Andreas Nehring "REISCHRISTEN": LUTHERISCHE MISSIONARE UND DIE DALITS IN SÜDINDIEN UM 1900 Der englische Kulturkritiker Stuart Hall hat mehrfach dafür plädiert, kulturelle Identitäten als "Positionierungen" zu begreifen. Identitäten, so Hall, gehen nicht in einer "direkten, ungebrochenen Linie aus einem fixierten Ursprung hervor", sondern sie werden gebildet innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur. Diese Diskurse sind umstritten und Positionierungen von Identität sind Ergebnisse von Austausch- und Abgleichungsprozessen.1 Ausgehend von diesen Überlegungen Stuart Halls zur Frage der kulturellen Identität will ich im Folgenden fragen2, wie sich diese Positionierungspolitik im missionarischen Kontext in Südindien im 19. Jahrhundert gestaltet hat und wie insbesondere tamilische Dalits aus der Kaste der Paraiyar3 in den "Kontaktzonen" von christlicher Kirche und tamilischer Agrargesellschaft positioniert worden sind und sich positioniert haben. Der Ausdruck "Kontaktzonen", den Mary Louise Pratt für die Analyse von Reiseliteratur in kolonialen Kontexten eingeführt hat4, umschreibt den Raum, in dem die Interaktionen und Austauschprozesse der interkulturellen kolonialen Begegnungen zu verorten sind, anstatt in ihnen nur westliche Eroberung und Dominanz zu sehen. Kontaktzonen sind Orte von Kompromissen, Widerstand, Hybridität, Adaptionen, Imitationen, und die Einführung dieses Begriffs weist in ähnlicher Weise wie Stuart Halls Konzept der Identitätspositionierungen auf einen, in den Kulturwissenschaften sich vollziehenden Wandel von einem zeitlich strukturierten Identitätsdiskurs auf ein Identitätsverständnis hin, das eher räumlich strukturiert ist. In den "Cultural Studies" wird das Vorgehen, diese Identität zu beschreiben daher oft als "Mapping"5 bezeichnet. Anstatt Identität zu essentialisieren, von ihren Wurzeln her zu begreifen und den geschichtlichen Entwicklungen nachzugehen, werden Subjekte eher dahingehend angeschaut, welche Positionen sie in den unterschiedlichen Diskursen, die in den Kontaktzonen dominant sind, einnehmen, sei es nun Religion, Rasse, Ethnizität, Kaste, Geschlecht oder anderes. 1 2 3 4 5 Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, in: ders.: Rassismus und Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Hamburg 1994, S. 26-43. Der Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung eines Abschnitts in einem demnächst erscheinenden Buch zur Leipziger Mission in Südindien. Unter kolonialem Einfluss wurde der Name dieser Kaste aus Tamil Nadu für alle "Pariah" verwendet. Mary Louise Pratt: Imperial Eyes.Travel Writing and Transculturation, London 1992. Vg. z.B. Laurence J. Silberstein (Hg.): Mapping Jewish Identities, New York/London 2000. 226 Andreas Nehring "Die Karte – als unsere Allegorie von Macht und Wissen – und das Subjekt – als unsere Allegorie von Körper und Selbst – offenbaren Identität: ihre Flüssigkeit und ihre Fixiertheit, ihre Reinheit und ihre Hybridität, ihre Sicherheit und ihre Gefährdung, ihre Transparenz und ihre Undurchsichtigkeit. Die Karte – als Allegorie von Raum-Zeit – und das Subjekt – als Allegorie von Ort-in-der-Welt und Grenze-der-Welt – offenbaren, dass ‚Raum’ in aktiver Weise konstitutiv ist für die Praktiken von Autorität und Widerstand, von der Begründung 6 von Bedeutung und dem Ersetzen von Bedeutung." Positionierung I: Landkäufe 1893 kaufte der Leipziger Missionar Johannes Kabis 190 ha Land in Kanachavallipuram im Madras-Distrikt in Südindien, um es an verarmte kastenlose Paraiyar seiner Gemeinde in Pattareiperumbudur zu verpachten. Das Land gehörte einer Brahmanenwitwe, die es an einen Großpächter namens Kuppusami Naiker verpachtet hatte. Ein Teil des gekauften Landes war Poramboke (Brachland), das die Kolonialregierung den landlosen Paraiyar zugesagt hatte, das aber von Kuppusami Naiker zuvor immer wieder abgeerntet worden war. Vor Gericht hatte Kabis für das Recht der Paraiyar gestritten, einen Teil des Brachlandes zur Bewirtschaftung zu erhalten. In einer 1936 erscheinen Geschichte der Leipziger Mission von Paul Fleisch heißt es lapidar: "Jetzt kamen die Leute von Pattareiperumbudur in den Taufunterricht. Am 31. Dezember 1893 wurden die ersten 42 getauft. Scharen folgten."7 Zwischen 1871 und 1901 hat die Zahl der christlichen Population in der Madras-Präsidentschaft in Südindien