Sinne teleologischer und zweckrationaler Orientierungen
erklärt und damit zu beiden zuerst genannten Momenten, die zueinander bereits
in Widerspruch stehen, ihrerseits nicht recht passen will. Diese Probleme resultieren letzten Endes daraus, dass Giddens die Elemente der „subjektivistischen“
und der „objektivistischen“ Soziologie „aufheben“ will und sie dafür wegen
seiner akteurszentrierten Sozialontologie durch das Nadelöhr der individuellen
Vollzüge kollektiver Praktiken führen muss:
Das eigentliche Problem der Strukturationstheorie zeigt sich nämlich darin,
dass Giddens zwar die Alternative zwischen Subjektivismus und Objektivismus
überwinden will, die Dualität der Struktur: vom Handeln geprägt zu sein und das
Handeln zu prägen, aber in den engen Fokus einer Ontologie zwingen muss, die
nur intentionale, gewissermaßen in den handelnden Personen bewahrte, aktualisierte und wirksame Erscheinungen von Strukturen, Strukturmomenten und
Strukturprizipien als real akzeptieren will (Giddens 1997: 63, 69). Giddens
scheint jede Form gesellschaftlicher, subjekttranszendenter Selbstorganisation
mit der ehernen Unempfindlichkeit gegenüber subjektiven Umdeutungen, die für
naturgesetzliche Abläufe typisch ist, zu identifizieren. Daraus (und aus einem
impliziten marxistischen Erbe, das die theoretische Behauptung menschlicher
Gestaltungsmacht zu einer normativ-politischen Pflicht erhebt) resultiert eine
nahezu phobische Haltung gegenüber jeder Version „transsubjektiver“ Ordnungsebenen, die sich selbst organisieren (deutlich in Giddens teils polemischen
Abgrenzungen gegenüber Durkheims Konzept der „sozialen Tatsachen“; z.B.
Giddens 1997: 223ff.).
Gleichwohl versucht die Strukturationstheorie aber gegenüber interaktionistischen Theorien das Moment der Selbständigkeit von Makroordnungen, strukturellen Rahmenbedingungen zu rekonstruieren, dazu bemüht Giddens die Figur
der „Entbettung“ von Strukturprinzipien (immer: Regeln und Ressourcen) aus
konkreten Praxiskontexten (vgl. Polanyi 1978; Giddens 1997: 216ff.), die im
Wesentlichen wenn nicht ausschließlich als Extension der Wirkung von „Strukturmomenten“ der Praxis in Raum und Zeit begriffen wird (es wäre demgegenüber möglich z.B. von der „Emergenz“ systemischer Selbstorganisation auszugehen). Giddens unterscheidet zwischen „Struktur“, „Strukturen“, „Strukturmo-
211
Joachim Renn
menten“ und „Strukturprinzipien“ (Giddens 1997: 432).4 Damit sind unterschiedliche Grade der Ausdehnung und unterschiedliche Arenen der Aktualisierung der
angesprochenen „Regel-Ressourcen“-Komplexe gemeint (Institutionen, Systeme, Situationen, Interaktionen). Die Einzelheiten dieser – nicht immer ganz
transparenten – Unterscheidungen, an dieser Stelle zu vernachlässigen, kann
durch den Umstand gerechtfertigt werden, dass auf allen Ebenen der bereits
erwähnte Vorbehalt in Kraft bleibt, dass Strukturaspekte gleich welcher Art auf
die Aktualisierung durch konkrete Akteure angewiesen bleiben:
„Die einzigen treibenden Kräfte in menschlichen Sozialbeziehungen sind individuelle Akteure,
die sich in intentionaler oder sonstiger Weise bestimmter Ressourcen bedienen, um etwas zuwege zu bringen. Die Strukturmomente sozialer Systeme wirken nicht wie Naturgewalten auf
die Akteure ein, um ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen“ (Giddens 1997: 235).
Das Moment der Unverfügbarkeit sozialer Ordnungszwänge, denen die Individuen unterworfen sind, obgleich sie im Prinzip immer die Freiheit haben sollen,
sich den Imperativen der Strukturen zu entziehen, muss Giddens deshalb in einer
nicht ganz spannungsfreien Konzeption des „Unbewussten“ unterbringen (sie ist
nicht spannungsfrei, weil diese Kategorie im Unterschied zur Psychoanalyse
zugleich Undurchdringlichkeit aber auch prinzipielle Zugänglichkeit miteinander
vereinbaren soll; vgl. Giddens 1997: 95ff.).
2
Identität in der „reflexiven Moderne“
In der expliziten Beschreibung der typischen Identitätsform in modernen und
spätmodernen Verhältnissen, die Giddens in unterschiedlichen Schriften vorgelegt hat (1991, 1996a, 1996b, 1997, 1999) berühren sich allgemeine Charakteristika von „Subjektivität“, als intentionaler Infrastruktur individueller Akteure
überhaupt, und spezifische, gewissermaßen „epochale“ Merkmale der für die
späte Moderne typischen Subjektivierungsformen. Das Grundmotiv stellt dabei
die Vorstellung einer strukturell erzwungenen Entbindung des reflexiven Vermögens, den existentiellen Zwang zur Freiheit (Sartre) erkennen zu können und
anerkennen zu müssen.
Vor allem Giddens’ 1991 erschienene Arbeit: „Modernity and Self-Identity“
zeigt schon im Aufbau der Kapitel bzw. der Argumentation, auf welche allge-
4 Der irritierende Umstand, dass „Struktur“ dabei sowohl als Oberbegriff als auch als spezielle
Kategorie auftaucht, ist typisch für die Giddens’sche Begriffsstrategie, die dem Anspruch, konsistente Unterscheidungen und klar definierte Begriffe zu verwenden, nicht immer hinreichend
durch raffinierte dialektische Argumentationen entgegentritt.
212
Anthony Giddens
meine Subjekttheorie Giddens baut (35ff.), und welches Verhältnis diese allgemeine Grundlage zu der zunächst skizzierten Eigenart moderner Gesellschaft
(10ff.) eingeht (109ff.). Invariant ist laut Giddens eine in Verbindung zwischen
Heideggerscher Existentialontologie und spät-psychoanalytischer Entwicklungsund Bindungstheorie (E. Erikson und D. Winnicott) skizzierte Psychologie
menschlicher Existenz; variant sind die sozialen Institutionen, Strukturen und
Semantiken (einschließlich intersubjektiver Bindungsformate), die gesellschaftliche Resonanzen auf und Formierungen von solchen psychologisch-existentiellen Selbstbeziehungen liefern bzw. ermöglichen oder auch einschränken. Zu
den Details der Invarianten zählen also existentialistische Merkmale wie die
prinzipielle Kontingenz des Daseins, der Reflex auf diese Kontingenz, der in der
fundamentalen „Angst“ besteht, die ihrerseits der existentiellen Antworten auf
die Grundfrage nach dem Sinn und den Sicherheiten der eigenen Existenz bedarf.
Die Verbindung zur sozialen Umgebung zieht Giddens, indem er die paradigmatisch a-soziale Konzeption Heideggers (existentielle Entscheidung als „Selbstbestimmung“ in echter ontologischer Freiheit ist Überwindung sozialer Formen
und Sicherheiten, die als „öffentliche Ausgelegtheit“ des Seins nur entfremdende
Effekte haben sollen, [„jeder ist der andere, und keiner er selbst“]; vgl. Heidegger 1984: 128) durch Ausgriffe auf die Theorie des „Urvertrauens“, das immer
soziale Rücklagen hat, in seiner Beschreibung ergänzt (Giddens 1991: 38ff.).
Der Übergang in die moderne Identitätsformation ist nun – in konsequenter
Ausnutzung des Status, den Giddens zuerst der Tradition und dann begrenzten
Praktiken als Rückhalt für ontologische Gewissheiten gegeben hat – durch den
Übergang von stabilen, kollektiv lebenslang eindeutigen, zu institutionell und
objektiv fluideren Gestalten der Selbstabsicherung charakterisiert (Giddens
1991: 144ff., Kap.: „The Sequestration of Experience“). Damit wird für das
moderne Subjekt zunehmend relevant, was Giddens den Subjekten überhaupt als
Potential der existentiellen Lebensführung zuschreibt: die Reflexivität, die den
Spielraum zur Veränderung sozialer, institutioneller und normativer Vorgaben
für eine legitime und sichere Lebensführung (einschließlich standardisierter
biographischer Verlaufsmuster) zum Charakteristikum der individuellen Selbstverhältnisse werden lässt. Die Zeitlichkeit der jeweils eigenen Biographie wird
aus den narrativen Standardisierungen einer stabilen Sozialstruktur entlassen, so
dass nun zur alltäglichen Herausforderung werden kann, was die existentialistische Theorie als Sonderfall „eigentlicher“ Personen verstanden hat. Zum individuellen Projekt des Lebens gehört dann, was Heidegger in den Vordergrund der
Daseinsanalyse gestellt hat, der Entwurfscharakter des Daseins und der Ausstand
der realisierten Identität. Die Individualität des Identitätsprojektes macht sich
dadurch bemerkbar, dass sowohl Weg als auch Ziel des Lebenslaufes selbst entworfen, nicht nur selbst gewählt, sind. Die Wahl, wer ich sein und werden will,
213
Joachim Renn
individuell zu treffen, selbstbestimmt, in der positiven Freiheit des Entwurfes,
macht das resultierende Projekt noch nicht zu einem individuellen, solange die
Möglichkeit besteht, dass jene Wahl nur eine Entscheidung zwischen heteronom
gesetzten Zielen, zwischen sozial gewährleisteten, typischen und allgemein standardisierten Zielen oder Lebenslaufvarianten ist, wenn also die positive Freiheit,
sich zu entscheiden, nicht von der negativen Freiheit von der Beschränkung der
Optionen begleitet ist. Spätmoderne „Individualisierung“ als strukturelle Motivation zu Reflexion auf sich selbst ist deshalb zunächst nur die halbe Fahrt ins
Reich der existentiellen Selbstschöpfung. Denn mit der Enttraditionalisierung der
möglichen Antworten auf existentielle Fragen ist – ganz im Einklang mit der
bereits oben beschriebenen These der „Individualisierung“ – keinesfalls nur oder
eindeutig, nicht mal in der Regel oder zumeist ein Zuwachs an „Freiheit“ verbunden.
Der Ausdruck „Sequestration“ im erwähnten Kapiteltitel indiziert entsprechend, dass subjektive Erfahrungen gegen den Druck der Enteignung durch auferlegte Vorlagen und Formate gewissermaßen verteidigt werden müssen (und
dafür sind sozial ungleich verteilte Ressourcen erforderlich). Denn die Folge der
Beschleunigung des Wechsels und der Multiplikation sozialer Einflüsse und
Resonanzräume, der Kontingentsetzung traditionaler Antworten und entsprechender „ontologischer Sicherheiten“, ist eine paradoxe Situation, in der das
Individuum aus strukturellen Gründen vor diverse, kaum auflösbare Dilemmata
gestellt ist: das Individuum muss einen Weg zwischen den Polen der Vereinheitlichung und der Fragmentierung des Selbst finden, ohne das Problem nach nur
einer Seite hin auflösen zu können (Giddens 1991: 189f.); das Individuum ist
dabei zugleich den widerstreitenden Erfahrungen ausgesetzt, dass einerseits im
Prinzip alles möglich ist, ihm alle denkbarem Wege und Selbsterzeugungspfade
offen stehen, und andererseits die überwältigende Komplexität das Gefühl der
Ohnmacht erzeugen muss (Giddens 1991: 191ff.); zusätzlich sorgt die Erosion
traditionaler (auch interpersonaler) Autoritäten für den Zwang, sich irgendwo im
Niemandsland zwischen sicheren Festlegungen bzw. Verpflichtungen und unsicheren Beziehungen, die Freiheiten und Exit-Optionen offen halten, zu bewegen
(Giddens 1991: 194ff.); schließlich ist die existentiell „freie“ Wahl des jeweils
eigenen Weges ständig der Verführung durch die leichte Konsumierbarkeit standardisierter und kommodifizierter Formate der Lebensführung ausgesetzt. In der
Summe droht – was nun keine überraschende und übermäßig originelle Diagnose
darstellt – „Sinnlosigkeit“ des jeweils individuellen und sozial nicht en detail
vorbestimmten Lebens (Giddens 1991: 201ff.). In späteren, kürzeren Ausführungen zu den Folgen des Übergangs in die reflexive Moderne für die jeweils individuelle Identität beschränkt sich Giddens denn auch auf die kursorische Andeutung zweier möglicher Reaktionen auf die desorientierenden Folgen des Verlusts
214
Anthony Giddens
an personenrelevanten Traditionen: die Sucht als Kompensation und Zeichen
„erstarrter Selbstbestimmung“ sowie die boomende Therapeutisierung der Lebensführung (Giddens 1999: 62f.).
3
Kritiken
Einige mögliche Einwände gegen die Theorie der „Dualität von Struktur“ sind
bereits genannt worden. Giddens bemüht heterogene handlungstheoretische Traditionen, ohne alle Spannungen, die zwischen diesen Ansätzen bestehen, restlos
in einer integrativen Theorie aufheben zu können, weil seine Praxistheorie trotz
aller Anleihen bei Wittgenstein und Heidegger eine modifizierte Variante des
methodischen Individualismus bleibt. In der Tat ist gegenüber dem integrativen
Zugriffs der Giddens’schen Rekonstruktion heterogener Traditionen in Philosophie und Soziologie explizit der Vorwurf der unnötigen Überfrachtung erhoben
worden (so: Balog 2001). Gerade die makrotheoretischen Begriffe, das Netz von
Konzepten, die den allgemeinen Begriff der „Struktur“ variieren, zeichnen sich
nicht durch beispiellose Konsistenz aus (es finden sich z.B. erheblich widersprüchliche Inklusionsbeziehungen zwischen Strukturprinzipien, -momenten und
Strukturen; Giddens 1997: 215ff.). Das Problem der Theorie der „Strukturation“
besteht jedoch nicht allein in gewissen begrifflichen Unklarheiten. Unbequeme
Konsequenzen hat vor allem die Reduktion von Phänomenen der Verdinglichung
und Abstraktion auf naturkausale Ordnungen (daraus leitet Giddens dann, wie
gesagt, z.B. erhebliche Vorwürfe gegen Durkheim ab) und die dagegen gerichtete Insistenz auf die prinzipielle Erreichbarkeit von Strukturen durch das reflexive
Handeln. Strukturen sind nach Giddens inexistent, wenn sie nicht als Regeln und
Ressourcen, als Erinnerungsspuren in actu durch Handlungen realisiert werden
(Giddens 1997: 69), so dass es keine Selbstorganisation von Makroeinheiten
geben kann bzw. geben soll. Phänomene der subjektiven Undurchdringlichkeit
sozialer Strukturen muss Giddens deshalb in eine Theorie unbewusster Motivation stecken, die identitätstheoretisch durchaus insoweit einen Ballast bedeutet, als
sie dazu verpflichtet, den Zuwachs an „wirklicher“ (siehe oben) subjektiver Freiheit wie in einem Nullsummenspiel an einen Abbau der Selbständigkeit und
Stabilität systemischer und institutioneller sozialer Einheiten zu binden – es wäre
im Unterschied dazu beispielsweise denkbar, Spielräume individualisierender
existentieller Wahl von systemischen Logiken stärker „abzukoppeln“.
Die Giddens’sche Logik revitalisiert – trotz aller paxistheoretischen Raffinesse – am Ende doch wieder praxisphilosophische Hoffnungen auf den Fluchtpunkt einer Versöhnung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft.
Bestätigt wird das dadurch, dass Giddens Ordnungseffekte auf Größenordnungs215
Joachim Renn
effekte beschränkt, die in den Dimensionen von Zeit und Raum liegen, ohne dass
er ein diesbezüglich adäquates und konsistent in seine Theorie integriertes pinzipium extensionis angeben könnte, dass jene Ausdehnung von „Strukturprinzipien“ in Raum und Zeit als motiviert, funktional, kausal oder intentional oder
wie immer begründet ausweisen könnte. Jenseits von „Subjektivismus“ und
„Objektivismus“ (Bourdieu 1979; Giddens 1997) genügt es nicht ein „sowohl als
auch“ zwischen Struktur und (Giddens 1997; vgl. zur Kritik daran: Archer 1988)
Akteur oder zwischen System und Subjekt oder zwischen Diskurs und performativer Subversion (Butler 1998) zu postulieren. Insgesamt ist eigentlich kaum
einzusehen, was an „dualistischen“ Theoriekonzeptionen auszusetzen ist, wenn
diese den Gegensatz z.B. zwischen abstrakten (makroskopischen) mediengestützten Ordnungen und konkreten Praktiken als einen seinerseits aus sozialer
Differenzierung hervorgegangenen, also historisch gewordenen, aber real wirksamen Gegensatz zwischen Ordnungsebenen ansehen (Renn 2006). Handlungen
werden auch in der Sichtweise einer solchen Konzeption selbstverständlich von
Akteuren ausgeführt; der Sinn solcher Handlung spaltet sich jedoch in den Übergängen zwischen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Kontexten in jeweils
kontextspezifische Deutungen bzw. Anschlussselektionen an solche Handlungen.
Insofern könnte die Analyse des Verhältnisses zwischen Struktur und Handlung
Bewegungsfreiheiten gewinnen – die auch für die Frage nach der Identität der
Person als ein intentionales Selbstverhältnis im Austausch mit heterogenen Identitätszuschreibungen relevant sind – wenn sie Grenzen zwischen differenzierten
Kontexten als Sinngrenzen betrachtet, die durch einen „Bedeutungsbruch“ markiert werden. Daraus folgt, dass abstrakte Bestimmungen des Handlungssinnes –
anders als es der methodische Individualismus und auch die Praxistheorie der
„Strukturation“ behaupten (Giddens 1997: 69) – nicht auf die Leistungen und
Intentionen handelnder Subjekte zurückzuführen sind und durch diese gestützt
werden müssen.
Bezogen auf die dargestellten identitätstheoretischen Überlegungen Giddens’ sind entsprechend Vorbehalte zu nennen, die sich auf die Unterstellung
invarianter Charakteristika subjektiver Selbstverhältnisse beziehen. Es ist durchaus die Frage, ob die Verbindung von existential-ontologischen und entwicklungspsychologischen Bestimmungen Stand halten kann im Test auf historische
und interkulturelle Verallgemeinerbarkeit, ist doch die Heideggersche Philosophie selbst erklärtermaßen eine geschichtliche Reflexion – auch wenn sie Verankerungen in allerdings paradoxen Artikulationen des „Seins“, wie es von sich aus
sich zeige, sucht – und beruht die Entwicklungspsychologie als empirische Disziplin auf Verallgemeinerungen, die sich auf eine historisch und kulturell kontingente Lage personaler Infrastrukturen bezieht. Ohne weiteres ist nicht ausgemacht, ob nicht postmodernistische Subjektmodelle, die das Ziel der Einheit der
216
Anthony Giddens
Person als solches demissionieren (Foucault 1984; vgl. Gergen 1996) ihre guten
Gründe haben.
4
Inspirationen und Aspirationen:
Spätmoderne „Existentialität“
Nichtsdestotrotz bleibt an Giddens origineller Suche nach Übergängen zwischen
Theorietraditionen, soziologischen Zeitdiagnosen und Identitätstheorien vieles
ausgesprochen inspirierend. Jenseits der zumindest im Ansatz angestrebten Verknüpfung von existentialistischen, praxistheoretisch/pragmatistischen und makrotheoretischen Zugängen wären die paradoxen oder auch nur widersprüchlichen
Bedingungen spätmoderner personaler Identität als solche kaum identifizierbar,
denn es ist zur Identifizierung der Dilemmata subjektiver Freiheit notwendig, die
Identität der Person zwischen kognitiver Selbsterkenntnis und pragmatischer
Selbsterzeugung mit der Tiefenschärfe der existentialistischen Subjekttheorie zu
versehen – anderenfalls wäre der Unterschied zwischen individuellen Entscheidungen in existentieller Autonomie und personalen Nachahmungen heteronomer
Formate kaum von einander zu unterscheiden.
Die Umdeutung der individuellen Identität von einer Substanz zwischen
Subjektivismus und Objektivismus zu einem Projekt im Medium der Praxis
macht klar, dass es sich bei der modernen Identität um das Prinzip einer Sorge
um sich selbst handelt, dass jenseits der Alternative sozialer Determination und
existentieller Freiheit in der „kreativen“ Individualisierung von externen Vorgaben mit Aussicht auf eine individuelle, wieder erkennbare, kontinuierliche Identität diese allerdings im Modus einer niemals abschließend erfüllbaren Aspiration
(zum „Ausstand“ der vollendeten Identität: vgl. Heidegger 1984) bleiben muss.
Die oben angesprochene Ambivalenz, dass Giddens einerseits wesentliche
Bestimmungen der Form der individuellen Identität in den für allgemein gültig,
also überhistorisch erachteten Begriff des handelnden Subjekts überhaupt hineinlegt – die Struktur der Existentialität, das Vermögen der reflexiven „Ergreifung“
des eigenen Handelns als das „eigene“ Handeln und damit die entschlossene
Selbstkonstitution des Selbst – andererseits aber die sozial konstituierte Existentialität moderner Subjekte als Spezifikum moderner bzw. „zweitmoderner“ Identitäten ausgibt, ist deshalb vielleicht mehr als ein Widerspruch. Diese Ambivalenz der Identitätstheorie Giddens’scher Provenienz (moderne als allgemeine
Identität?) lässt sich zu einer reizvollen Figur der theoretischen Selbstbegründung umwandeln: zunächst kann die Theorie unterscheiden zwischen allgemeinem Potential praktisch konstitutierter Subjektivität und den kontingenten Be217
Joachim Renn
dingungen der faktischen Ausdifferenzierung subjektiver Selbstverhältnisse aus
traditionellen und konventionellen Bindungen. Dann kann sie aus dieser Unterscheidung die Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst, d.h. der theoretischen
Artikulation des – der eigenen Rekonstruktion zufolge – historisch zunächst
verstellten Potentials ableiten, denn die gleichen sozialen Bedingungen, die wenigstens der Tendenz nach „Existentialität“ zum Format der Individuen machen,
gestatten die entsprechende theoretische Artikulation jener Existentialität.
Wenn die diagnostische Beschreibung moderner Individualisierung als die
Figur einer soziostrukturell erzwungenen Entbindung eines allgemeinen Potentials subjektiver Selbstbestimmung verstanden werden kann, dann wäre das nicht
mit der Affirmation einer teleologisch verstandenen, geradezu hegelianisch sanktionierten Modernisierung zu verwechseln. Sozial bedingte Existentialität bleibt
eine erzwungenermaßen erschlossene freie Sorge um sich selbst, so dass die
Freiheit der Individuen paradox, von Heteronomie durchzogen und auf Dauer in
den Widerstreit zwischen Zwang zur Freiheit und Gewährleistung von Selbstbestimmung verstrickt bleibt. Gleichwohl wirft auch die funktionale Subjektivierung gleichsam gegen ihren Willen mindestens die Möglichkeit der Artikulation
einer regulativen Idee als Richtlinie der Aspiration zur jeweils eigenen Identität
ab. Und auch wenn diese Aspirationsrichtlinie dauerhaft und je nach Situation
und Lokalität nach stets revidierter Bestimmung ruft, behält sie doch als spezifische Gestalt immer eine Familienähnlichkeit zum guten alten Leitstern der Aufklärung: der individuellen Freiheit.
Primärliteratur
Giddens, Anthony (1979): Central Problems in Social Theory. Action, Structure
and Contradicitons in Social Analysis. London: Macmillan.
Giddens, Anthony (1981): A Contemporary Critique of Historical Materialism.
London: Macmillan.
Giddens, Anthony (1984): Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung.
Frankfurt a.M./New York: Campus.
Giddens, Anthony (1991): Modernity and Self-Identity. Self and Society in the
Late Modern Age. Cambridge: Polity Press.
Giddens, Anthony (1996a): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Giddens, Anthony (1996b): Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft. In:
Beck/Giddens/Lash: S. 113-195.
Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer
Theorie der Strukturation. Frankfurt a.M./New York: Campus.
218
Anthony Giddens
Giddens, Anthony (1999): Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben
verändert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Giddens, Anthony (2000): Der dritte Weg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Sekundärliteratur
Balog, Andreas (2001): Achte Vorlesung: Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung, Neue Entwicklungen in der soziologischen Theorie. Stuttgart:
Lucius und Lucius.
Cassel, Philip (1993): The Giddens Reader. London: Macmillan.
Joas, Hans (1997): Einführung von Hans Joas: Eine soziologische Transformation der Praxisphilosophie – Giddens’ Theorie der Strukturierung. In: Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer
Theorie der Strukturation. Frankfurt a.M./New York: Campus S. 9-25.
Kaspersen, Lars Bo/Sampson, Steven (2000): Anthony Giddes. Eine Einführung
zu einem sozialen Theoretiker. Übers. v. Kaspersen, Lars Bo/Sampson, Steven. London: Wiley-Blackwell.
Kießling, Bernd (1988): Die „Theorie der Strukturierung“. Ein Interview mit
Anthony Giddens. In: Zeitschrift für Soziologie, 4/17, S. 286-295.
Lamla, Jörn (2003): Anthony Giddens, Einführungen. Hrsg. v. Boacker, Thorsten/Lohmann, Hans Martin. Frankfurt a.M./New York: Campus.
Mestrovic, Stjepan (1998): Anthony Giddens: the last modernist. London/New
York: Routledge.
O’Brien, Martin/Penna, Sue/Hay, Colin (Hrsg.) (1999): Theorising Modernity:
Reflexivity, environment and identity in Giddens’ social theory. London/New York: Longman.
Reckwitz, Andreas (2007): Anthony Giddens. In Kaesler, Dirk (Hrsg.): Klassiker
der Soziologie, Bd. II. Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens. München:
C. H. Beck, S. 311-337.
Tucker, Kennneth H. (1998): Anthony Giddens and Modern Social Theory. London: Sage Publications.
219
Joachim Renn
Weitere Literatur
Archer, Margaret S. (1988): Culture and Agency. Cambridge: Cambridge University Press.
Baumann, Zygmunt (1996): From Pilgrim to Tourist. A Short History of Identity. In: Hall, Stuart/du Gay, Paul (Hrsg.): Questions of Cultural Identity.
London: Sage Publications, S. 18-37.
Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (Hrsg.) (1996): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Beck, Ulrich/Holzer, Boris/Kieserling, Andre (2001): „Nebenfolgen als Problem
soziologischer Theoriebildung“. In: Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (Hrsg.):
Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 63-82.
Butler, Judith (1998): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: Berlin
Verlag.
Durkheim, Emile (1977): Über die soziale Teilung der Arbeit. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Foucault, Michel (1983 et al.): Sexualität und Wahrheit, Bd. I, II, u. III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Gergen, Kenneth (1996): Das übersättigte Selbst. Identitätsprobleme im heutigen
Leben. Heidelberg: Carl Auer.
Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Heidegger, Martin (1984): Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer.
Hradil, Stefan (1992): Zwischen Bewusstsein und Sein. Die Vermittlung subjektiver und objektiver Lebensweisen. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Inglehart, Ronald (1977): Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen
Welt. Frankfurt a.M./New York: Campus.
Joas, Hans (1996): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1989): Individuum, Individualität, Individualismus.In: Ders.:
Sozialstruktur und Semantik, Bd. 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Lyotard, Jean-François (1986): Das postmoderne Wissen. Graz/Wien: Edition
Passagen.
220
Anthony Giddens
Merton, Robert K. (1936): The unanticipated consequences of puposive social
action. In: American Sociological Review, I/6, S. 894-904.
Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische
Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen [1944]. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Renn, Joachim/Straub, Jürgen (Hrsg.) (2002): Transitorische Identität, Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt a.M./New York: Campus.
Renn, Joachim (2006): Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaften.
Ricœur, Paul (1990): Soi meme comme un autre. Paris: Edition du Seuil.
Schatzki, Theodore R. (1996): Social Practice. A Wittgensteinian Approach to
Human Activity and the Social. Cambridge/Mass.: Cambridge University
Press.
Simmel, Georg (1983): Individualismus. In: Ders.: Schriften zur Soziologie
[1917]. Eine Auswahl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 267-275.
Taylor, Charles (1989): Sources of the Self. The Making of the Modern Identity.
Harvard University Press. Cambridge/Mass.: Cambridge University Press.
Taylor, Charles (2002): Ursprünge des neuzeitlichen Selbst In: Ders.: Wieviel
Gemeinschaft braucht die Demokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 171284.
Turner, Stephan (1994): The Social Theory of Practices. Tradition, Tacit Knowledge and Presuppositions. Chicago/Ill.: Chicago University Press.
Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Wittgenstein, Ludwig (1969): On Certainty. (Zweisprachige Ausgabe). New
York/London: Harper & Row.
221
Michel Foucault: Überwachen und Strafen.
Die Geburt des Gefängnisses
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
Einleitung
Auf den ersten Blick zählt der französische Sozialtheoretiker Michel Foucault
(1926-1984) durchaus nicht zu jenen Autoren, die in einem Handbuch über die
Schlüsselwerke der Identitätsforschung als unumgänglich gelten müssen. Im
Unterschied zu Georg Herbert Meads Variante des symbolischen Interaktionismus, zu Erik H. Eriksons sozialpsychologischem Identitätskonzept oder etwa
Jürgen Habermas’ sozialphilosophischem Entwurf, deren Berücksichtigung bei
einem solchen Unternehmen als geradezu zwingend erscheint, mag die Reservierung eines eigenen Kapitels für Foucaults Studie Überwachen und Strafen als
diskussionswürdig, anderen womöglich gar als unangemessen erscheinen. Es
wäre nicht einmal schwierig, für eine gewisse Skepsis gewichtige Argumente
anzuführen – und so überrascht es denn auch nicht, dass man seinen Namen in
den einschlägigen Überblicksartikeln sowie den Beiträgen zu Handbüchern und
Sammelbänden der Identitätsforschung meist vergebens sucht (vgl. etwa: Straub
1991; Keupp/Höfer 1998; Straub 2004; Abels 2006).
Das naheliegendste Argument lautet ganz schlicht, dass Foucault im Unterschied zu den genannten Autoren den Begriff Identität – wenn er ihn überhaupt
einmal bemühe – nicht in einer anspruchsvollen Weise gebrauche und er daher
auch nicht als Urheber einer Theorie der Identität gelten könne. Diesem Argument wäre nur schwer zu widersprechen; und es muss, nach entsprechender Prüfung seiner Schriften, konzediert werden, dass er in jenen Studien, die am Beispiel der Klinik oder etwa des Gefängnisses dem intrikaten Zusammenspiel von
Wissensordnungen und Machtpraktiken nachspüren, tatsächlich nicht von Identität spricht. Daher lässt sich gleich zu Beginn ein bemerkenswerter Befund festhalten: Der Terminus „Identität“ scheint nicht zum Arsenal jener Erkenntniswerkzeuge zu zählen, auf die Foucault bei seinen archäologischen und genealogischen Studien zurückgreift.
223
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
Und doch werden die in den Identitätsdiskursen verhandelten zentralen Motive auch bei Foucault thematisch – wenngleich in einer anderen Perspektive,
begrifflich anders aufbereitet und fraglos auch auf andere Weise motiviert. Foucault, so ließe sich in einem ersten Vorgriff formulieren, bleibt insofern auf die
wichtigsten Topoi des identitätstheoretischen Denkens bezogen, als er dessen
Voraussetzungen und dessen Folgen auf neue Weise befragt. Das Ringen um ein
kohärentes Selbst und das Streben nach einer einheitlichen personalen Identität,
das gegenwärtig insbesondere in Frankreich wieder vermehrt zum Gegenstand
wissenschaftlicher und politischer Debatten wird (vgl. Kaufmann 2005), ist auch
in Foucaults berühmter Gefängnisstudie präsent – wenngleich auf inverse Weise,
gleichsam ex negativo: Er problematisiert hier die Konzepte der Subjektivität
und der Individualität in einer so radikalen Weise, dass davon unmittelbar auch
die Rede von Identität infiziert wird. Werden folglich Subjektivität und Disziplin
als eng miteinander verwoben gedacht, bleibt auch das Bild des identischen Ichs
nicht unbeschadet – und gerät bald in den Verdacht, sich als Chimäre zu erweisen, mithin als ein Trugbild, das zwar unseren Hunger nach „Ganzheit“ und das
Bedürfnis nach „Authentizität“ zu stillen verspricht (vgl. Meyer-Drawe 2000),
das aber gerade dadurch nüchterne und unvoreingenommene Versuche der
Selbstthematisierung zu blockieren droht. Und so könnte sich der damit angedeutete Perspektivenwechsel schließlich als eine besondere Chance erweisen: Indem
Foucault in seinen Studien die Voraussetzungen und Grundannahmen des identitätstheoretischen Denkens auf bislang ungekannte und schonungslose Weise
befragt, legt er deren innere Architektur frei – und macht sie auf diese Weise erst
diskutabel. Die Auseinandersetzung mit Foucault könnte sich daher lohnen, auch
wenn – bzw. gerade weil – er kaum mit guten Gründen zur Gruppe derer gezählt
werden kann, die als Identitätstheoretiker/innen gelten.
1
Biographie
Als „Überwachen und Strafen“ 1975 in Frankreich veröffentlicht wird, hält Foucault bereits seit fünf Jahren Vorlesungen am Pariser Collège de France, dieser
renommierten Lehrstätte, an der etwa auch der Ethnologe Claude Levi-Strauss,
der Soziologe Pierre Bourdieu sowie der Philosoph Jacques Derrida lehrten. Als
Lehrstuhlinhaber für die „Geschichte der Denksysteme“ stellt er seine laufenden
Forschungsarbeiten regelmäßig einem öffentlichen Publikum vor und stößt dabei
auf große Resonanz. Seine Vorlesungen werden zu einem Treffpunkt, an dem
sich hunderte von Studierenden, Dozierenden und Interessierten einfinden. Foucault ist zu diesem Zeitpunkt bereits einer der führenden Intellektuellen Frankreichs, der sich insbesondere durch seine machtkritischen Studien von Institutio224
Michel Foucault
nen einen Namen gemacht hat und der sich – gemeinsam mit anderen Vertreter/innen der linken Intelligenz – immer wieder durch strategische Interventionen
wirkungsvoll in die politischen Debatten eingeschaltet hat (vgl. Eribon 1999:
315ff.).
In einer Arztfamilie in Poitiers aufgewachsen, studiert er zunächst an der
Eliteschule École Normale Supérieure Philosophie sowie Psychologie und
schließt sein Studium 1949 an der Sorbonne mit einer Licence in Psychologie ab.
Mitte der 1950er Jahre verlässt er sein Heimatland, weil er das Frankreich der
IV. Republik sowohl intellektuell als auch persönlich beengend erlebt. Er geht
zunächst nach Schweden – auch in der Hoffnung, hier seine Homosexualität
freier leben zu können. Die Dissertation entsteht während seiner Lehrtätigkeiten
an den Universitäten von Uppsala und Warschau sowie seiner Tätigkeit als französischer Kulturbeauftragter in Hamburg. 1960 kehrt er nach Frankreich zurück
und verteidigt nur ein Jahr später unter dem Titel „Wahnsinn und Gesellschaft“
seine thése principale: „Trotz aller Vorbehalte“ (Eribon 1999: 183), wie der
Prüfungsausschuss festhält, wird seine fast 600 Seiten starke Abrechnung mit der
Psychologie ausgezeichnet. Spielte er hier noch mit der Idee einer „ursprünglichen Erfahrung“, die vor der Trennung von Wahnsinn und Vernunft angesiedelt
ist, wendet er sich in den folgenden Jahren den historischen und sozialen Voraussetzungen zu, denen sich die Objekte der Wissenschaft verdanken. Exemplarisch sind dafür zwei Studien, die er in den 1960er Jahren publiziert. So deckt er
in seiner „Archäologie des ärztlichen Blicks“ (Foucault 1991a) nicht nur die
„Geburt der Klinik“ auf, sondern legt mit „Die Ordnung der Dinge“ (Foucault
1993a) kurz darauf eine weit ausgreifende, vergleichende Studie zur Struktur und
Transformation des Wissens in den Humanwissenschaften vor. Die großen
Streiks und studentischen Protestbewegungen, die im Mai 1968 in Paris einen
Höhepunkt finden, beobachtet er freilich nur aus der Ferne: Er ist zu dieser Zeit
an der Universität Tunis tätig, wo er eine Professur für Philosophie innehat. Zwei
Jahre später kehrt er erneut zurück und wechselt an die neu gegründete Reformuniversität Paris-Vincennes. Schon bald setzt er sich für Migranten und Gefängnisinsassen ein, engagiert sich gegen Rassismus, Ausbeutung und sexuelle Diskriminierung. In dieser Zeit wird er in Frankreich zum Inbegriff des kämpferischen Intellektuellen.
Parallel zu seinen ersten Jahren am Collège de France, wo er 1970 in einer
vieldiskutierten Antrittsvorlesung die machtkritische Analyse von Diskursen und
Dispositiven als künftiges Forschungsgebiet vorstellt (vgl. Foucault 1991b),
intensiviert er sein politisches Engagement. So initiiert er etwa mit Mitstreitern
die Group d’information sur les prisons (GIP), die über die Lage in den französischen Gefängnissen aufklärt und die Informationspolitik der zuständigen Behörden skandalisiert. Aus dieser Solidaritätsarbeit für die Inhaftierten geht schließ225
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
lich die Studie „Überwachen und Strafen“ hervor. Ähnlich wie er sich bereits in
„Wahnsinn und Gesellschaft“ für die Geschichte von Praktiken der Grenzziehung interessierte – hier war es die Differenzierung in die Kategorien „krank“
und „gesund“ –, wendet er sich nun jenen Verfahren zu, die „deviante“ von
„normalen“ Subjekten unterscheiden.
Mitte der 1970er Jahre entwickelt er in seinen Vorlesungen am Collège de
France mit dem Konzept der Gouvernementalität nicht nur eine neue Form der
Machtanalyse; er erweitert den Gegenstandsbereich seiner Studien beträchtlich
und nimmt nun auch Regierungsformen in den Blick, welche sich auf die Bevölkerung konzentrieren und auf deren Steuerung abzielen (vgl. Foucault 2006a,
2006b). Vor dem Hintergrund seiner Diagnose einer sich verschärfenden „Biopolitik“ wendet er sich in den letzten Jahren verstärkt der Antike zu. Von den
hier praktizierten Formen der „Selbstsorge“ und der „Ästhetik der Existenz“
erhofft er sich Anstöße und Impulse bei der Suche nach widerständigen, selbstbestimmten Formen der Lebensführung (vgl. Rieger 1997). Diese Arbeiten, die
zu Beginn der 1980er Jahre als weitere Beiträge in der Serie „Sexualität und
Wahrheit“ erscheinen, bleiben jedoch unabgeschlossen (vgl. Foucault 1993b,
1993c). Am 25. Juni 1984 stirbt Foucault an den Folgen einer HIV-Infektion.
2
Überwachen und Strafen
Nimmt man „Überwachen und Strafen“ zum ersten Mal in die Hand, sieht man
sich unmittelbar mit einer schonungslosen Darstellung körperlichen Schmerzes
konfrontiert: Die aufwühlende Schilderung der öffentlichen Hinrichtung des
Königsattentäters Damiens um 1757, bei welcher der Verurteilte gemartert und
schließlich gevierteilt wird, lässt kein grausames Detail aus. Direkt im Anschluss
an diese schockierende Eingangspassage zitiert Foucault freilich eine Gefängnisordnung, die – obwohl nur ein knappes Jahrhundert später verfasst – eine hohe
Regelungsdichte aufweist, die persönliche Willkür der Wärter weitgehend ausschließt und, nicht zuletzt, keinerlei Folterpraktiken verzeichnet (vgl. Foucault
1977: 9ff.).
Foucault untersucht nun in seiner Studie die darin zum Ausdruck kommende Reform des Strafvollzugs. Er sucht dabei nicht nur zu zeigen, welche unterschiedlichen Funktionen Gefängnisse innerhalb einer Gesellschaft übernehmen
und wie diese sich im Laufe der Zeit verändern. Ungleich wichtiger ist seine
hermeneutische Prämisse, dass die in den Gefängnissen etablierten Einschließungsmechanismen sich auf andere Bereiche der Gesellschaft auswirken. Das
Gefängnis gilt Foucault daher als ein Exemplum, an dem die moderne Machtform am besten zum Ausdruck kommt: Richtete sich der Zugriff des Strafsys226
Michel Foucault
tems bei der Marter noch auf den Körper, zielen die modernen Ausschließungsinstitutionen mittels Disziplinierung auf die Seelen der Delinquenten – und darüber hinaus auf die gesamte Gesellschaft. Foucaults historische Studie ist daher
zweifellos zeitdiagnostisch motiviert: Er konzipiert seine Geschichte des Gefängnisses denn auch ausdrücklich als Beitrag zu einer „Geschichte der Gegenwart“ (ebd.: 43).
Im Zentrum des ersten Kapitels steht die Marter. Diese überaus schmerzhafte Strafform setzt unmittelbar am Körper an und stellt eine Verbindung zu dem
Verbrechen her, das es zu sühnen gilt. Erkennbar wird diese Beziehung etwa
dadurch, dass einem Mörder die Faust abgeschlagen oder einem Gotteslästerer
die Zunge durchbohrt wird. Ermittlung und Bestrafung fließen bei dem durch die
Folter erzwungenen Geständnis gleichsam ineinander. In der Folge dieser Verquickung wird der Körper zur „Zielscheibe der Züchtigung und [zum] Ort der
Wahrheitserpressung“ (ebd.: 57). Entsprechend muss die Vollstreckung der Strafe öffentlich vorgenommen werden, weil sie andernfalls ihrer abschreckenden
Wirkung beraubt wäre: Das Volk nimmt als Zuschauer an der Hinrichtung teil,
um sie mit eigenen Augen zu bezeugen, bisweilen sogar um selbst an der Bestrafung mitzuwirken.
Die so beschriebene vormoderne Marter intendiert, das Vergehen zu rächen
und bestimmt die Intensität der körperlichen Bestrafung in Abhängigkeit von
dem begangenen Unrecht. In der Moderne hingegen soll die Bestrafung des Verurteilten zu seiner Besserung und Läuterung beitragen. Entsprechend verändern
sich an der Schwelle zur Moderne die Formen der Strafe mittels der
„Verschiebung in der Mechanik des Exempels: in einem Strafsystem der Marter war das Exempel die Erwiderung auf das Verbrechen; als verdoppelnde Manifestation hatte es das
Verbrechen kundzumachen wie auch die souveräne Macht, die es überwältigte. In einem seine
eigenen Effekte kalkulierenden Strafsystem muss das Exempel mit der größtmöglichen Diskretion auf das Verbrechen verweisen, muss es den Eingriff der Macht so sparsam wie nur möglich und im Idealfall jedes weitere Auftreten von Verbrechen und Strafe verhindern. Das Strafexempel ist nicht mehr ein Manifestationsritual, sondern ein Verhinderungszeichen“ (ebd.:
119).
Einhergehend mit dieser Reform des Strafsystems werden in der Moderne Gesetzeswidrigkeiten immer differenzierter behandelt. Die Öffentlichkeit wird hier
erneut miteinbezogen: freilich nicht länger als Zuschauer des abschreckenden
Spektakels einer Hinrichtung, sondern nun als kundige Leser der Gesetze, auf
denen die Lektionen beruhen. Dabei folgt die Strafe in Gefängnissen mitunter
dem Prinzip der Arbeit; sie setzt immer häufiger Mechanismen der Isolierung
und zielt mittels minutiöser Zeitplanung auf eine lückenlose Überwachung: „Die
Einkerkerung zum Zwecke der Transformation der Seele und des Verhaltens tritt
damit ins System der bürgerlichen Gesetze ein“ (ebd.: 159). Der Zugriff auf die
227
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
Seele und das Verhalten erfolgt gleichwohl noch immer über den Körper des
Verurteilten – nun im Modus auf Disziplin beruhender, hoch entwickelter Dressurmethoden. Dieser Eingriff in die Körperkräfte der Delinquenten ist stets ein
doppelter: Einseiters steigert die Disziplin die dem ökonomischen Nutzen förderlichen Kräfte des Körpers, andererseits schwächt sie gezielt deren widerständigen und politischen Kräfte (ebd.: 177).
Diese Disziplinartechniken sind nun Gegenstand des zentralen Kapitels von
„Überwachen und Strafen“. Nach Foucault beruht die Disziplinierung erstens auf
der räumlichen Verteilung der Individuen, nach der jedem Körper ein Platz zugeteilt wird. Im Zusammenspiel mit der bisweilen notwenigen Klausur – der Einschließung – verhindert diese Parzellierung eine vermeintlich widerständige
Anhäufung. Jedem Individuum wird zudem eine Funktion zugeteilt und ein spezifischer Rang zugewiesen (vgl. ebd.: 181ff.). Dabei fällt auf, dass die in der
Industrialisierung entstandenen Fabrikorganisationen wie auch die leistungshomogene Schulklasse denselben Prinzipien folgen. Die heterogene Masse der
Bevölkerung in eine Ordnung zu bringen, ist die Grundvoraussetzung „für die
Kontrolle und Nutzbarmachung einer Gesamtheit verschiedener Elemente: die
Basis für eine Mikrophysik der Macht, die man ‚zellenförmig‘ nennen könnte“
(ebd.: 191).
Auch die pädagogische Praxis kann sich der Disziplinartechnik nicht entziehen: Nimmt man etwa die genaue Zeitplanung im Unterricht in den Blick, die
Formung des Körpers durch gymnastische Übungen oder die durch Schulbänke
erzwungene „ideale“ Schreibhaltung, so wird deutlich, dass hier die Nutzbarmachung der Individuen nach dem „Prinzip des Nicht-Müssiggangs“ (ebd.: 197)
betrieben wird. Entscheidend ist weiterhin, dass auch die Ausbildung völlig neu
organisiert wird: „Die Initiations-Zeit der traditionellen Ausbildung (eine globale
Zeit, die von einem Meister kontrolliert und durch eine Prüfung sanktioniert
wird) hat die Disziplinarzeit durch vielfältige fortschreitende Reihen abgelöst“
(ebd.: 205). Diese Reihen bestehen aus Programmen, die den Unterrichtsstoff in
einzelne Portionen zerlegen, nach Schwierigkeitsgrad in Stufen gliedern und auf
einer Zeitachse fixieren; dank einer solchen Organisation der pädagogischen
Praxis können detaillierte Kontrollen sowie die damit einhergehenden Interventionen zu jedem Zeitpunkt auf die Individualentwicklung zugreifen. Foucault
verortet die hier beschriebenen neuen Disziplinar- bzw. Machttechniken somit
als Reaktion auf die Entdeckung der individuellen Entwicklung im 18. Jahrhundert. Im Gegenzug werden entwicklungspsychologische Erkenntnisse erst dann
möglich, wenn die Disziplinartechniken den (Kontroll-)Blick auf einzelne Zeitspannen der Individualentwicklung gewähren. Für Foucault ist demnach die
Fragmentierung der Individualentwicklung „sowohl Effekt wie Objekt der Disziplin“ (ebd.: 207).
228
Michel Foucault
Darüber hinaus sind die erwähnten Disziplinarinstitutionen aus ökonomischen Gründen gefordert, die evozierten Produktivkräfte höher ausfallen zu lassen als den in ihnen betriebenen Aufwand, was eine taktische Bündelung einzelner disziplinierender Instrumente erfordert. So verlangt eine detaillierte Kontrolle der Insassen erstens deren Sichtbarmachung, was architektonisch mittels
räumlicher Organisation erreicht wird. Jede Disziplinareinrichtung umfasst zweitens eigene Strafmechanismen, die jene Bereiche sanktionieren, welche das Gesetz nicht regelt. Als Beispiele führt Foucault das Ahnden von Verspätungen,
Unaufmerksamkeiten oder falschen Körperhaltungen auf. Das Beharren auf
solch vermeintlich kleinlicher Ordnung lenkt den Blick auf Abweichungen von
der Regel und auf nonkonformes Verhalten. Es wirkt somit korrigierend und
verzeichnet die Betroffenen entsprechend ihrer Anpassungsleistung: „Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfasst und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend und ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend“ (ebd.: 236). Aus der Kombination dieser beiden Instrumente der
Sichtbarkeit und der normierenden Sanktion geht schließlich die Prüfung hervor:
In der Folge wird die Disziplinarmacht zunehmend unsichtbar. Gleichsam im
Gegenzug betreibt sie die Individualisierung und macht die einzelnen Subjekte
als „Fälle“ sichtbar. Das Individuum wird zur Zielscheibe der Macht – insbesondere wenn sie von der Norm abweicht und dementsprechend korrigiert werden
muss (vgl. ebd.: 238ff.).
Die Idealform einer Disziplinierungsanlage beschreibt Foucault am Beispiel
des Panopticons, dessen Pläne auf den Rechtsphilosophen Jeremy Bentham zurückgehen (vgl. Sarasin 2005: 138). Die Architektur dieses Gefängnisses sieht
vor, die einzelnen Zellen kreisförmig um den in der Mitte positionierten Wachtposten anzuordnen und sie dergestalt einer permanenten Kontrolle zu unterwerfen. Die beim vormodernen Kerker noch verdunkelten Kellerzellen werden im
Panopticon nun von außen gleichsam mit Licht geflutet und im wörtlichen Sinne
durchsichtig. In der Folge können die Bewegungen der Inhaftierten mit nur sehr
geringem Aufwand permanent und lückenlos überwacht werden. Durch das einfallende Licht und das verspiegelte Glas ist es ihnen unmöglich, einen Blick auf
den Kontrolleur zu werfen und ihn zu kontrollieren. Durch das geschickte architektonische Arrangement von Blickachsen und Spiegeleffekten wird zwischen
dem Inhaftiertem und dem Wärter eine asymmetrische Sozialbeziehung installiert: In der Folge kommt es zu einem gleichsam automatischen Funktionieren
der Macht, die nun nicht länger an einen Souverän gebunden ist und sich zunehmend entindividualisiert sowie entmaterialisiert. Die permanente Unwissenheit
des Inhaftierten, der nicht sicher sein kann, ob er unter Beobachtung steht oder
nicht, und die damit einhergehende fortwährende Bedrohung, sich durch eigene
229
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
Handlungen verraten zu können, sind in ihren Effekten kaum zu überschätzen
und wirken in hohem Maße selbstdisziplinierend. Foucault bezeichnet das Panopticon denn auch als ein „Laboratorium der Macht“ (Foucault 1977: 263), mit
dessen Hilfe sich das Verhalten der Individuen höchst wirksam und dauerhaft
korrigieren lässt.
Pointiert formuliert: das installierte Regime präfiguriert nicht allein das soziale Handeln, es muss darüber hinaus als Auslöser von Subjektivierungsprozessen interpretiert werden, die neue Formen der Subjektivität erzeugen. Zugleich
fügt es sich mit Blick auf die ausführenden Instanzen dieser Überwachung in
„demokratische Prinzipien“ ein: Zum einen kann die Funktion des Aufsehers von
jedermann übernommen werden, da sie als unabhängig von einem herrschenden
Souverän zu besetzende (Arbeits-)Stelle betrachtet wird. Zum andern bleibt die
Ausübung der Macht, die von der Funktion des Wärters wahrgenommen wird,
unter der Beobachtung und Kontrolle der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft.
Die Macht lässt sich folglich nicht mehr länger bei einer Person oder Institution
verorten.
Dieses Prinzip des Panoptismus gilt Foucault als ein allgemeines Funktionsmodell, das zwar ursprünglich für ein Gefängnis entwickelt wurde, das aber
von hier aus gleichsam ausstrahlt und sich längst auch in anderen Bereichen der
Gesellschaft eingenistet hat. So interpretiert er auch Schulen, Fabriken und
Krankenhäuser als Disziplinarinstitutionen, die nach panoptischen Prinzipien
organisiert sind und ein engmaschiges Netz aufspannen, das auch noch die
„nicht-disziplinierte(n) Räume diszipliniert“ (ebd.: 276). Durch die gegenseitige
Steigerung der Macht zwischen den Knoten des Netzes werden die Disziplinen
zu „Technologien“. Dabei wird jedes Mitglied der Gesellschaft miteinbezogen –
ein Außen scheint nicht länger zu existieren, eine Flucht vor dem Panoptismus
unmöglich: Wir sind, so hält Foucault apodiktisch fest, „eingeschlossen in das
Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selber in Gang halten – jeder ein
Rädchen“ (ebd.: 279).
Erweisen sich solcherart Aufklärung und Disziplin als gleichursprünglich,
verändert sich auch der Blick auf die abendländische Semantik – und mit ihm die
Rede von Identität. Der Träger von Identität, als der gemeinhin das Individuum
gilt, gerät bei Foucault gleichsam in die Krise. Dies insofern, als das Individuum
nicht nur als gefährdet oder bedrängt erscheint, sondern weil es viel grundsätzlicher in Frage gestellt wird. Operiert man mit dem Begriff einer – wenngleich
beschädigten – vorgängigen Individualität, kann dieser wenigstens noch zum
Medium der Kritik werden: Beschädigte Individualität könnte, etwa in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, immerhin noch spiegelbildlich auf einen Zustand der Unversehrtheit verweisen und dadurch zum Ferment
der Kritik werden (vgl. Adorno 1989). Foucault lässt freilich auch diesen Aus230
Michel Foucault
weg nicht mehr zu: Wenn sich das Subjekt selbst den Disziplinarpraktiken verdankt, wenn es gleichsam erst im Räderwerk der Marter entsteht, kann auch
nicht länger ein substantieller Begriff von Individualität in Anspruch genommen
werden. Und so führt er in einer Passage des Panoptimus-Kapitels, die zweifellos
zu seinen schärfsten Attacken auf das okzidentale Denken gehört, in schmuckloser Diktion aus: „Die schöne Totalität des Individuums wird von unserer Gesellschaftsordnung nicht verstümmelt, unterdrückt, entstellt: vielmehr wird das Individuum dank einer Taktik der Kräfte und der Körper sorgfältig fabriziert.“ Und
er fährt fort: „Wir sind weit weniger Griechen, als wir glauben“ (Foucault 1977:
278f.).
Damit wird deutlich, weshalb Foucault in seiner Studie zur „Geburt des Gefängnisses“ an keiner einzigen Stelle von Identität spricht. Die Voraussetzungen
eines Subjekts, das sich allen zentrifugalen Kräften – seien diese nun psychischer
oder gesellschaftlicher Art – zum Trotz um einen stabilisierenden Kern bemüht,
das Kongruenz als eine Leitvorstellung des eigenen Handelns begreift, wird von
ihm nicht nur nicht geteilt. Vielmehr sucht er genau diese Vorstellung, die innerhalb des europäischen Denkens zahlreiche Vertreter kennt (vgl. Taylor 1994),
durch seine Genealogie der modernen Disziplinargesellschaft zu destruieren. Ein
Individuum, das sich in freier Wahl eine Identität zu stiften sucht, muss ihm als
eine Konstruktion erscheinen, welche eigentümlich blind ist für die Perfidie der
beschriebenen Subjektivierungspraktiken: Hervorgegangen aus der Überlagerung
von Disziplinierungstechniken und Wissensordnungen, lassen sie kein Außen zu.
Wird die Seele, wie von Foucault vorgeschlagen, als Korrelat der am Körper
ansetzenden Strafpraktiken interpretiert (vgl. Schäfer 2004), kann Identität ersichtlich nicht länger als Folie der Kritik bemüht oder auch nur als Fluchtpunkt
widerständiger Praktiken entworfen werden.
3
Kontext
Löst man sich nun etwas von Foucaults Studie zur Disziplinargesellschaft und
sucht sie mit Blick auf dessen Gesamtwerk zu gewichten, beginnt sich deren
Charakter genauer abzuzeichnen. In ihr kommt eine bestimmte Form der Reflexion zu ihrem Höhepunkt – und damit eben auch an ihr Ende. „Überwachen und
Strafen“ markiert daher im Werk Foucaults, das an Neueinsätzen nicht eben arm
ist, eine markante Zäsur. Sie ist die letzte einer Reihe großer Studien, welche
sich auf einzelne Institutionen konzentrieren, welche die Arbeitsweise von lokal
gebundenen Machtpraktiken in den Mittelpunkt rücken und dabei den Anspruch
erheben, durch den Blick auf vermeintlich randständige Phänomene jene Kräfte
231
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
freilegen zu können, welche die Gesellschaft in toto organisieren (vgl. Sarasin
2007).
Für die Fragen nach den Möglichkeiten einer Identitätsforschung, welche
die Ergebnisse der Subjektkritik nicht einfach unterschlägt, sondern diese als
Stimulans der eigenen Theoriebildung begreift, ist nun interessant, dass Foucault
für deren Fragestellung sensibler wird, als er Mitte der 1970er Jahre nach Möglichkeiten sucht, seine Machtkritik zu verfeinern, ihren Gegenstandsbereich zu
erweitern – und nun auch für jene Formen der Zurichtung Analysewerkzeuge zu
entwickeln, die ohne die Ausübung physischer Gewalt auskommen. Am deutlichsten wird dies in jenen Vorlesungen, die er – nach seinem Sabbatical –
1977/78 und 1978/79 am Collège de France hält und die längst als die Geburtsstunde der Gouvernementality Studies gelten (vgl. Lemke 2002a).
Mit dem Begriff der Regierung entwickelt er ein Erkenntniswerkzeug, das
es ihm erlaubt, auf zwei eklatante Defizite seiner Machtanalysen zu reagieren:
Zum einen überwindet er damit die gewissermaßen interaktionstheoretische
Engführung seiner Analysen, die für makrosoziologische Phänomene auffällig
unempfänglich waren und den Staat kaum einmal angemessen berücksichtigten.
Zum anderen wird die Macht nicht länger als asymmetrische Sozialbeziehung
entworfen, bei der sich zwei Akteure unversöhnlich einander gegenüberstehen
(vgl. Ricken 2006).
Der vieldeutige Begriff der Regierung, den Foucault schließlich mit dem
Terminus Mentalität zum Neologismus Gouvernementalität verschmelzen wird,
vermag dies zu leisten, weil er auf ganz unterschiedliche semantische Felder
verweist. So deckt er in seiner Vorlesung am 1. Februar 1978, stets mit Blick auf
die Literatur des 16. Jahrhunderts, eine bemerkenswerte Pluralisierung des Regierungskonzepts auf. Herausgelöst aus der engen Verknüpfung von Fürst und
Fürstentum bzw. von Souverän und Territorium, lässt sich hier eine Veralltäglichung der Regierungspraxis beobachten: Neben dem Familienvater regiert auch
der Vorsteher eines Klosters, aber eben auch der Lehrer und der Erzieher. Für
alle ist charakteristisch, dass sie eine Maxime von Guillaume de La Perrière
beherzigen: „,Regieren ist die richtige Anordnung der Dinge, deren man sich
annimmt, um sie zu einem angemessenen Ziel zu führen‘“ (zit. n. Foucault
2006a: 145). Die besondere Regierungskunst besteht folglich in der Fähigkeit,
für einen selbstgesetzten Zweck genau jene Mittel zu identifizieren, welche den
größten Erfolg versprechen, über diese verfügen zu können und sie schließlich
effizient und zielgerichtet einzusetzen.
Stellt man weiterhin in Rechnung, dass das französische Verb gouverner
neben der Bedeutung von „regieren“ auch noch jene von „lenken“ aufweist, wird
deutlich, weshalb dieser Begriff Foucault zu einem Schlüssel wird, endlich auch
solche Sozialbeziehungen in den Blick zu nehmen, die zwar auf die Ausübung
232
Michel Foucault
oder Androhung physischer Gewalt verzichten, die aber gleichwohl ebenfalls als
eine spezifische Form des Zwanges gelten müssen. Raffinierte Regenten, die
etwa mit der Lenkung eines Schiffes, eines Klosters oder einer Familie betraut
sind, kommen meist deshalb ohne eine direkte Adressierung der Akteure aus,
weil sie ihre Aufmerksamkeit auf das Gesamt jener Elemente richten, die den
Erfolg ihres Unternehmens beeinträchtigen könnten. Statt den beteiligten Individuen mit der Androhung offener Gewalt zu begegnen, verwenden sie ihre Energie darauf, die relevanten Dinge so zu arrangieren, dass diese die Handlungen
jener, die sich in ihrem Kraftfeld bewegen, gleichsam eigenständig präfigurieren.
An die Stelle gewaltsamer Zwangshandlungen oder offener Konfrontationen
treten daher immer häufiger neue Regierungspraktiken, die als solche mitunter
kaum noch kenntlich sind.
Die für Foucault vielleicht wichtigste Neuerung besteht in der Einsicht, dass
in Regierungspraktiken dieser Art die Unterscheidung von „Eigenem“ und
„Fremden“ überaus schwierig wird und Selbst- bzw. Fremdkontrolle übereinander geblendet werden. Thomas Lemke hat dieses Phänomen treffend festgehalten:
„Jenseits einer exklusiven politischen Bedeutung verweist Regierung also auf unterschiedliche
Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie
Techniken der Fremdführung umfassen“ (Lemke 2002b: 46).
Dies zeigt sich, als er einen neuen Machttyp identifiziert, den er Pastorat nennt.
Es handelt sich dabei um ein Ensemble von Techniken des Führens und Lenkens,
die zwar zunächst in hebräischen Texten entwickelt, aber erst im Mittelalter und
der Neuzeit durch das Christentum popularisiert wurden. Charakteristisch für
diese Spielart der Macht ist das Beziehungsgefüge, das zwischen einem Hirten
und seiner Herde besteht. Die Macht des Hirten bezieht sich – im Unterschied
etwa zu der des Fürsten – nicht auf ein begrenztes Territorium, sondern auf eine
Herde und deren Mitglieder. Leitet er diese und versammelt sie, liegt nicht nur
deren Wohlergehen in seinen Händen; er trägt auch die volle Verantwortung für
sie. Idealiter ist dabei seine Aufmerksamkeit ungeteilt – er hat jedes einzelne,
individuelle Schaf im Blick und doch zugleich die ganze Herde (vgl. Foucault
1994).
Die Perfidie dieser Machttechnik erweist sich in jenem Moment, als der
neuzeitliche Staat das Verhältnis zu seinen Bürgern nach der Art des Pastorats
neu organisiert. Wird der Bürger nicht zuerst als Rechtssubjekt adressiert, sondern als „bedürftiges Lebewesen“, erzeugen die davon ausgehenden, individualisierenden Effekte neue, häufig verdeckte Abhängigkeiten. Friedrich Balke hat
233
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
die Verschiebung der Aufmerksamkeit sowie die Folgen, die diese zeitigt, unlängst präzise herausgestellt:
„Es sind nicht länger die ,Großen‘ und ,Ruhmreichen‘, denen die Aufmerksamkeit der Macht
gilt, sondern das beliebige Individuum und alles, was ihm zustoßen kann. Der moralisch Gefallene, der Verbrecher, der Wahnsinnige, der Kranke, das Kind: sie sind die typischen Zielscheiben einer Machttechnik, die auf den Punkt zielt, von dem ab ein erwartetes Verhalten oder eine
erwartete Entwicklung einen überraschenden Verlauf nimmt, der zur Besorgnis Anlaß gibt“
(Balke 2006: 269).
Die Stiftung von Identitäten und deren Regulierung sind daher fast gleichursprünglich. Identität verweist bei Foucault denn auch nicht auf die geschützte
Sphäre einer Eigenheit, die den Zugriffen anderer entzogen bleibt; vielmehr gilt
sie ihm als ein Marker, der jene Stellen bezeichnet, über die asymmetrische Beziehungen geknüpft werden können. So erweist sich die Sorge des Hirten als
überaus ambivalentes Phänomen.
Berücksichtigt man diese bemerkenswerte Verschiebung, an deren Ende
sich Foucault mehr und mehr für jene für die neoliberale Gouvernementalität
typischen Arrangements interessiert, die Subjekte dazu anhalten, die eigene Biographie als ein Projekt zu begreifen und das eigene Leistungsvermögen fortwährend zu optimieren, wird deutlich, dass Identität zu einem Begriff wird, der eine
entscheidende Weiterentwicklung seiner Machtkritik anzeigt. So hält er in einem
programmatischen Vortrag, der unter dem Titel „Omnes et singulatim“ das Konzept der Pastoralmacht vorstellt, fest, dass er nun am „Problem der Individualität“ arbeite, um dies gleich im Anschluss noch einmal in Form einer Frage zu
variieren: „oder sollte ich sagen: der Identität in Hinsicht auf das Problem der
,individualisierenden Macht‘“ (Foucault 1994: 67).
4
Rezeption und Kritik
Mit Blick auf diese Weiterentwicklung wird deutlich, dass die wichtigsten Impulse für die Identitätsforschung nicht von der Studie „Überwachen und Strafen“
selbst ausgehen, sondern eher von jenen Arbeiten, die Foucault im Wissen um
deren systematischen Schwächen im Anschluss verfasst – und mit denen er tatsächlich sowohl eine thematische Ausweitung erreicht als auch eine Verfeinerung des methodischen Instrumentariums. Sprach er in der Gefängnisstudie noch
von einem „Disziplinarindividuum“ (Foucault 1977: 291), dessen Seele sich
einer Ausweitung des Panoptismus verdanke, wendet er sich in den späten
1970er Jahren ganz gezielt jenen Regierungspraktiken zu, welche den einzelnen
nicht länger zu unterwerfen oder zu disziplinieren unternehmen, die ihn vielmehr
234
Michel Foucault
als eigenständiges Individuum adressieren und als Subjekt seiner Handlungen
unterstellen. Erst mit der Akzentuierung des Selbst, die für die späten Arbeiten
Foucaults charakteristisch ist, sind die Voraussetzungen gegeben, von „Identität“
zu sprechen (vgl. Gehring 2003).
Es sind diese machtkritischen Analysen von Subjektivierungspraktiken, die
– mit einer gewissen Verzögerung nun auch im deutschsprachigen Raum – seit
einigen Jahren intensiv rezipiert werden und die sich in der Gestalt der Gouvernementality Studies innerhalb des akademischen Feldes etabliert haben. Sie eröffnen einen Zugang zu den fortgeschrittensten und raffiniertesten Regierungstechniken und schärfen auf diese Weise endlich auch den Blick für die subtilen,
häufig verdeckten Formen der Lenkung und Führung (vgl. Rieger-Ladich 2004).
Es bedarf kaum der Erläuterung, dass damit gerade auch für die Erziehungswissenschaft ein hochinteressantes Reflexionsangebot vorliegt. Auch wenn dieses in
den letzten Jahren eine ganze Reihe von Studien hervorgebracht hat (vgl. Ricken/Rieger-Ladich 2004; Kessl 2005; Maurer/Weber 2006; Eigenmann 2008),
lässt sich doch als deren Gemeinsamkeit festhalten, dass sie sich für die unterschiedlichen Formen interessieren, wie durch die Stiftung von Identitäten und
deren Regulierung ganz charakteristische Machtverhältnisse – bzw. „Regime“ –
installiert werden.
Jan Masschelein und Maarten Simons etwa haben unter dem Titel Globale
Immunität eine „Kartographie des europäischen Bildungsraums“ (Masschelein/Simons 2005) vorgelegt, durch die sie jene Kräfte aufzudecken versuchen,
welche individualisierende Effekte erzeugen und verdeckte Machtbeziehungen
begründen. Dieses anonyme „Regime der Selbstführung“ führt nicht nur zu einer
radikalen Neuorganisation des Erziehungs- und Bildungssystems und stiftet über
schwer zu lokalisierende Interpellationen Identitäten mit charakteristischen, je
begrenzten Handlungsspielräumen – es verändert auch elementare Dimensionen
des Selbst- und Fremdbezugs. So vergiftet die Rekonfiguration des sozialen
Raumes durch die ökonomische Logik, die sich etwa im Mantra der Selbstverantwortung und den Elogen auf den Wettbewerb äußert, die Sphäre des Zwischen, in der es zur Begegnung und Berührungen mit dem Anderen kommt. Hier
kann man sich gegenwärtig kaum noch einmal als verletzlich, unzulänglich und
unsicher zeigen:
„Die Figur des unternehmerischen Selbst ist die Figur eines ,Schulterlosen‘, einer Person, die
durch das Zusammenleben oder Mit-Sein nicht be-lastet wird. Sie zeichnet sich durch vollkommene Immunität aus. In der Beziehung zum Selbst, zu anderen und der Welt, die vom unternehmerischen Selbst verlangt wird, gibt es keine lästigen Fragen über das Zusammenleben“
(Masschelein/Simons 2005: 104f.).
235
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
Käte Meyer-Drawe lenkt in ihrer Studie „Der kontrollierte Mensch“ (MeyerDrawe 2006) die Aufmerksamkeit auf die Veränderungen unserer Selbst- und
Fremdbilder, welche dadurch erzeugt werden, dass das ökonomische Feld, dem
auch sie eine hegemoniale Stellung attestiert, immer häufiger die Grenzen zu
anderen sozialen Feldern aufweicht und deren interne Logik recodiert. Insbesondere die Semantik des Managements, welche seit einigen Jahren nicht allein das
pädagogische Feld zu erobern begonnen hat, führt zu völlig neuen, radikal veränderten Formen der Selbstthematisierung. Lernende werden in der Folge zu
selbstorganisierten psychischen Systemen, die ihre Verarbeitungskapazität zu
optimieren und sich fortwährenden Evaluationsmaßnahmen zu unterwerfen
gehalten sind; Subjekte werden zu Unternehmern ihrer selbst, die ihr Humankapital output-orientiert, d.h. auf möglichst effiziente und effektive Weise zu bewirtschaften haben. Ausgelöscht wird dadurch freilich eine Form der Selbstreflexion, die noch mit unserer elementaren Unzulänglichkeit rechnete. So konstatiert Meyer-Drawe, dass durch die Dominanz der ökonomischen Logik „Bedingungen des Sagbaren und Denkbaren“ erzeugt würden, welche die Reflexion
über die conditio humana auf überaus problematische Weise eng führten: „Es
bleibt kein Raum mehr für eine Selbstdeutung im Sinne fragiler Subjektivitiät“
(Meyer-Drawe 2006: 122, 124).
Karin Amos und Frank-Olaf Radtke knüpfen an diese Befunde an und nehmen aus der Perspektive der Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft die post-nationale Konstellation in den Blick, innerhalb derer es zur
„Formation neuer Bildungsregime“ (Amos/Radtke 2007) kommt. Besonders
eindrücklich lässt sich die machtvolle Reorganisation des Verhältnisses zwischen
Staat, Bevölkerung und Territorium und deren Effekte für einzelne Bildungssysteme am Beispiel der Universität explizieren. Unter dem Titel „Die außengeleitete Universität“ erläutert Radtke den radikalen, marktgesteuerten Umbau der
Hochschulen und bescheinigt ihr eine „betriebswirtschaftliche Revolution von
oben“ (Radtke 2008: 120). Die Implementierung einer Wettbewerbslogik durch
Instrumente des Qualitätsmanagements bleibt freilich nicht auf der Ebene des
Organisatorischen. Von ihr gehen genau jene subjektivierenden Effekte aus (vgl.
Amos/Radtke 2007: 152), welche Foucault zur Prägung des Begriffs Gouvernementalität geführt hatten – sie stiften nicht nur neue Identitäten, sie verändern
damit auch die Sozialbeziehungen innerhalb der Hochschulen auf ganz grundlegende Weise:
„Obwohl es sich bei den Studierenden um Erwachsene handelt, die vernünftigen Argumenten zugänglich sind, muss mit dem neuen Studienregime Infantilisierung und Beschämung in
Kauf genommen werden. ,Lernende‘ werden zu Objekten der Kontrolle und Aussonderung,
,Lehrende‘ zu Aufsichts- und Prüfinstanzen“ (Radtke 2008: 128).
236
Michel Foucault
Primärliteratur
Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1991a): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.: Fischer.
Foucault, Michel (1991b): Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von
Ralf Konersmann. Frankfurt a.M.: Fischer.
Foucault, Michel (1993a): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1993b): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1993c): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1994): Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen
Vernunft. In: Vogl, Joseph (Hrsg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer
Philosophie des Politischen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 65-93.
Foucault, Michel (2006a): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der
Gouvernementalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2006b): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Sekundärliteratur
Abels, Heinz (2006): Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der
Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch
auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Adorno, Theodor W. (1989): Noten zur Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Amos, Karin/Frank-Olaf Radtke (Hg.) (2007): Die Formation neuer Bildungsregime: Zur Durchsetzung von Regierungstechniken in der post-nationalen
Konstellation (Tertium Comparationis. Journal für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft 13, Heft 2). Münster:
Waxmann.
237
Philipp Eigenmann & Markus Rieger-Ladich
Balke, Friedrich (2006): Regierungsmacht bei Foucault. In: Philosophische
Rundschau 53, S. 267-288.
Eigenmann, Philipp (2008): Anleitung zur produktiven Subjektivität. Eine gouvernementalitätstheoretische Kritik an der Beurteilung des Arbeits-, Lernund Sozialverhaltens im neuen Zeugnis der Volksschule des Kantons Zürich. Unveröffentlichtes Manuskript, Zürich.
Eribon, Didier (1999): Michel Foucault. Biographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Gehring, Petra (2003): Spiel der Identitäten? Über Michel Foucaults „L’usage
des plaisiers“. In: Straub, Jürgen/Renn, Joachim (Hrsg.): Transitorische
Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt a.M./New
York: Campus, S. 374-391.
Kaufmann, Jean-Claude (2005): Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität. Konstanz: UVK.
Kessl, Fabian (2005): Der Gebrauch der eigenen Kräfte: eine Gouvernementalität
Sozialer Arbeit. Weinheim-München: Juventa.
Keupp, Heiner/Höfer, Renate (Hrsg.) (1998): Identitätsarbeit heute. Klassische
und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kögler, Hans-Herbert (2004): Michel Foucault. Stuttgart: Metzler.
Lemke, Thomas (2002a): Die politische Theorie der Gourvernementalität: Michel Foucault. In: Brodocz, André/Schaal, Gary S. (Hrsg.): Politische Theorien der Gegenwart I. Eine Einführung. Opladen: Leske & Budrich, S. 471501.
Lemke, Thomas (2002b): Stichwort: Gouvernementalität. In: Information Philosophie 30, S. 46-48.
Masschelein, Jan/Maarten Simons (2005): Globale Immunität oder Eine kleine
Kartographie des eurpoäischen Bildungsraums. Zürich-Berlin: Diaphanes.
Maurer, Susanne/Weber, Susanne (Hrsg.) (2006): Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft: Wissen – Macht – Transformation. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Meyer-Drawe, Käte (2000): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht
und Allmacht des Ich. München: Kirchheim.
Meyer-Drawe, Käte (2005): Der kontrollierte Mensch. Normalisierung eines
Lebens unter Beobachtung. In: Kodalle, Klaus M. (Hrsg.): Der geprüfte
Mensch. Über Sinn und Unsinn des Prüfungswesens (Kritisches Jahrbuch
für Philosophie, 6. Beiheft). Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 121128.
Radtke, Frank-Olaf (2008): Die außengeleitete Universität. In: WestEnd. Neue
Zeitschrift für Sozialforschung 5, Heft 1, S. 117-133.
238
Michel Foucault
Ricken, Norbert (2006): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie
der Bildung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Ricken, Norbert/Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.) (2004): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Rieger, Markus (1997): Ästhetik der Existenz? Eine Interpretation von Michel
Foucaults Konzept der „Technologien des Selbst“ anhand der „Essais“ von
Michel de Montaigne. Münster u.a.: Waxmann.
Rieger-Ladich, Markus (2004): Unterwerfung und Überschreitung: Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung. In: Ricken, Norbert/Rieger-Ladich,
Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 203-223.
Sarasin, Philipp (2005): Michel Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius.
Sarasin, Philipp (2007): Unternehmer seiner selbst. In: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 55, S. 473-479.
Schäfer, Alfred (2004): „Die Seele: Gefängnis des Körpers“. Überlegungen zur
Säkularisierungsproblematik bei Foucault. In: Pongratz, Ludwig A. et al.
(Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der
Pädagogik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 97-112.
Straub, Jürgen (1991): Identitätstheorie im Übergang? In: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau 23, S. 49-71.
Straub, Jürgen (2004): Identität. In: Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhard (Hrsg.):
Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 277-303.
Taylor, Charles (1994): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen
Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
239
Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte
Demokratie. Zwei Essays zu Europa
Jörg Zirfas
Einleitung
Der französische Philosoph Jacques Derrida gilt als der Begründer und Hauptvertreter der Dekonstruktion. Die Dekonstruktion ist zunächst eine Reaktion auf
den Sachverhalt, dass es eine absolute Grundlage des Denkens nicht mehr gibt.
Weder die Religion, noch die Menschheit, die Gesellschaft oder das Subjekt
können ein solches Fundament liefern. Insofern ist die Dekonstruktion das Resultat der spezifisch modernen Erfahrungen von Pluralität und Relationalität; wir
sprechen von den Religionen, den Menschen, den Gesellschaften oder den Subjekten. Dekonstruktion ist eine spezielle Form philosophischer Bewegung, die
intensiv mit dem Denken ihres Gegenstandes verbunden ist und die sich je nach
Gegenstand ändert. Dekonstruktion ist daher ständiger Perspektivwechsel, ist die
Betonung von zeitlichen Veränderungen und strukturellen Differenzen. Derrida
selbst gibt zu bedenken, dass seine dekonstruktive Herangehensweise „niemals
die Einheit ihres Vorhabens und ihres Gegenstandes definieren, weder ihre Methoden diskursiv fassen noch die Grenzen ihres Feldes umreißen“ kann (Derrida
1983: 14). Dekonstruktion stellt somit eine Markierung und Entgrenzung traditioneller Wissenschaften dar, da sie für eine unabschließbare Art des Lesens und
Schreibens steht. Für Derrida sind Dekonstruktionen – er spricht lieber vom
Plural – Erfahrungen von Differenzen.
Damit steht die Dekonstruktion Derridas von Anfang an in Verdacht, das
philosophische und sozialwissenschaftliche Axiom der Identität auflösen zu
wollen, um zu behaupten, dass die Differenz jeglicher Identität zugrunde liegt. In
diesem Sinne ist das dekonstruktive Denken ein Differenzdenken, das von der
Intention bestimmt wird, die Identität von der Differenz und der Alterität her zu
bestimmen. Will man das Ziel der Dekonstruktion insofern auf einen Punkt bringen, so gibt sie zu bedenken, ob nicht die wichtigste Bedingung der Identität die
Beziehung zu einem differenten anderen ist, und zwar eine Beziehung, die nicht
in der Logik des Selbst – und dem damit verbundenen selbst- und fremdzerstöre241
Jörg Zirfas
rischen Egozentrismus –, sondern in der Bewegung auf den anderen zu gründet.
Statt einer Apologie des Selbst fordert die Dekonstruktion eine Bejahung der
Differenz und des Differierens. Die Dekonstruktion verfolgt in diesem Sinne
eine politische und ethische Praxis, die im Bestreben steht, das Denken von innen her für das zu öffnen, was es selbst seit jeher ausgeschlossen hat, um dem
anderen gerecht werden zu können (Zirfas 2001a). Dekonstruktion, so Derrida
„ist die Gerechtigkeit“ (Derrida 1991: 30).
1
Biographie
Jacques Derrida wurde am 15. Juli 1930 in El-Biar, Algerien geboren. 1942
wurde Derrida als Sohn einer jüdischen Familie entsprechend einer Verordnung
des Vichy-Regimes der Schulbesuch untersagt, denn die Quote für jüdische
Schüler wurde von 14 auf 7 Prozent gesenkt. Die antisemitischen Diskriminierungen und Repressionen wurden für Derrida sehr bedeutsam; Spuren eines Unbehagens an Fragen der Identifikation, der Zugehörigkeit und des Eigentlichen
durchziehen sein gesamtes späteres Werk (vgl. Bennington/Derrida 1994).
Seit 1949 lebte Derrida in Frankreich, studierte von 1952 bis 1954 an der
École Normale Supérieure in Paris, wo er Vorlesungen bei Louis Althusser und
Michel Foucault besuchte und sich mit Pierre Bourdieu anfreundete. 1956 erhielt
er ein Stipendium als special auditor für einen Studienaufenthalt an der Harvard
University. Während seines Militärdienstes (von 1957 bis 1959) lehrte er junge
Algerier und Algerienfranzosen Englisch und Französisch in Algerie. 1959 bis
1960 hatte er eine Stelle als Lehrer am Lycée in Lyon inne; von 1960 bis 1964
war er wissenschaftlicher Assistent für allgemeine Philosophie und Logik an der
Sorbonne. Ab 1965 bekleidete er bis 1984 eine Professur für Geschichte der
Philosophie an der École Normale Supérieure. Er beteiligte sich 1975 an der
Gründung der Greph (Group de recherches sur l’einseignement philosophique);
1981 gründete er die „Gesellschaft Jan Hus“ (eine Hilfsorganisation für verfolgte
tschechische Intellektuelle), 1982 wurde er Vorsitzender der RegierungsKommission zur Vorbereitung des Collège International de Philosophie (Paris)
und 1983 dessen Gründungsdirektor. Seit 1984 war er Directeur de recherche an
der École des Hautes en Sciences Sociales. Danach war er als Gastprofessor an
verschiedenen Universitäten der USA tätig; eine ständige Gastprofessur hatte er
an der University of California, Irvine, inne. Auf Vortragsreisen in den USA
lernte er u.a. Paul de Man und Jacques Lacan kennen.