von 544.120 auf 1038.854 fast verdoppelt.8 Der Historiker Geoffrey A. Oddie hat die Taufregister der Lutherischen Gemeinden in Tamil Nadu untersucht und dabei festgestellt, dass der prozentuale Anstieg der christlichen Bevölkerung im Wesentlichen auf Konversionen zurückzuführen sei.9 Die Zahl der lutherischen Christen ist in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen stabil geblieben. Erst in den 70er Jahren setzten sogenannte Massenbewegungen ein, und das Wachstum der christlichen Bevölkerung war in der Madras-Präsidentschaft zwischen 1871 und 1901 viermal höher als das Wachstum der übrigen Bevölkerung.10 Oddie konnte ebenfalls aufzeigen, dass die große Mehrheit der in den Jahren 1870 bis1900 getauften Christen aus der Gruppe der "depressed castes", also der sogenannten Kastenlosen kam. Die meisten von ihnen waren Paraiyar. 6 Steve Pile/Nigel Thrift: Mapping the Subject, in: dies (Hg.): Mapping the Subject. Geographies of Cultural Transformation, London/New York 1995. S. 49. 7 Paul Fleisch: Hundert Jahre Lutherischer Mission, Leipzig 1936, S. 195. 8 Census of India, Bd. II, Madras 1871, S. 31-35; Census of India, Bd. XV.1, Madras 1901, S. 46. 9 Geoffrey A. Oddie: Hindu and Christian in South-East India, London 1991, S. 153. 10 Oddie: Hindu and Christian, S. 153. Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien 227 Im August 1897 argumentierte Johannes Kabis vor der "Madras Missionary Conference", dass es vor allem politische und wirtschaftliche Veränderungen und die zunehmende Auflösung traditioneller Abhängigkeitsverhältnisse waren, die dazu geführt dazu haben, dass die Kastenlosen sich dem Christentum zuwandten. Kabis vertrat die Ansicht, dass die Paraiyar-Frage vor allem ein Problem der Politik geworden sei.11 Koloniale Interventionen in der traditionell hierarchisch organisierten tamilischen Gesellschaft haben vor allem in den weniger fruchtbaren Gebieten Tamil Nadus dafür gesorgt, dass bestehende gesellschaftliche Differenzen sich weiter vertieft haben.12 Auf den Jahrestagungen der mit dem Nationalkongress verbundenen "Social Reform Conference" wurde die ParaiayarProblematik in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts regelmäßig diskutiert. Um der Gefahr weiterer Massenkonversionen zum Christentum entgegenzuwirken, wurde dazu aufgerufen sukzessive Hindu-Tempel für Dalits zu öffnen. Der Kollektor des Chengalapattu-Distriktes J. H. A. Tremenheere sandte im März 1891 einen Bericht über die Situation der Paraiyar an die Regierung, die er, ausgehend von einer Analyse des Dorfes Senneri, als "herzerweichend" bezeichnete. Dieser Bericht wurde im Mai des Jahres von der "Madras Missionary Conference" zum Anlass genommen, eine Petition bei dem Gouverneur mit Vorschlägen zur Hebung des sozialen Status der Paraiyar einzureichen. In Reaktion darauf erließ die Regierung 1892 eine Anordnung, dass Brachland, das im Besitz der Regierung war, an Paraiyar und andere Kastenlose ausgegeben werden sollte13 und dass spezielle Schulen für die Paraiyar eingerichtet werden. Vor allem aber wurden alle Kontrakte zwischen den Mirāsidar-Landbesitzern und Kastenlosen für ungültig erklärt, die die landlosen Arbeiter in einer, der Sklaverei ähnlichen, Abhängigkeit hielten.14 Missionare wurden aufgefordert, Übertretungen dieser Anordnungen anzuzeigen. Positionierung II: Die Paraiyar als Ureinwohner des Landes im missionarisch/kolonialen Diskurs 11 Johannes Kabis: Should Legal and Financial Help be given to Pariahs?, in: Harvest Field, 3. Reihe, Oktober 1897, S. 361-422, hier S. 362 f. 12 Vgl. G. Aloysius: Religion as Emancipatory Identity. A Buddhist Movement amoung Tamils under Colonialism, New Delhi 1998. S.24 ff. 13 Dazu auch: Brindavan C. Moses: A Brief Note on Panchama Land, in: Religion and Society, 47.2, 2000, S. 51-68. 14 Johannes Kabis: Bewegung unter den Pariahs im Landbezirke von Madras, in: Jahrbuch der Sächsischen Missionskonferenz XIII, 1900, S. 69-92, hier S. 70; Hugald Grafe: The History of Christianity in Tamilnadu from 1800 to 1975 (History of Christianity in India, 4.2), Bangalore/Erlangen 1990, S. 215. Über die englische Arbeit unter den Paraiyar vgl. Graham Houghton: The Impoverishment of Dependency. The History of the Protestant Church in Madras 1870-1920, Madras 1983, S. 99 ff. Die politische Situation im Chengalpattu Distrikt ist dargestellt worden vor allem von: Eugene Irschick: Dialogue and History. Constructing South India, 1795-1895, Delhi 1994, S. 153 ff. 228 Andreas Nehring In dem als "Pariah Magna Carta" gepriesenen Erlass sah Kabis einen Anstoß für die Paraiyar, sich selbst zu organisieren. Bereits 1892 gründete sich die erste Vereinigung gesellschaftlich etablierter christlicher Paraiyar, die sich für die Belange der Kastenlosen einsetzte. Sie publizierte ein eigenes Vereinsorgan mit dem Titel "Pareien". 