Wissenschaftlich ist Derrida vor allem durch seine strukturalistischen Arbeiten zur Sprechakttheorie, zur Philosophie der Schrift und zum Logozentrismus hervorgetreten. Seine wichtigsten philosophischen Bezugspunkte sind
242
Jacques Derrida
Friedrich Nietzsche und vor allem Martin Heidegger. Den Durchbruch erlangte
Derrida im Jahr 1967, als er nahezu zeitgleich drei wichtige Schriften veröffentlichte: „De la grammatologie“ (Grammatologie, 1974), „La Voix et le phénomène“ (Die Stimme und das Phänomen, 1979) sowie „L’écriture et la différence“
(Die Schrift und die Differenz, 1972). Darüber hinaus sind wichtige Werke:
„Marges. De la philosophie“ (1972) (Randgänge der Philosophie, 1976/1988),
„Glas“ (1974) (Glas. Totenglocke), „La carte postale. De Socrate à Freud et audelà“ (1979) (Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, 1982),
„Force de loi. Le ,fondement mystique de l’autorité‘“ (1990) (Gesetzeskraft. Der
„mystische“ Grund der Autorität, 1991), „Donner le temps I. La fausse monnaie“
(1991) (Falschgeld. Zeit geben I, 1993), „Politiques de l’amité“ (1994) (Politik
der Freundschaft, 2000).
Derrida starb am 8. Oktober 2004 in Paris.
2
Die Identität des „Anderen Kaps“
Der uns vorliegende Text wurde zunächst von Derrida als Vortrag auf einem
Kolloquium über die „Kulturelle Identität Europas“ am 20.5.1990 in Turin
gehalten. Nach dem Fall der Mauer im November 1989 und der bis dahin geltenden Grenzziehungen zwischen den Blöcken von West und Ost stellt sich, historisch betrachtet, die Frage nach der Identität Europas neu. Die Ausgangsfrage
lautet dementsprechend? Wie lässt sich Europa zu Beginn der 1990er Jahre verstehen?
In der nun folgenden Rekonstruktion des Textes von Derrida über das „Andere Kap“ geht es nicht um einen detaillierten Nachvollzug seiner Argumentationen und auch nicht um eine Konkretisierung und Diskussion der kulturellen
Identität Europas (vgl. Viefhoff/Segers 1999). Im Mittelpunkt steht die Herausarbeitung des Identitätsmodells der Dekonstruktion anhand des Beispiels der
kulturellen Identität Europas. Dieser Zuspitzung ist geschuldet, dass sich die
folgenden Überlegungen nur auf den ersten Text des gewählten Werkes beziehen. Die umfangreichen Anmerkungen (Derrida 1992: 61-80) finden dabei ebenso wenig Beachtung wie das Gespräch über „Die vertagte Demokratie“ (ebd.: 8197).
In dieser Rekonstruktion sollen verschiedene Aspekte des Identitätsmodells
deutlich werden. Daher folgen wir nicht chronologisch dem Text, sondern systematisch spezifischen Gesichtspunkten, die Derrida mit der Identität in Zusammenhang bringt: 1. Die Axiome der Identität; 2. Das Kap der Identität; 3. Identität als Projekt; 4. Die Antinomie der Identität und schließlich 5. Identität als
Antwort und Verantwortung.
243
Jörg Zirfas
2.1 Die Axiome der Identität
Derrida beginnt seine Überlegungen mit zwei Standortbestimmungen bzw. zwei
Axiomen. Zunächst: Wer stellt überhaupt die Frage nach der Identität? Es ist
durchaus von Belang, ob ich die Frage nach der Identität von „außen“, als NichtEuropäer oder als Europäer im Namen des „Wir-Europäer“ stelle. Derrida beantwortet die Frage nach der Identität vom Standpunkt eines kolonialisierten
Europäers aus, d.h. als jemand, der selbst von den Rändern Europas, nämlich
Algerien, kommend, sich als „übermäßig akkulturalisiert“ beschreibt (vgl. Derrida 1992: 11, 29, 60). Legitimiert das seinen Diskurs über die Identität in besonderem Maße? Hat der akklimatisierte Randgänger Europas einen besonderen
Blick auf dessen Identität? Oder prinzipieller formuliert: Gibt es einen privilegierten Punkt, von dem aus sich die kulturelle Identität Europas erschließt, gibt
es spezielle Methoden, die diesen Beweis führen können oder besteht die kulturelle Identität Europas überhaupt nicht in einem solchen allzeit gültigen apodiktischen Beweis, sondern in dem Versuch, ihn jedes Mal in einem „Heute“ zu führen?
Derrida beantwortet diese Fragen nicht. Deutlich wird immerhin soviel: Der
Text über die kulturelle Identität ist immer auch ein Text über die Identität des
Schreibers dieses Textes. Das Schreiben über die Identität Europas ist immer nur
thematisierbar in einem Rekurs auf denjenigen, der schreibt: Er schreibt damit
auch über seine eigene Identität. Und an den drei Stellen, in denen er im Text
über sich selbst als denjenigen spricht, der die Frage nach der Identität Europas
stellt, wird deutlich, dass diejenigen, die sich sowohl als Europäer als auch als
Nicht-Europäer verstehen, nicht nur keine eigene mit sich selbst identische Kultur verkörpern, sondern auch einen spezifischen Blick für die nicht-identische
Kultur Europas mitbringen. Die kulturellen Grenzgänger, so könnte man sagen,
sind für Fragen der Identität und der mit ihr verbundenen Differenzen besonders
sensibel.
Das zweite Axiom lautet:
„Es ist einer Kultur eigen, dass sie nicht mit sich selbst identisch ist. Nicht, dass sie keine Identität haben kann, sondern dass sie sich nur insoweit identifizieren, ,ich‘, ,wir‘ oder ,uns‘ sagen
und die Gestalt des Subjekts annehmen kann, als sie mit sich selber nicht identisch ist, als sie,
wenn Sie so wollen, mit sich differiert. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne
diese Differenz mit sich selbst“ (ebd.: 12f.).
Derrida macht hier auf den (sprach-)logischen Sachverhalt aufmerksam, dass
man, um sich auf sich selbst zu beziehen, immer schon Abstand von sich gewonnen haben muss. Reflexion, auch diejenige auf Identität, setzt Distanz voraus.
Gehen wir nämlich davon aus, dass eine Kultur in dem Sinne vollkommen mit
244
Jacques Derrida
sich selbst identisch wäre, so dass man sagen könnte, die kulturelle Identität
Europas ist die kulturelle Identität Europas, so wäre nichts gesagt. Diese Identität
wäre eine Tautologie. Sagt man aber, dass Europa sich auf sich selbst bezieht,
und baut somit eine Differenz ein, so gewinnen Sätze wie: „Europa trennt oder
entfernt sich von seiner Identität“, „Europa verliert sich bzw. verliert seine Identität“ ihren Sinn. Im Bezug Europas auf seine Identität ist jedoch mitgedacht,
dass es in diesem Abstand, immer auch das ist, was es nicht – eigentlich – ist. So
lässt sich verallgemeinern: Die Identität ist niemals Tautologie oder Paradoxie,
ist weder Identität noch Nichtidentität, sondern ist die Relation zwischen dem,
was man ist (Tautologie), und dem, was man nicht ist (Paradoxie).
Dass Identität immer eine Relationierung zwischen dem, was man ist, und
dem, was man nicht ist, darstellt und dieser Sachverhalt sich nicht nur auf die
kulturelle Identität Europas beziehen lässt, sondern jeder Form von Identität
zukommt, betont Derrida ausdrücklich:
„Es gibt keinen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selber ohne Kultur – ohne eine Kultur des Selbst als Kultur des anderen, ohne eine Kultur des doppelten Genitivs und des Vonsich-selber-Unterscheidens, des Unterscheidens, das mit einem Selbst einhergeht“ (ebd.: 13).
2.2 Das Kap der Identität
Die eben dargestellte These lässt sich gut am Begriff des „Kaps“ verdeutlichen.
Derrida verweist darauf, dass dieser Begriff den „Kopf“, das „Haupt“, das „Ziel“
oder auch das äußerte „Ende“ eines Sachverhaltes bezeichnet (ebd.: 15). Bezogen auf die kulturelle Identität gibt es die Frage nach dem synchronen Kap als
die Frage nach dem Zentrum Europas heute und die Frage nach dem diachronen
Kap – dem Ziel der historischen Bewegung Europas, die als noch unabgeschlossen gelten muss und in die Zukunft verweist. Die Identität Europas ist auf die
aktuellen (räumlichen) anderen Kulturen und sie ist auf ihre Vergangenheit wie
auf ihre Zukunft verwiesen (s.u. 2.3).
Mit Bezug auf den aktuellen Identitätszusammenhang lässt sich mit gutem
Grund die Frage stellen, ob Europa überhaupt einen Kern oder ein Kap etwa in
Form einer Hauptstadt hat. Oder gibt es einen territorialen, kulturellen, sprachlichen, symbolischen oder ethischen Mittelpunkt Europas? Oder ist das Kap körperlich? Denn die kulturelle Identität ist schließlich auch ein körperliches Problem, verkörpern schließlich „die“ Europäer spezifische Formen des Symbolischen und Praktischen (ebd.: 49f.). Ist es für die kulturelle Identität Europas
überhaupt sinnvoll, von einem solchen Mittelpunkt Europas auszugehen bzw.
diesen zu bestimmen? Eine damit zusammenhängende Frage ist die nach den
Grenzen, die vom Kap gezogen werden. Die Identität befragen, bedeutet auch,
245
Jörg Zirfas
sich auf Differenzierungen und Abgrenzungen einzulassen: die Grenzen im Inneren, aber vor allem die äußeren zu umreißen. Identitätsbildung ist immer auch
Grenzziehung: „Die größte Ungewissheit ist dort bemerkbar, wo es um Europas
Grenzen geht: um seine geographisch-politischen Grenzen […], um seine sogenannten ,geistigen‘ Grenzen“ (ebd.: 47). Doch wo liegen die Grenzen Europas?
Identität, so Derridas zentrale These, kann man nicht erklären, indem man
sie von der Bezugnahme auf anderes und den anderen abschneidet. Identität lässt
sich nur relativ, im Kontext erläutern. Was etwas oder jemand ist, so argumentiert Derrida, ergibt sich nicht aus einer reinen positiven Bezugnahme auf sich
selbst, sondern gleichsam negativ durch seine Bezugnahme, seine Differenzen
und Oppositionen zu anderem und durch die Bezugnahme des anderen auf das
eigene. Das bedeutet zu sagen, dass Kulturen nie einen einzigen Ursprung, sondern mindestens zwei haben: einen, den sie im Selbstbezug und einen, den sie im
Fremdbezug gewinnen. Man schreibt sich selbst sein Kap zu, aber dieses Kap
wird einem auch von außen zugeschrieben. Die (kulturelle) Identität (Europas)
differiert mit sich selbst, indem sie sich zugleich auf das eigene wie auf das andere Kap bezieht. „Das Kap hat begonnen, sich zu öffnen oder vielmehr sich
öffnen zu lassen, besser noch: es ist geöffnet worden, ohne dass es sich selber
von sich aus einem anderen geöffnet hätte“ (ebd.: 56).
Identität, die nur auf sich selbst bezogen wäre, wäre gleichsam nichts, da
sich der Sinn eines Gegenstandes oder Sachverhaltes dem Gewebe von Unterschieden und Unterscheidungen verdankt. Identität ist das, was sie ist, indem sie
das ist, was sie nicht ist. Die Identität negiert diejenigen Merkmale, die für andere und anderes bedeutsam sind. Doch sie trägt diese Negationen gleichsam in
sich. Denn in die Identität geht der oder das andere in Form von Abgrenzungen
und Gegensätzen mit ein. Identität trägt die Spuren des anderen in sich. Ohne
diese Spur, die das andere als anderes in der Identität festhält, kann „kein Sinn in
Erscheinung treten“ (Derrida 1983: 109).
Mit der Spur, d.h. mit der Differenz zum anderen, „in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen“ (ebd.: 114), beginnt die Identität.
Sie ist von Anfang an auf den Unterschied und die Unterscheidung zum anderen
angewiesen. Und sie ist von Anfang an in Bewegung, denn die Differenzen und
Differenzierungen sind fragil und beweglich, wodurch sich auch die (Bedeutung
der) Identität bewegt und verändert. Identität wird so gleichsam jeden Augenblick neu erzeugt, und damit gleichzeitig verändert und partiell auch vernichtet.
Die Identität „gleitet“, ohne verloren zu gehen. Sie wird mehrdeutig und polyvalent, durchläuft Bedeutungsmetamorphosen aller Art, besitzt eine fragile Stabilität. Europa hatte in seiner Geschichte schon eine ganze Reihe von Kaps, zum
Beispiel als „Hauptstädte“: Rom, Paris, Brüssel, zum Beispiel als „Sprache“:
246
Jacques Derrida
Latein, Französisch, Englisch, zum Beispiel als „Ziele“: Einheit des Christentums, Kolonialisierung, Demokratisierung.
2.3 Identität als Projekt
Die homogene und vereinheitlichende Vorstellung Europas wird in dem historischen Moment brüchig, indem das „alte Europa“ durch die politischen Veränderungen an die Grenzen seiner Selbstvergegenwärtigung stößt: Was heißt Europa
(heute) nach dem Ende des Kalten Krieges? Damit wird die Frage nach der kulturellen Identität zur Frage nach einer von der Vergangenheit motivierten Suche:
„Dieses Ereignis, ereignet sich vielmehr [...] als das, was heute in Europa im Kommen bleibt,
was heute in Europa noch auf der Suche nach sich selbst ist und sich verspricht oder als Versprechen fungiert. Das Heute, die Gegenwart dieses Europa ist die eines Europas ohne festgesetzte, vorgegebene Grenzen, ja ohne einen festgelegten Namen“ (Derrida 1992: 26).
Die Identität Europas ist in eine Krise geraten, die mit dem Wissen um seine
Fragilität und Endlichkeit einhergeht. Das „alte“ Europa scheint seinem Ende
nahe zu sein, das „neue“ Europa noch bevorzustehen. Die Identität Europas ist
somit zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgespannt, sie bestimmt sich von
der Vergangenheit und von der Zukunft her. „Vielleicht besteht die Verantwortung darin, dass man aus dem erinnerten Namen, aus dem Gedächtnis des Namens, aus der idiomatischen Grenze, eine Chance, das heißt eine Öffnung der
Identität hin zu ihrer eigenen Zukunft macht“ (ebd.: 29). Generiert das Versprechen aus der Vergangenheit Zukunft und die Öffnung auf das andere hin? Oder
verschließt es die Zukunft? Bietet die traditionelle Identität Europas einen Spielraum für offene Prozesse, verspricht die Vergangenheit Zukunft? Birgt die Tradition Europas ein uneingelöstes Versprechen auf Zukunft?
Europa ist ein Programm, dessen Identität mit dem Vorrücken verknüpft ist:
mit dem Präsentieren und Vorausschauen. Europa hält sich – man denke nur an
die Fragen der Demokratie und der Menschenrechte – für die historische und
zivilisatorische Avantgarde. Die Identität Europas ist in Bewegung: Inwiefern ist
Europa seinen Traditionen verpflichtet? Soll man sich an einer überkommenen
Identität orientieren oder steht ein neues Europa bevor? Wird das neue Europa
noch Züge der Ähnlichkeit mit dem alten Europa tragen? Sollte es sie tragen?
(Die kulturelle) Identität ist etwas Unabgeschlossenes, die vor einem aktuellen Hintergrund und aufgrund einer spezifischen Vergangenheit Zukunft entwirft. Derrida interessiert sich vor allem für den Bezug zur Zukunft als der Zeit,
auf die sich die Identität zu bewegt. Die Bewegung zu einer offenen Zukunft
kann aber nur dann gelingen, wenn sie nicht in einem – wie auch immer gearte247
Jörg Zirfas
ten – politischen, kulturellen oder ökonomischen etc. – Vorgriff schon von der
Gegenwart (und auch von der Vergangenheit) verstellt und verschlossen wird.
Wenn Identität sich immer auch und vor allem durch dasjenige definiert, das sie
(noch) nicht ist, wenn sie sich mithin durch ihren konstitutiven Bezug zum anderen auszeichnet, so muss dieses andere als anderes anerkannt werden, damit
Identität sich bilden kann (vgl. Lévinas 1989). Das andere aber lässt sich wohl
als territoriales, sprachliches, körperliches etc., aber auch als temporales anderes,
d.h. als Zukunft verstehen. Dieses andere wird von Derrida vor allem als zukünftiges anderes, als Ereignis der Zukunft verstanden: „Es geht mir vor allem darum, nicht im voraus der Zu-kunft des Ereignisses einen Riegel vorzuschieben:
der Zukunft des Kommenden, der Zukunft dessen, was vielleicht kommt und was
vielleicht von einem ganz anderen Ufer aus kommt“ (Derrida 1992: 51). Dabei
meint Derrida mit dem zukünftigen anderen nicht die von der Gegenwart aus
entworfene zukünftige Gegenwart und auch nicht die in die Gegenwart schon
hineinreichende gegenwärtige Zukunft, sondern eine sich von der Gegenwart
vollkommen unterscheidende zukünftige Zukunft. Daher macht Derrida geltend,
dass mit der Vorgabe eines Ziels der Einbruch des Neuen, des Unverfügbaren,
des Unvorhersehbaren, des Anderen nicht statthaben kann: Identität wird hier als
Abschluss, Ganzes, Ende, Ergebnis oder Grenze verstanden, die nicht mehr hinterfragt zu werden braucht. Kurz: Wer schon in der Gegenwart weiß, was seine
Identität in der Zukunft sein wird, für den ist die Zukunft nicht anders, und insofern verfängt er sich in einer tautologisch-gegenwärtigen Identität.
2.4 Identität als Aporie
„Unsere Argumentation verkürzend, könnten wir behaupten, daß die Identität Europas (wie die
Identität und die Identifikation überhaupt) zu dieser Erfahrung des Unmöglichen gehört, wenn
sie denn gleichermaßen sich selbst und dem anderen genügen soll, im Sinne ihres eigenen
maßlosen ,Mit-Sich‘-Differierens“ (ebd.: 36).
Was meint Derrida mit dieser Aussage?
Eine Aporie haben wir schon kennen gelernt: Europa ist zugleich einer bestimmten Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft verpflichtet. Seine
Identität schwankt zwischen erinnernder Bestätigung und sich öffnender Zukunftsorientierung. Darüber hinaus ist sie zugleich ihrem Besonderen wie ihrem
Allgemeinen verpflichtet. Denn einerseits verpflichtet die Tradition Europa darauf, dass dieses sich nicht zersplittert und in „eine Reihe kleinlicher Nationalismen, die von Eifersucht erfüllt“ (ebd.: 31) sind, auflöst. Auf der anderen Seite
„kann und darf“ Europa sich nicht durch eine homogenisierende Autorität auszeichnen, die die Vielfalt und Differentialität der europäischen Regionen, Dis248
Jacques Derrida
kurse, kulturellen Besonderheiten etc. auf ein einheitliches Niveau nivelliert. Die
Identität Europas spannt sich somit auf zwischen Besonderheiten auf der einen
und dem Gemeinsamen auf der anderen Seite, zwischen „Monopol und Zerstreuung“ (ebd.: 33). Derrida findet für diese Relation die Begriffe „Sammlung“ und
„Unterscheidung“. Soll man sich mit Blick auf die Identität Europas eher an der
Sammlung des Mit-sich-Differierens oder eher an dem Von-sich-ausUnterscheiden orientieren? Anders formuliert: Soll und kann man die in Relata
ausdifferenzierte Identität in einer Meta-Identität versammeln oder soll und kann
man die Ausdifferenzierung der Relata immer weiter treiben, ohne die Identität
Europas zu gefährden?
Eine dritte Variante der Identitätsaporie ist das Verhältnis von Europa zur
Welt, vom besonderen Europa zur allgemeinen Welt. Für Derrida ist die Antinomie der Antinomien das Meta-Paradoxon der Allgemeinheit. Denn das Allgemeine kann es ohne das Beispiel nicht geben. Das Allgemeine ist immer das
Allgemeine eines Singulären, das dem Allgemeinen seine Idiome und Kultur
einschreibt (ebd.: 52f.). Umgekehrt gibt es das Singuläre nur in Bezug auf ein
Allgemeines, das „reine“ Singuläre wäre nicht aussagbar. Schon ein Name oder
Wort für etwas ist ein Symbol, das die Identität des Individuums ebenso ausdrückt, wie es dessen soziale Seite betont, denn weder gibt man sich den Namen
selbst, noch gibt es eine Identität vor dem Namen oder ist eine Identität ohne
einen Namen denkbar, der dieser Existenz und Personalität verleiht. „Wenn im
Bewußtsein der Name Eigenname heißt, dann ordnet er sich bereits ein und wird
ausgelöscht, indem er benannt wird. Er ist bereits nur noch ein sogenannter Eigenname“ (Derrida 1983: 192). Identität ist immer Identität in Bezug auf ein
Allgemeines; nicht nur Bestandteil des Allgemeinen, pars pro toto, sondern
Repräsentation des Allgemeinen. Das Beispiel bezeugt sich gegenüber dem Universellen, trägt vor ihm Verantwortung: „die Selbstbehauptung einer Identität
erhebt stets den Anspruch, auf den Anruf oder die Anweisung des Universellen
zu antworten“ (Derrida 1992: 54). Nur die singuläre Identität hat Sinn für das
Ganze.
Durch diese Paradoxie öffnet sich die Identität auf eine Ent-Identifizierung
hin: Sie tendiert dazu, nicht mehr mit sich selbst, sondern mit dem Allgemeinen
identisch zu werden. Kulturen (nicht nur die europäische) haben sich immer
wieder als Muster des Universellen verstanden: Nur der Europäer, so kann hier
die eurozentrische Behauptung lauten, ist der eigentliche Weltbürger. Die Identität Europas war/ist/wird zur Identität der Verallgemeinerung, als eine singuläre
(kulturelle) Identität, die prinzipiell die Identität aller Europäer wie der ganzen
Welt sein kann. Spricht Derrida hier von einer aktuellen oder einer potentiellen
Identität – oder von beidem? Eine weitere Aporie: Europa versteht sich als Beispiel, als Beispiel aller Beispiele: Es ist beispielhaft, weil es das Allgemeine
249
Jörg Zirfas
darstellt (darstellen will) und es ist beispiellos, weil keine Kultur der europäischen gleichkommt (gleichkommen kann).
2.5 Identität als Antwort und Verantwortung
Der Artikel über „Das andere Kap“ trägt noch einen Untertitel, der die Untersuchungslinien Derridas skizziert: „Erinnerungen, Antworten und Verantwortungen“. Die Identität Europas – und darüber hinaus: jede Form von Identität – liegt
im aporetischen, paradoxen Schnittfeld dieser drei Markierungen. Europa bestimmt sich von der Erinnerung an die Vergangenheit, den Antworten auf die
Zukunft und den Verantwortungen der Gegenwart her. Der Begriff Identität
signalisiert für Derrida also vor allem einen Problemzusammenhang. Denn im
Namen einer homogenen und exkludierenden Vorstellung von kultureller Identität legt die kulturelle Identität Europas verschiedene Gewaltformen nahe, die von
Ausländerfeindlichkeit, über Rassismus und Antisemitismus bis hin zu religiösen
und nationalistischen Fanatismen reichen.
Das heißt: In diesem Text bezeichnet Identität vor allem einen ethischen
Problemzusammenhang. Denn die kulturelle Identität ist verbunden mit einer
Verantwortung. Und diese Verantwortung wiederum ist mit einer Aporie verbunden. Derrida versteht nun den eben skizzierten Ort der Spannung und Aporie
der kulturellen Identität Europas als einen Ort der Verantwortung:
„Die Möglichkeitsbedingung dieser Sache, der Verantwortung, ist eine bestimmte Erfahrung
der Möglichkeit des Unmöglichen: Sie ist die Probe, der uns die Aporie unterzieht, die Erfahrung der Aporie, von der aus man die einzig mögliche Erfindung erfinden kann, die unmögliche Erfahrung“ (ebd.: 33).
Allerdings ist die Verschiebung der Frage nach dem Kap der Identität zur Frage
nach einer ethischen Beziehung zum Anderen nicht einem Interesse Derridas,
sondern der Sache selbst geschuldet. Denn wenn sich Identität nicht mehr im
Hinblick auf einen Kern, sondern nur im Hinblick einer Differenz und Beziehung zum Anderen verstehen lässt, so wird für die Identität nicht mehr die Frage
nach deren Wahrheit, sondern die Frage nach der Angemessenheit bzw. der Gerechtigkeit oder auch die Frage nach der Verantwortung für die Beziehung zur
Differenz und zum Anderen relevant: Die Ethik der Differenz löst hier die Ontologie der Identität ab.
Solange es keinen Grund für die Frage nach der Identität gibt, bleibt diese
im Dunkeln, unbewusst. Erst in einer – mehr oder weniger – bedeutsamen Krise,
hervorgerufen durch die Frage eines anderen, oder durch spezifische Veränderungen, wird die Frage nach der Identität virulent. Dann gilt es, vor dem anderen,
250
Jacques Derrida
der man selbst war oder sein möchte, und vor dem anderen als Ko-Subjekt eine
Antwort auf seine Identität zu finden. „Die Identität soll sich durch die Verantwortung in ihr bilden, das heißt […] im Zuge einer gewissen Erfahrung der Antwort, die an dieser Stelle das Rätselhafte ist. Was heißt ,antworten‘? Antworten
auf? Verantworten? Einstehen für? Sich verantworten vor?“ (ebd.: 40f.).
Die (kulturelle) Identität bildet sich in der Antwort auf den anderen und in
der Verantwortung vor dem anderen. Doch wenn sich Identität nur in Antwort
auf den anderen, das andere oder die andere herausbilden kann, so setzt diese
Bildung voraus, dass es den anderen als anderen gibt.
Warum stellt die Verantwortung eine Form der Unmöglichkeit dar bzw. warum ist die Unmöglichkeit für die Verantwortung konstitutiv? Verantwortung für
seine (aporetische) Identität zu übernehmen bedeutet, keiner Regel folgen zu
können. Verantwortung (für eine Identität) tragen bedeutet, von einer fundamentalen Unentscheidbarkeit auszugehen. Derrida bringt damit die Verantwortung in
einen Zusammenhang mit der Gerechtigkeit. Wem soll und kann man gerecht
werden: der Tradition oder der Zukunft, dem Monopol oder der Zerstreuung,
dem Besonderen oder dem Allgemeinen? Man muss sich entscheiden in einer
Situation, die die Unmöglichkeit einer gerechten Entscheidung darstellt (Derrida
1991: 49f.). Nur dort, wo wir von einer radikalen Unentscheidbarkeit ausgehen
können, kann man für seine Identität Verantwortung übernehmen, die ihr gerecht
wird – ansonsten befolgt man lediglich die Anweisungen eines Gesetzes, einer
Norm oder einer Regel, die diese Identität notwendigerweise verfehlen müssen.
Für die kulturelle Identität Europas gibt es eine solche allgemeine Regel oder
Norm nicht, daher greift hier die Frage nach der Verantwortung hinsichtlich
einer gerechten Entscheidung.
Nichtsdestotrotz erfolgt die Verantwortung für die Entwicklung der kulturellen Identität Europas nicht beliebig. Denn diese Öffnung durch das andere
Kap fordert nun nach Derrida eine ethische Besinnung auf acht Grundpositionen
der kulturellen Identität Europas, die hier nur kurz aufgezählt werden sollen
(Derrida 1992: 56ff.):
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Öffnung auf das Nicht-Europäische hin;
(gastfreundliche) Anerkennung der Andersheit des anderen;
Kritik am totalitären Dogmatismus;
Pflege der kritischen Tugend;
Hinwendung zur zukünftigen Demokratie;
Achtung des Singulären wie des Allgemeinen;
Toleranz gegenüber den Grenzgängen der Vernunft;
Verantwortungsübernahme und – ggf. – auch Verantwortungsverweigerung.
251
Jörg Zirfas
In jeder einzelnen dieser ethischen Positionen lässt sich die paradoxale und aporetische Struktur der von Selbst und vom Anderen gedachten Identität ausmachen.
Weil die kulturelle Identität Europas sich in Differenzierungen, Alterierungen und Aporien durchhält setzt Derrida am Ende seines Aufsatzes den alten
Namen Europa in Anführungszeichen, „so als müsste man sich seiner vorsichtig
bedienen, ohne ihn zu überfrachten […]. Mit den Wörtern ,Kapital‘ […],
,Identität‘ und ,Kultur‘ würde ich […] genauso umgehen“ (ebd.: 61). Mit den
Anführungszeichen signalisiert Derrida, dass die alten Namen für Europa, Identität etc. sich gleichsam auf einer neuen Bühne wieder finden, die quasi von Anführungszeichen als Theatervorhängen markiert ist. Ein neues Spiel mit der kulturellen Identität Europas beginnt. Denn Identität ist ein ernstes Spiel. Spielen
meint in diesem Sinne das Aufeinandereingehen, das Verketten, das Anschließen
und Weiterführen, das Aufgreifen und Neubearbeiten, das Umgehen mit Grenzlinien, Verbindungen und Kreuzungsstellen, die kreativ-mimetische Bearbeitung
von Zusammenhängen: das Denken der Anspielungen und des Vielleicht (Forster/Zirfas 2005). Die kulturelle Identität Europas tritt – in Parenthese – in ein
neues Zeitalter.
3
Dekonstruktion der Identität
Selbstverständlich lassen sich an dieser Stelle für ein so grundlegendes Modell
wie Identität, dessen Thematisierung das Werk Derridas durchgängig durchzieht,
nicht alle Bezüge rekonstruieren. Daher soll hier nur der Versuch unternommen
werden, das in der Einleitung schon angesprochene „Programm“ der Dekonstruktion im Hinblick auf die Identität zu umreißen.
Mit dem Begriff der Dekonstruktion, den Derrida in seiner Schrift Grammatologie (1967) einführt, versucht er eine Denkerfahrung zu umschreiben, die
beides sein will: Destruktion und Konstruktion. Indem sie beides sein will, verfolgt die Dekonstruktion einen Perspektivismus, der die Vielfältigkeit und die
Verschiebbarkeit von Sichtweisen selbst zum Ziel hat.
Die Dekonstruktion als Konstruierung von Verweisungszusammenhängen
zielt auf den Versuch, eine allgemeine und totale Methode und Lesart von Realität zugunsten einer relativierenden, beweglichen, den Kontexten angepassten
Lesart und Interpretation zu verabschieden. Dabei erzeugt sie eine Pluralität von
ideomatischen Gesten und kontextuierenden Heuristiken. Mit einem Wort, Dekonstruktion zielt auf eine permanente Perspektivierung: „die beste Definition,
die ich der Dekonstruktion geben könnte, wäre die, daß sie mindestens voraussetzt, daß sie die Vielzahl von Sprachen voraussetzt [...], daß sie voraussetzt, daß
252
Jacques Derrida
es Sprachen gibt“ (Derrida zit. n. Engelmann 1997: 25). Der Dekonstruktion geht
es nicht darum, diese Perspektiven in einer umgreifenden Horziontverschmelzung (Gadamer) wieder zusammenzuführen, sondern um die Beschreibung von
Differenzen, die nicht in einer sie übergreifenden Einheit aufgehoben sind. Der
Gedanke einer Einheit der Realität wird hier durch den des Perspektivismus von
Differenzen verabschiedet, die dem jeweiligen Gegenstand folgen. Es geht der
Dekonstruktion darum, das Andere im Selben wahrzunehmen.
Im Mittelpunkt der destruierenden Bemühungen der Dekonstruktion versucht Derrida deutlich zu machen, dass es keine letztgültige Wahrheit, keine
sichere Eindeutigkeit und keinen eindeutigen Ursprung von Sachverhalten gibt
und dass jedes teleologische Unterfangen, das einen Sachverhalt auf einen spezifischen Horizont festlegen will, zum Scheitern verurteilt ist. Die konstruktiven
Aspekte liegen in den Versuchen zu zeigen, dass es Verweisungszusammenhänge sind, die für unser Denken und Handeln konstitutiv sind und dass diese Zusammenhänge eingebettet sind in die différance und die Spur, als zeitliche und
räumliche Verschiebungen. Dabei erscheinen die konstruktiven Verfahren der
Dekonstruktion bedeutsamer und innovativer als die destruierenden, insbesondere der mit dem Begriff différance bezeichnete Zusammenhang, der hier näher
erläutert werden soll.
Der für Derrida zentrale Neologismus der différance, der in den Schreibweisen *Differenz oder Differänz ins Deutsche übersetzt wurde (Kimmerle 1997:
77ff.), setzt sich aus den (zwei) Bedeutungen des französischen Begriffs différer,
aufschieben und differenzieren zusammen. „Dieser ökonomische Begriff (différance) bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinne dieses
Wortes [différer – aufschieben / (von einander) verschieden sein]“ (Derrida 1983,
S. 44). Diese Verschiebung wird im Begriff selbst markiert, ohne dass sie beim
Sprechen hörbar wäre, denn différance klingt wie différence, schreibt sich aber
anders. Die differance ist eine sehr spezifische Differenz, in der jeglicher Sinn
immer nur in einem Aufschub, einer Verzögerung, einem Kalkül oder einer
Nachträglichkeit zum Ausdruck kommen kann. In diesem Sinne meint différance
eine Verzeitlichung. Zweitens geht es in der différance um eine supplementäre
Logik, die die Wirkung zeitigen soll, das Denken der Identität als Sichselbstgleichheit abzulösen: Hier geht es um Bezug, Intervall und Distanz, – in
einem Wort um Verräumlichung. Die différance ist ein anonymes Geschehen,
ein Ereignis, das aus einer Kette von Aufschüben und Supplementierungen besteht, das auf die Spur verweist, die Sprache und Sprechen, Kontext und Wiederholung, das Selbe und das Andere verbindet (Derrida 1991: 15). Im anonymen
Spiel der Zeichen löst sich jede Identität als Sichselbstgleichheit zugunsten einer
Logik der Präsentationen auf, die jeglichen Verweisungszusammenhang auf das
Subjekt nur als flüchtiges Geschehen des vorschiebenden Aufschubs oder des
253
Jörg Zirfas
aufschiebenden Vorschubs betrachtet. Die différance ist somit nicht Ausdruck
der Idee, dass man von einem (identischen) Zentrum lediglich weggehen müsse,
sondern bezeichnet die Verabschiedung der Idee, dass es überhaupt ein Zentrum
gibt (Derrida 1985: 424). Identität ist nicht Präsenz, Ziel, übereinstimmender
Horizont der Verweisungszusammenhänge, sondern eine Erfahrung der Differenzen.
Zwei Momente sollen hier noch näher erläutert werden, die des authentischen, wahrhaften Zentrums und die Zeitlichkeit: Ein oftmals mit dem Kap der
Identität in Zusammenhang gebrachter Sachverhalt ist derjenige einer Selbstbegründungsfähigkeit, die dem Subjekt die Wahrheit seiner selbst vermitteln kann.
Nur das Individuum ist in der Lage, über sich selbst die Wahrheit zu sagen, weil
diese nur ihm unmittelbar gegenwärtig ist. In seinen dekonstruktiven Untersuchungen kann nun Derrida zeigen, dass die metaphysischen Theoreme, die im
Sinne einer Begründung, eines Prinzips oder eines Zentrums fungieren: „eidos,
telos, energeia, ousia [Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt], aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw.“ (ebd.), sich letztlich durch Differenzierungen, Komplexitäten, Verschiebungen, Kontingenzen und Brüche auszeichnen.
Derrida folgert daraus, daß wir, indem wir zu uns „ich“ sagen, uns nicht
gleichsam auf unser Wesen beziehen können, das uns wiederum die Wahrheit
unserer selbst unmittelbar präsent macht. Daß die Identität des Eigenen in der
Präsenz des Selbstbezugs als Wahrheit unserer selbst wirksam werden kann, hält
er für einen Mythos (Derrida 1983: 119, 197). Indem wir uns mit uns selbst identifizieren, indem wir mithin mit uns selbst identisch sind, differieren wir mit uns:
Identität bezeichnet somit einen Sachverhalt der Ohnmacht, sich als mit dem
natürlichen Sein in einem absoluten Jetzt identisch zu denken (Zirfas 2001b).
Man kann diesen Sachverhalt auch reflexionsphilosophisch wie psychoanalytisch
erfragen: Wann ist ein Mensch wirklich mit sich selbst identisch? Und inwieweit
bezieht sich die Identität dabei auf das Bewusste oder das Unbewusste seines
Selbst?
Die Dekonstruktion ist aber auch eine Temporalisierung, sie schleust die
Zeit in die Identität ihres Denkens ein, sie behauptet, dass das Wesen der Identität Zeit ist und dass das Spiel der Bezeichnungen damit unabschließbar ist. Die
Dekonstruktion ist eine Theorie des historischen Fragens, ein Modell der permanenten Deutung der Identität. Identität als permanente Sichselbstgleichheit ist
deshalb in temporaler Perspektive unmöglich, weil das Selbst sich permanent in
Bewegung befindet und weil zudem das Denken des Selbst sich stetig ändert: Ich
erfahre mich selbst nie als präsent, sondern muss mich erst in einem nachträglichen oder antizipierenden Entwurf selbst als Ich konstituieren. Und die Art und
Weise, wie ich über mich als identischen Menschen reflektiere, ändert sich je
254
Jacques Derrida
nach Lebensalter – junge Menschen etwa konzipieren Identität eher als zukunftsfähigen Entwurf, ältere Menschen eher als vergangenheitsorientiertes Modell.
Die Dekonstruktion betont mithin den Versuch, der Komplexität der Identität durch eine Multiperspektivität von Erfahrungen gerecht zu werden. Sie legt
ihren strukturierten Aufbau ebenso bloß wie ihre Fragilität und Perspektivität,
die sich nicht letztlich auf ein Zentrum oder eine Präsenz stützen kann. Mit Bezug auf die Vorstellung von Identität erzeugt dieser Aspekt der Dekonstruktion
die Vorstellung einer multiplen Persönlichkeit, die sich einer eindeutigen Charakteristik entzieht. Bei diesem Versuch der Komplexität des Ichs durch Multiperspektivität gerecht zu werden, versucht die Dekonstruktion das Unmögliche
des Selbst zu denken. Das Unmögliche deshalb, weil es als Grenze und Ausschluss des Möglichen in diesem immer schon mitgedacht ist. Während die Philosophiegeschichte als Geschichte des Denkens des Möglichen verstanden werden kann, bezieht sich die Dekonstruktion also auf das Unmögliche als „Bedingung oder Chance des Möglichen“ (Derrida 2003: 41). Wenn das Andere als
konstitutiv für das Selbe verstanden werden muss, und wenn dieses Andere als
das Unmögliche bestimmt werden kann, damit das Selbe möglich wird, dann gilt
es ein Verhältnis zu diesem Unmöglichen zu gewinnen, um das Mögliche zu
verstehen. Derrida nennt diese aporetische unmögliche Möglichkeit das „Vielleicht“ – eine Kategorie zwischen Unmöglichkeit und Möglichkeit (ebd.: 51).
4
Selbstgerechtigkeit?
In diesem Teil können natürlich nicht alle Weiterentwicklung der Dekonstruktion Derridas kritisch gewürdigt werden. Es seien hier nur drei Disziplinen hervorgehoben und mit Verweisen versehen, auf die dieses Denken besondere Einwirkungen hatte: auf die Philosophie (Kern/Menke 2002), die Literaturwissenschaft (Culler 1988) und die Pädagogik (Wimmer 2006). Allerdings soll hier
noch eine Frage zu beantworten versucht werden, die sich so in der Dekonstruktion Derridas, die immer von der Gerechtigkeit gegenüber dem andern spricht,
explizit nicht findet: Wie kann ich meiner eigenen Identität gerecht werden?
Wenn man mit den dekonstruktiven Überlegungen Derridas am Begriff der
Identität festhält, kann man sie nicht mehr als Integration von Perspektiven und
Fiktionen, noch als die Zeiten und Räume übergreifendes (unabhängiges) Band
verstehen, das die Kohärenz und Kontinuität des Ich gewährleistet. Identität im
dekonstruktiven Sinn meint die Erfahrungen von Zerstreuungen, Imitationen,
Kontingenzen und Simulakren, die durch die (räumliche) Spur der differierenden
Horizonte und durch die (zeitliche) différance bestimmt werden. Dekonstruktives
Denken macht geltend, nicht die Identität des Selben oder des Anderen bestim255
Jörg Zirfas
men zu wollen, sondern eine neue, andere Identität zu denken: eine Identität, die
sich durch Differenzen und Differenzierungen des Anderen auszeichnet. Insofern
muss diese Identität im Anderen immer schon eingeschrieben sein, wie das Andere in der Identität, damit die différance als Spiel der Spuren von Selbst und
Anderem beginnen kann.
Identitätssuche ist insofern Spurensuche. Nimmt in dieser Spurensuche das
Erscheinen und die Bedeutung des Anderen ihren Anfang, so weil der Andere
anders ist, als ich es bin und nur, weil ich selbst „ein Anderer bin“ (Rimbeau). In
ihr taucht dann die Rede von der Gerechtigkeit im Sinne einer Anerkennung des
Anderen auf (Derrida 1992: 56ff.). In diesem Sinne ist die Gerechtigkeit gegenüber dem Anderen, das das Selbst durchzieht, stärker noch: das das Selbst konstituiert, immer auch Gerechtigkeit gegenüber sich selbst. Derrida versteht Gerechtigkeit als eine unbedingte Offenheit gegenüber dem Anderen, die die traditionellen Modelle der Gerechtigkeit als Verteilungs-, Tausch-, Verfahrens-, Teilhabe-, Beteilungsgerechtigkeit etc. weit überbietet: Denn die Idee einer „dekonstruktiven“ Gerechtigkeit ist
„aufgrund ihres bejahenden Wesen, irreduktibel, aufgrund ihrer Forderung nach einer Gabe
ohne Austausch, ohne Zirkulation, ohne Rekognition, ohne ökonomischen Kreis, ohne Kalkül
und ohne Regel, ohne Vernunft oder ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden, regulierenden Beherrschens. Man kann darin also einen Wahn erkennen, ja sie des Wahns anklagen“ (Derrida 1991: 52).
Sich gegenüber dem Anderen und gegenüber sich selbst – gegenüber dem Anderen seiner Selbst und dem Selbst im Anderen – gerecht zu verhalten, bedeutet
eine bedingungslose, unmöglich-mögliche Gerechtigkeit zu denken und zu praktizieren. Anders formuliert: Dem Anderen und sich selbst gegenüber gerecht zu
sein, bedeutet, sich den Erfahrungen mehrerer Aporien auszusetzen.
Gerechtigkeit ist als Erfahrung des Unmöglichen die Erfahrung von – mindestens – fünf Aporien: weil sie auf eine (prinzipielle) Regel rekurrieren muss,
die (noch) nicht existiert, weil sie eine Entscheidung für das unentscheidbare
Singuläre treffen muss, weil sie eine unmittelbare Entscheidung erfordert angesichts der Gerechtigkeit, die noch aussteht, weil die Verantwortung vor dem
Anderen die Verantwortung für ihn desavouiert – und weil sie eine Entscheidung
für sich und den anderen fällen muss. Selbstgerechtigkeit ist ohne die Gerechtigkeit vor und für den Anderen nicht zu haben. Daher kommt sie einer Unmöglichkeit gleich: Eine unmögliche Gerechtigkeit, die aber die Bedingung der Möglichkeit von Gerechtigkeit darstellt.
256
Jacques Derrida
Primärliteratur
Derrida, Jacques (1983): Grammatologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Derrida, Jacques (19852): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der „mystische“ Grund der Autorität.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Derrida, Jacques (1992): Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays
zu Europa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Aus dem Französischen von Alexander Garciá Düttmann. Titel der Originalausgabe: L’autre cap suivi de La
démocratie ajournée. Paris: Les Éditions de Minuit 1991).
Derrida, Jacques (1997): Die différance. In: Engelmann, Peter (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart.
Stuttgart: Reclam, S. 76-113.
Derrida, Jacques (2003): Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu
sprechen. Berlin: Merve.
Sekundärliteratur
Bennington. Geoffrey/Derrida, Jacques (1994): Jacques Derrida. Ein Porträt.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Culler, Jonathan (1988): Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische
Literaturtheorie. Reinbek: Rororo.
Engelmann, Peter (1997): Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion. In:
Ders. (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam, S. 5-32.
Forster, Edgar J./Zirfas, Jörg (2005): Endspiele. Dekonstruktive Einsätze in der
pädagogischen Anthropologie. In: Bilstein, Johannes/Winzen, Matthias/
Wulf, Christoph (Hrsg.): Anthropologie und Pädagogik des Spiels. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 63-99.
Kern, Andrea/Menke, Christoph (Hrsg.) (2002): Philosophie der Dekonstruktion.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kimmerle, Heinz (19974): Jacques Derrida zur Einführung. Hamburg: Junius.
Lévinas, Emmanuel (1989): Ohne Identität. [1970]. In: Ders.: Humanismus des
anderen Menschen. Hamburg: Meiner, S. 85-104.
Viefhoff, Reinhold/Segers, Rien T. (Hrsg.) (1999): Kultur, Identität, Europa.
Frankfurt a.M: Suhrkamp.
257
Jörg Zirfas
Wimmer, Michael (2006): Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik. Bielefeld: transcript.
Zirfas, Jörg (2001a): Dem Anderen gerecht werden. Das Performative und die
Dekonstruktion bei Jacques Derrida. In: Wulf, Christoph/Göhlich, Michael/
Zirfas, Jörg (Hrsg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die
Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim/München:
Juventa, S. 75-100.
Zirfas, Jörg (2001b): Identitäten und Dekonstruktionen. Pädagogische Überlegungen im Anschluss an Jacques Derrida. In: Fritzsche, Bettina/Hartmann,
Julia/Schmidt, Andrea/Tervooren, Anja (Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik.
Opladen: Leske & Budrich, S. 49-63.
Zirfas, Jörg/Jörissen, Benjamin (2007): Phänomenologien der Identität. Human-,
sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
258
Klaus Mollenhauer: Schwierigkeiten mit Identität
Über Pädagogik als Umgang mit dem Möglichen
Leopold Klepacki
Einleitung
Michael Winkler weist in der Schlussbemerkung zu seinem pädagogischen Portrait über Klaus Mollenhauer auf zwei übergeordnete Ideen hin, die das Selbstverständnis Mollenhauers als Erziehungswissenschaftler und Pädagoge im Kern
zum Ausdruck bringen und für die Mollenhauer – bei aller OberflächenUnterschiedlichkeit seiner verschiedenen Ansätze und Konzepte – sein Leben
lang eingetreten ist, nämlich
„für die Idee einer Kritischen Erziehungswissenschaft, welche die Ideale von Bürgerlichkeit
nicht preisgibt, Gesellschaft und Individualität unter die Ansprüche von Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit zu stellen; für eine Pädagogik, welche die Aufgabe von Erziehung und Bildung als Verpflichtung wahrnimmt, der jüngeren Generation ein rechtes Leben zu ermöglichen“ (Winkler 2002: 144).
Zweifelsohne kann Klaus Mollenhauer als Schlüsselgestalt in der deutschen
Universitätspädagogik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erachtet werden.
Zusammen mit Wolfgang Klafki und Herwig Blankertz erwirkte er seit Ende der
1960er Jahre einen paradigmatischen Wechsel in der wissenschaftlichen Pädagogik weg von der damals dominanten hermeneutisch orientierten Geisteswissenschaftlichen Pädagogik hin zu einer sozialwissenschaftlich fundierten Erziehungswissenschaft, die sich den theoretischen Grundsätzen und programmatischen Zielen der Kritischen Theorie verpflichtet sah (vgl. Krüger 1999: 58ff.).
Nach dem Anspruch der sog. Kritischen Erziehungswissenschaft sollte Pädagogik so konstruiert werden, dass die Bildung mündiger und kritisch-emanzipierter
Subjekte realisiert werden konnte. Die produktive Teilhabe des einzelnen Subjekts an der Gesellschaft sollte zu einer konstruktiven Veränderung der Verhältnisse unter dem Primat der demokratischen Ideale der Selbstbestimmung, der
Mitbestimmung und der Solidarität führen. In diesem Kontext wandte sich die
Kritische Erziehungswissenschaft nicht nur von der Geistesswissenschaftlichen
Pädagogik ab, sondern sie positionierte sich auch in einer deutlichen Distanz zur
259
Leopold Klepacki
damaligen Empirischen Erziehungswissenschaft mit dem Argument, dass Wissenschaft eben nicht absolut wertfrei zu denken und zu praktizieren sei, sondern
dass vielmehr die gesellschaftskritische Analyse der sozialen Entstehungs- und
Verwertungszusammenhänge von empirischen Untersuchungen mit in die wissenschaftliche Betrachtung einfließen müsse.
Mollenhauer selbst war es dann aber schließlich auch, der die Kritische Erziehungswissenschaft zu Beginn der 1980er Jahre einer substanziellen Selbstkritik unterzog, indem er den, dann seiner Meinung nach übertrieben angestellten,
Rekurs auf sozialwissenschaftliche Begriffe, Methoden und Denkformen für das
tendenzielle Verschwinden der einheimischen pädagogischen Begriffe aus der
Erziehungswissenschaft verantwortlich machte (vgl. ebd.: 78).
Dabei war Mollenhauer in seinen Kritiken offenbar nie ein Dogmatiker, was
sich beispielsweise auch darin zeigt, dass seine frühe pädagogische Prägung
durch die Geisteswissenschaftliche Pädagogik bei ihm, wie auch bei seinen Kollegen Klafki und Blankertz, immer spürbar blieb, so etwa in seinen Bezugnahmen auf historische pädagogische Schlüsseltexte von Rousseau und Schleiermacher. Mollenhauers Denkgrundlagen weisen unhintergehbar geisteswissenschaftliche Konnotationen auf.
Der weite Blick Mollenhauers auf die Phänomene, Probleme, Grundlagen,
Ziele und Begriffe der Pädagogik wird auch in der Vielfalt seiner Ansätze und
Themen deutlich: Erziehung und Emanzipation, das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Pädagogik, der Zusammenhang von Kultur und Pädagogik,
Theorien zum Erziehungsprozess, Sozialpädagogik, ästhetische Bildung und
Bildhermeneutik standen im Zentrum von Mollenhauers Denken und Wirken.
Die Auseinandersetzung mit „Grundfragen ästhetischer Bildung“ (1996) in Form
einer bildungsbürgerlich konnotierten Beschäftigung mit Kunst und Kultur stehen dabei nicht zufällig am Ende seines wissenschaftlichen Lebens. Mollenhauer
hat unbeirrt darauf bestanden, Erziehung und Bildung als Grundkonstituenten
und zentrale Realitäten von Kulturalität und Humanität anzuerkennen. Alles
andere hätte in den Augen Mollenhauers eine Aufgabe dieser beiden Dimensionen bedeutet (vgl. Winkler 2002: 9f.).
Die Beschäftigung mit Identität wurde in diesem breitengefächerten Kontext insbesondere im Hinblick auf die Erörterung der Grundlagen und Ziele der
Kritischen Erziehungswissenschaft zu einem programmatischen Kernthema, ist
aber darüber hinaus strukturell als allgemeine pädagogische Frage nach der Möglichkeit von Bildsamkeit im Sinne einer Selbsttätigkeit immer wieder virulent
und präsent. Jenseits des kritischen erziehungswissenschaftlichen Nachdenkens
über die pädagogische Relevanz der Idee einer sozialen Identität entwickelte sich
bei Mollenhauer eine allgemeine, skeptische Fragestellung im Hinblick auf den
Begriff der Identität, die im Folgenden ausführlicher behandelt werden soll. Die
260
Klaus Mollenhauer
Grundfrage kann hierbei folgendermaßen gefasst werden: Was ist eigentlich das
„Selbst“, das in Kontexten der Erziehung und Bildung selbst tätig wird bzw.
selbst tätig werden soll? Oder anders formuliert: Wer oder was ist dieses sich die
Welt aneignende Ich?
Besonders deutlich äußert sich dieser skeptische Blick auf das pädagogische
Identitäts-Problem in seinem Buch „Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur
und Erziehung“ (1983), das biographisch Mollenhauers kulturpädagogischästhetische Wende – wenn man sie so nennen möchte – markiert.
Die späten Arbeiten Mollenhauers sind schließlich von der Idee geprägt,
aufzuzeigen, „wie fragwürdig die Vokabularien der modernen Bildungstheorie
werden, wenn man sie an Dokumente heranträgt, die mehr und anderes sagen, als
das, was uns in der Sprache der Wissenschaft zugänglich und beschreibbar zu
sein scheint“ (Dietrich/Müller 2000: 14) – gemeint sind hier ästhetische Dokumente. Die dabei von Mollenhauer angewandte Hermeneutik hat ihm letzten
Endes dann aber aus sozialwissenschaftlicher Perspektive auch die gleiche Kritik
eingebracht, der sich die geisteswissenschaftlichen Pädagogen 30 Jahre zuvor
ausgesetzt sahen: Normativität, subjektivistische Verkürzungen und mangelnde
Verallgemeinerbarkeit (vgl. Brumlik 2000).
1
Biographie
Klaus Mollenhauer wurde am 31.10.1928 in Berlin geboren. Seine Schulzeit
unterbrach der Zweite Weltkrieg, wo er mit 15 Jahren als Luftwaffenhelfer dienen musste. Nachdem er 1948 das Abitur abgelegt hatte, nahm er an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen ein Studium auf und arbeitete daraufhin ab
1950 als Volksschullehrer in Bremen.
Ab 1950 studierte Mollenhauer zuerst Pädagogik, Geschichte und Psychologie sowie – unterbrochen durch eine Tätigkeit in einem Heim – daraufhin in
Göttingen Pädagogik, Geschichte, Psychologie, deutsche Literaturwissenschaft
und Soziologie. 1958 wurde er bei Erich Weniger, einem Hauptvertreter der
geisteswissenschaftlichen Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg, mit einer
Dissertation über „Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft“ zum Dr. phil. promoviert. Nachfolgend war Mollenhauer wissenschaftlicher Assistent bei Weniger, ab 1960 dann bei Heinrich Roth, dem maßgeblichen Initiator der sog. „realistischen Wende in der pädagogischen Forschung“ und Begründer einer erziehungswissenschaftlichen Forschungsrichtung,
welche um die Verbindung geisteswissenschaftlich-hermeneutischer Verfahren
mit sozialwissenschaftlich-empirischen Ansätzen bemüht war.
261
Leopold Klepacki
1965 wurde Mollenhauer zum ao. Professor an der Pädagogischen Hochschule Berlin ernannt, 1966 wurde er ordentlicher Professor für Pädagogik an der
Universität Kiel und später Direktor des dortigen pädagogischen Seminars. In
dieser Zeit war Mollenhauer auch als Gutachter für den Deutschen Bildungsrat
tätig. 1968 erschien seine Studie „Erziehung und Emanzipation“, vier Jahre später dann die Monographie „Theorien zum Erziehungsprozess“.
1969 berief man ihn an die Universität Frankfurt, wo er gleichzeitig Abteilungsleiter am Bildungstechnologischen Zentrum Wiesbaden wurde. Klaus Mollenhauer engagierte sich hier auch in der Hessischen Heimkampagne und war in
der Frankfurter Kinderladenbewegung aktiv. 1975 fertige Klaus Mollenhauer mit
anderen Autoren zusammen einen Forschungsbericht für den deutschen Bildungsrat über die Situation der Jugendhilfe an.
Von 1972 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1996 war Mollenhauer dann
schließlich Professor für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik an der
Universität Göttingen. In den 1980er und 1990er Jahren entstanden letztlich auch
seine Arbeiten zum Themenkreis Kultur – Erziehung – Bildung – Ästhetik:
„Vergessene Zusammenhänge. Über Bildung, Kultur und Erziehung“ (1983),
„Umwege. Über Bildung, Kunst und Interaktion“ (1986), „Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung
von Kindern“ (1996). Klaus Mollenhauer verstarb am 18.3.1998 in Göttingen
(vgl. Krüger 1999: 59f.; Winkler 2002: 146f.).
2
„Schwierigkeiten mit Identität“
2.1 Identität als Problemstruktur
Mollenhauers Problematisierung des Identitäts-Begriffes soll nun im Folgenden
hauptsächlich anhand eines Kapitels aus seinem Werk „Vergessene Zusammenhänge“, also dem Buch, das Mollenhauers kulturtheoretisch-ästhetisch-hermeneutische Suchbewegungen zur Verortung und Begründung der Pädagogik in
ihren historischen Voraussetzungen und Entwicklungen einleitet, nachvollzogen
und analysiert werden. Das Kapitel „Schwierigkeiten mit Identität“ findet sich
am Schluss eines Buches, das „die Vergewisserung über die Geschichtlichkeit
der Gesellschaft, über die Bedeutung der gewordenen Bedingungen unserer Kultur, wie endlich auch die Historizität der Erziehung und des pädagogischen Denkens selbst in das Zentrum der Überlegungen [rückt]“ (Winkler 2002: 66). Mollenhauer nähert sich dem Identitätsbegriff in diesem Kontext aus einer dezidiert
bildungstheoretischen Position heraus bzw. genauer gesagt, aus einer Position,
die eine bildungstheoretisch fruchtbare Diskussion und Problematisierung des
262
Klaus Mollenhauer
Identitätsbegriffes ermöglichen soll. Mit dem Begriff der Identität sollen nach
Mollenhauer daher „höchstens solche Sachverhalte bezeichnet werden, die es mit
dem Verhältnis des Menschen, der ,ich‘ sagt, zu dem, was dieses Ich über sich
aussagt, zu tun haben, und zwar soll der Begriff selbst nur dieses Verhältnis
meinen“ (Mollenhauer 2003: 156). Dieses Selbst-Verhältnis von Menschen ist
für Mollenhauer eine zentrale pädagogische Kategorie, da sich in ihr die Fragen
nach der Wirklichkeit und Möglichkeit eines Menschen manifestieren.
Bevor nun jedoch der Text im Einzelnen nachvollzogen werden kann, muss
noch einmal auf die Grundlagen und Prinzipien der Kritischen Erziehungswissenschaft rekurriert werden, da der hier zu fokussierende Text zwar einerseits in
seiner geisteswissenschaftlichen Prägung Zeuge der Kontinuität von Mollenhauers Blick für die pädagogische Bedeutsamkeit historischer und ästhetischer Fragestellungen ist, andererseits aber genau dadurch auch in einem kompliziert
brüchigen Verhältnis zu seinem kritisch-erziehungswissenschaftlichem Denken
steht. Michael Winkler (2002: 80) weist deshalb ausdrücklich darauf hin, dass
Mollenhauer selbst den von anderen wahrgenommenen Bruch in seinem Denken
dementierte. Trotzdem wird in den „Vergessenen Zusammenhängen“ die Infragestellung der pädagogischen Angemessenheit des kritisch-erziehungswissenschaftlichen Programms unmissverständlich deutlich, indem die sozialwissenschaftlich bedingten pädagogischen Verkürzungen dieses Ansatzes durch die
Herausarbeitung der Relevanz der historisch-kulturellen Dimension für die Pädagogik augenscheinlich werden.
In seinen „Theorien zum Erziehungsprozess“ versteht Klaus Mollenhauer
1972 die Identitätsbildung als zentrale Aufgabe einer emanzipatorischen Erziehung. Friedrich Schweitzer (1985: 16) erachtet diese Setzung dabei nicht einfach
als pädagogische Zielformulierung, sondern vielmehr als tendenzielle Gleichsetzung von Erziehung und Identitätsbildung. Der Identitätsbegriff als Bestimmung
einer subjektiven Integration von Ich und Umwelt war zwar bereits zu diesem
Zeitpunkt von der Kritischen Theorie als eher fragwürdig erachtet worden, dennoch wurde er von Mollenhauer für die Beschreibung und Zielsetzung der pädagogischen Aufgabe herangezogen (vgl. Winkler 2002: 77f.): Identitätsbildung im
Sinne der Konstitution einer sog. sozialen Identität stand am Horizont der kritisch-erziehungswissenschaftlichen Konzeption Mollenhauers.
Vor dem Hintergrund der Theorie des Symbolischen Interaktionismus’
George Herbert Meads und einer damit einhergehenden Beschreibung von Erziehung als Interaktionsprozess bzw. als Interaktionsverhältnis, fasst Mollenhauer in diesem Kontext Identität zunächst als „soziale Identität“ auf (Mollenhauer
1972: 100ff.). Identität wird dabei zu einem Prinzip der sprachlich vermittelten,
bewussten Verortung eines Individuums in einem sozialen Kontext. Die Herausbildung von Identität verläuft folgendermaßen:
263
Leopold Klepacki
„Soziale Identität als Zugehörigkeit zu Gruppen und damit zu einem intersubjektiv Allgemeinen wird […] über Interaktionen und die in ihnen enthaltenen Regelmäßigkeiten gebildet […].
Das bedeutet, dass soziale Identität selbst kein unproblematisches, sondern für das Individuum
ein riskantes Beziehungsproblem darstellt: Gerade wegen der impliziten Allgemeinheit ist jede
Veränderung im Referenzrahmen des ,Me‘ für das eine Individuum folgenreich“ (Mollenhauer
1972: 102f.).
Das Individuum geht in dieser Perspektive jedoch nicht völlig in sozialen Erwartungen auf, vielmehr ist es permanent damit beschäftigt, einen Ausgleich zu
finden zwischen seiner sozialen und seiner personalen Identität. Mollenhauer
zieht daraus einen pädagogisch äußerst folgenreichen Schluss:
„Die Bildung der Identität als Balance zwischen ihrer sozialen und personalen Dimension ist ja
zugleich die Bildung eines Bedeutsamkeits-Horizontes, innerhalb dessen das Individuum im
Rahmen der Gruppen, denen es zugehört, Probleme und Inhalte gewichtet und damit konkrete
Lernperspektiven erwirbt. Infolgedessen ist die Behauptung gerechtfertigt: Wo immer Lernerwartungen entstehen oder an Individuen gerichtet werden, steht deren Identität zur Diskussion,
d.h., die Frage, in wie weit sich die in den Erwartungen zum Ausdruck kommende Perspektive
in die gebildete und balancierte Identität dieses Individuums integrieren lässt“ (Mollenhauer
1972: 105).
Bereits hier ist klar erkenntlich, dass Mollenhauer aus der interaktionistischen
Tradition heraus, Identität nicht als stabiles, sondern als sich permanent wandelndes oder zumindest strukturell grundsätzlich wandelbares und somit potentiell labiles Konstrukt erachtet. Dennoch wird dabei die Idee der IdentitätsBalance stark gemacht. Die Balancierung von Identität meint dabei eine Aufgabe
des Individuums in diskursiven Kontexten. Kommunikations- und Interaktionsprozesse, die durch Gleichberechtigung in der Aushandlung von Situationsdefinitionen, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz und Empathie geprägt sind, entwickeln sich dabei folgerichtig zu einer pädagogisch relevanten Prämisse der Möglichkeit individueller Identitäts-Balance (Mollenhauer 1972: 107).
Als jedoch spätestens zu Beginn der 1980er Jahre deutlich wurde, dass den
Anforderungen der Postmoderne an das (aufwachsende) Individuum nicht mehr
ausreichend durch rationale Aufklärungslogiken begegnet werden kann, erschien
auch die „Identitätsorientierung der Kritischen Pädagogik“ (Winkler 2002: 79)
revidierungsbedürftig zu werden. Wenn die Selbsterodierung der von Lyotard
(2005; frz. Original 1979) sog. „großen Erzählungen“ als allgemeingültige, gesellschaftlich-historische Legitimierungslogiken in letzter Konsequenz eine rein
vernunftvermittelte Identitätsbildung unmöglich macht, da Fragmentierung und
Diffusion stärker zu werden scheinen, als logozentrische Ordnungs- und Definitionsideale, sieht sich auch die an Vernunft und damit an rationaler Regelung
und Entwicklung der Gesellschaft orientierte Kritische Erziehungswissenschaft
der Gefahr ausgesetzt, ins Leere zu laufen.
264
Klaus Mollenhauer
Identität als „Leitbegriff pädagogischer Theoriebildung“ (Schweitzer 1985:
20ff.) muss geradezu zwangsläufig problematisiert werden. Die pädagogische
Vorstellung selbstreflexiver Identitätsbildung in diskursiven sozialen Kontexten
kann deshalb nur noch als ein theoretisches Idealbild verstanden werden.
Der Umgang mit Nicht-Identität, mit Differenz und Kontingenz wird sodann zu einer größeren pädagogischen Herausforderung. Dennoch erklärt Mollenhauer die theoretische Idee von Identität nicht als obsolet, sondern geht im
Gegenteil davon aus, dass sie weiterhin als eine zentrale Bezugsgröße pädagogischer Reflexion in den Blick zu nehmen sei. Nur muss sie anders gedacht werden. In den „Vergessenen Zusammenhängen“ bestimmt Mollenhauer Identität als
rein theoretisch-idealistische Dimension:
„Identität gibt es nur als Fiktion, nicht aber als empirisch zu sichernden Sachverhalt. Diese
Fiktion ist eine notwendige Bedingung des Bildungsprozesses, denn nur durch sie bleibt er in
Gang. Identität ist eine Fiktion, weil mein Verhältnis zu meinem Selbstbild in die Zukunft hinein offen, weil das Selbstbild ein riskanter Entwurf meiner selbst ist. Wenn ich das anerkenne,
dann verliert die Rede, ich sei mit meinem Entwurf identisch, ihren Sinn, weil ich nämlich
dann auch anerkennen müsste, dass ich andauernd ein anderer sein könnte“ (Mollenhauer
2003: 158f.).
Klaus Mollenhauer geht hier offenbar, angeregt durch die Überlegungen Henrichs, Marquards und Fuhrmanns (in: Marquard/Stierle 1979) sowie denen von
Luhmann/Schorr (1982) von einem grundsätzlich labilen Selbstbild eines Menschen aus. Im Hintergrund steht hier die Überzeugung, dass ein Individuum nur
fragmentarisch bzw. nur mittels Vereinfachungen in der Lage ist, auf die prinzipielle Unendlichkeit seiner möglichen und tatsächlichen Weltbezüge zu reagieren, nicht jedoch so, dass ein einheitlicher Sinn, also eine Identität, die sich als
„Einheit des Vielerlei“ (Mollenhauer 2003: 156) versteht, gewahrt bleibt. Zwei
pädagogisch relevante Gründe werden dabei zur Stützung dieser Sichtweise
angeführt: Erstens beziehen sich Identitäten bzw. Selbstbilder offenbar auf Auswahlprozesse, da sie sich immer nur in dem Ausschnitt dessen, was als identitätsrelevante Wirklichkeit aus der Möglichkeit ausgelesen wurde, konstituieren.
Das Mögliche ist daher zwar stets virulent, bleibt aber im Selbstbild unberücksichtigt. Zweitens jedoch bedeutet für Mollenhauer Bildung als Selbsttätigkeit
immer auch einen Umgang mit dem Möglichen, dadurch, dass Bildungsprozesse
Antizipationen erfordern bzw. beinhalten.
Daraus leitet Klaus Mollenhauer nun vier Behauptungen über Identität ab,
die folgendermaßen zusammengefasst werden können:
1.
Das Individuum muss die vielfältige Komplexität seiner Weltbezüge zwangsläufig reduzieren, um „überhaupt so etwas, wie einen einheitsstiftenden Sinn“ (ebd.: 158) erfahren
zu können.
265
Leopold Klepacki
2.
3,
4.
Das Resultat der Vereinfachungen – bezogen auf die eigene Person – kann als Selbstbild
erachtet werden.
Dieses Selbstbild ist aufgrund seiner Verknüpfung mit potentiell virulenten Möglichkeitshorizonten jederzeit veränderbar, also labil.
Sowohl Stabilität als auch Veränderung bedeuten für das Individuum daher eine existenzielle Herausforderung und somit eine nicht zu hintergehende Problemstruktur. Ein
Mensch sieht sich in gleichem Maß dazu gedrängt, an seinem Selbstbild festzuhalten,
wie es immer wieder zu revidieren.
Wenn man also mit Klaus Mollenhauer überhaupt von Identität sprechen kann,
dann höchstens in dem Sinne, dass Identität dasjenige Verhältnis bedeutet, das
sich „aus der Differenz zwischen dem, was empirisch der Fall ist, und dem, was
möglich wäre“ (ebd.) ergibt.
3.2 Die bildliche Selbstbefragung des zweifelnden Subjekts als Bildungsprozess
Dadurch, dass der Identitätsbegriff nun nicht mehr auf eine vom einzelnen Subjekt zu bewerkstelligende Integrationsleistung bezogen wird, ergibt sich aus
pädagogischer Perspektive ein grundsätzlich anderer Stellenwert des Begriffes:
Hatte Identität im Kontext eines kritisch erziehungswissenschaftlichen Denkens
eine „pädagogisch-programmatische Funktion“, so rückt nun die „selbstbildende
Funktion des Identitätskonstrukts“ (Stross 1991: 34) in das Zentrum des Interesses. Nicht mehr Integration und Balance bestimmen im Zuge dessen das pädagogische Nachdenken über den bildungstheoretischen Wert eines Identitätskonzeptes, sondern die, diesem Begriff ebenfalls zu eigenen, Implikationen des Dynamischen, des Differenten und des Labilen. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass sich Identität hier als subjektive Problemstruktur zu einer bildungstheoretisch relevanten Dimension entwickelt. Mollenhauer hält somit zwar am Begriff der Identität fest, nur eben ausdrücklich nicht mehr im Sinne einer Zielorientierung, sondern in Form einer Fiktion, die für ihn eine unhintergehbare Prämisse
subjektiver Bildungsprozesse darstellt.
Im Hinblick auf die subjektive Be- und Verhandlung von Identitätsfragen
geht es demnach in einem hohen Maß um den produktiven Umgang mit Zweifeln, ja sogar um eine kritische Selbstbefragung. Bildungstheoretisch existiert
Identität für Klaus Mollenhauer folgerichtig nur in Form einer Problematisierung
der Stabilitätsthese von Selbstbildern. Aus diesem Grund schlägt Mollenhauer
folgende Formulierung für eine pädagogisch anschlussfähige Beschreibung der
subjektiven Auseinandersetzung mit der Problemstruktur Identität vor: „Der
Entwurf, den ich mir von mir mache – und den ich mir unter dem Eindruck der
Entwürfe, die andere sich von mir machen, mache – und mein Verhältnis zu ihm,
266
Klaus Mollenhauer
im Hinblick auf das, was ich sein könnte, ist mir ein Problem“ (Mollenhauer
2003: 159).
Als theoretisches Konstrukt erscheint eine derartige Sichtweise plausibel zu
sein, doch stellt sich unweigerlich die Frage danach, woher man empirisch wissen kann, ob diese Betrachtung auch (pädagogisch) angemessen ist? Die subjektive Problematisierung von Identität ist ja zunächst einmal als ein innerer Vorgang aufzufassen. Das, was nach außen in Erscheinung tritt „ist vielleicht immer
schon eine bereinigte Form seines Umgang mit sich selbst, die Version für den
sozialen Gebrauch gleichsam“ (ebd.). Die Antwort Mollenhauers auf diese Frage
fällt eindeutig zu Ungunsten sozialwissenschaftlich-empirischer Methoden aus:
„Wir können es nur durch Analogien erraten, und das Vorbild für die Analogien
sind wir selbst“ (ebd.).
Versteht man Analogiebildung hier als einen Vorgang der assoziativen oder
systematischen Konstruktion von Entsprechungen und Ähnlichkeiten mit dem
Ziel, strukturelle Zusammengehörigkeiten verschiedener phänomenaler Erscheinungen auf einer bildhaften Ebene herauszustellen, dann ist es durchaus logisch,
dies zum Zwecke des äußerlichen Aufspürens innerer Selbstverhältnisse im Sinne eines ästhetisch-hermeneutischen Verfahrens zu denken. Natürlich ist dies
eine subjektivistische Herangehensweise, doch erscheint sie als unausweichlich,
da es nach Mollenhauer (ebd.: 160ff.) um ein verstehendes Spurenlesen geht.
Das betrachtende und erfahrende Subjekt, das Mollenhauer als Initiator und
Motor der Analogiebildung ausweist, entwickelt sich folglich zum Schlüssel des
inneren Nachvollziehens fremder intra-subjektiver Vorgänge anhand äußerlich
wahrnehmbarer Phänomene. Damit wird der Akt des Auslegens phänomenaler
Zeichen als hermeneutisches Prinzip formuliert und herausgestellt. Die Regeln
für die Interpretation von äußeren Spuren und damit für das Verstehen innerer
Zustände können dabei nur aus dem zur Analogiebildung fähigen Subjekt selbst
kommen, da das eigene Innere der einzig mögliche Anschlusspunkt für den Umgang mit dem anderen Inneren zu sein scheint. Übertragen in pädagogische Kontexte heißt das für Mollenhauer:
„Das Selbstverhältnis des Kindes lässt sich nicht beobachten, es kann nur aus den Spuren, die
es hinterlässt, erschlossen werden. Und die Regeln, denen wir dabei folgen, können wir nirgend andersher [sic] gewinnen, als aus uns selbst und den Analogien, die sich durch Beobachtung der Spuren anderer ergeben. Deshalb ist hier das Irrtumsrisiko außerordentlich groß. Wissenschaftlicher Jargon, welcher Herkunft er auch sei, vermindert das Risiko nur scheinbar.
Wenn irgendwo, dann zeigt sich die Nicht-Planbarkeit von Bildungsprozessen an dieser Stelle.
Die Konsequenz daraus ist nicht der Verzicht auf Absichten, sondern: Aufmerksamkeit für die
Spuren von Selbstverhältnissen“ (ebd.: 160).
Pädagogisch kann diese Einsicht letzten Endes als Fundamentalerkenntnis formuliert werden: Erwachsene können Kinder nur und ausschließlich in Analogie
267
Leopold Klepacki
zu sich selbst verstehen. Ein Nachdenken über sich selbst, eine Beschäftigung
mit seinem eigenen Selbstbild, ist somit für den einzelnen Menschen, will er
fremden inneren Selbstverhältnissen qua Analogiebildung nachspüren, ebenfalls
unausweichlich.
3.2 Eine ästhetische Suche nach Spuren von Selbstverhältnissen
Um nun den oben angesprochenen inneren Selbstverhältnissen überhaupt auf die
Spur kommen zu können, schlägt Mollenhauer einen sehr speziellen Weg ein: Er
nähert sich dem Prinzip des problematischen inneren Selbstverhältnisses anhand
von künstlerischen Selbstbildnissen. Gegenstand der Betrachtungen und Analysen sind dabei die Selbstbildnisse von Albrecht Dürer („Selbstbildnis im Pelzrock“, 1500), Rembrandt („Jugendliches Selbstbildnis“, 1629), van Gogh
(„Selbstbildnis“, 1888) und Max Beckmann („Selbstbildnis“, 1901). Die Selbstbildnisse von Malern erscheinen Mollenhauer als „gleichsam ins Äußere, Interpretierbare gebrachte Beziehungen zu sich selbst, die das Rätsel des Selbstverhältnisses zwar nicht lösen, aber doch nuancenreich immer wieder neu formulieren, wenigstens für sich eine Bestimmtheit versuchen“ (Mollenhauer 2003: 160).
Die Entscheidung für eine derartige Herangehensweise bedeutet jedoch
zugleich das Konfrontiert-Sein mit zwei Problemen: Erstens muss generell in der
Analyse der Kunstförmigkeit der Selbstbildnisse Rechnung getragen werden und
zweitens müssen sowohl die Historizität der Bildnisse selbst als auch die Historizität ihrer Betrachtung und Interpretation in den Blick genommen werden. Im
Zentrum der Bildanalysen stehen daher für Mollenhauer einerseits die Ikonographie, also die Beschreibung und Deutung von Inhalt und Symbolik der
Bildnisse, und andererseits die historische Rekonstruktion der Entstehungszusammenhänge und Entstehungsbedingungen der Bilder vor dem Hintergrund der
heutigen Betrachtungsweisen. In einem historischen Blickwinkel ist die Rahmenfrage dahingehend von entscheidender Bedeutsamkeit, als dass der jeweilige
historisch-soziale Kontext dem Maler bestimmte subjektive Fragen an sich selbst
und damit spezifische Weisen der Selbst-Darstellung überhaupt erst ermöglicht
bzw. eben unmöglich macht.
Mollenhauer zeichnet nun im Verlauf seiner Bildbetrachtungen eine Geschichte der zunehmenden Problematisierung bzw. Infragestellung von Identität
nach, indem er die Selbstbildnisse als kritische Fragen des jeweiligen Ichs an
sich selbst auffasst. Das Selbstbildnis Dürers aus dem Jahre 1500 befindet sich in
diesem Kontext für Mollenhauer historisch am Beginn der neuzeitlichen Problematisierung von Selbstverhältnissen in Form des subjektiven Fragens nach sich
selbst, nach eigenen Betrachtungs- und Verortungsmöglichkeiten.
268
Klaus Mollenhauer
Dadurch dass sich das Ich im Prozess des Malens seiner selbst zwangsläufig
selbst beobachtet und diese Selbstbeobachtungen wiederum gespiegelt im
Selbstportrait festgehalten werden, markiert dieses Genre der Malerei für Mollenhauer einen herausgehobenen Ort der Thematisierung und Darstellung der
exzentrischen Positionalität (Plessner) des Menschen. Von entscheidender Bedeutung ist, dass sich in den Bildnissen je spezifische Selbst-Blicke offenbaren,
die Zeugnis ablegen von Selbsterforschung und Selbsterkenntnis, von Selbstzweifel und Selbstentäußerung, aber auch von Rollenspiel, Selbstinszenierung,
Selbststilisierung und Verewigung. Das, was Mollenhauer also an den Selbstportraits interessiert, ist die Möglichkeit des Künstlers, seiner selbst ästhetisch zu
gedenken. Die analytisch-interpretative Annäherung an Selbstbildnisse scheint
genau aus diesem Grund heraus auch besonders problematisch zu sein. Selbstbildnisse sind äußerst voraussetzungsreiche Kunstwerke: Sie stellen eine ästhetische Selbstreflexion des Künstlers dar, einen ästhetischen Selbst-Diskurs, der das
sich im Malen selbst erfahrende Ich thematisiert und zwar immer auf der Basis
spezifischer ästhetischer Ideen, Intentionen usw. Der Künstler will sich in einer
bestimmten Art und Weise darstellen, sich selbst so sehen, wie er sich darstellt
und offenbart dabei doch stets mehr als seine Intention (vgl. Calabrese 2006:
29ff.). Dieses Mehr oder vielleicht besser gesagt, dieser Rest ist das eigentlich
spannende für Mollenhauer, denn er lässt die Idee der künstlerisch-ästhetischen
Repräsentation brüchig und hintergründig erscheinen. Die Schlüsselfrage hierbei
lautet: Wen oder was stellt der Künstler eigentlich dar, wenn er sich selbst ästhetisch (re-)präsentiert? Schafft er ein Abbild oder eine Imagination seiner selbst?
Das Selbstbildnis muss hier grundsätzlich als ein Kunstwerk gelesen werden, in
dem Real- und Idealdimensionen eines Selbstbildes des Künstlers in einer hybriden Art und Weise zur Geltung kommen. Wer sich selbst darstellt, zeigt sich so,
wie er sich sieht und gleichzeitig so, wie er sich sehen möchte.
Aus der Fülle an Möglichkeiten der Selbst-Darstellung wird im Akt des Malens eine Variante zur ästhetischen Wirklichkeit und diese ist der Ansatz für
Mollenhauers Suche nach erkennbaren Spuren problematischer Selbstverhältnisse in Selbstportraits. Bei Dürer und Rembrandt erlauben die Bildnisse in den
Augen Mollenhauers noch eine tendenzielle Identifikation des Betrachters mit
der dargestellten Person. Beides ist, in Alltagssprache ausgedrückt, das, was man
gemeinhin als „schöne Bilder“ bezeichnen würde. Trotzdem werfen sie Fragen
nach den Möglichkeiten des subjektiven Selbstentwurfes auf. Die Portraits, die
van Gogh und Beckmann von sich anfertigten, erlauben nach Mollenhauer keine
Identifikation mehr, denn hier „dominiert die Geste der Selbstausgrenzung“
(Mollenhauer 2003: 164).
269
Leopold Klepacki
„Vincent van Gogh und Max Beckmann waren, wenn sie malten, ,außer sich‘ und ,bei sich‘:
,außer sich‘ im Sinne jenes konventionalisierten Ich, das die moderne Theorie der Identität gelungener Standard-Entwicklungen von Lebensläufen uns schildert; ,bei sich‘ im Sinne der neuzeitlichen Annahme, daß das ,Ich‘ nur in Entgegensetzungen darstellbar sei (ebd.: 167).
Allgemein gesprochen, liegt das Potential der Kunst wohl folglich darin, dass sie
„sowohl Identitätsauflösungen als auch Modelle des Übergangs zwischen verschiedenen Identitäten“ (Welsch 2003: 196) nach außen tragen und sinnlich
wahrnehmbar machen kann und somit das Prinzip von Identitätswandel augenscheinlich werden lässt.
Das wissenschaftliche Erkenntnispotential der hier nachzuzeichnenden
Bildanalysen liegt nun offenbar in der ganz besonderen ästhetischen Anforderung eines Selbstportraits an das künstlerisch schaffende Subjekt. Das Ich, das
sich selbst anschaut, um sich selbst zu malen, muss sich zwangsläufig selbstreflexiv verorten, bestimmen und festlegen; es muss die darzustellende SelbstWirklichkeit aus der Vielzahl von Selbst-Möglichkeiten herausgreifen und fixieren. Dies funktioniert ausschließlich mittels eines Aktes der (bewussten) Selbstentäußerung, also Überführung innerer Verhältnisse in ein sinnlich wahrnehmbares ästhetisches Phänomen. Die Problematik der Koexistenz von Vergangenem,
Gegenwärtigem und Künftigem, von Sein und Wollen, von Konstanz und Veränderung, von Realität und Möglichkeit, von Bewusstem und Unbewusstem im
Subjekt wird so in einem Selbstbildnis ästhetisch zur Anschauung gebracht.