1895 spaltete sich Iyothee Thass, eine zentrale Persönlichkeit eine tamilischen Reformbuddhismus15, von der Vereinigung ab und gründete die ‚Adi Dravidu Jana Sabha‘. Diese Abspaltung war signifikant. Zum ersten Mal wurde ein Begriff in die politische Debatte gebracht, der zentral wurde für die Identitätspositionierungen südindischer Dalits. Kabis berichtet: "Während die eine Partei mit gewissem Stolze den alten Kastennamen Pareien beibehalten und zu Ehren bringen wollte, wünschte die andere den ominösen Namen abzuschütteln und auch den von der Regierung offiziell für sie eingeführten Namen Panchama (Leute des fünften Standes) wollten sie nicht annehmen, da sie doch nicht den fünften, sondern den 16 dritten Stand bildeten." Vor allem der Erlass, den Paraiyar regierungseigenes Land zu überlassen, hatte weitreichende Folgen. Einerseits wuchs der Widerstand der Landbesitzer, andererseits ging mit der Vergabe von Land auch ein Projekt einher, die Paraiyar als die Ureinwohner und ursprünglichen Besitzer des Landes zu etablieren. Tremenheere hat ein ethnologisches Element wieder aufgenommen, dass bereits um 1850 der Leipziger Missionsdirektor Karl Graul formuliert hat, dass nämlich die Paraiyar ursprünglich zusammen mit den Íūdra den indigenen Kern der indischen Bevölkerung ausgemacht haben. Auch Kabis vertrat die Ansicht, dass die Paraiyar vor der Einwanderung der Arier eine bedeutendere gesellschaftliche Rolle gespielt haben. "Die Pariahs bilden den Volksteil der dravidischen Ureinwohner, die sich jener Kultur und Religion hartnäckig widersetzten und darum unterjocht und zu Sklaven der eingewanderten Arier gemacht wurden. Viele interessante Gebräuche bei Dorfgötzenfesten der Shudras, bei denen die Pariahs vielfach eine Rolle spielen, die mit ihrer sonstigen Stellung sich gar nicht 17 reimt, zeigen, dass die Pariahs einst eine ganz andere Rolle gespielt haben müssen." In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der kolonialen Entdeckung der Paraiyar als kultureller Größe, entstand auch die Vorstellung, die Paraiyar hätten eine eigene Religion. Wie in anderen kolonialen Kontexten auch war ein Leitbild für den Diskurs um indigene Kultur die Vorstellung einer lokalen Volksreligion.18 Um 1900 veröffentlichte der Leipziger Missionar Richard Frölich ein kleines 15 Zu Thass vgl. Aloysius: Religion, S. 50 ff.; auch: Michael Bergunder: Umkämpfte Vergangenheit. Anti-brahmanische und hindu-nationalistische Rekonstruktionen der frühen indischen Religionsgeschichte, in: ders./Rahul Peter Das (Hg.): Arier und Draviden. Konstruktionen der Vergangenheit als Grundlage für Selbst- und Fremdwahrnehmungen Südasiens, Halle 2002, S. 135-180. 16 Kabis: Bewegung, S. 70 f. 17 Kabis: Bewegung, S. 73. 18 Für den südafrikanischen Kontext vgl. David Chidester: Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville/London 1996. Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien 229 Büchlein mit dem Titel "Tamulische Volksreligion". Während die philosophischen Vorstellungen der Hindus und die Religion der "höheren Schichten" hinreichend bekannt seien, sei die "niedere Religionsform" der Volksreligion weitgehend unerforscht. Frölich dagegen scheint "die Bekanntschaft mit ihr zu einer wirklichen Kenntnis des indischen Geistes durchaus erforderlich zu sein."19 Ein religionswissenschaftlicher Vergleich zum biblischen Christentum einerseits und zu der "philosophischen Religion Indiens" andererseits könne, so Frölich, das "tief gegensätzliche Verhältnis" zum Christentum und die gegenseitige Abhängigkeit zum Hinduismus aufzeigen.20 Anders als Graul, der in dem Ackerbau der Arier die Grundlage für die Ausbildung einer Kultur in Indien sah21, der sich Paraiyar und Adivasi widersetzt haben, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Kabis und anderen den Paraiyar eine kulturtragende Rolle