4
Pädagogik als Umgang mit dem Möglichen
Mit Klaus Mollenhauer gesprochen, sind Selbstbildnisse als ästhetische Selbstäußerungen also wahrnehmbare Zeugen von Problemen, die der Künstler mit
sich selbst hat (Mollenhauer 2003: 167f.). Eine für pädagogisches Denken zentrale Dimension dieser Selbst-Problematik ist für Mollenhauer nun „das Verhältnis zwischen dem wirklichen und dem möglichen Ich“ (ebd.: 168). Rekurrierend
auf die Historizität der Selbstbildnisse sowie auf die Differenz zwischen einem
antiken Nachdenken über Identität anhand der Verteidigungsrede des Sokrates
und einer modernen, literarischen Behandlung der Identitätsfrage bei Bertolt
Brecht entfaltet Mollenhauer diese spezifische Identitätsproblematik ebenfalls als
eine sich historisch entwickelnde bzw. historisch verändernde:
„Sokrates versicherte sich und seine Zuhörer seiner Identität als immer gleicher […]; Herr
Keuner dagegen wird durch die Behauptung, er habe sich nicht verändert, gerade verunsichert,
möchte sich selbst, sein Verhältnis zu sich als Problem sehen, als immer neue zur Lösung anstehende Aufgabe, prinzipiell unabschließbar und deshalb den Bildungsprozeß in der Zeit beweglich haltend“ (ebd.: 169).
270
Klaus Mollenhauer
Das Modell vom Menschen, der als Ich im Kern seiner selbst angesichts verschiedener Lebensumstände und Lebenskontexte sowie angesichts seiner ontogenetischen Entwicklungsphasen unverwechselbar und immer bei sich ist und
bleibt, scheint historisch und insbesondere auch pädagogisch untauglich geworden zu sein. Die Fragwürdigkeit des Subjekts, das sich als ein mit sich selbst
identisches Ich behauptet, ist in der Moderne unübersehbar geworden:
„Die als Folge des Verlusts an gesellschaftlicher und kultureller Einheit entstandenen ,IchIrritationen‘ erlauben nicht mehr, eine Identität in den Mittelpunkt zu stellen, die mit dem
hauch von Gewissheit verbunden ist; sie bleibt nur als ein Projekt in dem Prozess der Bildung,
sie bleibt ein situativ und prozessual gültiger Maßstab, vielleicht eine regulative Idee, mit der
sich das Subjekt aktuell orientiert und organisiert“ (Winkler 2002: 80).
Die im engeren Sinn moderne Selbstreflexion, wie sie Mollenhauer (2003:
169ff.) beispielsweise auch in den literarischen Autobiographien seit Beginn des
19. Jahrhunderts, etwa bei Jean Paul oder vorher schon bei Karl Philipp Moritz,
gestaltet sieht, beinhaltet grundsätzlich also die sich seit der Renaissance zunehmend abzeichnende Selbst-Irritation des nach sich fragenden Subjekts. Das
Selbst- und das Weltverhältnis des einzelnen Subjekts ist sodann durch ein ständiges mäandern zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Konvention
und Andersheit, zwischen Rechtfertigung und Revision charakterisiert. Die Fähigkeit, die Möglichkeit und letztlich auch der Zwang, sich anders zu denken,
sich selbst stets diskutablen Möglichkeitshorizonten zu öffnen, entwickeln sich
hier zu einem konstitutiven Teil der (post-)modernen Individualität.
Für Mollenhauer erwächst nun aus der eben aufgezeigten, historisch gewachsenen, Problematik individueller Selbstlokalisierung eine zentrale pädagogische Herausforderung:
„Zwischen Kindheit als Phase des Vertrautwerdens mit den Grundregeln sozial-kulturellen Lebens und den Status des Erwachsenen als selbständig-selbsttätig Beteiligter an den Prozessen
gesellschaftlicher Produktion und deren Geschichte schiebt sich die Phase des Jugendalters, in
der nun – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte – das Identitäts-Problem zur spezifischen
Bildungsaufgabe wird“ (ebd.: 173).
Wenn in der Moderne – und noch radikaler unter dem Eindruck postmoderner
Strukturen – die großen Überlieferungen nicht mehr gültig sind, wenn die tradierten Konstituenten des sozialen Lebens brüchig werden, dann wird das Spiel
der Jugendlichen mit Selbstentwürfen zu einer Notwendigkeit, dahingehend,
dass das Vergangene nicht mehr Modell für das Zukünftige sein kann und somit
die je bestehende Erwachsenenwelt auch keine ausreichende Legitimationsinstanz für Verhaltensweisen und Handlungsmuster der Jugend darstellt. Die Eröffnung von sinnhaltigen Varianten zukünftigen individuellen und sozialen Lebens ist deshalb nur über die Ermöglichung von Distanznahmen zum je Wirkli271
Leopold Klepacki
chen zu denken, also über die Aufrechterhaltung des Möglichen. Der Ansatz der
Pädagogik muss sich demzufolge auf dasjenige beziehen, was nicht mit den
empirischen Gegebenheiten endet, sondern darüber hinausweist. Die Tatsache,
dass Menschen Probleme mit sich, sprich mit ihrer Identität, haben, ist dabei von
entscheidender Wichtigkeit, da hier die Triebfeder derjenigen Selbsttätigkeit ihre
Energie gewinnt, die für Mollenhauer überhaupt erst subjektive Bildungsprozesse in Gang setzt.
Dadurch, dass jeder Bildungsprozess eine „Erweiterung und Bereicherung,
aber auch Verengung und Verarmung dessen, was möglich gewesen wäre“ (ebd.:
10) darstellt, ist es schließlich und letztendlich die grundsätzliche Pflicht der
Pädagogik, stets an der Erinnerung dessen, was möglich gewesen wäre, zu arbeiten, um in diesen Erinnerungen die begründbar zukunftsfähigen Prinzipien aufzuspüren, anhand derer die Kinder und Jugendlichen ihre Zukunft für sich selbsttätig gestalten können.
Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht bleibt an diesem Punkt letzten Endes aber doch ein gewisses Maß an Unsicherheit oder vielleicht sogar an Unwohlsein bestehen. Zunächst einmal scheint das Ich, damit es überhaupt „Ich“ zu
sich sagen kann, trotz allem ein Mindestmaß an Kohärenz und Kontinuität erfahren zu müssen. Dadurch, dass derartige „Integrationsleistungen“ vor dem Hintergrund der hier ausgeführten Gedankengänge jedoch als ebenso situativ kontingent wie auch von außen nur rudimentär erfahrbar und mutmaßlich dem Subjekt
selbst nur teilweise bewusst werdend zu erachten sind, können sie pädagogisch
nicht anders als unbehandelbar, geschweige denn als initiierbar, angesehen werden. Darüber hinaus ist es auch nicht zu bestimmen, wann das Selbstbild für ein
Individuum thematisch oder problematisch wird. Die pädagogische Auseinandersetzung mit Orientierungen, Werthaltungen, Einstellungen, Entwürfen usw.
für ein mögliches zukünftiges Leben droht demnach immer zu scheitern, da es
unklar bleibt, ob das Selbstbild des Kindes bzw. des Jugendlichen affiziert wird
oder nicht (vgl. Klika 2000: 299f.).
Vieles scheint also nicht, allerhöchstens rudimentär bzw. nur schwer und
indirekt einholbar zu sein. Freilich, genau das zeigt Mollenhauer in seinen Ausführungen deutlich auf und genau das hat er stets im Hinterkopf, wenn er über
die Schwierigkeiten, die der Begriff Identität bereitet, spricht. Warum man dennoch aus einer pädagogischen Perspektive heraus keinesfalls auf eine Fokussierung problematischer Selbstverhältnisse verzichten kann, wird an einer anderen
Stelle von ihm selbst noch einmal prägnant zusammengefasst: Die tendenziell
empirisch uneinholbaren Problemzustände des Subjekts mit sich selbst werfen
nämlich hypothesenhafte Fragen auf, die im Kern die pädagogische Behandlung
einer kritischen Idee von Bildung betreffen:
272
Klaus Mollenhauer
„1. Wie stellen Individuen, gleichviel welchen Alters, einen Kontakt zwischen ihren Körperempfindungen und dem in Sprache sich artikulierenden Bewusstsein von sich selbst her?
2. Wie bewerkstelligt das Individuum die Balance zwischen dem Individuell-Besonderen und
den interaktiven ‚Verschränkungen‘ mit dem Allgemeinen der Sozietät?
3. Welche Funktion kommt in diesem Prozessen der ästhetischen Erfahrung zu als einer exzentrischen Fiktion von Autonomie?
4. Wie bemeistert das Individuum die Nötigung zur Verschränkung verschiedenartiger Perspektiven auf sich und die Welt?
5. Welche Rolle spielen dabei die unterschiedlichen Formen der Zeitkonstrukte und des Zeiterlebens, besonders auch das Wechselspiel zwischen chaotisch-evolutiven und ordnendstabilisierenden Momenten?
6. Ist der ‚Vorbehalt‘ das Merkmal einer besonderen, vielleicht skeptischen, Existenzweise oder ist er eine allgemeine und notwendige Komponente von Bildungsbewegungen?“ (Mollenhauer 2000: 71).
Primärliteratur
Mollenhauer, Klaus (1972): Theorien zum Erziehungsprozess. Zur Einführung in
erziehungswissenschaftliche Fragestellungen. München: Juventa.
Mollenhauer, Klaus (2000): „Über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen,
die nicht recht wissen, wer sie sind“. Einige bildungstheoretische Motive in
Romanen von Thomas Mann. In Dietrich, Cornelie/Müller, Hans-Rüdiger
(Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken.
Weinheim/München: Juventa, S. 49-72.
Mollenhauer, Klaus (62003): Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und
Erziehung. Weinheim/München: Juventa.
Sekundärliteratur
Brumlik, Micha (2000): Das Selbst und seine Erfahrung. Die verborgene Ethik in
Klaus Mollenhauers Hermeneutik. In Dietrich, Cornelie/Müller, HansRüdiger (Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. Weinheim/München: Juventa, S. 155-161.
Calabrese, Omar (2006): Die Geschichte des Selbstportraits. München: Hirmer.
Dietrich, Cornelie/Müller, Hans-Rüdiger (2000): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.):
Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. Weinheim/
München: Juventa, S. 9-16.
Klika, Dorle (2000): Identität – ein überholtes Konzept? Kritische Anmerkungen
zu aktuellen Diskursen außerhalb und innerhalb der Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Heft 2/2000. S. 285-304.
273
Leopold Klepacki
Krüger, Heinz-Hermann (21999): Einführung in Theorien und Methoden der
Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske & Budrich.
Lyotard, Jean-François (52005): Das postmoderne Wissen. Wien: Passagen.
Luhmann, Niklas/Schorr, Klaus-Eberhard (Hrsg.) (1982): Zwischen Technologie
und Selbstreferenz, Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hrsg.) (1979): Identität. München: Fink.
Schweitzer, Friedrich (1985): Identität und Erziehung. Was kann der Identitätsbegriff für die Pädagogik leisten? Weinheim/Basel: Beltz.
Stross, Annette M. (1991): Ich-Identität zwischen Fiktion und Konstruktion.
Berlin: Reimer.
Welsch, Wolfgang (62003): Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam.
Winkler, Michael (2002): Klaus Mollenhauer. Ein pädagogisches Portrait. Weinheim/Basel: Beltz.
274
Ich ist viele
Sherry Turkles Identitätstheorie
Stephan Münte-Goussar
„Ich werde [...] den Menschen das zeigen, was sie nicht
sehen sollen. Ich zeige ihnen eine Welt [...] ohne
Gesetze, ohne Kontrollen und ohne Grenzen.
Eine Welt in der alles möglich ist.
Wie es dann weiter geht, das liegt ganz an Euch.“
Neo, Matrix, 1999
Einleitung
Heiner Keupp und Renate Höfer zufolge sei Identitätsforschung im Grunde ein
Antwortversuch „auf die Frage ‚Wer bin ich?‘“ (Keupp/Höfer 1997: 7). Sherry
Turkles Antwort auf diese Frage ist eindeutig: „Ich bin viele“. So zumindest
ließe sich die grundsätzliche These von Turkles Buch Leben im Netz. Identität im
Zeitalter des Internet in drei Worten zusammenfassen (Becht 1998). Turkle selber überschreibt einen ihrer Texte, der ursprünglich im Internetmagazin Wired
erschien und als ein Schlüsseltext der digitalen Kultur gilt, mit der Frage: „Ich
bin Wir?“ – „Who am We?“ (Turkle 1996a; 2007b).
Diese Frage variiert Turkle in ihren Arbeiten anhand zahlreicher Befragungen und Beobachtungen von Computerfreaks, Programmierästheten, Hackern,
KI-Forschern und online-Gamern. Sie zeichnet so einen erkenntnis- und bewusstseinsphilosophischen Diskurs nach. Das Ethos der sich etablierenden Computer- und Internetkultur verbindet Turkle mit dem eines postmodernen Lebens
und dem Versprechen auf eine deliberative Demokratie. Sie wird damit die Diskussion um die sogenannte virtuelle Identität, wie sie ab Mitte der 1990er im
Zuge des Aufkommens des Internet intensiv geführt wird, für mindestens eine
Dekade bestimmen.
1
Viele Sherry Turkles
Sherry Turkle selbst ist – ihrer Kernthese entsprechend – viele. Nach eigenem
Bekunden gibt es eine „‚französische Sherry‘“, die – ursprünglich aus New York
275
Stephan Münte-Goussar
stammend – „in den 1960ern in Paris Poststrukturalismus studierte“ (Turkle
2007b: 505). Es gibt die faszinierte Zeitzeugin der Pariser Unruhen im Mai 1968
und die Hörerin von Jacques Lacan. Es gibt die davon inspirierte Buchautorin
von Psychoanalytic politics: Freud’s French revolution (Turkle 1978). Es gibt
die Soziologin, Anthropologin und Individualpsychologin. Es gibt Dr. Sherry
Turkle, die klinische Psychologin. Es gibt die Autorin des Buches The Second
Self (Turkle 1984), welches Ende der 1970er und Anfang der 1980er entsteht, als
zu den Sherry Turkles eine weitere hinzutritt: die Professorin am MIT, dem Massachusetts Institut of Technology. Und nicht zuletzt gebe es „die Erforscherin des
Cyberspace, die Frau, die sich womöglich als Mann einloggt oder als eine andere
Frau oder ganz einfach als ST“ (Turkle 2007b: 505).
„All diese Sherry Turkles zusammen haben ein Buch geschrieben“ (ebd.) –
eben jenes Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet (Turkle 1998),
das Mike Sandbothe als das „Gründungsdokument der humanwissenschaftlichen
Internetforschung“ und schon drei Jahre nach dessen Erscheinen – im Jahr der
deutschen Übersetzung 1998 – als Klassiker bezeichnete (Sandbothe 1998).
2
Die Wunschmaschine
Doch grundgelegt wird diese Gründung schon in Sherry Turkles vorangegangenen Buch The Second Self: Computers and the Human Spirit. 1984 publiziert ist
es ihr erstes auch in Deutschland zur Kenntnis genommenes Buch1, wo es fast
zeitgleich mit der amerikanischen Originalausgabe auf deutsch erscheint – mit
dem etwas eigenwilligen Titel: Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur.
Turkle beginnt ihre Ausführungen zum zweiten Selbst mit dem Wilden
Kind von Aveyron; jenem Wolfsjungen also, dem François Truffaut nach den
Aufzeichnungen des Arztes Jean Itard 1970 ein filmisches Denkmal gesetzt hat-
1 Tatsächlich ist es nach The French Revolution bereits Turkles zweites Buch. Turkles Erstlingswerk wird hier aber übergangen, da es für die deutsche Debatte um Turkle keine große Bedeutung
hat und auch der Untersuchungsgegenstand ein ganz anderer ist als jener der virtuellen Identität,
für den Turkle berühmt ist. Gleichwohl wird sich zeigen, dass Turkles Bezug zur Psychoanalyse
und ihre Erfahrungen mit den Mai-Unruhen 1968 in Paris – von dessen Wechselwirkungen das
Buch im Kern handelt – auch das Fundament für ihre Studien zur digitalen Identität abgeben. Zudem ist es der methodische Zugriff, der sich durch alle Arbeiten von Turkle zieht: In The French
Revolution arbeitet sich Turkle nicht systematisch an der Psychoanalyse oder deren Interpretation
durch Jaques Lacan ab. Ihr Interesse gilt eher den Effekten, der Bedeutung, die das „soziale Phänomen Lacan“ für die Rezeption der Psychoanalyse durch die rebellierenden Studierenden und
damit für die Rebellion hatte.
276
Sherry Turkle
te. Turkle stellt damit nicht nur die Frage nach der Natur des Mensches, nach
deren Determiniertheit oder Veränderbarkeit. Sie ruft damit auch den Kontext
ihres eigenen Denkens auf: Frankreich, die Revolution, das erneute Interesse an
der historischen Begebenheit im Zuge der 68er Kulturrevolte, der klinische Fall,
das pädagogische Experiment. Sie fügt der Geschichte aber ein entscheidendes
Element hinzu: den Computer.
„Wir fragen nicht nur, wo wir in der Natur, sondern auch, wo wir in der Welt der Artefakte
stehen. Wir suchen nach einer Verbindung zwischen unserer Identität als Menschen (wer sind
wir?) und dem, [...] was wir auf Grund unserer Intimität mit unseren eigenen Kreationen möglicherweise sein werden“ (Turkle 1984: 8).
2.1 Soziologie der Geisteswissenschaften
Geleitet von dieser Frage liefert Turkle eine Dichte Beschreibung (Turkle 1984:
391) der in den 1970er und frühen 1980er Jahren entstehenden Computer-Kultur.
Sie versteht sich als Ethnographin, die als geisteswissenschaftlich ausgebildete
Psychologin – die nie zuvor einen Computer angefasst habe – eine ihr völlig
fremde Welt betritt und zu beschreiben versucht. Sie fokussiert die Wirklichkeitskonstruktionen der sozialen Akteure; insbesondere jene Konstruktionen,
derer sich diese bedienen, um über sich selbst im Verhältnis zu sich selbst nachzudenken.
Ihre Rekonstruktion erfolgt durch die Präsentation einer Vielzahl von Fällen. Turkle greift auf über 400 Interviews und eine Fülle von zumeist teilnehmenden Beobachtungen zurück. Sie nimmt dabei sowohl den klinischen Standpunkt der Psychologin, den ethnographischen Standpunkt der Anthropologin, als
auch den Standpunkt einer „Soziologie der Geisteswissenschaften“ (ebd.: 391ff.)
ein. Turkles verschiedene Rollen entsprechen den drei Teilen des Buches.
Als Psychologin untersucht Turkle überwiegend Kinder und Jugendliche,
die sich in alltäglichen Situationen mit Computern befassen. Die Kommunikation mit der Maschine provoziere bei den Kindern Fragen der Metaphysik: Fragen
nach Unendlichkeit, Paradoxien und dem Status des Lebendigen. Als Anthropologin erforscht Turkle die Subkulturen der Hacker, die exklusiven Forscherkreise
der Künstlichen Intelligenz, die – damals noch eher seltenen – Besitzer von Personal Computern, Computerhobbyisten und virtuose Programmierer. Idealtypisch sei deren Anliegen, die Maschine zu beherrschen. Schließlich wendet sie
sich im letzten Teil der soziologisch gestellten Frage zu, inwieweit der Computer
ein Modell für die innerpsychische Natur des Menschen abgibt. Anhand verschiedener Gespräche mit Studierenden und Lehrenden der Computerwissenschaft rekonstruiert Turkle eine neue Weise über Bewusstsein, Geist und das Ich
277
Stephan Münte-Goussar
nachzudenken. Die hier vorgefundene Kultur zeichne sich durch Identifikation
aus: durch die individuelle Vorstellung, eine Maschine zu sein (ebd.: 335ff.).
2.2 Dein Gehirn IST ein Computer
Damit stellt der letzte Teil die Konklusion des Buches dar: Der Computer sei für
alle, die mit ihm in Berührung kommen, ein evokatorisches Objekt. Diese Maschine provoziere, sie nötige zum Nachdenken über den Status des eigenen
Seins. Sie tue dies aufgrund der Tatsache, dass sie an der Grenze zwischen dem
Belebten und Unbelebten, zwischen dem Physischen und Psychischen, zwischen
der regelverhafteten Kalkulation und dem Denken angesiedelt sei. Die digitale
Maschine sei uns vertraut und deshalb zugleich unheimlich im Freudschen Sinne. Ihre Fähigkeit zur Rekursion, ihre Fähigkeit auf sich selbst Bezug zu nehmen
und im Zuge des eigenen Funktionierens die jeweiligen Zustände mit den eigenen Erfahrungen rückzukoppeln, mache diese Maschine so stark und zugleich sei
ihre größte Schwäche, ihr blinder Fleck, die Unvollständigkeit des Systems.
Genau dies mache sie so menschlich. Turkle lässt u.a. einen Studenten auftreten,
der herausgefordert durch ein scheinbar intelligentes Computersystem Zweifel
bekam, ob „sein eigenes subjektives Empfinden von Autonomie und Selbstbestimmung in gewisser Hinsicht illusionär sein könnte“ (Turkle 1984: 23). Der
Menschheit werde dadurch – so Turkles Lesart der entstehenden Computerkultur
– nach den drei berühmten narzisstischen Kränkungen eine weitere hinzugefügt:
Der Computer zeige dem Menschen, dass er – obgleich eine nicht triviale – so
doch im Grunde eine Maschine sei. Die entscheidende Frage laute deshalb nicht
mehr, „ob Maschinen jemals so denken werden wie Menschen, sondern ob Menschen immer so gedacht haben wie Maschinen“ (ebd.: 24).
John Brockman gibt eine Antwort auf diese Frage, indem er die Antwortalternativen miteinander verschränkt. Rückblickend auf seinen eigenen Werdegang
ab den 1960ern und im selben Atemzug, in dem er kybernetische Vordenker wie
Heinz von Förster und Gregory Bateson, aber auch den Ex-Hippie und InternetPionier Stuart Brand nennt, sagt er:
„Wir erfinden Technologien, und dann verwandeln wir uns in diese Technologien. Dein Herz
ist nicht WIE eine Pumpe, dein Herz IST eine Pumpe! Dein Gehirn ist nicht WIE ein Computer, dein Gehirn IST ein Computer! Und das geht noch weiter, dann bist du ein neuronales
Netz, oder du bist ein Informationssystem!“ (Brockman zit. n. Dammbeck 2005: 12).
278
Sherry Turkle
2.3 Politik der Oberfläche
Diese Selbstbeschreibung im Angesicht der digitalen Maschine grundiert auch
die Gestaltung gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Im Vorwort der MITSonderausgabe von The Second Self, welche zu dessen 20-jährigen Jubiläum
2004 erschien, schreibt Sherry Turkle:
„eine ganze erste Generation der Computerbenutzer [setzte, S.M.-G.] nicht nur ihre ganze politische Hoffnung darauf, wie der Computer den Zugang zu Informationen demokratisieren würde, sondern darauf, wie ein bestimmter Umgang mit Computern (mit dem Gefühl der Transparenz der Maschine) allgemein eine neue und stärkere Beziehung zur Politik bewirken würde“
(Turkle 2007a: 36).
In dem Maße nämlich, in dem die Maschine und der Mensch als Maschine berechenbar und transparent seien, könnten auch soziale Entwicklungen transparent
und kalkulierbar werden. Diese Hoffnung aber habe sich nicht verwirklicht.
Denn das Versprechen der Transparenz weiche dem Verharren an der undurchschaubaren Oberfläche. Man müsse feststellen, „dass wir uns von einer ‚modernistischen Kultur der Kalkulation in Richtung einer postmodernistischen Kultur
der Simulation‘ entwickeln“ (Turkle 2007b: 505).
In ihrer weiteren Arbeit bemüht sich Turkle entsprechend, die Mechanismen
der Simulation durchschaubar oder besser: die Simulation bewohnbar, das Leben
im Netz als bewusste Lebensweise annehmbar zu machen (Turkle 1998: 375).
Computer und Netzwelten – das ist schon eine Erkenntnis aus The Second Self –
sind nämlich immer auch ein Medium zur Projektion (Turkle 2007a: 33), Flächen für die Phantasieprojektion – eben Wunschmaschinen: „Indem Computer
zu allgegenwärtigen Gegenständen in unserem täglichen Leben werden [...] wird
sich jedem die Gelegenheit bieten, mit ihnen so zu interagieren, dass die Maschine als eine Projektion von Teilen des Selbst, als Spiegel des Denkens fungiert“ (Turkle 1984: 12).
3
Leben in der Schnittstelle
Der Übergang zu einer Kultur der Simulation hat für Turkle ein Datum. 1984,
also im Erscheinungsjahr von The Second Self, bringt Apple mit seinem Macintosh den ersten Personal Computer mit einem GUI auf den Markt – mit einem
Graphical User Interface. Das, womit wir heute als Desktop-Metapher tagtäglich
umgehen, markiert für Turkle eine einschneidende Veränderung bzgl. des Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine. Als die Geschichte zweier Ästhetiken diskutiert sie den Glaubenskrieg zwischen MS-DOS- und Mac-Anhängern.
279
Stephan Münte-Goussar
Während die einen weiterhin an der Transparenz der Eingabezeile festhalten
wollten, die die Operation der Maschine – zumindest in Teilen – durchschaubar
mache, deuten die anderen Transparenz einfach um. Transparent sei ein Computer dann, wenn man intuitiv erfasse, was man selber mit ihm tut. Im August 1985
veröffentlicht Microsoft Windows 1.0 und zog damit mit Apple gleich.
Um Alice’ Wunderland zu betreten, müsse man nicht mehr durch den Spiegel hindurch gehen. Vielmehr gebe man sich den Verlockungen des Interface
hin. Denn diese Oberflächenwelt eröffnet einen viel tieferen Raum als das Innenleben der Maschine: namentlich den Cyberspace. 1984 ist auch das Jahr, in dem
William Gibson seinen Roman Newromancer veröffentlicht, der den Begriff
prägt. Turkle rekonstruiert auf den folgenden rund 500 Seiten ihres Buches diesen simulierten Cyberspace.
Sie geht dabei ganz analog zu The Second Self vor. Wieder setzt sie sich
nicht direkt und systematisch mit den Forschungsansätzen der Simulationskultur
auseinander, sondern primär mit deren Effekten und den Wirklichkeitskonstruktionen der durch die Simulation inspirierten Anwender. Wieder rekonstruiert sie
diese durch die Analyse einer Vielzahl von Fällen und Beispielen. Die Anzahl
der geführten Gespräche ist inzwischen auf über 1000 angewachsen. Öfter noch
als in The Second Self erprobt sich Turkle selbst in der Anwendung diverser
Computersoftware und als Internet-Surferin. Wieder wird ein philosophischer
Diskurs durch die Erfahrungen und Selbstreflexionen der Protagonisten der
Computerkultur hindurch geführt. Im Grunde schreibt Turkle ihre Computerkultur-Ethnographie einfach fort – allein die Kultur und ihr Territorium haben sich
verändert.
3.1 Emergenz und Selbstregulation
Die ersten zwei Drittel von Leben im Netz widmen sich allein dieser Veränderung. Beginnend mit dem Macintosh-Desktop führt uns Turkle in die Welt des
weichen Programmierens und in eine neue Ästhetik der Softwareentwicklung
ein. Der Computer werde nicht mehr als große Rechenmaschine angesehen,
sondern lade ein zum Basteln. Wie beim Spielen eines Computerspiels – Turkle
zieht u.a. Myst und die Aufbaustrategiespiele der Sim-Serie als Beispiele heran –
werde der User vom Zwang der Syntax befreit und in die Lage versetzt, mit
Form, Farbe und Klang zu spielen. Das Spiel selber erhält Einzug in die Computerwissenschaft.
Auch die KI-Forschung wende sich tendenziell von der formalen Logik ab,
die in einem Top-Down-Verfahren alle Vorgänge von einer zentralen Instanz
ableitet. Sie entdecke das kooperative Spiel autonomer, aber bezogen auf über280
Sherry Turkle
geordnete Funktionen dummer Agenten, die dennoch, gerade in ihrem Zusammenspiel und ihren wechselseitigen Abhängigkeiten, intelligente Funktionen
hervorbringen. Sie entdecke die Emergenz und beschäftige sich mit Ameisenkolonien, Schwarmverhalten und sich selbst organisierenden Systemen. Relativ viel
Aufmerksamkeit schenkt Turkle dem Artificial-Life-Programm des Biologen
Richard Dawkin, mittels dessen man Prinzipien evolutionärer Selektion nachstellen und überraschende Kreaturen erschaffen könne (Dawkins 1987).
Umgekehrt diagnostiziert Turkle eine neue Lässigkeit im Umgang mit dem
Computer. Weit weniger ließen sich Anwender inzwischen von diesem provozieren, sondern wüssten sich mit ihm und seinen – ggf. eingeschränkten – Möglichkeiten zu arrangieren. Ausführlich setzt sich Turkle mit den Computertherapeuten DEPRESSION 2.0 und Weizenbaums berühmtem ELIZA auseinander. Joseph Weizenbaum hatte ELIZA bereits 1966 als Imitation der klientzentrierten
Gesprächstherapie von Carl R. Rogers programmiert. Er wollte daran eigentlich
nur die Verarbeitung natürlicher Sprache durch ein Computerprogramm demonstrieren. Dass seine simple Simulation tatsächlich als Therapeut ernst genommen wurde, nahm Weizenbaum zum Anlass, um von einem führenden KIForscher und Urvater des Internet zu einem rigorosen Kritiker der Allmachtsphantasien seiner ehemaligen MIT-Kollegen zu konvertieren. Auch DEPRESSION 2.0 – so Turkle – erfreue sich bei seinen Anwendern regen Zuspruchs.
Roger, einem Klienten, der sich besonders ausdauernd auf DEPRESSION 2.0
eingelassen hatte, attestiert sie: „Roger ist ein Mitglied der gerade entstehenden
Kultur der Simulation“ (Turkle 1998: 194).
3.2 Dungeons and Dragons
Doch wie schon bei The Second Self ist es der abschließende dritte Teil, der die
Kernaussage beinhaltet und die knapp 300 vorangegangenen Seiten eher als
Vorspiel erscheinen lässt. Nur dieses Drittel – von der Einleitung und kleinen
Fragmenten abgesehen –, handelt tatsächlich vom Internet. Allein hier entwickelt
Turkle ihre These zur Identität in Zeiten des Internet, die ihrer Lesart nach den
bedeutsamsten Effekt der Simulationskultur erfasst und Turkles Arbeit zum viel
diskutierten Klassiker gemacht hat: Das Internet sei ein Ort für virtuose Identitätsspiele, ein Identitätsworkshop, den die Teilnehmer als multiple Patchworkidentitäten verlassen. In Turkles Worten:
„Das Internet ist zu einem wichtigen Soziallabor für Experimente mit jenen IchKonstruktionen und -Rekonstruktionen geworden, die für das postmoderne Leben charakteristisch sind. In seiner virtuellen Realität stilisieren und erschaffen wir uns selber. [...] [Wir erle-
281
Stephan Münte-Goussar
ben, S.M.-G.] die langsame Entstehung eines neuen, vervielfältigten Persönlichkeitsbegriffes“
(Turkle 1998: 289f.).
Turkle illustriert diese These vornehmlich anhand ihrer auf wöchentlichen Pizzapartys gesammelten Erfahrungen mit Spielern so genannter MUDs. MUDs
seien zwar nicht das einzige Beispiel, das computervermittelte Kommunikation
als ein besonderes Milieu der Identitäts-Konstruktion ausweist, aber ein sehr
anschauliches (ebd.: 17, 22). MUD ist die Abkürzung für Multi User Dungeon.
MUDs sind im Grunde textbasierte virtuelle Gemeinschaften. Inhaltlich stellen
sie sich zumeist als interaktive Spiel-Umgebungen dar. Vereinfacht gesagt sind
MUDs die digitalisierte Variante des Pen-&-Paper-Rollenspiels Dungeons and
Dragons. Die Beteiligten schlüpfen in Rollen, designen Identitäten, bilden Charaktere, entwickeln diese weiter und lassen sie in der erzählten Phantasiewelt
agieren, forschen, kämpfen, Rätsel lösen, Spiele spielen oder sich einfach nur
unterhalten. Damit würden die MUD-Spiele entscheidende Kriterien erfüllen, die
sie zu bevorzugten Orten der Identitätsarbeit machen: Kontinuität, Anonymität,
Unsichtbarkeit und Fülle, d.h. die Möglichkeit, mehr als einer zu sein: „Ein fortlaufendes Spiel, eine anonyme Figur, physische Unsichtbarkeit und die Fähigkeit, nicht einer, sondern viele zu sein – das sind die wesentlichen Eigenschaften,
die (...) das evokative Potential der MUDs als ‚Identitätsworkshop‘ ausmachen“
(Turkle 1996b: 323f.).
3.3 Ich bin nicht eine Person, ich bin viele
Das Internet – und eben am auffälligsten die MUDs – würden damit die Basis für
eine „Transformation des Ich“ schaffen (Turkle 1996b: 321). Diese Transformation beschreibt Turkle zunächst an konkreten Fällen. Hier trete das Internet als
ein psychosoziales Moratorium in Erscheinung, welches den Teilnehmerinnen
erlaube, ihre jeweiligen Lebenslagen und biographischen Dispositionen im psychoanalytischen Sinne durchzuarbeiten. Ähnlich wie schon in The Second Self
für den einzelnen Computer beschrieben, diene nun auch die vernetzte onlineWelt als eine Art Rorschachtest für die Phantasieprojektionen ihrer Bewohner.
In dieser Welt habe man aber darüber hinaus die Freiheit, vielfältige und
oftmals unerforschte Aspekte des eigenen Ichs so zum Ausdruck zu bringen,
dass diese tatsächlich als eigenständige Ichs in Erscheinung treten. Die Teilnehmer könnten ihre Ich-Ideale in der Interaktion mit anderen völlig frei entwerfen
und tatsächlich zum – virtuellen – Leben erwecken. „Die Mitspieler sind [...]
Schöpfer ihrer Identität. [...] MUDs sind Welten [...], in denen man eine Rolle
282
Sherry Turkle
spielen kann, die dem ‚wahren Selbst‘ so nah oder so fern ist, wie man es möchte“ (Turkle 1998: 13).
Doch bleibe diese Transformation und Neuerschaffung des Selbst nicht nur
auf die online-Welt beschränkt. Die Grenzen zwischen den Personen und den
von ihnen kreierten Personae würden sich verflüssigen. Die konventionelle Unterscheidung zwischen einer konstruierten Figur und dem „wahren Selbst“ sei
mehr als fragwürdig. Der Bildschirm, das Leben auf dem Screen, sei ein Ort
fließender Übergänge. Er sei die Schnittstelle, an der die multiplen Figuren sich
zusammenschließen, um in Frage zu stellen, was das Individuum für sein authentisches Selbst hält (ebd.: 299). „MUDs verwischen die Grenzen zwischen Selbst
und Spiel, Selbst und Rolle, Selbst und Simulation. Ein Spieler sagt: ‚Du bist,
was du zu sein vorgibst ... Du bist, was Du spielst‘“ (ebd.: 310). In Anlehnung an
John Brockman könnte man sagen: Du bist nicht WIE deine virtuelle Identität,
du BIST diese Identität.
3.4 Kollektive Psychoanalyse und Mehrprozessorensysteme
Ausgehend von diesen individuellen, aber sich wiederholenden Erfahrungen der
MUD-Spieler, Internet-Surfer und Cybernauten bemüht sich Turkle um eine
grundlegende Neubestimmung der menschlichen Identität. Sie verallgemeinert
ihre Forschungsergebnisse zu einem neuen Persönlichkeitsbegriff, der von dieser
aufstrebenden Kultur getragen werde. Das Internet ist in dieser Lesart gewissermaßen eine kollektive Psychoanalyse. Diese hat den Effekt, dass sich die Subjekte als dezentriert, fließend, nichtlinear, opak und eben als multipel erleben
(Turkle 1998: 22). „Das Ich ist nicht nur seines Zentrums beraubt, sondern auch
grenzenlos multipliziert (Turkle 1996b: 317).
Das Internet erzeuge damit eine Identität, die so fluide und mannigfaltig sei,
dass der Begriff der Identität selber brüchig werde (Turkle 1998: 14). Turkle
bemüht sich, zwischen den Extremen eines rigiden, unitären Selbst und dem
einer multiplen Persönlichkeitsstörung zu vermitteln. In verschiedenen Varianten
spielt sie die Möglichkeit durch, dass sich hinter den fragmentierten Selbstanteilen doch noch ein kohärentes Selbst befinde, welches als substanzielle Basis für
ein Kontinuum der verschiedenen Aspekte sorge. Mal plädiert sie für ein „flexible[s] Selbst“, das „keinen geschlossenen Wesenskern“ besitze und dessen Teile
„keine stabilen Einheiten“ bilden würden (ebd.: 425). Ein anderes Mal lädt uns
Turkle ein, die Vision „einer multiplen, aber integrierten Identität“ zu verwirklichen, deren „Flexibilität, Elastizität und Genußfähigkeit“ darüber hergestellt
werde, dass sie freien Zugang zu ihren vielen verschiedenen Selbsten habe (ebd.:
437f.).
283
Stephan Münte-Goussar
In jedem Fall fühlt man sich stets an ein Bild erinnert, welches Turkle in
den vorangehenden Teilen des Buches in den Denkwelten der Computerwissenschaftler aufgespürt hatte: das Modell eines verteilten Mehrprozessorensystems.
Schon in The Second Self hatte Turkle dazu geschrieben: „Der Computer setzt da
an, wo die Psychoanalyse aufgehört hat. Er greift die Vorstellung von einem
dezentralisierten Selbst auf und macht sie konkreter, indem er ein Modell vom
Geist als einer Maschine mit Mehrprozessorensystem entwirft“ (Turkle 1984:
383).
3.5 Computers embody postmodern theory and bring it down to earth
Bei all dem entwickelt Turkle keine eigenständige, systematisch ausgearbeitete
Identitätstheorie. Ebenso wenig referiert sie überkommene Ansätze, die für ihre
Untersuchung den Hintergrund abgeben.2 Turkle weist zwar darauf hin, dass „der
gegenwärtige Diskurs über menschliche Identität von den Metaphern der Vielfalt, Heterogenität, Flexibilität und Fragmentierung beherrscht“ (Turkle 1998:
286f.) wird, aber nirgends setzt sie sich detailliert mit diesem gegenwärtigen
Diskurs auseinander.
Turkle ist Ethnographin. Ihr Beitrag zur Identitätstheorie entfaltet sich durch
die von ihr befragten Gesprächspartner hindurch, die ihr ihre Vorstellungen vom
Selbst, von sich selbst zu Protokoll geben. Dies stets in Bezug auf die Erfahrungen mit der digitalen – und nun auch vernetzen – Maschine. Schon in The Second Self – um es noch einmal zu betonen – hatten deren Aussagen Turkle zu
dem Schluss kommen lassen: „Ein Modell des Geistes als Mehrprozessorensystem lässt uns mit einem ‚dezentralisierten‘ Selbst zurück: Es gibt kein ‚Ich‘,
keinen einheitlichen Akteur“ (Turkle 1984: 359).
Die Zweifel an der Einheitlichkeit und Autonomie des Ichs, die sich mit
dem Modell des Mehrprozessorensystems und der Vision einer elastischen Identität tendenziell in ein Versprechen wandeln, stellt Turkle nun aber in aller Ausdrücklichkeit und mit repetitiver Nachdrücklichkeit in den Kontext postmoderner
Theorie. „Die Projektionen des Ich in den MUDs gehören in einen entschieden
post-modernen Kontext“ (Turkle 1996b: 316).
2 Es finden sich lediglich vereinzelte Bezugnamen z.B. auf Eriksons Stufentheorie der Persönlichkeitsentwicklung und die Vorstellung, dass MUDs als ein Adoleszenz-Moratorium fungieren
können (Turkle 1998: 328f). In methodischer Hinsicht wird auf Piaget und dessen Art, mit Kindern zu arbeiten, verwiesen. Selbstverständlich sind die Psychoanalyse und damit Freud und Lacan oft, aber oft auch nur illustrativ, zur Hand.
284
Sherry Turkle
Die poststrukturalistischen „Gurus“, die der „französischen Sherry“ während ihres Studiums in Paris begegnet waren, – namentlich „Jacques Lacan,
Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari“ (Turkle 1998: 18) – sind die
Stichwortgeber des gegenwärtigen Diskurses, mit dem Turkle ihre Vorstellung
einer virtuellen, dezentrierten Identität ausformuliert. Zwar seien diese „Französischen Lektionen“ „rein abstrakte Übungen“ gewesen (ebd.), denn – so Turkle –
„die Theoretiker des Poststrukturalismus und der später so genannten Postmoderne beschrieben
die Beziehung zwischen Geist und Körper in einer Weise, die wenig oder gar nichts mit meiner
subjektiven Erfahrung zu tun hatte” (ebd.).
Die Auseinandersetzung mit Computern und deren Nutzern habe ihr aber eine
gehaltvolle Empirie zu dieser Theorie vor Augen geführt: „Computer verkörpern
die Theorie der Postmoderne und holen sie auf den Boden der Wirklichkeit“
(ebd.: 24).