zugeschrieben, da sie die eigentlich Produzierenden der indischen Gesellschaft waren. "Da sie fast ausschließlich Feldarbeiter sind und vom Ackerbau leben, so sind sie nicht etwa der Hefe abendländischer Völker, den Proletariern Europas zu vergleichen, sondern sie sind ein Volk, von deren Existenz und Arbeit die Wohlfahrt der ganzen anderen Bevölkerung 22 abhängt." Das kulturelle Projekt, die Paraiyar, als eine genuine tamilische Bauernklasse zu repräsentieren und durch Verpachtung von Land zu fixieren, sollte auch kirchliche Auswirkungen für die Gemeindestrukturen haben. "Der Pariah ist sehr konservativ und hängt sehr zäh an der Scholle, auf der er geboren ist."23 Der Adidravida als Ureinwohner eignet sich daher auch in besonderer Weise als Basis für die Kirche. "Es ist ohne Frage providentiell, dass in Indien, dem Lande der Kaste, die Niedrigsten zuerst berufen worden sind. Die Entwicklung von unten nach oben ist auch in der Kirche immer die 24 erfolgreichste und gesegnetste gewesen." Deutlich wird hier die Differenz zu Karls Grauls in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts. geäußerter Überzeugung, dass die Íūdra den "sittlichen Kern" des tamilischen Volkes darstellten, während die Paraiyar sittlich verkommen seien. Während die ÍËdra unter Einfluss der Arier gelernt hätten, das Land zu bebauen, seien die Paraiyar, die ins Brachland und in die Berge geflüchtet sind, nie ganz aus ihrem ursprünglichen Nomadentum herausgekommen.25 19 Richard Frölich: Tamulische Volksreligion. Ein Beitrag zu ihrer Darstellung und Kritik, Leipzig o. J., S. 5. 20 Frölich: Volksreligion, S. 7. 21 Karl Graul: Die Kaste und die Mission, in: Missionsnachrichten der Ostindischen 22 23 24 25 Missionsanstalt zu Halle (MOIMH), Bd. VII, 1855, S. 67. Kabis: Bewegung, S. 74. Kabis: Bewegung, S. 88. Kabis: Bewegung, S. 91. Karl Graul: Der Herrn Missions-Direktors Karl Graul Mittheilungen aus einer Missionsreise nach Ostindien. Elfte Abteilung, in: MOIMH, Bd. IV, 1-4, 1852, S. 55 ff. Andreas Nehring 230 "Ein geistig und sittlich ganz und gar verkommenes Völklein! Man weiß oft nicht, soll man sich mehr über ihren bodenlosen Stumpfsinn, oder mehr über ihre sittliche Haltlosigkeit 26 wundern und betrüben. Unter ihnen blühet das Laster der Trunksucht in hohem Grade." Zwar erkennt Graul die Gründe für diesen Zustand der Paraiyar auch in der Unterdrückung durch Angehörige anderer Kasten, die Trennung der Kasten voneinander stellt er aber nicht in Frage, da er in ihr einen Schutz der höheren Kasten und ein "knöchernes Absperrungs-System" vor sittlichem Verfall sieht. Die sozialen Bedingungen, unter denen die Paraiyar leiden, werden diesen selbst angelastet und als Ausdruck geistiger Verkommenheit gewertet. Eugene Irschick hat darauf hingewiesen, dass das Brachland als Ort der Pariyar im 19. Jahrhundert zu einem epistemischen Ort für moralischen Niedergang geworden ist.27 Die vormalige Ausgrenzung der Paraiyar aus dem Diskurs um religiöse und kulturelle Identität Tamil Nadus wirkte sich aber auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch auf die Missionsarbeit aus. Zwar hatten die Leipziger Missionare von Anfang an auch unter den Paraiyar gearbeitet, aber der missionsstrategische Plan der Bildung einer tamilischen Volkskirche richtete sich in erster Linie auf die Arbeit unter den anderen tamilischen Kasten insbesondere den Vellalar. Graul war der Ansicht: "es wäre in der Tat traurig, wenn die Heranbildung eines eingeborenen Lehrstandes auf eine Volksklasse, wie die Pariahs, beschränkt sein müsste"28. Angesichts der realen Strukturen der Missionsgemeinden in der Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Befürchtung Grauls reichlich überzogen. Erst am 3. Advent 1890 wurde mit Samuel der erste Paraiyar als Pfarrer ordiniert, der in Manikrammam eingesetzt wurde, einer Gemeinde, die ausschließlich aus Paraiyar bestand.29 Die Sozialstruktur der Gemeinden der Lutherischen Mission hat sich in diesen Jahren von überwiegend urbanen, gebildeten und hochkastigen Gliedern zu einer vorwiegend von Kastenlosen geprägten Kirche gewandelt. Viele der lutherischen Dorfgemeinden setzten sich aus Christen ausschließlich aus einer Kaste zusammen. Positionierung III: Die Etablierung der neuen/alten Ordnung Kabis unterschied drei Paraiyar-Gruppen, diejenigen, die in einer Schuldenabhängigkeit von dem Landbesitzer in der Sklaverei ähnlichen 26 Karl Graul: Reise nach Ostindien über Palästina und Ägypten, IV. Teil, 1855, S. 207; Graul: Mittheilungen, XI, S. 70 f. 27 Irschick: Dialogue, S. 179. 