Lacan etwa vertrete die Theorie, das Ich sei eine Illusion, sei in sich gespalten und bestehe nur aus Signifikanten. In der rechnervermittelten MUD-Welt –
so schreibt Turkle in hervorgehobener Schreibweise – ist das Selbst ganz konkret
multipel und stets wandelbar. Es wird von Phantasie und Sprache hervorgebracht. TinySex-Geschlechtsverkehr ist der Austausch von Signifikanten (ebd.:
20).
Der Clou bei Turkle besteht genau darin, dass es ihr gelingt, Theorieansätze,
Denkmodelle und Metaphern, die der Computerwissenschaft und der Cyberkultur entspringen – und deshalb in aller Regel mehr oder minder durchdachter
kybernetischer, konstruktivistischer und systemtheoretischer Provenienz sind –
in die Nähe einer poststrukturalistischen Theorie – genauer: deren Subjektkritik
– zu rücken oder gar mit dieser in eins zu setzen:
„In den textbasierten, virtuellen Realitäten, [...] erforschen, konstruieren und rekonstruieren
Menschen ihre eigenen Identitäten. Dies tun sie in einer Umgebung, die mit einem postmodernen Ethos ausgestattet ist, was den Wert multipler Identitäten [...] betrifft, und mit einem konstruktivistischen Ethos im Sinne von: ‚Erschaffe etwas, werde jemand‘“ (Turkle 1996b: 331).
4
Independence of the Cyberspace
Es ist nicht zuletzt dieser Glaube an eine willkürlich wünschbare Selbsterschaffung, die Turkles Arbeit bewegt. Dieser verspricht nicht nur eine Befreiung von
gesellschaftlich auferlegten Zwängen und Unterdrückung mittels Transparenz
und demokratischer Teilhabe – wie es die utopischen 1980er-Pioniere erhofft
hatten –, sondern er verspricht darüber hinaus und viel radikaler eine Befreiung
des Selbst von sich selbst, insofern dieses nämlich als Produkt eben dieser Un285
Stephan Münte-Goussar
terwerfung erkannt ist. Turkle verspricht durch ihren Bezug auf poststrukturalistische Theorie eine Befreiung vom Leitbild einer einheitlichen Identität, insofern
diese als ideologisches Konstrukt entlarvt ist, das zu nichts anderem tauge, als
gesellschaftliche Macht auch im Inneren der Subjekte zu verankern. Das Selbst
in Turkles Vision ist demgegenüber nicht länger an eine fixe, gesellschaftlich
und ökonomisch diktierte Identität gebunden, sondern kann sich jederzeit selbst
neu erfinden:
„In diesem Spiel entwirft jeder Teilnehmer sein Selbst nach eigenem Gutdünken, und die Regeln der sozialen Interaktion werden geschaffen und nicht bloß übernommen“ (Turkle 1998:
11). „Das Leben im MUD könnte dabei ein Vorbote dessen sein, [...] was wir – im Vergleich
zum Virtuellen – immer noch als ‚wirklich‘ bezeichnen“ (Turkle 1996b: 319).
Damit stellt sich Turkle in eine Reihe von Verlautbarungen, die das Internet mit
einem Emanzipationsversprechen verknüpft haben – mit Versprechungen, die
durchaus als Cyber-Hype wahrgenommen werden konnten (Maresch/Rötzer
2001). Prominent ist hier John Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung des
Cyperspace von 1996. Barlow entwirft im „Namen der Zukunft“ eine umfassende Vision einer neuen „Zivilisation des Geistes“:
„Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie
auch sind“ (Barlow 1996).
Turkle liefert die individualpsychologische Perspektive für diese digitale Revolution – ganz ähnlich, wie sie in Psychoanalytic Politics den Einfluss der Psychoanalyse auf die Mai-Revolte von 1968 und umgekehrt den Einfluss dieser
Revolte auf die Rezeption der Psychoanalyse beschrieben hatte (s. Fußnote 1).
Turkle macht sich nicht nur zur ethnographischen Berichterstatterin der digitalrevolutionären Elite, sondern gibt ihr zudem ein visionäres Menschenbild: Die
digital Auserwählten seien die eingeborenen Bewohner der sich ankündigenden
Postmoderne.
4.1 Cybertopia und Digerati
Turkle selbst ist ein Pionier der neuen Welt. Sie gehört zu den frühen Mitgliedern der ersten Cyberutopia-Community The WELL. 1985 von Stewart Brand
als Whole Earth ’Lectronic Link gegründet, markiert es die Geburtsstunde der
Netz-Gemeinschaften und entwickelt sich zu „the world’s most influential online
community“ (The WELL). Stewart Brand betätigte sich bereits 1968 als Heraus286
Sherry Turkle
geber des Whole Earth Catalogue – ein Literaturverzeichnis für alternative Lebensweise und biologisch korrekten Konsum. The WELL ist im Grunde die
digitale Fortführung des Catalogues, den wiederum Apple-Gründer Steve Jobs
jüngst als eine Art Google in Papierform bezeichnete (Jobs 2005). Weitere
WELL-Mitglieder der ersten Stunde sind u.a. John Perry Barlow und Howard
Rheingold. Letzterer hatte 1993 mit seinem begriffsprägenden Buch The Virtual
Community (Rheingold 1994) eine Hommage an die WELL-Gemeinde geschrieben. Auch Turkle bezieht sich auf Rheingolds Arbeit und auf ihre eigenen Erfahrungen mit The WELL (Turkle 1998: 418f.).
Darüber hinaus zählt sich Turkle zu den Digerati, der selbsternannten Cyber-Elite, die sich unter dem Dach der Edge Foundation versammelt hat. Egde –
in Anspielung auf das New Age auch als New Edge bezeichnet (Kreye 2002) –
wurde 1988 von John Brockmann mit dem Anliegen gegründet, „the most interesting minds in the world“ zu fördern (Edge). Zu den Missionaren der Kommunikationsrevolution, wie es in der Selbstbeschreibung heißt, zählen neben Turkle,
Brockman und anderen wiederum Stewart Brand, John Perry Barlow, Howard
Rheingold und Bill Gates. Dem angegliederten Reality Club gehört u.a. der von
Turkle breit referierte Richard Dawkins an.
Gleichsam als Ergebnis der auf Edge geführten Debatten publiziert John
Brockman 1994 das Buch The Third Culture (Brockman 1996). Angeregt von
Charles Percy Snows The Two Cultures (Snow 1963) versucht er darin, die Kluft
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überbrücken, indem er verschiedene Vertreter jener dritten Zwischen-Kultur portraitiert: u.a. Richard Dawkin,
Marvin Minsky – den auch Turkle oft erwähnt – sowie Francisco Varela. Tatsächlich spannt auch Turkle eine Brücke zwischen Humanities und Science. Sie
verbindet Computerwissenschaftler, Evolutionstheoretiker und Konstruktivisten
einerseits mit jenen poststrukturalistischen Franzosen ihrer Studienzeit andererseits: Letztere werden kaum merklich, verpackt in den ethnographisch erschlossenen Alltäglichkeiten der Cyberkultur, in die Third Culture eingemeindet.
4.2 Netzkritik und Kalifornische Ideologie
Die Visionen der digital wohlbelesenen Utopisten, Projektemacher und Software-Unternehmensgründer sind aber nicht unwidersprochen geblieben – gerade
auch aus den Netzen selbst heraus und von Menschen, die mit poststrukturalistischen Theorien durchaus vertraut sind. Pit Schultz und Geert Lovink veröffentlichten wenige Wochen nach Barlows Unabhängigkeitserklärung auf der Mailinglist Nettime und später in der telepolis den so genannten Anti-Barlow
(Schultz/Lovink 1996). Sie wundern sich über diese „merkwürdige Autonomie287
Stephan Münte-Goussar
bewegung“, die sich in einem erstaunlichen Einklang mit der „neoliberalen [...]
Ideologie einer deregulierten globalisierten Info-Ökonomie“ (ebd.) befinde, wie
sie etwa in der Magna Charta of the Knowledge Age von Alvin Toffler, George
Gilder et al. beschrieben sei (Gilder et al. 1995). Jene hybride Orthodoxie aus
cyber- und ökotopistischem Hippietum, technolibertärem Basisdemokratieversprechen, neoliberaler Wirtschaftswissenschaft und sozialdarwinistischem
Marktradikalismus, welches Schulz und Lovink im Blick haben, nennen Richard
Barbrook und Andy Cameron die Kalifornische Ideologie (Barbrook/Cameron
1997). Sie beschreiben damit die Entstehung des Internet aus dem Geist der
kulturellen Bohème, Landkommunarden, Drogenkonsumenten und Intellektuellen der US-Westküste – aus dem Geist der amerikanischen 68er Gegenkultur.
Getragen von den liberalen Idealen der „Demokratie, Toleranz, Selbstverwirklichung und der sozialen Gerechtigkeit“ (ebd.), glaubten Teile dieser Bewegung,
ihre Ideale seien nur durch die Rückkehr zur Natur und durch solidarische Beziehungen zu realisieren. Andere Teile glaubten an die digitale Revolution.
Durchgesetzt habe sich die zweite Variante; aber nur – so die zentrale These von
Barbrook und Cameron –, da
„die kalifornische Ideologie klammheimlich den frei schwebenden Geist der Hippies mit dem
unternehmerischen Antrieb der Yuppies [verbindet, S.M.-G.]. Diese Verschmelzung der Gegensätze wurde durch einen tiefreichenden Glauben an das emanzipatorische Potential der neuen Informationstechnologien bewirkt. In der digitalen Utopie wird jeder gut drauf und reich
sein“ (Barbrook/Cameron 1997).
Anstelle der gemeinsamen Freiheit, an die die radikalen Hippies dachten, sei so
eine ältere, längt überwunden oder besser: sozialisiert geglaubte Form des Liberalismus wiederbelebt worden: der ökonomische Liberalismus mit seinem Glauben an die Freiheit der Individuen in einem deregulierten Markt. Schultz und
Lovink formulieren im Anti-Barlow schließlich: „Kommende Legionen von
Kulturwissenschaftlern, Ethnographen, Soziologen und nicht zuletzt Philosophen
werden den geistigen Überbau zusammenzimmern, der schon längst als Ready
made bereit steht“ (Schultz/Lovink 1996). Und sie zitieren und kommentieren im
unmittelbaren Anschluss Sherry Turkle: „‚Das Internet hat die französische
postmoderne Theorie auf den Boden zurück gebracht’ – Sherry Turkle – Es fragt
sich, auf welchen Boden“ (ebd.).
4.3 Der flexible Mensch
Vielleicht ist Turkles multiple Identität tatsächlich nur die als postmodern verbrämte Variante dessen, was Richard Sennett den flexiblen Menschen nennt,
288
Sherry Turkle
dem er im selben Jahr, in dem Leben im Netz erschien, im Rahmen seiner Interpretation der Kultur, der Kultur des neuen Kapitalismus, ein einfühlsames Portrait gewidmet hat (Sennet 1998). Tatsächlich bezeichnet auch Turkle vor dem
Hintergrund der neuen Anforderungen in der Arbeitswelt die virtuellen Räume
als ein „Flexibilitätspraktikum“, welches auf diese vorbereite (Turkle 1998: 416).
Während Sennett aber in eher kritischen Tönen die mit der Flexibilisierung einhergehende Überforderung, Sinnleere und individualisierten Risiken des Scheiterns in den Blick nimmt, verknüpft Turkle diese Entwicklung mit einer Perspektive, die über die realen sozialen Verhältnisse hinausweist:
„Das Selbst spielt nicht mehr bloß verschiedene Rollen in verschiedenen Kontexten zu verschiedenen Zeitpunkten, etwa bei einer Frau, die sich beim Aufwachen als Geliebte, bei der
Zubereitung des Frühstücks als Mutter und bei der Fahrt zur Arbeit als Anwältin erlebt“
(Turkle 1998: 17). Darüber hinaus sei Windows auf dem Computerbildschirm „zu einer starken
Metapher für die Annahme geworden, daß das Selbst ein multiples, dezentriertes System ist
[...], das in vielen Welten existiert und viele Rollen gleichzeitig spielt“ (ebd.).
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Sennett die Funktionsweise des neuen Kapitalismus u.a. am Beispiel eines beliebten digitalen Spielzeugs illustriert: am MP3Player. Sennett beschreibt diese Kultur – wie einige meinen, durchzogen von
beträchtlichem kulturpessimistischen Mief (Misik 2005) – als ein verteiltes
Mehrprozessorensystem mit einem Hauptprozessor (Sennett 2007: 41ff.).
5
Virtuelle Identität – reloaded
Was bleibt nach 15 Jahren Leben im Netz von der These der virtuellen Identität?
Haben sich Turkles Hoffnungen erfüllt oder besteht eher Grund zum Kulturpessimismus?
5.1 Identitätsmanagement
Die Ausgestaltung einer virtuellen Identität ist heute weit davon entfernt, sich in
der durch Anonymität geschützten Kreation multipler Personae zu erschöpfen.
Vielmehr geht es um Aufmerksamkeit erheischendes Identitätsmanagement. Im
vielbeschworenen web 2.0, das seinerseits einen erneuten Hype heraufbeschworen hat und beansprucht, sich nun endlich den ursprünglich Cyber-Utopien anzuverwandeln, geht es um die Sorge, dass die vielfältigen Profile, die man betreibt
– in Facebook und MySpace, in Xing, im eigenen Blog und den verschiedenen
Communities –, einen möglichst kohärenten, authentischen und insbesondere
einen guten Eindruck hinterlassen; oder, wenn sie schon verschiedene, gar wi289
Stephan Münte-Goussar
dersprüchliche Aspekte umfassen, dann dennoch in ihrer Gesamtheit und gerade
aufgrund des ein oder anderen Alleinstellungsmerkmals ein Portfolio abgeben,
das vor dem allgegenwärtigen ökonomischen Tribunal Bestand haben kann.
Verschiedene Tools, professionelle Beratung und kostenpflichtige Serviceangebote wie etwa myON-ID – My Online Identity – helfen dabei, die vielfältigen
Aspekte beisammen zu halten. Sie werben mit „Tools zum Monitoring, Marketing und Management Ihrer Online-Identität aus einer Hand“ – Denn: „Du bist
die Marke!“ (myON-ID).
Die sozialwissenschaftliche Diskussion, die auf Subjektkonstitutionsprozesse innerhalb der online-Kommunikation fokussiert, spricht denn auch wenig von
einer Kultur der befreiten multiplen Identitäten, sondern eher von der Ausweitung einer Bewerbungs- und Bekenntniskultur als einer neuen Form der Selbstthematisierung (Burkart 2006; vgl. auch Reichert 2008). „Brand Yourself!“ ist
das Kredo – nicht nur dieser, aber nicht zuletzt dieser – neuen Internetkultur. Das
allseits geforderte unternehmerische Selbst (Bröckling 2007) ist auch ihr Leitbild, wie umgekehrt sie für dessen digitale Selbstdarstellung eine ideale Plattform.
5.2 Real und virtuell
Dass Turkle diese Entwicklungstendenzen kaum thematisiert hat, erstaunt, hat
aber vielleicht einen einfachen Grund. Die Trennung zwischen RL und Cyberspace hat es so nie gegeben. Die virtuelle Realität war immer real – hervorgebracht durch Kabel, Hardware, beschränkte Rechenleistung, knappes Geld und
nicht zuletzt durch eine relativ stabile Bedeutungsstruktur und spezifische Rationalitäten. Umgekehrt ist die Realität immer vom Virtuellen durchsetzt – auch
ohne computergenerierte Simulation. Tatsächlich laboriert Turkle an der Grenze
zwischen Ernsthaftigkeit und Spiel, Körper und Geist, Wahrheit und Spekulation, Realität und Utopie, zwischen konstruierter Wirklichkeit und anders konstruierter Wirklichkeit; eine Grenze, die ihrerseits nicht klar gezogen werden
kann. Das Freiheitsversprechen, das sie gibt, besteht darin, diese Übergänge der
individuellen Verfügung zu unterstellen: „Du bist, was du zu sein vorgibst“
(Turkle 1998: 310).
So verwendet Turkle viel Energie darauf, das Verhältnis zu klären, welches
ein MUD-Spieler zu den von ihm erschaffenen alter egos unterhält und suggeriert, man könne sich in der neuen Welt kraft seines Willens in phantastische
Kreaturen verwandeln. Das Verhältnis aber, das das Ich zu dem großen Anderen,
zu dem verallgemeinerten Anderen oder auch nur zu den realen Anderen unterhält, mit denen es über seine und deren virtuelle Doppelgänger interagiert, inte290
Sherry Turkle
ressiert sie kaum. Gerade diese Referenzen, diese Referenzierungen sind es aber,
die bereits dem programmiertechnischen Code des Internets eingeschrieben sind.
Diese Verhältnisse sind es, die unter dem Mythos Cyberspace das web 2.0 als
social web haben hervortreten lassen. Das Bild des verteilten Mehrprozessorensystems bleibt bei Turkle seltsam innerpsychisch. Es bleibt das Modell einer
individuellen, personalisierten, intelligenten und allmächtigen Maschine. John
Brockmans Aussage, dass Menschen sich zu Knotenpunkten in einem neuronalen Netz, zu Teilen eines Informationssystems entwickeln werden, scheint viel
weitsichtiger.
5.3 French Lessons und der Geist im Wasserglas
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Turkles eher enggeführte
Perspektive, die gleichwohl als ein visionärer Blick auf das Leben und die Identität in Zeiten des Internet daherkommt, mit einem Missverständnis bezüglich der
von ihr umworbenen Postmoderne zusammenhängt. Sie verwechselt postmoderne Theorie mit einer Theorie der Postmoderne. Turkle setzt die Postmoderne als
Bezeichnung einer Epoche, die von anderen eher als Zweite oder Reflexive Moderne angesprochen wird, mit jenen poststrukturalistischen Theorien in eins, die
wahrlich keine nahende Zeitenwende beschwören, sondern zunächst die Aporien
der Moderne analysieren. Sie adelt damit das, was eigentlich der kritischen
Überprüfung unterzogen werden sollte.
Etwas salopp könnte man formulieren, Turkle hat ihre „Französischen Lektionen“ nicht gelernt. Deleuze’ Wunschmaschine, die womöglich Turkles zweitem Buch den deutschen Titel gegeben hat, ist nämlich alles andere als körperloser, reiner Geist. Deleuze Maschine ist vielmehr eine, die „atmet, wärmt, ißt […]
scheißt [...] fickt“ (Deleuze/Guattari 1974: 7). Auch der Wunsch ist bei ihm eben
gerade keine Projektion. Er ist nichts, was dem vermeintlichen Wesen der Innerlichkeit entfremdet wäre und dieses in dem Entwurf auf das Außen wiederzugewinnen hofft. Der Wunsch koexistiert immer schon mit dem gesellschaftlichen
Feld: „Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, nichts sonst“ (ebd.:
39).
Sicherlich spricht Lacan davon, dass das Unbewusste wie eine Sprache
strukturiert sei und das Ich durch Signifikanten gebildet werde. Doch ist es nicht
das Ich, welches über deren Verkettung verfügt, ist es nicht das Ich, welches sich
beliebig vervielfältigen und pluralisieren kann. Das Subjekt, das Subjektum, ist
diesen Signifikanten und ihren Verkettungsregeln stets unterworfen. Das Ich ist
immer schon der Andere.
291
Stephan Münte-Goussar
Sicherlich durchzieht Foucaults gesamte Arbeit das Bemühen, sich von der
Vorstellung eines mit sich selbst identischen Menschen zu lösen. Foucault beschreibt 1978 rückblickend sein theoretisches Projekt – und das ist im Kern das,
was man eine poststrukturalistische Subjektkritik nennen kann – als den Versuch, „das Subjekt von sich selbst loszureißen, derart, dass es nicht mehr es
selbst ist oder dass es zu seiner Vernichtung oder zu seiner Auflösung getrieben
wird. Ein solches Unternehmen ist das einer Ent-Subjektivierung“ (Foucault
2005: 54). Diese Überschreitung der identitären Beschränkung meint aber nicht,
dass man willentlich andere Möglichkeiten ergreift, gekonnt andere Rollen spielt
und sich wissentlich als eine andere Identität entwirft. Es meint keine beliebige
Multiplikation und geradezu magische Selbsterschaffung. Entsubjektivierung
meint eben Vernichtung, Auflösung, Analyse – und zwar eine Analyse des Gegebenen. Es meint ein Ringen an den Rändern und Hohlräumen der eigenen
Existenz. Foucault war jede Utopie suspekt. Sein Interesse galt den Heterotopien
– also Orten, an denen die Wirklichkeit bestritten und gewendet werden kann,
aber nicht ex nihilo neu erfunden (Foucault 1993). Entsubjektivierung ist ein
gegen sich selbst gewendeter Kampf im und zugleich des Subjekts gegen die
Strukturen und Bedingungen, die es ist. Diese Bedingungen sind immer schon
sozial. Sie sind Macht-Wissenskomplexe, Dispositive, wirkliche Technologien
und Praktiken, die das bewerkstelligen, was Foucault Subjektivierung nennt. Die
Übung der Ent-Subjektivierung ist deshalb für Foucault immer eine kritische
Analyse der konkreten Praxis, der Wissenstechniken und Selbsttechnologien,
mittels derer aus Menschen Subjekte gemacht werden.
Die Wahrheit des Selbst, die Antwort auf die Frage „Wer bin ich“ liegt für
die poststrukturalistischen und postmodernen Denker in der Struktur der Sprache, im Diskurs, in den Macht-Relationen, im Mit-Sein mit den Anderen.
Die Cyberelite, die Turkle als Träger einer multiplen Identität vorführt, aber
erschafft sich lediglich vermeintlich selbst, unabhängig und frei. Deren Mitglieder spielen verschiedene Rollen, betreiben eine bunte Maskerade, inszenieren ein
Spektakel. Hinter jeder Maske, vor jedem Bildschirm verbirgt sich das konsistente Original, das wahre Selbst, welches seine alter egos und animierten
Selbstanteile an unsichtbaren Fäden tanzen lässt. Turkles User-Selbst ist selbstherrlicher und zentrierter denn je. Es sind eben nicht macht- und bedeutungsvolle
Signifikanten, welche dieses Selbst erzeugen und durchkreuzen. Es ist das
Selbst, welches sich machtvoll und selbstbewusst der Signifikanten bedient, um
sich selbst zu erschaffen. Es schöpft sich aus sich selbst heraus, nach seinen
eigenen Gesetzen, in einem vermeintlich freien Raum der unbegrenzten Möglichkeiten, vollends losgelöst von allem, was war und was es selbst je gewesen
ist – und das gleich mehrfach. Turkles Netzuser ist die digitale Reinkarnation des
modernen Cogito-Subjektes, welches die Postmoderne gerade zu überwinden
292
Sherry Turkle
sucht: befreit von allen leiblichen und sinnlichen Verunreinigungen, abgeschirmt
von der Welt, zusammengezogen an einem Punkt, Geist im Wasserglas – wie
Bruno Latour es sagt. Von hier aus beherrscht es die Welt, die Anderen und sich
selbst darin. An diesem Punkt als der Grundlage des modernen Denkens kreuzen
sich die Anthropologie des Liberalismus und die des Konstruktivismus in der
Vision eines umfassenden sich selbst organisierenden Systems.
Primärliteratur
Turkle, Sherry (1978): Psychoanalytic Politics. Freud’s French Revolution. New
York: Basic Books.
Turkle, Sherry (1984): Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Engl. Original (1984): The Second
Self. Computers and the Human Spirit. New York: Simon & Schuster.
Turkle, Sherry (1996a): Who am We? In: Wired, 4, 1/1996.
Turkle, Sherry (1996b): Identität in virtueller Realität. In: Bollmann, Stefan/Heibach, Christiane (Hrsg.): Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur. Mannheim: Bollmann Verlag,
S. 424-433.
Turkle, Sherry (1998): Leben im Netz. Identität im Zeitalter des Internet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Engl. Original (1995): Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet. New York: Simon & Schuster.
Turkle, Sherry (2007a): Das zweite Ich – Computer als kulturelle und pädagogische Herausforderung. In: Mitzlaff, Hartmut (Hrsg.): Internationales Handbuch Computer (ICT). Grundschule, Kindergarten und Neue Lernkultur.
Bd. 1. Hohengehren: Schneider, S. 30-40.
Turkle, Sherry (2007b): Ich bin Wir? In: Bruns, Karin/Reichert, Ramón (Hrsg.):
Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation. Bielefeld: transcript, S. 505-523.
Sekundärliteratur
Barlow, John Perry (1996): Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. In: Telepolis, 8. Februar 1996. Online: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/1/1028/1.
html (Abruf am 15.03.2009).
293
Stephan Münte-Goussar
Becht, Stefan (1998): Sherry Turkle preist das Internet als Mittel zur Identitätsfindung. In: ZEIT 16/1998. Online: http://www.zeit.de/1998/16/turklenetz.txt.19980408.xml (Abruf am: 16.06.2009).
Brockman, John (1996): The third culture. Beyond the scientific revolution. New
York: Simon & Schuster.
Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Burkart, Günter (Hrsg.) (2006): Die Ausweitung der Bekenntniskultur – neue
Formen der Selbstthematisierung? Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Dammbeck, Lutz (2005): Das Netz – Die Konstruktion des Unabombers. Hamburg: Edition Nautilus.
Dawkins, Richard (1987): Der blinde Uhrmacher. Ein neues Plädoyer für den
Darwinismus. München: Kindler.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Edge. Online: http://www.edge.org/about_edge.html (Abruf am 20.8.2009).
Foucault, Michel (1993): Andere Räume (1967). In: Barck, Karlheinz (Hrsg.):
Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik.
Leipzig: Reclam, S. 34.46.
Foucault, Michel (2005): Gespräch mit Ducio Trombadori. In: Ders.: Schriften,
4. Bd. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 51-123.
Gilder, George/Keyworth, George A./Toffler Alvin (et al.) (1995): Cyberspace
und amerikanischer Traum. Auf dem Weg zu einer elektronischen Nachbarschaft: Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens. Frankfurter Allgemeine, 26.08.1995, Nr. 198, 30. Wiederabgedruckt in: Bruns, Karin/
Reichert, Ramón (Hrsg.) (2007): Reader Neue Medien. Bielefeld: transcript,
S. 132-137.
Jobs, Steve (2005): “You’ve got to find what you love,” Jobs says. Stanford
Report, 14.06.2005. Online: http://news-service.stanford.edu/news/2005/
june15/jobs-061505.html (Abruf am 20.08.2009).
Keupp, Heiner/Höfer, Renate (1997): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kreye, Andrian (2002): Wenn wir surfen Seit’ an Seit’. „New Edge“ tarnte in
Wahrheit den Erfolg der Computer-Industrie als gesellschaftliche Revolution. Das Internet (4). süddeutsche.de, 30.09.2002. Online: http://www.sued
deutsche.de /computer/258/473772/text/ (Abruf am 20.08.2009).
Maresch, Rudolf/Rötzer, Florian (2001): Cyberhypes. Möglichkeiten und Grenzen des Internet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
294
Sherry Turkle
Misik, Robert (2005): Die Konsum-Demokratie. In: taz, 09.07.2005. Online
http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2005/07/09/a0297 (Abruf
am 15.03.2009).
myON-ID. Online: http://www.myonid.de (Abruf am 15.03.2009).
Reichert, Ramón (2008): Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Bielefeld: transcript.
Rheingold, Howard (1994): Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im
Zeitalter des Computers. Bonn/Paris u.a.: Addison Wesley.
Sandbothe, Mike/Kleinspehn, Thomas (1998): Turkle Talk. Online: http://www.
sandbothe.net/57.html (Abruf: 16.6.2009).
Schultz, Pit/Lovink, Geert (1996): Der Anti-Barlow. www.nettime.org, 7. Mai
1996. Online: http://www.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-9605/msg
00012.html. Wiederabgedruckt in: Telepolis. Online: http://www. heise.de/tp/r4/artikel/1/1030/1.html (Abrufe am 15.03.2009).
Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin-Verlag.
Sennett, Richard (2007): Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Bvt.
The WELL. Online: http://www.well.com/aboutwell.html (Abruf am
16.06.2009).
Snow, Charles Percy (1963): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart: Klett.
295
Wolfgang Welsch: Identität im Übergang
Dorle Klika
Einleitung
Die Überlegungen von Wolfgang Welsch stehen im Kontext des philosophischen
Diskurses „Moderne vs. Postmoderne“, der mit Rekurs auf die französischen
Poststrukturalisten zum Ende des letzten Jahrhunderts geführt wurde. Thematisiert wurden philosophische Probleme um „Identität und Differenz“, „Universalismus vs. Relativismus“ „Einheit vs. Pluralität“ u.a. Zum Teil berührten die
Diskussionen das Thema „Identität” als Fassung bzw. Konzeptionierung des
Subjekts. Anders als in den psychologischen und sozialwissenschaftlichen Konzepten, die zu klären versuchen, wie die „Identität“ sich bei einzelnen konkreten
Menschen entwickelt, woraus sie sich speist bzw. wie das „Identitätsproblem“
gesellschaftsgeschichtlich entstand, ging es in der philosophischen Debatte um
die grundsätzliche erkenntnistheoretische Möglichkeit, das Subjekt, das „Ich“,
die menschliche „Vernunft“ zu beschreiben.
In dieser z.T. heftig geführten Debatte, in der die Vertreter der „Moderne“
an einer wie auch immer gearteten Einheitlichkeit bzw. Universalität festzuhalten
suchten (zum Überblick vgl. Habermas 1885; Fazis 1991), wohingegen Vertreter
der Postmoderne die Gegenposition einnahmen, versuchte Wolfgang Welsch
eine Mittlerposition einzunehmen und beide Positionen auszugleichen (vgl.
Welsch 1987, 1988). Welsch argumentierte in seinen Schriften, dass Perspektiven von Pluralität bereits in Konzeptionen der Moderne vorhanden seien. Gegen
den Einwand, Pluralität ohne jegliche Einheitsmaßstäbe verwandle sich schlicht
in Beliebigkeit (so die Kritik der Moderne an der Postmoderne), betont Welsch
die Chance, theoretische Konzeptionen postmodernen Denkens im Sinne einer
radikalisierten Moderne weiterzuentwickeln, in der Pluralität und Einheit gleichermaßen Platz haben.
297
Dorle Klika
1
Kurzbiographie
Wolfgang Welsch, geb. 1946, studierte Archäologie, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie in München und Würzburg und promovierte 1974 in
Würzburg mit einer Arbeit über Max Ernst. 1982 habilitierte Welsch mit einer
Arbeit über die Konzeptionen von Vernunft. Von 1988-1993 lehrte Welsch als
Professor für Philosophie an der Universität Bamberg, 1993 wechselte er an die
Universität Magdeburg, seit 1998 lehrt er an der Universität Jena als Professor
für theoretische Philosophie. Welsch hatte verschiedene Gastprofessuren inne:
1987 an der Universität Erlangen, 1987/88 an der FU Berlin, außerdem lehrte er
an der Humboldt-Universität zu Berlin, in den USA an den Universitäten Stanfort (Kalifornien), Emory (Georgia). Im Winter 2000/2001 dozierte Welsch am
Stanford Humanities Center, 2003 als Humboldt-Professor in Ulm. 1992 wurde
Wolfgang Welsch mit dem Max-Planck-Forschungspreis ausgezeichnet. Seine
gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte sieht Welsch in den Bereichen: Erkenntnistheorie, Anthropologie, Vernunft und Rationalität, philosophische Ästhetik, Kulturphilosophie und Philosophie der Gegenwart. Aktuelle Forschungsprojekte sind im Bereich der interdisziplinären Anthropologie und der Erkenntnistheorie angesiedelt (vgl. http://www2.uni-jena.de/welsch; http://de.wikipedia.
org/wiki/Wolfgang_Welsch_(Philosoph) (Abruf am 02.07.2009).
Welsch ist als Autor populär, seine Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und erreichten mehrere Auflagen, der Band „Unsere postmoderne
Moderne“ etwa erschien laut Verlagsankündigung im September 2008 in der 8.
Auflage.
2
Das Konzept
Welschs Aussagen über Identität finden sich hauptsächlich in der kurzen Abhandlung „Identität im Übergang. Philosophische Überlegungen zur Affinität
von Kunst, Psychiatrie und Gesellschaft“, die 1990 in einem Sammelband zu
dem Thema „Kunst und Psychiatrie“ erschien. Wiederabgedruckt wurde die
Publikation in einer Aufsatzsammlung zum „Ästhetischen Denken“, die ebenfalls 1990 bei Reclam erschien. Der Band erreichte 1998 die 5. und 2003 die 6.
Auflage.
In dieser Publikation zieht Welsch einleitend eine Parallele zwischen Kunst
und Psychiatrie: Beide seien in der modernen Gesellschaft ein „Ort der Abweichung“ und „Terrain der Negation“ (Welsch 1998: 168). Während die Abweichung der Kunst jedoch glorifiziert werde, seien Abweichungen im Umkreis der
298
Wolfgang Welsch
Psychiatrie gesellschaftlich geächtet. Die Feststellung von Abweichung setze
jedoch, so Welsch, einen gesellschaftlichen „Standard von Normalität voraus“
(ebd.: 170), der als Vergleichsnorm fungiere und die Kennzeichnung dessen, was
als „abweichend“ gelten solle, erst ermögliche. Eine solche fraglose Gültigkeit
von „Normalität“ werde durch die gegenwärtigen Tendenzen gesellschaftlicher
Pluralisierung, von der auch die Individuen längst betroffen seien, jedoch in
Frage gestellt. Welsch konstatiert:
„Die einschneidende Pluralisierung betrifft seit langem auch die Individuen. Identität ist immer
weniger monolithisch, sondern nur noch plural möglich. Leben unter heutigen Bedingungen ist
Leben im Plural, will sagen: Leben im Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen“
(ebd.: 171).
Von daher sei, so der nächste Argumentationsschritt, psychische Labilität „zu
einem Verstehensschlüssel für Normalität selbst geworden“ und gälte nicht länger nur für Kranke. Angesichts der unaufhaltsamen Pluralitätsentwicklung der
Gesellschaft käme es zwar darauf an, deren Gefahren nicht zu leugnen, aber
gleichermaßen deren Chancen zu sehen und „neue Formen zu finden und auszubilden, in denen diese Pluralität vollziehbar und in Übergängen mit neuen Identitätsfindungen lebbar wird“ (ebd.: 171f.).
Da in der Kunst seit langem „solche Identitätsvervielfachungen“ zu finden
seien, wendet sich Welsch in den folgenden Abschnitten den Kunstwerken von
Cindy Sherman, Paco Knöller und Arnulf Rainer zu, um den Prozess postmoderner Pluralisierung von Identität anhand der Kunst belegen und nach „gelingenden Formen“ solcher Identitätsvervielfachungen zu suchen.
Abbildungen 1-3: Cindy Sherman: Ohne Titel (1983)
299
Dorle Klika
Das Werk Shermans bezeichnet Welsch als Auseinandersetzung mit einer „multiplen Identität“. Bei den Fotoserien Shermans (Abb. 1, 2, 3; vgl. Sherman 1993)
handelt es sich durchgängig um „Selbstportraits“ in den unterschiedlichsten
„Verkleidungen“. Welsch interpretiert, die Botschaft der Werke Shermans sei,
„dass hier keine Identität zugrunde liegt“ (Welsch 1998: 174):
„Cindy Sherman verkleidet sich nicht bloß, sondern übernimmt den Typ und die Rolle, die sie
darstellt, dermaßen perfekt, dass sie die jeweilige Identität gleichsam abstrichslos verkörpert.
Sie ist nicht irgendeine Schauspielerin, sondern eine perfekte Darstellerin, sie demonstriert
nicht den Facettenreichtum ihrer Person, sondern die Vielfalt möglicher Identitäten“ (ebd.:
175).
Das traditionelle Konzept, demzufolge man „die Identität und Variabilität einer
Person von einem als substantiell oder substrathaft begriffenen Kern her zu verstehen [suchte]“ (ebd.: 176), sei modern fragwürdig geworden. Sherman führe
dem Betrachter „die positiven Möglichkeiten eines neuen, nicht mehr an die
Person gebundenen Identitätsverständnisses“ vor Augen (ebd.: 178). Ein und
derselbe Mensch könne nunmehr „verschiedenste Identitäten annehmen und
verkörpern“ (ebd.).
Die Werke Paco Knöllers werden als „offene und übergehende Identität“
und die von Rainer als „Attacken auf die Identität von Person und Bild“ bezeichnet (vgl. ebd.: 183ff., 187ff.). Am Beispiel der Gemälde „Der Kopf“ und „Monolog II“von Knöller (Abb. 4 und 5; vgl. Knöller 1990: 32, 37) verdeutlicht
Welsch, dass das Subjekt „nicht nur von außen gesehen multipel“ sei, es erweise
sich auch aus der Binnenperspektive als offen. „Nicht personaler Selbstbesitz ist
für es charakteristisch, sondern archaische Reminiszenzen einerseits und offene
Möglichkeiten andererseits prägen seine Erscheinung“ (ebd.: 184).
Abbildungen 4-5: Paco Knöller: Der Kopf (1986)
300
Monolog II (1986)
Wolfgang Welsch
„Der Kopf“ (der das „Innere“ eines menschlichen Kopfes wiedergibt) zeige weder eine „luzide Identitätsarchitektur“ noch einen „selbstsicheren Personenkern“
(ebd.: 183). Die menschliche Figur in „Monolog 2“ (Abb. 5) verfüge über „keine
eigene Substanz, keine autonome Körperlichkeit, die sich aus sich definieren und
von der Umgebung absetzen würde“, sondern sei lediglich durch Grenzlinien
konturiert (ebd.: 184f.). Welsch interpretiert „Monolog 2“ als Auflösung der
konventionellen Vorstellung von Identität. Der Mensch erscheine hier nicht als
autonomes Geschöpf, er sei vielmehr von Tod und Sterben, von körperlicher
Hinfälligkeit bestimmt, er
„tritt in einer temporären Konstellation in die Existenz und gewinnt seine Form unter vorgegebenen Bedingungen (…). Nicht selbstherrliche und rigide Identität macht den Menschen aus,
sondern Identität im Übergang – die es erst noch wahrzunehmen und auf die es sich sinnend
einzustimmen gilt – ist ihm zugeteilt“ (ebd.: 186f).
Arnulf Rainers „Übermalungen“ deutet Welsch als „Identitätsveränderungen“
(ebd.: 187). Die Bilder Rainers (vgl. Abb. 6) problematisieren Welsch zufolge
„die Identitätsfunktion des Mediums Bild“ (ebd.: 188). Während die traditionell
standardisierte Portraitfotographie der Identifizierung einer Person diene, wolle
Rainer diese Verbindung attackieren. Die Kunst Rainers „sprengt die bürgerlichruhige Identität der Person“ (ebd.: 191).
Abbildung 6: Arnulf Rainer
Neben der Interpretation dieser Kunstwerke bzw. ihrer Autoren wendet sich
Welsch zur Absicherung seiner Thesen philosophischen und soziologischen
Gegenwartsanalysen zu, die den Trend zur Pluralisierung von Lebensstilen und
301
Dorle Klika
Lebensformen diagnostizieren. Er verweist auf die philosophische Kritik am
Konzept des Subjekts bzw. der Subjektivität durch den französischen Poststrukturalismus und betont, es gehe nicht um „Leugnung, sondern um eine gemäßere
Interpretation von Subjektivität und um die Konturierung neuer Identitätsformen,
die den gegenwärtigen Verhältnissen angemessener sind“ (ebd.: 179). Die gesellschaftliche Pluralisierung, in der Moderne initiiert und nun postmodern fortgesetzt, dringe in den Binnenraum der Individuen ein und ermögliche eine „Verbreiterung des Identitätsfächers“ und die „Generierung neuer, betont pluraler
Identitäten“ (ebd.).
Welsch bilanziert seine Ausführungen unter drei Akzenten: „Grenzdurchlässigkeit, Desidentifizierung und Psychiatriewandel“. Als „Grenzdurchlässigkeit“ akzentuiert Welsch die Aufweichung des scharfen Unterschiedes zwischen
„Normalität und Abweichung“ (ebd.: 195). In der Gegenwart erweise sich Vernünftiges als irrational; abweichendes Verhalten könne sich demnach als gesünder erweisen als starres Festhalten an Tradiertem. In dem Abschnitt „Desidentifizierung und neue plurale Identität“ verweist Welsch zum einen auf die Avantgardefunktion moderner Kunst, die uns „sowohl Identitätsauflösungen als auch
Modelle des Übergangs zwischen verschiedenen Identitäten vor Augen“ führe
(ebd.: 196) und uns zeigen könne, „wie solch variable Identität gelingen und wie
sie lebbar sein kann“ (ebd.: 198). Zum anderen verweist er auf die Diskussion
um die Postmoderne. Vorteil des Konzepts der Postmoderne sei, dass „sie die
Pluralität nicht bloß zähneknirschend als ungeliebte, aber unumgängliche Realität hinnimmt, sondern ihre befreienden Aspekte anerkennt und dieser Pluralität
aus Überzeugung zustimmt“ (ebd.: 196).
Das abendländische Denken sei von einem Einheits- und Ganzheitsdenken
durchdrungen, das Welsch als „Ganzheitsdruck“ bezeichnet. Demgegenüber ist
„die Botschaft der Postmoderne, dass die Wirklichkeit plural konstituiert ist“ für
Welsch „eine wohltuende und äußerste befreiende Erfahrung“ (ebd.: 197). In
dem abschließenden Akzent zum Psychiatriewandel skizziert Welsch mögliche
Konsequenzen des aufgezeigten gesellschaftlichen Wandels für die Psychiatrie:
Zwar will Welsch den Kranken nicht zum Modell für gesunde Menschen erheben, doch er stellt in Aussicht, dass bestimmte Strukturen, die bisher als „krankheits-charakteristisch“ galten, künftig möglicherweise als „lebensermöglichend“
betrachtet werden könnten (ebd.: 199). Bestimmte traditionelle „obsessive Harmoniewünsche“ seien abzubauen; statt die eigene Situation als krankhaft zu
empfinden, käme es mehr darauf an, „sie als lebbar zu erkennen“ (ebd.: 200).
302
Wolfgang Welsch
3
Standortbestimmung und Weiterentwicklungen
Der Text steht in einem Diskurskontext der 1990er Jahre, der hier einführend
kurz skizziert werden soll, damit die Ausführungen Welschs verständlicher werden: Kritisiert wurden von Vertretern der Postmoderne das Fortschrittskonzept
der Moderne („Ende der großen Erzählungen“; Lyotard 1988a, 1988b; Welsch
1988), die Konzeption des einheitlichen, autonomen und rationalen Subjekts
sowie insgesamt der „Zwangscharakter“ des subjekt- bzw. identitätsorientierten
Denkens (vgl. zusammenfassend etwa Stross 1991: 140ff.; Engelmann 1999:
13ff.). Die Betonung von Rationalität und Vernunft wurden als einseitig kritisiert
(Welsch 1996; erziehungswissenschaftlich Meyer-Drawe 1990, 1998; Wulf
1997), betont wurden das „Nicht-Darstellbare“ (Lyotard 1988a) oder ästhetische
Formen des Denkens (Welsch 1990); die „Einheit“ des „Ichs“ erschien als Illusion (Derrida, Foucault, Lacan; zum Überblick vgl. Welsch 1996: 300ff., 830ff.).
Denn die „Einheit“ des Ichs, das sich diese Einheit nur vorgaukelt, löst sich am
Leib auf. Das Ich, so Foucault, ist eine „Masse, die ständig abbröckelt“ (Foucault
1978: 91; vgl. Welsch 1996; aus psychologischer Perspektive Gergen 1990).
Der Konstruktion des autonomen Subjekts wurde das „dezentrierte“ Subjekt
oder Selbst gegenübergestellt, das sich über den „Anderen“ konstituiert (Levinas). Gegen die philosophische Konstruktion eines auf das Denken reduzierten
neuzeitlichen Subjekts wurden aus anthropologischer Perspektive das ausgesperrte Unverbesserliche, das Irrationale, Wilde und Fremde, der Wahnsinn, die
Hinfälligkeit und Sterblichkeit des Menschen thematisiert und geltend gemacht
(Kamper/Wulf 1994; Lenzen 1991). Gegen bzw. neben die Vorstellungen von
Einheit und Identität eines „Ichs“ wurden die von Differenz, Diskontinuität und
Pluralität gestellt, neben die Autonomie des Subjekts dessen Ohnmacht (MeyerDrawe 1990, 1998; Mollenhauer 2000a). In diesem Kontext plädiert Welsch für
eine neue Art des Denkens: In dem Reclamband „Ästhetisches Denken“, wo der
Beitrag zur Identität erschien, konturiert Welsch ein auf Aisthesis bezogenes
ästhetisches Denken, das auch Anästhetik als Empfindungslosigkeit einbezieht.
Diese neue Form des Denkens befördere über die klassische Rationalität hinaus
die „sinnliche Erkenntnis” und sei „zur Erfassung gegenwärtiger Wirklichkeit
besonders geeignet“ (Welsch 1998: 68). Auch die übrigen Beiträge des Bandes
sind dem Bereich Ästhetik gewidmet.
Mit der Thematik von Identität beschäftigt sich Welsch in anderen Publikationen nur sporadisch. In den „Überlegungen zur Transformation des Subjektes“
propagiert Welsch Polyphrenie als „gelingende Form der Identität“. Vielheit sei
zu akzeptieren, die gesunde Form des erwachsenen Ichs sei das plurale bzw.
pluralisierungsbereite Ich (Welsch 1991: 358ff.). Auf einem interdisziplinären
Symposion 1998 zu dem Thema „Zukunft des Menschen – Selbstbestimmung
303
Dorle Klika
oder Selbstzerstörung?“ plädiert Welsch für „[d]ie Kunst, mit der Unsicherheit
zu leben“ (so der Vortragstitel) (Welsch 1999). Welsch bekräftigt dort seine
Position, ohne dem eigenen Konzept jedoch etwas Neues hinzuzufügen. Er stellt,
wie schon im Identitäts-Text, die Frage, woher „unsere Selbstbilder und
-entwürfe, unsere Projekte und Identitäten“ denn stammten, und gibt die Antwort: „Wir neigen zur Vorstellung, unser Wesen sei anfänglich, gleichsam genetisch, schon festgelegt gewesen und habe sich dann – durch alle Kontingenzen
hindurch – zunehmend ausgefaltet, mehr oder weniger voll entwickelt.“ Das sei
aber „eine ganz inadäquate und offensichtlich nicht von humanen, sondern von
botanischen Modellen her genommene Vorstellung“ (ebd.: 17). Stattdessen propagiert Welsch:
„In Wahrheit ist es so, dass wir Menschen, was uns da als ‚Wesen’ erscheint, aus dem Spiel
(und auch Kampf) der Kontingenzen erst gebildet haben. Es ist nicht ein Programm, das bloß
abgespult (oder ausgewickelt) zu werden brauchte, sondern eine Matrix, die sukzessiv unter
dem Einfluss und in Auseinandersetzung mit den Kontingenzen entstanden ist. Daher ist sie
auch veränderbar“ (ebd.).
Andererseits hält Welsch jedoch trotz der Befürwortung von Pluralität und Differenz an der Vorstellung von einer Art Einheitlichkeit des Subjekts fest: In seiner
Habilitationsschrift zur „Transversalen Vernunft“ (1996) diskutiert Welsch Formen und Typen von Rationalität und Vernunft. Dort äußert er sich abschließend
zu Fragen der Konstruktion des Subjekts und argumentiert anders als in dem
Text zur Identität gegen die Polyphrenie des Subjekts:
„Unsere Integrität im Ganzen […] hängt davon ab, ob wir zwischen den verschiedenen Identitätskonstruktionen auch überzugehen vermögen. Dies und nur dies garantiert, dass die Pluralität nicht in Polyphrenie zerfällt“ (Welsch 1996: 847).
Die verschiedenen Subjektteile seien „von innen verbunden“ (ebd.: 849). Sie
würden jedoch nicht durch ein Hyper-Subjekt koordiniert, sondern seien gegenseitig „durchdrungen“. „Subjektivität wäre dann etwas, was sich in den verschiedenen Subjektformen findet; zweitens würde sie wie ein Band durch die Subjektformen hindurchgehen“ (ebd.). Dieses „Band“ Subjektivität (hier gleichgesetzt
mit Identität) enthalte gleichzeitig eine Art „Färbung“, als besonderen, bestimmten „Stil“ eines Individuums und „garantiert“ dessen Unverwechselbarkeit und
Individualität. Dieses Band bezeichnet Welsch als Transversalität.
Im Anschluss an sein Konzept der transversalen Vernunft widmete sich der
Autor in späteren Publikationen der Frage von Transkulturalität (vgl. Welsch
1994/1995). Von der Postmoderne hat Welsch sich inzwischen verabschiedet
(vgl. Welsch 2004). In seinem Beitrag zum Katalog der „Revision der Postmoderne“, einer Ausstellung des Deutschen Architektur Museums Frankfurt, unter304
Wolfgang Welsch
scheidet Welsch zwischen einer konsumistisch orientierten Potpourri-Version
und einer strengen an Wissenschaft und Kunst orientierten Version der Postmoderne, die aber immer Spielart der Moderne geblieben sei (ebd.: 36).
Jüngere Publikationen beschäftigen sich u.a. mit Hegels Philosophie, mit
der Anthropologie und der Kulturphilosophie. Eine ganze Reihe von Publikationen ist lediglich als Audio-CD oder DVD erschienen (vgl. http://www2.unijena.de/welsch/(Abruf am 02.07.2009)). Auf der Homepage des Autors finden
interessierte Leserinnen und Leser Volltexte zum download. Das aktuelle interdisziplinär angelegte Forschungsprojekt „Anthropologie im Umbruch” beschäftigt sich mit Fragen nach dem Wirken der Evolution im Menschen und deren
Humanspezifika sowie Objektivitätschancen der Erkenntnis. Neben der Philosophie sind Evolutionsbiologie, Evolutionäre Anthropologie, Hirnforschung, Kognitive Neurowissenschaften und Kognitionspsychologie an dem Projekt beteiligt.
In seinem Beitrag propagiert Welsch „das neue Paradigma der Emergenz”. Wie
schon bei der Transversalität sucht Welsch nach „Übergängen“ in Form von
neuen Begriffen. Emergenz ist Welschs Antwort auf den klassisch anthropologischen Hiatus der leiblich-geistigen Verfasstheit des Menschen: Auf der Basis
vorhandener Elemente entstehen höhere Organisationsformen mit einer neuen
Qualität, so entsteht „denkender Geist” durch neue netzwerkartige Organisationsformen des Gehirns (vgl. Welsch 2006).
4
Kritische Einschätzung
Deutlich wird, dass Welsch eine Vermittlungsoption zwischen den skizzierten
Positionen sucht. Das scheint zunächst vielversprechend. Welsch greift den damals aktuellen Diskurs auf, zeigt sich aufgeschlossen gegenüber neuen Positionen, ohne dabei alles „Alte über Bord zu werfen“. Anregend sind seine Bezüge
und Verweise auf die Kunst und der Versuch, Erkenntnisse der Gegenwartskunst
in die philosophische Diskussion zu integrieren.
Bei den Überlegungen Welschs handelt es sich um ein essayistisch verfasstes Vortragsskript, in dem der Autor zwar interessante Gedanken äußert, das
jedoch nicht als Identitätstheorie bezeichnet werden kann. Der Fokus liegt dort
zunächst auf der Kritik alter Konzepte, ein schlüssiges neues Konzept wird nicht
entworfen. Das gilt auch für die weiteren Publikationen des Autors, die diesen
Zusammenhang thematisieren.
Problematisch an Welschs Konstruktionen erscheint Verschiedenes. Bei
Welschs Schriften handelt es sich wesentlich um philosophische Vernunftkritik,
die hier nicht thematisiert werden kann. Lediglich die Schlüsse bezüglich der
Fassung des Subjekts sollen hier diskutiert werden.
305
Dorle Klika
Leider bleibt Welsch begrifflich sehr unscharf: Er spricht von Subjekt und
Subjektivität, von Person und Identität, von Selbstbildern und Lebensentwürfen,
gar von der Identität „der Weltverhältnisse und Objekte“ (S. 191), ohne jeweils
eine Begriffsunterscheidung vorzunehmen. Der Rekurs auf den Begriff „Identität“ scheint hier eher unglücklich gewählt, denn das philosophische Konzept um
die wie auch immer geartete Einheitlichkeit oder Pluralität des Subjekts thematisiert andere Facetten als sozialwissenschaftliche Identitätskonzepte, auch wenn
beide gewisse gemeinsame Berührungspunkte haben (vgl. dazu Straub 1991;
Böhme 1997; Meyer-Drawe 1997; Wagner 1998; Klika 2000; Zirfas 2004). Mit
der undifferenzierten Gleichsetzung von Subjekt, Subjektivität und Identität
vermischt Welsch die Diskurse und verwischt deren Differenzen. Sozialwissenschaftlich orientierte Identitätstheorien sind soziologisch bzw. psychologisch/psychoanalytisch fundiert und fragen nach Möglichkeiten und Bedingungen der Herstellung personaler Identität. Aus dieser Theorieperspektive ist der
Problembereich „Identität“ mit der Herausbildung menschlichen SelbstBewusstseins in dem Zeitraum von etwa 1500 bis 1800 verknüpft und bezogen
auf die Leugnung „aller vorgegebenen Gewissheiten“ (Wagner 1998: 51). Mit
der Möglichkeit radikaler Befragung menschlicher Erkenntnis entsteht „die
Notwendigkeit der Befragung des Orts und der Stabilität des eigenen Ichs und
damit die Identitätsproblematik“ (ebd.: 52). In der Moderne mit ihren radikalen
Kontingenz- und Differenzerfahrungen wird Identität zum Problem, weil „nicht
feststeht und niemals ein für allemal festgestellt werden kann, wer jemand ist,
sein kann, sein will“ (ebd.: 88, Hervorh. im Orig.; vgl. Mollenhauer 1983: 172f.).
Wenn Welsch kritisch auf „alte“ Identitätskonzepte rekurriert, so bezieht
sich die Kritik vermutlich auf die Fassung des Subjekts, Literaturverweise fehlen
hier leider, so dass unklar bleibt, worauf sich Welsch im Einzelnen bezieht. Auch
verdeutlicht der Autor nicht näher, was denn genauer an den Konzepten zu kritisieren wäre. Wenn Welsch behauptet „traditionelle, nicht plurale Identitätskonzepte“ (er verwendet den Plural!) gingen von einem „als substantiell oder substrathaft begriffenen Kern“ aus, der sich „quasi-biologisch“ entfalte (Welsch
1998: 181), wäre es wissenschaftlich redlich, wenn hier Literaturbelege angeführt wären, damit die Kritik nachvollzogen werden kann. So bleibt es eine Behauptung ohne Beleg. Die sozialwissenschaftlichen Konzepte trifft diese seit
Mead jedenfalls Kritik nicht mehr.
Welschs Verweise auf die Kunst sind sehr anregend, künstlerische Materialien enthalten als artifizielle Gebilde ein „Mehr“, einen Überschuss an Sinn, der
nicht leicht entschlüsselt werden kann und geeignet ist, die gewohnten Ordnungen des Denkens aufzubrechen und zu verstören (vgl. Waldenfels 1999: 215;
Klika 2003). Das scheint besonders zum Thema Identität vielversprechend. In
der Auseinandersetzung mit den von Welsch gewählten Künstlern könnten dem
306
Wolfgang Welsch
Betrachter neue Interpretationsmöglichkeiten aufscheinen, da sie alle drei in
unterschiedlicher Weise den Themenkomplex von „Identität“ berühren. Doch
leider sind die eher plakativen Anmerkungen Welschs zu den Künstlern bzw.
ihren Objekten wenig hilfreich.
Nachvollziehbar ist zwar in gewisser Weise Welschs Behauptung, Shermans „Costume dramas“ verweisen auf die „mögliche Vielfalt“ von Identitäten
und auch die Schlussfolgerung, Shermans Arbeiten „verifizieren, wie Identität
sozial durch die Übernahme von Rollen konstituiert sein kann“ (Welsch 1998:
181), leuchtet ein (aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist das freilich nichts
Neues). Doch wenn Welsch behauptet, die Botschaft Shermans sei, „dass hier
keine Identität zugrunde liegt“, so ist das nicht schlüssig: Denn zum einen geht
es überhaupt nicht um die Identität der Künstlerin, zum anderen wird die Irritation des Betrachters nur hervorgerufen, wenn er weiß, dass sich hinter den Maskeraden die gleiche Person verbirgt. Nur dadurch erhalten die Inszenierungen ihren
Reiz, und nur mit dem „Wissen“ um das Gleiche (die gleiche Person) begibt der
Betrachter sich auf die freilich vergebliche Suche nach ihm. Ohne dieses Wissen
müssten die Bilder lediglich als verschiedene Portraits angesehen werden (vgl.
Klika 2000; Gorsen 1990: 20; vgl. Schade 1986: 283f.). Auch die Behauptung
Welschs, die „Möglichkeit des Übergangs“ zwischen verschiedenen Identitätsformen sei „Shermans Entdeckung“ (Welsch 1998: 178) ist nicht nachvollziehbar. Welche Übergänge sollte es zwischen den verschiedenen Maskeraden der
Künstlerin geben?
In Bezug auf die Bilder Knöllers thematisiert Welsch nicht den Übergang
zwischen pluralen Identitätsformen, sondern das Sterben als Kennzeichen des
Menschlichen, „die Auflösung seiner prekären Existenz“ (ebd.: 186; uur Interpretation der Werke Knöllers vgl. Klika (2000: 293f.), Kraft (1990), Krempel
(1990) und Schrenk (1990)). Der Mensch erscheint als fragiles Konstrukt, „als
vorübergehende Erscheinung zwischen zwei Seinsweisen“ (ebd.). Die Sterblichkeit des Menschen mitzudenken, seine Hinfälligkeit und seinen Tod nicht auszusperren aus der Konzeptionierung des Subjekts, war Forderung postmoderner
Vertreter – doch wenn Welsch dazu schreibt, dem Menschen sei „Identität im
Übergang [...] zugeteilt“ (ebd.: 186f.), so muss kritisch rückgefragt werden: von
wem zugeteilt, wenn Identität doch den Entwurf meint, den wir uns von uns
selbst machen? Rainers Übermalungen auf Fotografien vom eigenen Körper als
„Identitätsveränderungen“ (ebd.: 187) und Kritik an der alltagstheoretischen
Einschätzung der Abbildfunktion von Fotografien zu deuten, ist vielleicht nicht
ganz falsch, aber doch reichlich schlicht und kunsthistorisch und -theoretisch
eher ein alter Hut. Rainers eigener Kommentar zu den Übermalungen lautet: „Ich
kämpfe gegen mein eigenes Bild, sofern es ungenügende Qualität hat“ (Rainer
1970; vgl. auch Rainer 1978); für seine Kunst studierte Rainer intensiv die Foto307
Dorle Klika
grafien von Schizophrenen, etwa deren katatone Haltungen (vgl. ausführlich
Gorsen 1980: 327ff.).
Das Versprechen Welschs, er wolle aufzeigen, inwiefern uns die Kunst „gelingende Formen“ von Identitätsvervielfachungen vorführe, kann er nicht einlösen. Dementsprechend bleibt auch die Frage, wie solche Übergänge pluraler
Verfasstheiten gebildet und bezeichnet werden könnten, woraus sie entstehen,
ungeklärt, darüber lässt uns der Autor insgesamt im Dunkeln.
Auch in seinem Konzept zur Transversalität von Vernunft bleibt Welsch
diesbezüglich ungenau. Er selbst spricht in metaphorischer Rede über transversale Vernunft (Welsch 1987: 304ff.), die keinen bestimmten „Ort“ habe, sondern
„wesenhaft prozessual“ gedacht werden müsse; „Vernunft ist mit Sachbegriffen
und Topologien nicht zu bestimmen“ (ebd.: 307), die Übergänge zwischen den
Bereichen könnten nicht deduziert, sondern nur „entdeckt“ werden (ebd.: 309);
in dieser Hinsicht habe transversale Vernunft „viel von einem Spürsinn“ und sei
„ästhetisch konnotiert“ (ebd.: 309; zur Kritik vgl. Niemann 2000).
Welsch konstatiert also, dass es Übergänge gibt (s.o.). Wie solche Übergänge aber beschrieben werden könnten, unter welchen Bedingungen sie „sich herstellen“, „entwickeln“ oder wer sie entwickelt – solche Fragen stellt sich Welsch
nicht. Wenn die verschiedenen Subjektformen „von innen verbunden“ sein sollen, wie Welsch behauptet (s.o.), dann müsste geklärt werden, 1. welche Subjektformen Welsch überhaupt unterscheiden möchte, 2. wie die Subjektformen sich
voneinander unterscheiden und wodurch sie von einander abgegrenzt werden, 3.
worin die behaupteten Verbindungen bestehen könnten und schließlich 4. wie
und unter welchen Bedingungen sie zustande kommen und ob sie Veränderungen unterliegen. Desgleichen müsste geklärt werden, wie die „Färbung“ bzw. der
bestimmte „Stil“ eines Individuums (s.o.) genauer beschrieben werden können,
die die Unverwechselbarkeit und Individualität eines Individuums „garantieren“
sollen.
Immerhin kann festgehalten werden, dass Welsch offenbar von Unverwechselbarkeit und Individualität eines Individuums ausgeht, auch wenn die Begriffe
Färbung und Stil hier kaum tiefere Erkenntnisse bringen. Was etwa versteht
Welsch unter Person und Identität, wenn er von einem „nicht mehr an die Person
gebundenen Identitätsverständnis“ (s.o. bei den Ausführungen zu Sherman)
spricht?
Undeutlich bleibt schließlich, in welcher Hinsicht Welsch Krankheitsformen wie die Psychose als „Verstehensschlüssel für Normalität“ (s.o.) begriffen
wissen will. Seine Äußerungen bezüglich Polyphrenie bleiben widersprüchlich,
denn der Begriff ist bei Welsch nicht definiert: Er spielt dabei auf die Vielfalt der
Facetten einer Persönlichkeit an (vgl. Scharfetter 2006: 20). Auch wenn „Identität“ plural konzeptioniert wird, bleibt die Differenz zu psychotischem Erleben
308
Wolfgang Welsch
bestehen. Die Zunahme psychischer Labilität zu konstatieren und für die Aufweichung des scharfen Unterschiedes zwischen „Normalität und Abweichung“
zu plädieren, mag verlockend klingen und schließt an sozialwissenschaftlichen
Pluralisierungsdiagnosen (Beck) an. Welsch zieht daraus jedoch keinerlei gesellschaftskritische Schlüsse, die neben den Chancen der Pluralisierung gleichermaßen als (deren) Gefahren zu thematisieren wären (vgl. Kramer 1998: 184).
Welschs Verweise tendieren zur Koketterie mit der Psychiatrie, die die Schwere
und Dramatik psychischer Krankheiten verharmlost. Ein (drohender) Identitätsverlust etwa in der Psychose wird von den Betroffenen als extrem bedrohlich
erlebt (vgl. Klika 2000: 289f.; vgl. Arieti 1985; Finzen 1995; Gorsen 1990).
Gorsen etwa kritisiert an dem einst fortschrittlichen Dialog zwischen Kunst und
Psychose, derartige Grenzüberschreitungen gerierten zu modischen Attitüden,
die zwar der Kunst zu Gute komme, nicht aber den Kranken (Gorsen 1990: 40).
Wenig hilfreich erscheint der polemische Argumentationsstil Welschs:
Zwar ist der Begriff „Identität“ insgesamt schillernd und schwer zu fassen, (vgl.
Zirfas 2004: 163ff.), dennoch ist in der Argumentation eine gewisse Präzision
notwendig. Welsch dagegen schmückt den Begriff „Identität“ jeweils mit wertenden Adjektiven, die „veraltete“ Form bezeichnet Welsch als monolithisch, als
bürgerlich-ruhig, konventionell, selbstherrlich und rigide (s.o.). Da kann man,
wie Welsch, nur froh sein, sich von solcher Identität verabschieden zu können.
Die neue „plurale“ Form der Identität, „eine wohltuende und äußerste befreiende
Erfahrung“ (s.o.), erscheint dagegen als offen, bietet neue Möglichkeiten und
Übergänge zwischen verschiedenen Formen. Wer wollte sich dem verschließen?
Primärliteratur
Welsch, Wolfgang (1990/19985): Identität im Übergang. Philosophische Überlegungen zur aktuellen Affinität von Kunst, Psychiatrie und Gesellschaft. In:
Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam, S. 168-200.
Auch in: Benkert/Gorsen 1990, S. 91-106.
Welsch, Wolfgang (1988): Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Wege aus der Moderne.
Weinheim: VCH Acta humaniora, S. 1-43.
Welsch, Wolfgang (1996): Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das
Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Welsch, Wolfgang (1994/1995): Transculturality – the puzzling form of cultures
today. In: California Sociologist, 17 u. 18, S. 19-39.
Welsch, Wolfgang (1990):,Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam.
Welsch, Wolfgang (1991): Überlegungen zur Transformation des Subjektes. In:
DZfPh, S. 349-365.
309
Dorle Klika
Welsch, Wolfgang (1999): Die Kunst mit der Unsicherheit zu leben. In: Dülmen,
Richard van (Hrsg.): Die Zukunft des Menschen – Selbstbestimmung oder
Selbstzerstörung? Saarbrücken: Stiftung Demokratie, S. 143-160. Verwendet wurde die Online-Veröffentlichung: http://www2.uni-jena.de/welsch/
UNSICHER.pdf (Abruf am 02.07.2009).
Welsch, Wolfgang (Hrsg.) (1987/20027): Unsere postmoderne Moderne. Berlin:
Akademie.
Welsch, Wolfgang (2004): Postmoderne. In: Flagge, Ingeborg/Schneider, Romana (Hrsg.): Die Revision der Postmoderne. Post-Modernism Revisited.
Hamburg: Junius.
Welsch, Wolfgang/Vieweg, Klaus (Hrsg.) (2003): Das Interesse des Denkens –
Hegel in heutiger Sicht. München: Fink.
Welsch, Wolfgang/Vieweg, Klaus (2008): Hegels Phänomenologie des Geistes.
Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Welsch, Wolfgang (2006): Anthropologie im Umbruch – Das Paradigma der
Emergenz. Eröffnungsvortrag der Ringvorlesung „Das neue Bild vom Menschen“. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Wintersemester 2006/07. 08.
November 2006. Online: http://www.uni-jena.de/data/unijena_/faculties/
phil/inst_phil/ls_theophil/eho/Welsch.Emergenz.pdf (Abruf am 02.07.2009)
(Eine gekürzte Version des Vortrags sich online: http://www.informationphilosophie.de/?a=1&t=243&n=2&y=1&c=1# (Abruf am 02.07.2009).
Sekundärliteratur
Arieti, Silvano (1985): Schizophrenie: Ursachen, Verlauf, Therapie, Hilfen für
Betroffene. München: Piper.
Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hrsg.) (1998): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität. Bd. 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Benkert, Otto/Gorsen, Peter (Hrsg.) (1990): Von Chaos und Ordnung der Seele.
Ein interdisziplinärer Dialog über Psychiatrie und moderne Kunst. Berlin/Heidelberg/New York: Springer.
Böhme, Gernot (1997): Identität. In: Wulf, S. 689-697.
Dietrich, Cornelie/Müller, Hans-Rüdiger (Hrsg.) (2000): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. Weinheim/München: Juventa
Engelmann, Peter (1999): Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion. In:
Ders. (Hg.) (1999): Postmoderne und Dekonstruktion. Stuttgart: Reclam,
S. 5-32.
310
Wolfgang Welsch
Fazis, Urs (1991): Theorie und Ideologie der Postmoderne. Zur aktuellen Diskussion. In: Verhandlungen des 15. Weltkongresses der Internationalen
Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) in Göttingen, August
1991, S. 118-128.
Finzen, Asmus (19953): Schizophrenie. Die Krankheit verstehen. Bonn: Psychatrie-Verlag.
Gorsen, Peter (1980): Kunst und Krankheit. Metamorphosen der ästhetischen
Einbildungskraft. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt.
Gorsen, Peter (1990): Der Dialog zwischen Kunst und Psychiatrie heute. In:
Benkert/Gorsen, S. 1-53.
Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kamper, Dieter/Wulf, Christoph (1994): Einleitung: Zum Spannungsfeld von
Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit. In: Dies. (Hrsg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Klika, Dorle (2000): Identität ein überholtes Konzept? Kritische Anmerkungen
zu aktuellen Diskursen außerhalb und innerhalb der Erziehungswissenschaft. In: ZfE, 3, S. 282-301
Klika, Dorle (2003): Bildlicher und sprachlicher Selbstentwurf bei Käthe Kollwitz. In: Fröhlich, Volker/Stenger, Ursula (Hrsg.): Das Unsichtbare sichtbar
machen. Weinheim: Juventa, S. 125-140
Knöller, Paco (1990): Von Schläfe zu Schläfe. Ausstellungskatalog Düsseldorf.
Kraft, Helmut (1990): Die Reise der Bilder durch den Kopf. Psychoanalytische
Perspektiven zum Thema „Kunst und Psychiatrie“. In: Benkert/Gorsen,
S. 129-147.
Kramer, Wolfgang (1998): Technokratie als Entmaterialisierung der Welt: Zur
Aktualität der Philosophien von Günther Anders und Jean Baudrillard.
Münster/New York u.a.: Waxmann.
Krauss, Rosalind (1993): Die Sex-Pictures In: Sherman, S. 207-212.
Krempel, Ulrich (1990): Ichbilder: In: Knöller, S. 17-23.
Lenzen, Dieter (1991): Moderne Jugendforschung und postmoderne Jugend:
Was leistet noch das Identitätskonzept? In: Helsper, Werner (Hrsg.) (1991):
Jugend zwischen Moderne und Postmoderne. Opladen: Leske & Budrich,
S. 41-56.
Lyotard, Jean-François (1988a): Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?
In: Welsch 1988, S. 193-203.
Lyotard, Jean-François (1988b): Die Moderne redigieren. In: Welsch 1988,
S. 204-214.
Meyer-Drawe, Käte (1990): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Allmacht
und Ohnmacht des Ich. München: Kirchheim.
311
Dorle Klika
Meyer-Drawe, Käte (1993): Das Ich im Spiegel des Nicht-Ich. In: Bildung und
Erziehung, 46, S. 195-205.
Meyer-Drawe, Käte (1997): Individuum. In: Wulf, S. 698-708.
Meyer-Drawe, Käte (1998): Streitfall Autonomie. Aktualität, Geschichte und
Systematik einer modernen Selbstbeschreibung von Menschen. In: Bauer,
Walter/Lippitz, Wilfried/Marotzki, Winfried/Ruhloff, Jörg/Schäfer, Alfred/Wulf, Christoph (1998): Fragen nach dem Menschen in der umstrittenen
Moderne. Jahrbuch für Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Bd. 1. Hohengehren: Schneider, S. 31-49.
Mollenhauer, Klaus (1983): Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. Weinheim/München: Juventa.
Mollenhauer, Klaus (2000a): Fiktionen von Individualität und Autonomie. Bildungstheoretische Belehrungen durch Kunst. In: Dietrich/Müller, S. 49-72.
Mollenhauer, Klaus (2000b): „Über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen,
die nicht recht wissen, wer sie sind“. Einige bildungstheoretische Motive in
Romanen von Thomas Mann. In: Dietrich/Müller, S. 49-72.
Niemann, Hans-Joachim (2000): Unter der Bank lesen sie alle Popper. Kritische
Bemerkungen zu einem Artikel von Wolfgang Welsch. In: Ethik und Sozialwissenschaften (EUS), 11, S. 130-131.
Rainer, Arnulf (1970): Die 13. Muse oder „Wahnsinn eine Kunstart“. In: Protokolle, 1 (Wien).
Rainer, Arnulf (1978): Übermalungen sind für mich dialektische Antipode. In:
Ders.: Reste. Zugemalte Übermalungen (1954 - 1978).Stuttgart u.a.: Edition
Mayer.
Schade, Sigrid (1986): Cindy Sherman oder die Kunst der Verkleidung. In: Conrad, Judith/Konnertz, Ursula (Hrsg.) (1986): Weiblichkeit in der Moderne.
Ansätze feministischer Vernunftkritik. Tübingen: diskord.
Scharfetter, Christian (19913): Allgemeine Psychopathologie. Eine Einführung.
Stuttgart: Thieme.
Scharfetter, Christian (2006): Eugen Bleuler 1857-1939. Polyphrenie und Schizophrenie. Zürich: vdf Hochschulverlag.
Schrenk, K. (1990): Aus dem Traum erwachend. In: Knöller, S. 79-85.
Sherman, Cindy (1993): Sherman. Arbeiten von 1975 bis 1993. Mit Texten von
Rosalind Krauss und Norman Bryson. München/Paris/London: Schirmer/Mosel.
Straub, Jürgen (1991): Identität im Übergang? Über Identitätsforschung, den Begriff der Identität und die zunehmende Beachtung des Nicht-Identischen in
subjekttheoretischen Diskursen. In: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau, 23, S. 49-71.
312
Wolfgang Welsch
Straub, Jürgen (1998): Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines
theoretischen Begriffs. In: Assmann/Friese, S. 73-104.
Stross, Annette M. (1991): Ich-Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion.
Berlin: Reimer.
Wagner, Peter (1998): Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität: In: Assmann/Friese, S. 44-72.
Waldenfels, Bernhard (1999): Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des
Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Wulf, Christoph (Hrsg.) (1997): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel: Beltz.
Zirfas, Jörg (2004): Pädagogik und Anthropologie. Eine Einführung. Stuttgart:
Kohlhammer.
313
Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur
Kontexte und Spuren einer postkolonialen Identitätstheorie
Michael Göhlich
Vorbemerkung
Wer mit identitätstheoretischem Interesse über Bhabhas Hauptwerk „The Location of Culture“ schreibt, steht vor der zweifachen Schwierigkeit, dass es sich zum
einen nicht um eine Begriffe und Thesen systematisch entfaltende Monographie,
sondern um eine Sammlung von im Verlauf von ca. 10 Jahren in unterschiedlichen Kontexten entstandenen Aufsätzen handelt, und dass zum anderen das in
diesen Aufsätzen Verhandelte vom Autor selbst nicht explizit und eindeutig als
Identitätstheorie ausgewiesen wird, sondern selbst eine Bricolage als Kultur-,
Identitäts-, Bildungs- und Literaturtheorie darstellt.
Diese Schwierigkeiten sucht der vorliegende Beitrag zu überwinden, indem
nach einer kurzen Biographie (1) zunächst die identitätstheoretisch besonders
relevanten Aufsätze aus der Sammlung im Detail vorgestellt und erörtert werden
(2) und dann ein systematischer Überblick der in der Aufsatzsammlung insgesamt zentralen Begriffe und Thesen gegeben wird (3). Dabei werden die identitätstheoretischen Markierungen und Reflexionen zwar herausgehoben, insgesamt
jedoch als mit den anderen Perspektiven verflochten verstanden. Abschließend
wird eine Standortbestimmung und kritische Einschätzung der Identitätstheorie
Bhabhas zumindest angedeutet (4).
Für Zitate wird im Folgenden in der Regel die deutschsprachige Ausgabe
„Die Verortung der Kultur“ (Bhabha 2000) verwendet. Sofern im Einzelfall aus
begrifflichen Gründen das englischsprachige Original verwendet wird, entstammen die Zitate der mit einem neuen Vorwort Bhabhas versehenen RoutledgeClassics-Ausgabe (Bhabha 2004).
315
Michael Göhlich
1
Biographie
Homi K. Bhabha wird 1949 in der indischen Metropole Mumbai (damals noch
Bombay genannt) in eine Parsenfamilie geboren. Die Parsen sind eine ursprünglich aus dem Gebiet des Iran stammende, dem Zarathustrismus anhängende Religionsgemeinschaft, die insofern zugleich eine ethnische Gemeinschaft ist, als sie
keine Konvertiten zulässt, man also nur als Parse geboren werden kann. Von den
weltweit noch ca. 200.000 Parsen leben ca. 70.000 in Indien, vor allem eben in
Mumbai. Die dortige Gemeinschaft der Parsen gilt als wohlhabend, sozial engagiert und politisch einflussreich. Dass die von klein auf erfahrene kulturelle Differenz (zu anderen indischen Gemeinschaften ebenso wie zur britischen Kultur)
zu Bhabhas Kultur- und Identitätstheorie beiträgt, liegt nahe und wird auch von
ihm selbst gesehen. So bezeichnet er die Parsen als eine hybridisierte Gemeinschaft, die während der Kolonialzeit zwischen Briten und indischen Gemeinschaften vermittelte und dabei ein „beachtliches Geschick bei der Verhandlung
kultureller Identitäten“ (Bhabba zit. n. Castro Varela/Dhawan 2005: 83) zeigte.
Dass Bhabha die katholische St. Mary’s High School, eine traditionsreiche
Jesuitenschule in Mumbai, besucht, bringt weitere (religiöse und im weiteren
Sinne kulturelle) Differenzerfahrungen mit sich. Nach dem dort 1968 erlangten
High School Abschluss studierte er zunächst an dem schon im 19. Jahrhundert
gegründeten Elphinstone College der Universität Mumbai. Als Bachelor wechselte er an das Christ Church College in Oxford (Großbritannien), wo er einen
Master of Arts erwarb und schließlich 1990 – also vergleichsweise spät – über
das literarische Werk von V.S. Naipaul promovierte. Die Wahl des Promotionsthemas zeigt wiederum das Interesse Bhabhas für kulturelle Hybridität an, hat
doch der spätere Nobelpreisträger indische Vorfahren, die als Vertragsarbeiter
nach Trinidad kamen, wo er geboren wird und von wo er als 18-jähriger nach
England geht, um zu studieren und als Journalist und Autor zu arbeiten und dabei nicht zuletzt über seine kulturellen (Reise-)Erfahrungen zu schreiben.
Nach Abschluss seiner Promotion arbeitet Bhabha über zehn Jahre lang als
Dozent für Englische Literatur an der Universität von Sussex. 1994 erhält er
einen Ruf an die Universität Chicago, an der er dann bis 2001 eine Professur für
Englisch innehat. Seit 2001 ist er als Anne F. Rothenberg Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache an der Harvard University tätig.
Im Laufe der 1990er Jahre wird Bhabha durch seine Publikationen, insbesondere durch den von ihm herausgegebenen und durch zwei eigene Beiträge
gerahmten Sammelband „Nation and Narration“ (1990, 7. Aufl. 2000) und seine
Aufsatzsammlung „The Location of Culture“ (1994; dt. Übersetzung: 2000),
aber auch durch seine rege Vortragstätigkeit einer breiteren wissenschaftlichen
Öffentlichkeit bekannt. Seine literatur-, kultur- und identitätstheoretischen Über316
Homi K. Bhabha
legungen gewinnen an Einfluss. Er wird zu einem Forschungsaufenthalt am
Berliner Wissenschaftskollegium, zu Presidential Lectures an der Stanford University, zu Beckman Lectures an der University of Berkeley etc. eingeladen.
Heute gilt Bhabha – neben Said und Spivak – als Leitfigur des „postcolonial
turn“ (vgl. Bachmann-Medick 2007: 189).
2
Die Frage der Identität und mehr.
Identitätstheoretisch bedeutsame Aufsätze im Detail
Der Band enthält inklusive der Einleitung dreizehn Aufsätze (nicht eingerechnet
ist das für die Routledge Classic Ausgabe (Bhabha 2004) eigens verfasste, autobiographisch gehaltene Vorwort). Am frühesten entstand „Von Mimikry und
Menschen“ (1984), zuletzt die für den Band geschriebene Einleitung „Verortungen der Kultur“ (1994). Im engeren Sinne identitätstheoretisch fokussiert sind –
neben diesen beiden – die Aufsätze „Die Frage der Identität“ (1990) und „Die
Frage des Anderen“ (1992). Diese vier Aufsätze werden im Folgenden im Detail
vorgestellt und erörtert.
In seiner Einleitung „Verortungen der Kultur“ geht Bhabha unter drei Zwischenüberschriften (Grenzexistenzen: die Kunst der Gegenwart; Unheimliche
Existenzen: die Literatur der Anerkennung; Die Suche nach dem Einswerden)
der Verortung der Kultur in Übergängen, Zwischenräumen und dem Bereich des
Darüberhinaus (beyond) nach. Diese Zwischenräume entstehen durch das Überlappen und Verschieben von Differenzbereichen, wie überhaupt Repräsentation
von Differenz von Bhabha nicht als Widerspiegelung vorgegebener ethnischer
oder kultureller Merkmale, sondern als fortlaufendes Verhandeln gelesen wird.
Die Bedingungen kultureller Bindung ergeben sich aus dieser Sicht performativ.
Identitätstheoretisch verbindet Bhabha dies mit der Notwendigkeit, sich über die
Abwendung von generalisierenden Kategorien, wie Klasse und Geschlecht und
über eine bewusstere Wahrnehmung der Positionen des Subjekts und deren Geschichten hinaus auf Momente der Artikulation kultureller Differenzen zu konzentrieren.
Diese Kultur und Identität verortende und stiftende Differenzproduktion
bzw. -verhandlung macht Bhabha an verschiedenen künstlerischen Werken,
unter anderem an Installationen der afroamerikanischen Künstlerin Renée Green
und des in New York arbeitenden Puertoricaners Pepon Osorio, vor allem aber
an Morrisons Roman „Menschenkind“ und an Gordimers Roman „Die Geschichte meines Sohnes“ deutlich. Als vergleichsweise eher theoretischen Referenzau317
Michael Göhlich
tor setzt er dabei Frantz Fanon ein, auf den er auch in anderen Beiträgen gerade
bei identitätstheoretischen Überlegungen zurückgreift.