28 Graul: Reise IV, S. 210. 29 Zur Ordination von Samuel vgl. Evangelisch Lutherisches Missionsblatt (ELMB), 1891, S. 161 ff. Samuel stieß schon ein Jahr nach seiner Ordination auf Probleme mit Kastenhindus, die seine Position nicht akzeptierten und ihn mehrfach überfielen und mit Stöcken schlugen, vgl. ELMB 1892, S. 287 f. Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien 231 Verhältnissen stehen, die paiyā¬,30 diejenigen, die für täglichen Lohn arbeiten, die kuliyā¬, und diejenigen, die ein Stück Land mit ihren eigenen Ochsen bearbeiten und an den Besitzer eine Pacht zahlen (kuakai, Kabis: kuddachei)31 oder von ihm einen Teil des Ertrages (varam) erhalten, die varamaÒ. Das Land, das Kabis für die Bewohner des Dorfes Pattareiperumbudur kaufte, wurde nach dem varam-System bewirtschaftet.32 Die Paraiyar-Pächter, die zuvor für einen Großpächter gearbeitet hatten, der das Saatgut lieferte und dem sie 60 Prozent der Ernte als Pacht zahlen mussten, gingen nun alle zur Mission über und ließen sich daraufhin taufen. Sowohl paiyā¬ als auch kuakai waren in dem mirāsi-System nicht nur Abhängige der Landbesitzer, sondern sie gehörten zum Land. Daher konnten sie zusammen mit dem Land verkauft und in den Dienst neuer Besitzer übergeben werden. Obwohl die Sklaverei in Indien bereits 1833 durch die britische Regierung abgeschafft worden war, haben dennoch Ende des 19. Jh.s bei Landverkäufen solche Transfers von abhängigen Schuldner der mirāsidar stattgefunden. Kabis setzte sich immer wieder vor Gericht für die Kastenlosen ein, um ihre Rechte durchzusetzen und diese Schuldenübertragung zu unterbinden.33 Er war aber dennoch skeptisch gegenüber dem Vorschlag von Tremenheere, den Paraiyar eigenständig Land zu überlassen bzw. sie auf regierungseigenem Land anzusiedeln. Das Konzept, das die Leipziger Mission vertrat, bestand eher darin, traditionelle Abhängigkeitsstrukturen zunächst nicht abzuschaffen, sondern Abhängigkeit zu verlagern. Zwar war es Kabis' Ziel, das gekaufte Land langfristig den Paraiyar als ihr Eigentum zu übertragen, die Befürchtung, dass sich die Besitzer kleiner Landparzellen schnell wieder neu verschulden und in Abhängigkeit von mirāsidars zurückfallen könnten, bewog aber die Leipziger Mission, das erworbene Land zunächst an die Paraiyar nur zu verpachten.34 Damit praktizierten die Missionare nicht nur ein Zamindari-Recht, sondern sie führten, wie Henriette Bugge auch für die dänische Missionspraxis gezeigt hat35, das 30 Zum Problem der Sklaverei in Tamil Nadu vgl. Sundararaj Manickam: Slavery in the Tamil Country: A Historical Overview, 2. Aufl., Madras 1993. 31 Kathleen Gough berichtet, dass kuakai Bewirtschaftung im Tanjore Distrikt für Palla und 32 33 34 35 Paraiyar nicht zulässig war. Katheleen Gough: Caste in a Tanjore Village, in: E. R. Leach (Hg.): Aspects of Caste in South India, Ceylon and North-West Pakistan, Cambridge 1969, S. 11-60, hier S. 26. Zu weiteren Landkäufen durch die Lutherische Mission vgl. Paul Fleisch: Hundert Jahre lutherischer Mission, Leipzig 1936, S. 195 ff. Z.B. ELMB, 1888, S. 230 f. ELMB, 1900, S. 425; Johannes Kabis: Sechs neue Gemeinden im Landbezirk von Madrás. Bilder aus der Pariabewegung, in: Palmzweige vom Ostindischen Missionsfelde, größere Serie Nr.15, Leipzig, S. 8. Englische Missionare haben ähnliche Überlegungen angestellt, vgl. dazu A. Andrew: The practical working of Panchama Settlements, in: Harvest Field, Mai 1898, S. 166-175. Henriette Bugge: Mission and Tamil Society. Social and Religious Change in South India (1840-1900), Richmond Surrey 1994, S. 161 ff. Zu Rājadharma in Tamil Nadu im 19. Jahrundert vgl. Pamela Price: Raja –dharma in 19th Century South India. Land, litigation and largess in Ramnad Zamindari, in: Contributions to Indian Sociology, N.S., 13.2, 1979, S. 207- 232 Andreas Nehring traditionelle Konzept des rājadharma weiter, das von den mirāsidars im Chengalapattu-Distrikt aufgrund politischer, legaler und wirtschaftlicher Veränderungen und der damit zusammenhängenden rechtlichen Lösung der Abhängigkeitsverhältnisse von Landarbeitern zunehmend weniger wahrgenommen wurde. Rājadharma beinhaltet die Aufgabe