An Greens Arbeit thematisiert er kulturelle Differenz als Produktion von
Minderheitenidentitäten, die sich beim Verbundenwerden mit einem kollektiven
Körper ihrer selbst entfremden. Das Treppenhaus in Greens Installation wird
zum „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen“ (Bhabha 2000: 5;
nämlich: schwarz-weiß, oben-unten), der verhindert, dass sich Identitäten polar
festsetzen. Osorios Arbeiten, z.B. La Cama als Ort wiedergefundener Kindheitserinnerungen und Denkmal für das Kindermädchen Juana, deutet er als Zelebrieren des Überlebensaktes von Migranten in den Zwischenräumen der Installation
und der Performance. Die Häuser in Morrisons und Gordimers Romanen liest er
als „unheimliche“ Symbole des bindungslosen, entorteten Alltags der Postkolonialität, in dem nur Grenzexistenzen möglich sind. An den Protagonisten der
Romane stellt er deren Zwischenidentität heraus.
Bhabha postuliert, dass diese ästhetischen Produktionen – Ailas Zwischenidentität in Gordimers Roman, Menschenkinds doppeltes Leben in Morrisons
Roman, Greens Treppe zwischen ethnischen Polaritäten, Osorios Bett zwischen
der „Unheimlichkeit der Migration“ (ebd.: 27) und der New Yorker Kunstwelt,
die in den Häusern der Romane Morrisons und Gordimers wiederkehrenden
Weltereignisse der Sklaverei und der Apartheid – uns auch jenseits historischer
Zeitzeugenschaft „das Bild unseres psychischen Überlebens in der unheimlichen
Welt“ (ebd.: 28) und damit zugleich „ein tiefes Verlangen nach sozialer Solidarität“ und „einswerden“ (ebd.) zeigen.
Diese Ambivalenz aus individual-existentieller Zerrissenheit und sozialer
wie politischer Hoffnung durchzieht den Band insgesamt. Schon in der Einleitung kommt zum Ausdruck, dass die Hoffnung auf Auskunft über die individuelle Existenz ebenso wie über die (von ihm stets politisch gedachte) Kultur vorrangig auf literarischen Werken bzw. Kunstwerken liegt. Wenn von einer Identitätstheorie Bhabhas gesprochen werden kann, so kommt diese eben nicht von
einer psychologisch, soziologisch oder pädagogisch begründeten Sozialisationstheorie her, sondern ist das Resultat eines zunächst literaturwissenschaftlichen
Zugangs.
Der Aufsatz „Die Frage der Identität. Frantz Fanon und das postkoloniale
Privileg“ ist, wie schon der Untertitel andeutet, eine Auseinandersetzung mit
dem Werk des postkolonialistischen Vordenkers Fanon. Interessanterweise bezieht sich Bhabha nicht bzw. kaum auf dessen (politisches) Hauptwerk „Die
Verdammten dieser Erde“ (Fanon 1994; orig. 1961), sondern vor allem auf sein
früheres (existentialistisches, psychoanalytisches) Werk „Schwarze Haut, weiße
Masken“ (Fanon 1985; orig. 1952). Diese Referenzentscheidung kann als Beleg
318
Homi K. Bhabha
für das identitätstheoretische Interesse Bhabhas angesehen werden, von dem
auch der Titel des Aufsatzes kündet.
In Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“ geht es – exemplifiziert an Bildern des kolonialen Subjekts – um den Menschen, der sich seiner Selbstentfremdung bewusst wird. In Form eines Re-Writing führt Bhabha Fanons Argumentation vor und treibt sie zuspitzend und theoretisierend zu einer systematischen
Kritik des Prozesses der Identifikation.
Seine Ausgangsthese lautet, Fanon zu lesen bedeute, ein Gefühl der Spaltung zu erfahren. Er erörtert dies zunächst an Fanons Aussage „Der Neger ist
nicht. Ebenso wenig der Weiße.“ (Fanon zit. n. Bhabha 2000: 59), in der er eine
Preisgabe traditioneller – auf Mythen der négritude oder weißer Überlegenheit
beruhender – Begründungen „rassischer Identität“ erkennt. Hoffnung erscheint
angesichts der unter den Bedingungen kolonialer Entfremdung ständig gegebenen Spaltung nur mittels existentialistischer Berufung auf das Ich möglich. Dass
Fanon die Lust im Schmerz, die unstillbare Angst vor und Begierde nach dem
„Neger“, die das eigene Körperschema störende Begegnung des Schwarzen mit
dem weißen Blick und umgekehrt den den Körper des Schwarzen aufbrechenden
und dabei sich selbst eintrübenden Blick des Weißen phänomenal aufzeigt und
psychoanalytisch für eine Analyse des Begehrens aufschließend artikuliert, ist
für Bhabha die Grundlage, aus der er drei Bedingungen für ein Verständnis der
Identifikation herausschält:
x
x
x
„First: to exist is to be called into being in relation to an otherness, its look or locus“
(Bhabha 2004: 63). Damit weist Bhabha darauf hin, dass der Ort des Anderen halluziniert wird und als halluzinatorischer Raum nie von einem Subjekt alleine eingenommen
werden kann.
„Second: the very place of identification, caught in the tension of demand and desire, is a
space of splitting“ (ebd.). Damit bringt Bhabha zum Ausdruck, dass sich die Andersheit
weder im kolonialistischen Selbst noch im kolonisierten Anderen, sondern in der Distanz
zwischen beiden bildet.
„Finally, the question of identification is never the affirmation of a pre-given identity
[…] it is always the production of an image of identity and the transformation of the subject in assuming that image“ (ebd.: 64). Identität ist also aus Bhabhas Sicht nie schon da,
sondern wird erst produziert, allerdings in Form eines wiederkehrenden Bildes einer
Identität, wobei dieses Bild die oben angesprochene Spaltung mit sich führt.
Im Fortgang des Aufsatzes verschiebt Bhabha die von Fanon im Bereich des
Sehens exemplifizierte Frage der Identitätskonstitution unter ausdrücklichem
Bezug auf die Postmoderne, v.a. auf Barthes, Lacan und Derrida, zum Raum des
Schreibens. Dabei strebt er eine Definition des „Schreibens der Identität jenseits
der visuellen Tiefen von Barthes’ symbolischen Zeichen“ (Bhabha 2000: 73) an.
Identität begegnet uns eben dort, wo etwas über das Bild hinausgeht; im Umweg
über Adorno ließe sich formulieren: Identität begegnet uns gerade in der Nicht319
Michael Göhlich
Identität. In der Sprache, genauer: im formulierenden Schreiben, wird das Begehren des Anderen gedoppelt. In der Auseinandersetzung zwischen dem Begehren und der damit einher gehenden Produktion eines Bildes vom Anderen, das
diesen zu erkennen meint, und der Aufführung dieser angenommenen Kenntnis
im Prozess des Sich-Äußerns, im formulierenden Schreiben wird das Problem
der Identifikation sichtbar, um das es Bhabha geht.
Er veranschaulicht dies an einem Gedicht von Meiling Jin, in dem die Erzählerin sagt, dass nur ihre Augen bleiben, um zu sehen und zu spuken. Die
Augen verfremden, so Bhabha, sowohl das erzählende Ich der Sklavin als auch
das überwachende Auge des Herrn. Sie lösen sich von entsprechenden Bildern,
sind im Grunde nichts mehr, nicht mehr fassbar, nicht mehr zuordenbar, und
bringen als solche „Differenz-Struktur […] die durchgängige Hybridität von
Rasse und Sexualität im postkolonialen Diskurs hervor“ (ebd.: 79).
Vor dem Hintergrund seines Verständnisses von Identität als Nicht-Identität
bzw. als Spannung aufrecht erhaltende Problematisierung des Repräsentationsraums, in dem das Bild – z.B. vom Auge des Herrn – seinem Anderen begegnet,
wird seine Kritik an Fanon verständlich, dieser habe es manchmal „allzu eilig
damit, den Anderen zu benennen“ (ebd.: 89). Daran schließt sich die Kritik an,
Fanon tendiere dazu, die Ambivalenz des kolonialen Begehrens letztlich wegzuerklären und am Schluss von „Schwarze Haut, weiße Masken“ in banalen Humanismus zu überführen. Als Fanons Leistung anerkennt er, das phobische Bild
des Kolonisierten in das psychische Muster des Westens verwoben zu sehen.
Dafür plädiert auch Bhabha selbst. Dementsprechend erklärt er die Re-Lektüre
Fanons für unentbehrlich, „wann immer zahlreiche kulturell und ethnisch marginalisierte Gruppen bereitwillig die Maske des Schwarzen aufsetzen“ (ebd.: 94).
Im Beitrag „Die Frage des Anderen. Stereotyp, Diskriminierung und der
Diskurs des Kolonialismus“ entwirft Bhabha eine Kritik an der Festgestelltheit
der Konstruktion des Andern bzw. des Andersseins. Diese Kritik an der Festgestelltheit betreibt er vorrangig in Auseinandersetzung mit der diskursiven Strategie des Stereotyps, das nicht deshalb simplifizierend wirke, weil es Realität
falsch repräsentiert, sondern „weil es eine arretierte, fixierte Form der Repräsentation ist“ (ebd.: 111), die das aus Bhabhas Sicht so wichtige Spiel der Differenz
untersagt.
Bhabha interpretiert das Stereotyp als eine Form von Fetischismus. Das erlaubt ihm den Rückgriff auf Freud (1927). Macht Freud das Problem der Verleugnung der Differenz an der Fetischisierung des Penis deutlich, so überträgt
Bhabha dies auf Hautfarbe, Rasse bzw. Kultur. Der Fetischismus schwankt zwischen der Annahme, dass alle Menschen dieselbe Hautfarbe/Rasse/Kultur haben,
und der, dass einige nicht dieselbe Hautfarbe/Rasse/Kultur haben. Der Fetischcharakter des postkolonialen Stereotyps liegt, so könnte man im Anschluss an
320
Homi K. Bhabha
Bhabhas oben wiedergegebener Interpretation des Stereotyps als arretierte Form
der Repräsentation argumentieren, in der konzentrierten Feststellung bzw. im
festgestellten Konzentrat von Hautfarbe/Rasse/Kultur. Hierzu steht allerdings in
Widerspruch, dass er zunächst schreibt:
„Der Fetisch – oder das Stereotyp – gewährt Zugang zu einer ‚Identität‘, die ebenso sehr auf
Herrschaft und Lust wie auf Angst und Abwehr basiert: in seiner gleichzeitigen Anerkennung
und Ableugnung der Differenz stellt er eine Form von multiplem und widersprüchlichem
Glauben dar“ (Bhabha 2000: 110).
Bhabha sieht also das Stereotyp einerseits als arretiert, also festgestellt, und andererseits als Differenz zugleich anerkennend und leugnend, also schwankend
bzw. spielend und damit doch wohl gerade nicht arretiert an. Solche argumentativen Widersprüche oder doch zumindest widersprüchlich erscheinende argumentative Wendungen finden sich auch an anderer Stelle des Werkes und machen die Schwierigkeiten einer Interpretation Bhabhas aus. Eine Interpretationsmöglichkeit ist, dass Bhabha selbst die Nicht-Festgestelltheit seiner Äußerungen
und seiner Identität als Autor anstrebt und zum Ausdruck bringt.
Bei aller Analogie sieht Bhabha auch Unterschiede zwischen dem sexuellen
Fetisch im Sinne Freuds und dem Fetisch des kolonialen Diskurses. Zum einen
ist letzterer kein Geheimnis, sondern als Hautfarbe sichtbar; zum anderen ist der
sexuelle Fetisch mit einem guten, liebenswerten Objekt verbunden, während das
Stereotyp des kolonialen Diskurses primär mit Hass verbunden zu sein scheint,
was allerdings Bhabha umgehend eben mit Verweis auf die Analogie zum sexuellen Fetisch mit Freuds Argument korrigiert, dass sich Zärtlichkeit und Feindseligkeit in der Behandlung des Fetischs vermengen.
Bhabha plädiert deshalb für ein Konzept des „stereotype-as-suture“ (in der
deutschen Ausgabe als „Stereotyp-als-Betrachtereinbindung“ übersetzt, aber
womöglich treffender als „Stereotyp-als-Naht“ zwischen verschiedenen Begehren und Ängsten zu übersetzen), das die grundsätzliche Ambivalenz von Identifikationsordnungen anerkennt. Dementsprechend bemerkt er bezüglich des Stereotyps Hautfarbe, dass die Sichtbarkeit des ethnischen/kolonialen Anderen
einerseits ein Punkt der Identität, andererseits ein Problem für den Versuch,
innerhalb des Diskurses Geschlossenheit zustande zu bringen, ist, da „die Anerkennung der Differenz in Form imaginärer Punkte von Identität und Ursprung –
wie etwa schwarz und weiß – […] durch die Spaltung im Diskurs gestört“ (ebd.:
119f.) wird, anders gesagt: da es „in der Identifikation der imaginären Beziehung
(…) immer auch den entfremdenden Anderen (oder Spiegel), der unvermeidlich
sein Bild auf das Subjekt zurückwirft“ (ebd.: 120), gibt. Noch pointierter gesagt:
Das Stereotyp ist als Fetisch Ersatz für das Begehren nach und die Angst vor
321
Michael Göhlich
dem Anderen und zugleich der das Subjekt begleitende Schatten dieser Ambivalenz.
Unsere Erkundung und Erörterung einzelner nach ihrer identitätstheoretischen Relevanz ausgewählter Beiträge abschließend, ist noch der vergleichsweise früh verfasste Aufsatz „Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des
kolonialen Diskurses“ zu behandeln. Schon dessen Überschrift zeigt die Kontinuität der Bhabha’schen Arbeiten an, geht es doch auch hier schon um die Ambivalenz des kolonialen Diskurses, um dessen Nicht-Feststellbarkeit, um ein
Plädoyer für Nicht-Feststellung oder, um einen in verschiedenen Beiträgen
Bhabhas zu findenden Terminus zu verwenden, Deplacierung (displacement).
Im Fokus des Aufsatzes steht die koloniale Mimikry, die sich einerseits im
kolonialen Diskurs herausbildet, nicht zuletzt von der kolonialen Literatur produziert wird und dabei als nicht gleichende Nachahmung zu Ironie, wenn nicht
gar Posse werden kann, andererseits jedoch gerade durch das autonome Moment
dieser Nicht-Identität eine Eigendynamik gewinnt, die bedrohlich wirken kann.
So sucht Bhabha die koloniale Mimikry als „Begehren nach einem reformierten,
erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht
ganz dasselbe ist“ (ebd.: 126) zu fassen. Die Rede ist wohlgemerkt von Begehren, nicht von Erfüllung. Die Ambivalenz bleibt bestehen. Zwar wird das bzw.
der Andere in der Anähnelung angeeignet, aber die Mimikry bleibt different und
damit widerständig.
Dass die Schwierigkeit, in die der koloniale Identitätsdiskurs gerät, politisch
bedingt ist, macht Bhabha an kolonialpädagogischen Texten von Grant und Macaulay aus dem frühen 19. Jahrhundert deutlich. So gründet die Forderung, dem
Kolonisierten „ein Gefühl für persönliche Identität, wie wir es kennen“ (Grant
zit.n. Bhabha 2000: 128), zu vermitteln, in der für die Absicherung und Ausdehnung der Herrschaft der Ostindischen Kompanie notwendig erscheinenden Bildung eines Subjekts im Sinne einer Untertanenbildung. Wie in der oben besprochenen Einleitung anhand der Texte von Fanon, Gordimer, Morrison aus der
Perspektive der Kolonisierten, so zeigt Bhabha hier an Texten der Kolonisatoren,
wie diese Identifikation bricht. Denn Grant fordert, aus Furcht vor (mit Subjektbildung trotz aller Untertänigkeit möglicherweise einhergehenden) Freiheitsbestrebungen, eine nur partielle Verbreitung des Christentums, um dieses mit den
in Indien bestehenden Kasten zu verbinden und diese so als Ordnungsmacht
beibehalten zu können. Damit, so stellt Bhabha zu Recht fest, „macht Grant sein
moralisches Projekt zur Farce“ (ebd.: 128). Und damit wiederum, so lässt sich
weiter argumentieren, verunsichert die koloniale Mimikry nicht nur die Kolonisierten, sondern auch die Kolonialisten. Dass die Kolonisierten als „mimic men“
– diesen Ausdruck, der in der deutschen Ausgabe mit menschlichem Chamäleon
übersetzt wird und den er von Naipaul, über dessen Werk er ja promoviert hat,
322
Homi K. Bhabha
übernimmt – angesehen werden, unterwirft sie, insofern das Anglisiert-Sein die
Hegemonie der englischen Kultur anzuerkennen scheint, und entzieht sie
zugleich dem kolonisatorischen Zugriff, insofern sie als flexibel und widerständig anders erscheinen. „Die Mimikry verbirgt keine Präsenz oder Identität hinter
ihrer Maske“ (ebd.: 130). Daran scheitert die kolonisatorische Identifikation.
3
Vom Diskurs über den Raum zur Identität. Versuch einer
Systematik zentraler Begriffe und Thesen
Ging es bis hier darum, identitätstheoretisch relevante Aufsätze im Einzelnen
nachvollziehend vorzustellen und zu erörtern, um den Modus der Argumentation, die rhizomatische Denk- bzw. Schreibweise Bhabhas als Entfaltungskontext
seiner Begriffe und Thesen kennen zu lernen, so geht es im Folgenden darum,
eben diese systematisch darzulegen. Bhabha selbst hat bislang keine Systematik
vorgelegt, sein Werk wehrt sich geradezu – nicht nur im inhaltlichen Postulat des
Dazwischen, sondern auch im formalen Oszillieren zwischen Begriffen und
deren Dekonstruktion und nuancierender Vervielfältigung in einem wachsenden
semantischen Feld – gegen die mit jeder Systematik erzeugte Fest-Stellung. Für
den hier verfolgten Zweck erscheint eine Systematisierung jedoch geboten und
vertretbar. Die Systematisierung der Begriffe erfolgt hier aus identitätstheoretischem Interesse – und vor dem Hintergrund einer Fokussierung der Transkulturalität als pädagogische Herausforderung (vgl. Göhlich 2006; Göhlich u.a. 2006;
Göhlich 2009). Dies ist deshalb zu betonen, weil Bhabhas Werk im deutschsprachigen Raum bislang vorrangig kulturtheoretisch aufgegriffen wird (vgl.
Bonz/Struve 2006; Bachmann-Medick 2006).
Am prominentesten ist sein Begriff des Dritten Raumes. Systematisch geht
dem jedoch sein Diskursverständnis voraus, während sein Identitätsverständnis
wiederum auf dem Konzept des Dritten Raumes aufbaut. Dementsprechend werden die Begriffe nun in drei Schritten vorgestellt, die auch als Ebenen angesehen
und denen jeweils mehrere Begriffe Bhabhas zugeordnet werden können: 1.
Diskurs, 2. Raum, 3. Identität.
3.1 Diskurs (hybridity, agency)
Naheliegenderweise – ist Bhabha doch von seiner akademischen Ausbildung her
Literaturwissenschaftler (und nicht Psychologe oder Pädagoge, aber auch nicht
Ethnologe oder Soziologe) – stehen weder Identität noch Kultur am Anfang der
323
Michael Göhlich
Analysen Bhabhas, sondern literarische Produktionen und Prozesse, sprachliche
Äußerungen und deren Wirkungen und Widersprüche, Zusammenhänge zwischen Sprech- bzw. Schreibakt, Sprachform, kulturellen Traditionen und gesellschaftlichen Strukturen, kurz: der Diskurs. Als Referenz dienen hier die frühen
Texte im Sammelband „Die Verortung der Kultur“, also „Von Mimikry und
Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses“ (1984), „Schlaue Höflichkeit“ (1985) und „Zeichen als Wunder“ (1985).
Bhabha betreibt in gewisser Weise Diskursanalyse und Dekonstruktion,
greift hierbei ausdrücklich auf die einschlägigen französischen Theoretiker wie
Foucault und Derrida zurück, wobei er sich weniger für Dispositive der Macht
(Foucault) als für Signifikantenbeziehungen (Derrida) interessiert, dieses Interesse jedoch in eigener Weise bevorzugt auf narrative Sequenzen und Interaktionen/Verhandlungen unter den Bedingungen der Kolonialität bzw. Postkolonialität richtet.
Bei dieser Art Diskursanalyse kommt das zum Vorschein, was Bhabha
Hybridität nennt. Dieser Begriff wird von Bhabha in erster Linie auf den Diskurs
bezogen und erst im Anschluss daran bzw. darauf gründend auf Kultur und Identität. Die Begründung seines Hybriditätskonzepts findet sich insbesondere im
Aufsatz „Zeichen als Wunder“ (1985). Explizit ausgehend vom (kolonialen)
literarischen Diskurs und im weiteren Verlauf in ausdrücklicher Abgrenzung
gegen Foucaults unter Rückgriff auf Bentham formulierte Auffassung der Unterwerfung als Macht durch Transparenz und gegen die damit verbundene Auffassung, dass die kleine Gruppe für die ganze Gesellschaft repräsentativ, der Teil
also schon das Ganze ist, schreibt Bhabha:
„Die Anerkennung der Autorität beruht auf der unmittelbaren – unvermittelten – Sichtbarkeit
ihrer Erkenntnisregeln als dem unmissverständlichen Referenten ihrer historischen Notwendigkeit. Im doppelt eingeschriebenen Raum kolonialer Repräsentation, in dem die Präsenz der Autorität – des englischen Buches – auch eine Frage ihrer Wiederholung und Deplazierung ist, wo
Transparenz techne ist, stößt die unmittelbare Sichtbarkeit eines solchen Erkenntnissystems auf
Widerstand. Widerstand ist weder zwangsläufig ein politisch motivierter oppositioneller Akt,
noch stellt er einfach die Negation oder den Ausschluss des ‚Inhalts‘ einer anderen Kultur als
einer einmal wahrgenommenen Differenz dar. Er ist das Resultat einer Ambivalenz, die innerhalb der Erkenntnisregeln der dominanten Diskurse produziert wird, während sie die Zeichen
kultureller Differenz artikulieren und sie in die verschobenen Beziehungen der Kolonialmacht
– Hierarchie, Normalisierung, Marginalisierung usw. – wieder einbringen. Denn koloniale Beherrschung wird durch einen Prozess der Verleugnung erreicht, der den chaotischen Charakter
ihres Eingreifens als Entstellung, als Verwerfungen hervorrufende Präsenz negiert, um die Autorität ihrer Identität in den teleologischen Narrativen des historischen und politischen Evolutionismus zu bewahren. Die Ausübung der kolonialistischen Autorität erfordert jedoch die Produktion von Differenzierungen, Individuationen und Identitätseffekten, mittels derer Bevölkerungen qua diskriminatorischer Praktiken als Untertanen definiert werden können, die die
sichtbare und transparente Markierung der Macht an sich tragen. Eine derartige Form der Unterwerfung/Subjektbildung (subjection) ist etwas anderes als das, was Foucault als ‚Macht
324
Homi K. Bhabha
durch Transparenz‘ beschreibt (…). Der ‚Teil‘ (der immer der kolonialistische Fremdkörper
sein muss) muss das ‚Ganze’ (eroberte Land) repräsentieren, aber dieses Repräsentationsrecht
basiert auf der radikalen Differenz des Teils. Solches Zwiedenken kann nur aufgrund der soeben beschriebenen Strategie der Verleugnung funktionieren, die von uns eine Theorie der
‚Hybridisierung‘ von Diskurs und Macht erfordert, die wiederum von den Theoretikern, die
sich mit dem Kampf um ‚Macht‘ beschäftigen, dies aber lediglich als Puristen der Differenz
tun, leider ausser acht gelassen wird“ (Bhabha 2000: 164).
Diese Textpassage macht deutlich, dass es nicht Kultur oder Identität an sich,
sondern der Diskurs ist, von dem Bhabhas Begriff der Hybridität bzw. These der
Hybridisierung ausgeht. Zudem wird hier deutlich, dass Bhabhas These der
Hybridisierung in erster Linie nicht von alltagspraktischen, z.B. handelsbedingten interkulturellen Interaktionen, sondern von der Performativität der Literatur,
genauer: von der zwiespältigen Präsenz der englischen Literatur im kolonialen
Raum, ausgeht. Ausgang der Hybridität ist Literatur, die den komplexen Zusammenhang von Teil und Ganzem von Individuum, Kultur und Gesellschaft vor
Ort leugnet, und damit zur Entstehung einer gespaltenen, in sich ver-rückten (s.u.
displacement) Wirklichkeit beiträgt.
Diese Spaltung trägt zur Unterwerfung bei. Während aus Foucaults Sicht
Sichtbarkeit, Beobachtung und Prüfung die zentralen Instrumente der Unterwerfung des Subjekts sind, basiert diese Unterwerfung aus Bhabhas Sicht auf einer
Aufspaltung „between the mother culture and its bastards, the self and its doubles“ (Bhabba 2004: 159; hier wird zugleich die Doppelperspektive Bhabhas auf
Kultur und Identität deutlich), die Spuren des Verleugneten als Differentes, eben
als Hybrid wiederholt. Als solches Hybrid aber wirkt das unterworfene Subjekt
Schrecken erregend und stellt so die (koloniale) Autorität in Frage.
An dieser Denkfigur Bhabhas, die dem Kolonisierten in der Hybridisierung
generierte Macht zuschreibt und den Leidensdruck der Kolonisierten und
Migranten zu vernachlässigen scheint, reiben sich die Interpreten (vgl. Bachmann-Medick 2006: 200f.). Anders als Spivak, deren Essay „Can the Subaltern
speak?“ zwar nach der agency der Subalternen (Frauen, Kolonisierten etc.) fragt,
und die Frage eher verneinend in erster Linie auf die Ungehörtheit des postkolonialen Subjekts im Westen hinweist, geht Bhabha davon aus, dass der Subalterne
im Sprechen selbst über agency (meist übersetzt als: Handlungsmächtigkeit)
verfügt. Der postkoloniale Diskurs ist also auch von der Handlungsmächtigkeit
des postkolonialen Subjekts gekennzeichnet. Unter Rückgriff auf Fanon stellt
Bhabha (2000: 12) die These auf, dass gerade Bedingungen kultureller Entortung
den Boden bilden, auf dem die Fähigkeit zu Macht aneignendem Handeln
(„agency of empowerment“) gründet. Anders als etwa Giddens (1997) versteht er
agency zuvorderst als etwas Kollektives, z.B. wenn er „the agency of a people“
als das Subjekt des kulturellen Diskurses bezeichnet (Bhabha 2004: 212), und als
325
Michael Göhlich
etwas dem (postkolonialen, Übersetzung erfordernden) Diskurs selbst Eigenes,
z.B. wenn er von der „agency of foreignness“ im Diskurs spricht (ebd.: 326).
Aus identitätstheoretischer Sicht bleibt bis hier festzuhalten: Nicht die Frage
der Identität, sondern die Analyse des postkolonialen Diskurses und die Konstatierung der in diesem generierten Hybridität und Agency bilden den Ausgang
von Bhabhas Theorie, die allerdings letztlich zur Identitätstheorie führt (s.u.).
Identitätstheoretisch bedeutsam sind Diskurs, Hybridität und Agency als Wurzelgeflecht (Rhizom) postkolonialer Identifikation und Identität.
3.2 Raum (third space, beyond, in-between, displacement)
In dem von Hybridität und Agency of Foreignness gekennzeichneten postkolonialen Diskurs tut sich mit der oben erläuterten Spaltung ein Raum auf. Diesen
Raum bezeichnet Bhabha als „third space“. Im Grunde ist der dritte Raum bereits
in Struktur und Prozess symbolischer Repräsentation angelegt, wie folgende
Argumentation deutlich macht:
„The reason a cultural text or system of meaning cannot be sufficient unto itself is that the act
of cultural enunciation – the place of utterance – is crossed by the differánce of writing. This
has less to do with what anthropologists might describe as varying attitudes to symbolic systems within different cultures than with the structure of symbolic representation itself […]. The
linguistic difference that informs any cultural performance is dramatized in the common semiotic account of the disjuncture between the subject of a proposition (enoncé) and the subject of
enunciation, which is not represented in the statement but which is the acknowledgement of its
discursive embeddedness and address, its cultural positionality, its reference to a present time
and a specific space. The pact of interpretation is never simply an act of communication between the I and the You designated in the statement. The production of meaning requires that
these two places be mobilized in the passage through a Third Space, which represents both the
general conditions of language and the specific implication of the utterance in a performative
and institutional strategy of which it cannot ‚in itself‘ be conscious“ (Bhabha 2004: 52f.).
Der Dritte Raum verstört die Vorstellung von Identität, zunächst auf kultureller
bzw. kollektiver, letztlich aber auch auf individueller Ebene. Alle kulturellen
Aussagen geschehen in diesem ambivalenten Dritten Raum der Äußerung, der
zugleich Hindernis und Träger, „bar and bearer of difference“ (Bhabha 2004:
143) ist. Vorstellungen kultureller Ursprünglichkeit, Reinheit, Identität sind
insofern unhaltbar. Auch wenn die oben zitierte Formulierung „a cultural text“
(Hervorh. M.G.) nahe legt, dass sich der Dritte Raum in jedem kulturellen Diskurs auftut, gilt Bhabhas Interesse doch primär dem kolonialen bzw. postkolonialen Diskurs.
„When I first proposed the notion of the ‚third space’, it came from my interest in the way in
which power and authority functioned in the symbolic and subjectifying discourses of the co-
326
Homi K. Bhabha
lonial moment. My interest was particularly focused on the domain of cultural relations where
the structure of signification or the regime of representation becomes at once the medium of
social discourse as well as the operative and substantial objective of a political strategy“
(Bhabha zit. n. Hoeller 1998).
Im postkolonialen Diskurs wird der Dritte Raum zum Raum, in dem agency
performiert, konstituiert und verhandelt (negotiations) wird. Es ist ein Raum, in
dem sich die koloniale Autorität ihrer selbst nicht sicher sein kann und dem kolonisierten (versklavten, migrantischen) Subjekt in seiner Entstellung Macht
zukommt.
Ganz im Sinne seines Plädoyers gegen die Fest-Stellung belässt Bhabha es
nicht bei dem einen Begriff des Dritten Raumes, sondern verwendet in seinen
Aufsätzen weitere Begriffe, die Ähnliches bezeichnen und zugleich weitere
Konnotationen öffnen. Treffend sprechen Bonz und Struve (2006: 145) von der
Entwicklung eines semantischen Feldes. Beyond, in-between und displacement
sind die wichtigsten dieser weiteren Begriffe. Es sind allesamt raumbezogene
Begriffe. Damit stellt sich die Frage nach Bhabhas Raumkonzept. Wenn Bhabha
den dritten Raum als „interstitial space and time of conflict and negotiation“
(Bhabba zit. n. Hoeller 1998) bezeichnet, erscheint der Raum einerseits materiell,
wird der Begriff „interstitial space“ doch sowohl in der Biologie als auch in der
Architektur verwendet, um reale Zwischenräume zu bezeichnen. Dass er
zugleich von „interstitial time“ (Hervorh. M.G.) spricht, verstört andererseits
jegliche topographische Fixierung des Dritten Raumes.
Eher kann von einem liminalen Raumkonzept gesprochen werden. Die Begriffe beyond und vor allem in-between verweisen auf ein solch liminales Raumkonzept. Tatsächlich spricht Bhabha selbst an mehreren Stellen vom Bereich des
Liminalen, ohne allerdings die Herkunft dieses Begriffs aus der Ethnologie (vgl.
Turner 2000: 95) zu reflektieren.
Der Begriff displacement hingegen liegt auch zur Liminalität quer, sperrt
sich gegen den im Konzept der Liminalität noch erkennbaren Rest der Idee kultureller Evolution, ja: von Entwicklungsstufen. Mit ihm, in der deutschsprachigen Ausgabe als Deplacierung übersetzt, beharrt Bhabha auf der Verrückung des
Bezeichnenden im (postkolonialen) Diskurs, also darauf, dass der Versuch der
Identifikation (s.u.) auf den Bezeichner zurückschlägt. Dies ebenso wie die Rede
vom „in-between“, in der deutschen Ausgabe als Dazwischen übersetzt, impliziert neben diskurs- und kulturtheoretischen auch identitätstheoretische Konsequenzen.
327
Michael Göhlich
3.3 Identität (difference, other/ness, identification, stereotype, mimicry,
identity)
Die Identitätstheorie Bhabhas basiert auf der oben dargelegten Analyse des postkolonialen Diskurses, auf der Erkenntnis seiner Hybridität und des sich in ihm
konstituierenden Dritten Raumes, dessen Liminalität Festgestelltes verrückt,
Verhandlung erfordert und damit auch eine Neuverteilung der Agency ermöglicht. Identität im Sinne einer eindeutigen Einheit ist aus dieser Sicht nicht möglich. Dies gilt sowohl für die Vorstellung, es gebe eine Kultur, als auch für die
Vorstellung, es gebe ein Subjekt. Ausgang ist immer Differenz. Kulturen und
Subjekte tragen die Befremdung, die Fremdheitserfahrung, den Übersetzungsbedarf auch jenseits der Begegnung mit anderen (Kulturen bzw. Subjekten) schon
in sich.
Die Differenz basiert nicht auf zuvor gegebener Identität und kommt auch
nicht in Identität zur Ruhe. Der Dritte Raum eröffnet jedoch Möglichkeiten der
Identifikation mit all ihren Risiken. Vor dem nun systematischer entfalteten
Hintergrund einer Argumentationsabfolge aus Diskurs(-analyse), Raum(-wahrnehmung) und Identität(-stheorie) erschließen sich auch die drei oben (siehe:
Erörterung des Aufsatzes „Die Frage der Identität“) genannten Bedingungen der
Identifikation neu. Die Thesen, dass das Ins-Sein-Treten immer in Bezug auf
eine Andersheit (otherness) erfolgt, dass der Ort der Identifikation selbst ein
Raum der Spaltung ist und dass die Identifikation Bildproduktion und bildaneignende Subjekttransformation zugleich ist, gewinnt vor dem Hintergrund der nun
erfolgten systematischen Bestimmung von Hybridität, Agency und Drittem
Raum schärfere Konturen.
So wird klar, dass die Identifikation einerseits im Misslingen ihres Feststellungsversuchs zur diskursiven Spaltung, zur Genese des Dritten Raumes beiträgt,
und andererseits selbst von der diskursiven Spaltung bedingt, ja, durch sie notwendig wird. Die Bezugnahme auf Andersheit, die in der Identifikation erfolgt,
eröffnet einen Raum der Differenz und Verhandlung und damit auch Chancen
der Umverteilung bzw. Rekonstitution von Agency. Besonders deutlich wird dies
an Stereotyp und Mimikry. Das Stereotyp versagt als koloniales Feststellungsinstrument und schlägt im Scheitern der Fixierung und einseitigen Zuschreibung
kultureller Identität beängstigend und bezweifelnd auf die koloniale Autorität
zurück. Die Mimikry bleibt Begehren, bei aller Anähnelung different und widerständig.
Die Transformation, die das Subjekt in der Aneignung des von ihm selbst
produzierten und im Dritten Raum konfligierten und verhandelten Bildes der
Identität durchläuft, ist somit in erster Linie nicht als letztlich identitätsbildend,
sondern als agency-konstituierend von Interesse. An dieser Stelle schließt sich
328
Homi K. Bhabha
der Kreis zum politischen Impetus des postcolonial turn (vgl. Bachmann-Medick
2006), wobei Bhabha eine vergleichsweise optimistische Perspektive einnimmt:
Die Bedingungen der Identifikation bergen Risiken für die koloniale Autorität
und eröffnen Chancen für das kolonisierte, migrantische, marginalisierte Subjekt.
4
Andeutung einer Standortbestimmung und kritischen
Einschätzung
Bhabhas Werk wird erst im Laufe der 1990er im englischsprachigen und erst mit
der deutschen Übersetzung ab 2000 auch im deutschsprachigen Raum breiter
rezipiert. Zudem wird es primär als Kulturtheorie und weniger als Identitätstheorie gelesen. Von daher ist verständlich, dass von einer Weiterentwicklung der
Identitätstheorie Bhabhas durch andere Autoren bislang nicht gesprochen werden
kann. Es ist auch schwer einzuschätzen, ob und in welcher Weise eine solche
Weiterentwicklung erfolgen wird. Die zum Teil scharfe Kritik, die allerdings
nicht von Identitätstheoretikern, sondern von anderer Seite kommt (vgl. Eakin
2001; Castro Varela/Dhawan 2005) beschwert die Rezeption, steigert andererseits aber auch das Interesse an Bhabhas Ansatz. Die Kritiker werfen Bhabha
Eklektizismus und eine unklare Begrifflichkeit vor. Eben diese Unschärfe jedoch
macht Bhabha auch passend zu einer Zeit, in der unsere Welt ihre Gewissheit
verloren hat. Zudem passen die identitätstheoretischen Argumente Bhabhas gut
zu unserer Zeit der Globalisierung, in der selbst das alte Europa nicht mehr am
Faktum der Migration und seiner eigenen weltweiten Einbindung und Abhängigkeit vorbeikommt. Hybridität, Dritter Raum, Dazwischensein und Andersheit
sind Kategorien, die nicht zuletzt auch den Blick auf unsere eigene Gesellschaft,
auf den Diskurs zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten, zwischen Christen und Muslimen, zwischen Legalen und Illegalen, zwischen Norden und Süden
in unserer Gesellschaft und nicht zuletzt auf uns selbst wenn nicht im strikten
Sinne des Wortes schärfen, so doch erheblich bereichern können.
Primärliteratur
Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg.
Bhabha, Homi K. (2004): The location of culture. London/New York: Routledge.
329
Michael Göhlich
Sekundärliteratur
Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den
Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt.
Bonz, Jochen/Struve, Karen (2006): Homi K. Bhabha: Auf der Innenseite kultureller Differenz: „in the middle of differences“. In: Moebius, Stephan/
Quadflieg, Dirk (Hrsg): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften Verlag für Sozialwissenschaften, S. 140-153.
Castro Varela, Maria do Mar/Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie.
Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript.
Eakin, Emily (2001): Harvard’s Prize Catch, a Delphic Postcolonialist. In: New
York Times 17.11.2001.
Fanon, Frantz (1985): Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Fanon, Frantz (1994): Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Freud, Sigmund (1927): Fetischismus. In: Ders. (1982): Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. III. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 379-388.
Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer
Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M.: Campus.
Göhlich, Michael (2006): Transkulturalität als pädagogische Herausforderung.
In: Zeitschrift für Entwicklungspädagogik, S. 2-7.
Göhlich, Michael (2009): Anders Sein. Zur existentiellen Bedeutung von
Transkulturalität. In: Klepacki, Leopold/Schröer, Andreas/Zirfas, Jörg
(Hrsg.): Der Alltag der Kultivierung. Münster: Waxmann, S. 137-148.
Göhlich, Michael/Leonhard, Hans-Walter/Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hrsg.)
(2006): Transkulturalität und Pädagogik. Weinheim/München: Juventa.
Hoeller, Christian (1998): „Don’t Mess With Mister In-Between.“ Interview with
Homi K. Bhabha. In: translocation_new media/art. Online:
www.translocation.at/d/bhabha.htm (Abruf am 24.06.2009).
Rutherford, Jonathan (1990): The Third Space. Interview with Homi K. Bhabha.
In: Ders. (Hrsg): Identity: Community, Culture, Difference. London: Lawrence and Wishart, S. 207-221.
Turner, Victor (2000): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt/New
York: Campus.
330
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Birgit Althans, Prof. Dr., Sozialpädagogik, Universität Trier
Michael B. Buchholz, Prof. Dr., Psychoanalyse und Psychotherapie,
Universität Kassel
Philipp Eigenmann, Dr., Erziehungswissenschaft, Universität Zürich
Michael v. Engelhardt, Prof. Dr. (em.), Soziologie, Universität
Erlangen-Nürnberg
Dieter Geulen, Prof. Dr. (em.), Erziehungswissenschaft, Freie Universität Berlin
Michael Göhlich, Prof. Dr., Erziehungswissenschaft, Universität
Erlangen-Nürnberg
Günter Gödde, Dr., Psychoanalyse und Psychotherapie, Berliner Akademie für
Psychotherapie
Benjamin Jörissen, Prof. Dr., Erziehungswissenschaft, Universität der
Bundeswehr München
Matthias Junge, Prof. Dr., Soziologie, Universität Rostock
Leopold Klepacki¸ Dr., Erziehungswissenschaft, Universität Erlangen-Nürnberg
Dorle Klika, Prof. Dr., Erziehungswissenschaft, Universität Siegen
Stephan Münte-Goussar, Dr. Erziehungswissenschaft, Universtität Hamburg
Juliane Noack, Dr., Erziehungswissenschaft, alemaoparticular-Deutsches
Sprach-, Kultur und Austauschzentrum, Bonn
Joachim Renn, Prof. Dr., Soziologie, Universität Jena
Markus Rieger-Ladich, Dr., Erziehungswissenschaft, PH Freiburg
Alfred Schäfer, Prof. Dr., Erziehungswissenschaft, Universität Halle
331
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Christiane Thompson, Prof. Dr., Erziehungswissenschaft, Universität Fribourg
Hermann Veith, Prof. Dr., Erziehungswissenschaft, Universität Göttingen
Jörg Zirfas, Prof. Dr., Erziehungswissenschaft, Universität Erlangen-Nürnberg
und Historische Anthropologie, Freie Universität Berlin
332
Related documents
Download