des Herrschers, Wohlstand, Frieden, Gerechtigkeit und dharmische Ordnung in seinem Herrschaftsbereich zu sichern.36 Rājadharma war damit ein Konzept, das spirituelle wie materielle Ordnung garantieren sollte. Graul vermutete 1855, dass der Kastentitel für die Paraiyar ‚petta pillai‘ (Kind von Hause) auf eine Ordnung hindeute, in der die Vellalar den Paraiyar gegenüber Verantwortung zu übernehmen hätten.37 Die Lücke der spirituellmateriellen Versorgung wurde aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch nicht durch die britische Kolonialregierung aufgefangen. Die königliche Erklärung von 1858, die jedem indischen Bürger das Recht auf freie Religionsausübung zugesprochen hatte und ausdrücklich davon Abstand nahm, die eigene religiöse Überzeugung den Untertanen aufzuerlegen, erklärte gleichzeitig auch die traditionellen Landrechte für gültig.38 Die Kolonialadministration konnte, basierend auf dieser Politik der Neutralität, Gesetze wie die "Pariah Magna Carta" zwar erlassen, sie war aber, so Kabis, nicht in der Lage, selbst die Verantwortung für die in die Freiheit entlassenen Paraiyar zu übernehmen. Allein die Missionare hätten sich bisher in wirklicher "Barmherzigkeit und Liebe" den Paraiyar zugewandt.39 Die Leipziger Missionare haben auf ihrer Synode in Tranquebar am 8. Februar 1892 beschlossen, die vakante rājadharma-Ordnung zu übernehmen. "Da das naturgemäße und geschichtlich gewordene Hörigkeitsverhältnis der Parias zu den Grundherrn durch die Annahme des Christentums von Seiten der Hörigen vielfach unmöglich und hinfällig geworden ist, weil es nicht nur auf einem Vertrage zwischen Arbeit und Lohn beruht, sondern in gewissem Sinne ein Lebens- und Pietätsverhältnis war, liegt nicht für die Mission die Verpflichtung vor, ihnen ein ähnliches Verhältnis zu bieten? In der Tat ist es ein solches Verhältnis, das die Parias mehr oder weniger bewusst suchen, wenn sie das 239. 36 Kane betont, dass in Dorfgemeinschaften das Konzept von Rājadharma ebenso Gültigkeit besitzt wie für den gesamten Staat. Pandurang Vaman Kane: History of Dharmasastra, Bd. III, 3. Aufl., Poona 1993, S. 157. 37 Graul bemerkt jedoch zugleich, dass dieses Konzept die Wirklichkeit der Abhängigkeitsstrukturen verschleiern würde. Graul: Reise IV, S. 189; Schreibweise bei Graul. 38 "We disclaim alike the right and the desire to impose Our own convictions on any of Our subjects. [...] We know and respect the feelings of attachment with which the natives of India regard the lands inherited by them from their ancestors, and We desire to protect them in all rights connected therewith; subject to the equitable demands of the State; and We will that generally, inframing and adminstering the law, due regard be paid to the ancient rights, usages, and customs of India." Auszüge der Erklärung der Königin auch in Stephen Neill: A History of Christianity in India, Bd. II: 1707-1858, Cambridge 1985. 39 Kabis: Bewegung, S. 72. Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien 233 Christentum annehmen. [...] Das Verhältnis der Eingeborenen zu den Europäern müsste auf höherer Stufe dasselbe sein wie das jetzige Verhältnis der Hörigen zu ihren Grundbesitzern – 40 väterliches und wo nötig auch strenges Regiment und kindlicher Gehorsam." Missionar Georg Stosch war der Ansicht, dass die Mission ein Zamindariat mit einem deutschen Landwirt als Verwalter einrichten sollte, um christlichen Paraiyar zu helfen. Die Missionsleitung hatte diesem Plan, der auch auf der Tranquebarer Synode verabschiedet wurde, zunächst zugestimmt, ab 1899 aber weiter Landkäufe durch die Missionare untersagt. Kabis wurde in mehreren Dörfern, die er im Auftrag der Mission als Grundbesitzer verwaltete, als ein geistiger Führer angesehen, dem die bekehrten Paraiyar als Zeichen ihrer Unterwerfung Kultgegenstände und Götterstatuen aushändigten.41 Von den Irulern, einem nomadisierenden Volk von Waldbewohnern42, das durch Ansiedlung auf von der Regierung überlassenem Gebiet mit Hilfe der Mission sesshaft gemacht werden sollte, wird sogar berichtet, dass sie in einigen Dörfern, die zu der Gemeinde Andimadam gehörten, bis 1903 in einem paˆˆaiyā¬Verhältnis gestanden haben, das heißt in einem sklavenähnlichen Verhältnis. Von den Engländern wurde das paˆˆaiyā¬-System bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als Sklaverei gebrandmarkt43, in Gemeinden der Leipziger Mission, in denen dieses System übernommen worden war, wie in Velichangudi, wurde es jedoch erst 1903 aufgrund von wirtschaftlichen Verlusten im Ackerbau abgeschafft und in ein Pachtverhältnis umgewandelt.44 Schomerus hat als Nachfolger von Kabis in Pandur dessen langfristiges Ziel, die christlichen Paraiyar in die Unabhängigkeit von selbstständigen Kleinbauern zu entlassen, so umgesetzt, dass er christliche Paraiyar-cheris in den zu Pandur gehörigen Gemeinden nach dem Prinzip des panchajatirāj organisierte.45 Dadurch wurden die Christen so weit in die nichtchristliche Umgebung integriert, dass 40 ELMB, 1892, S. 152 ff. 41 Kabis: Sechs Gemeinden, S. 23. Gehring berichtet, dass sie Kabis eine Vishnustatue aus 42 43 44 45 ihrem Dorf als Geschenk überreichten, um, wie er meint, den völligen Bruch mit dem "Heidentum" zu dokumentieren. Alwin Gehring: Johannes Kabis. Ein Vater der Paria, Leipzig o.J., S. 51. Die Iruler gehörten offiziell zu den Íūdras, durch intensive Rodungen der Wälder sind sie jedoch aus ihrem Lebensraum vertrieben und gezwungen worden, sich als abhängige Landarbeiter ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Vgl. ELMB, 1894, S. 263; ELMB, 1904, S. 411; ELMB, 1905, S. 545 f. William Adam: The Law and the Custom of Slavery in British India, Boston 1840, S. 177. Der Landprediger Joseph schreibt: "Gegenwärtig sind in Wölitschangudi (d.H. Lichthausen) 15 Irulerfamilien und in dem benachbarten Kilneduwai fünf Padeiātschis angesiedelt. Diese Iruler standen bis 1902/03 zur Mission im ‚Pannei-‚ (d.h. Hörigen-) Verhältnis, das der Mission große Verluste eingetragen hat." ELMB, 1905, S. 546; zu den paˆˆaiyā¬s vgl. auch Irschick: Dialogue, S. 33 f. "Unsere Gemeindeversammlungen sind im wesentlichen Pantschayats nach dessen bestimmten Regeln, und Ordnungen und Beschlüsse werden nach den Regeln der Kaste gefaßt." ELMB, 1911, S. 378. 234 Andreas Nehring auch Hindus die christlichen Oberhäupter des Paraiyar-cheri anerkannten und die Beschlüsse der von Christen besetzten panchajats respektierten.46 Positionierung IV: "Reischristen" oder "echte" Christen? In der Missionsgeschichtsschreibung werden immer wieder theologische Argumente hervorgehoben, die Kabis dazu bewogen haben, Land für die Mission zu kaufen.47 Kabis selbst hat die materielle Hilfe, die die Mission den Paraiyar zukommen ließ, als Wegbereitung für das Reich Gottes bezeichnet und betont, dass es nicht die Aufgabe der Mission sei, "nach dem Evangelium der neuen Socialisten die Armut aus der Welt schaffen zu helfen"48. In der Situation der Paraiyar sah er eine gratia praeveniens, da durch die Notlage die Armen zu Gott geführt würden.49 In der Katechumenatsordnung der Tranquebarer Synode, auf die sich Kabis in diesem Zusammenhang berief, wurde materielle Not als Grund dafür, die Taufe zu begehren, nicht grundsätzlich abgelehnt, die Predigt vom Reich Gottes jedoch als die Hauptaufgabe der missionarischen Zuwendung zu den Paraiyar bezeichnet.50 Es ist unmöglich zu beurteilen, welchen Eindruck die Predigt vom Reich Gottes und die in den Missionsberichten immer wieder erwähnten Bilder von der Hölle in den Predigten der Missionare auf die Hilfe suchenden Paraiyar gemacht hat, da keine Briefe oder Berichte von Paraiyar-Christen vorhanden sind.51 Man kann nur feststellen, dass es in zahlreichen lutherischen Gemeinden in Zeiten relativen Wohlstandes Abfälle vom Christentum unter den Paraiyar gegeben hat, dass aber in denjenigen Gemeinden, in denen Land nach dem rājadharma Prinzip verwaltet wurde, die Rekonversionen geringer waren.52 Die Rekonvertiten deuten zumindest darauf hin, dass die Predigt von einem jenseitigen Reich Gottes als Modell von Erlösung in vielen Fällen nicht zu einem als sinnvoll erfahrenen 46 ELMB, 1911, S. 375 ff. 47 Oddie: Hindu and Christian, S. 159; Houghton: Impoverishment, S. 119. 48 Kabis: Bewegung, S. 85; Kabis: Legal Help, S. 421. "So fern es uns liegen muß und so wenig 49 50 51 52 es auch unsre Aufgabe sein kann, mit neuen sozialpolitischen Plänen den Parias aufzuhelfen oder für ihre Emanzipation (Befreiung) zu agitieren, so ist es doch unsere christliche Pflicht, denen, die Christen geworden, auch in ihren leiblichen Nöten zu helfen". ELMB, 1897, S. 376. Kabis: Bewegung, S. 79. "Findet sich, dass die nächste Veranlassung zum Begehr der Taufe der Wunsch ist, von dem Missionar Hilfe im Irdischen zu empfangen, so sind die Bewerber deshalb nicht ohne weiteres zurückzuweisen. Es soll ihnen aber zugleich ernstlich zu Gemüte geführt werden, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt sei, und dass die Nachfolge Christi keine irdischen Vorteile, sondern Kreuz und Trübsal bringe." Zitiert bei Kabis: Bewegung, S. 79. Z.B. schreibt Kabis: "Ich ermahnte sie auf das Eindringlichste, malte ihr Himmel und Hölle vor die Augen, aber nichts schien auf ihr kaltes, hartes Herz Eindruck zu machen." ELMB, 1888, S. 229. Dieses Problem sieht auch Oddie: Hindu and Christian, S. 161. Fleisch: Hundert Jahre, S. 198. Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien 235 Modell für Welt und Selbstauffassung der Paraiyar geworden ist.53 Missionar Frölich erklärt diese Probleme der Mission, indem er die Religion der Tamilen als Diesseitsreligion konstruiert, eine Religion, die von der "echten" Religion des Christentum zu unterscheiden sei, letztlich aber auch von der "philosophischen Religion" des Hinduismus. "Um den Satz ‚Das Christentum ist für uns unmöglich’ zu verstehen, muß man die Tatsache ins Auge fassen, dass die tamulische Volksreligion wesentlich Diesseitsreligion ist, eine Verehrung übermenschlicher Mächte (‚Götter’) durch Gelübde und kultische Leistungen, die 54 man tut, um irdische Gaben oder Beistand in irdischer Not zu erlangen". Da die Lutherischen Kirche ihre Missionsstrategie in den ersten Jahren der Massenkonversionen zum Christentum zunächst nicht wesentlich geändert hat, stellt sich die Frage nach den Gründen für dieses Phänomen. Ein Problem, diese Frage zu beantworten, ist die einseitige Quellenlage. Die kastenlosen Christen haben wie die meisten unterdrückten und der Schriftsprache nicht mächtigen Gesellschaftsschichten kein oder nur wenig schriftliches Material hinterlassen, das ihre Bekehrungsmotive dokumentieren könnte. Alle Spekulationen über diese Motive sind daher im wesentlichen auf soziologische Analysen und die Berichte von Missionaren angewiesen.55 Protestantische Missionare standen den Massenbekehrungen zunächst kritisch gegenüber, da die Konvertiten in Kastengruppen kamen und die Entscheidung zur Konversion ganzer Gruppen oder Dörfer von den Kastenführern, dem Kasten-panchayat, oder den Ältesten eines Dorfes getroffen wurden.56 Bereits 1879 wurde auf der Missions-Konferenz für Südindien und Ceylon nach den Motiven der Konvertiten gefragt, über das Verhältnis von Spiritualität und materieller Hilfe für die Armen diskutiert und letztere als eine notwendige und dringliche Angelegenheit für die missionarische Arbeit bezeichnet.57 Auf der Südindischen Missionskonferenz im Jahr 1900 wurden dann fünf Gründe, die für die Massenbewegungen unmittelbar ausschlaggebend gewesen seien, angeführt: 1. die Überzeugung, dass das Christentum die wahre Religion sei; 2. das Wissen, dass diejenigen die Christen geworden waren, charakterliche und gesundheitliche Verbesserung erfahren haben; 3. der Schutz vor 53 Vgl. dazu Clifford Geertz: Religion als Kulturelles System, in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987, S. 47. 54 ELMB 1913, S. 506. 55 Zahlreiche Analysen der Massenbewegungen zum Christentum sind bisher erschienen: Waskom Pickett hat als Direktor der Abteilung "Mass Movement Study" des Nationalen Kirchenrates von Indien 1933 eine erste grundlegende Studie vorgelegt. Waskom Pickett: Christian Mass Movements in India. A Study with Recommendations 1933 (Reprint: Lucknow 1969). Siehe auch Studien bei Duncan Forrester: Caste and Christianity. Attitudes and Politics on Caste of Anglo-Saxon Protestant Missions in India, London 1980; Sundararaj Manickam: The Social Setting of Christian Conversion in South India, Wiesbaden 1977; Oddie: Hindu and Christian, S. 153 ff. Dazu auch ELMB, 1899. S. 261 f. 56 Kabis berichtet von einer Bekehrung des Cheri im Dorf Tombur durch die Entscheidung des "Häuptlings". Kabis: Sechs Gemeinden, S. 10 f. 57 The Missionary Conference: South India and Ceylon 1879, Vol. I, Madras 1880, S. 55. 236 Andreas Nehring Unterdrückung und materielle Hilfe durch die Missionare; 4. der Wunsch nach besserer Schulbildung; 5. der Einfluss christlicher Verwandter.58 Die Argumentationsstruktur dieses Kriterienkataloges impliziert, dass die Bekehrten von der Mission auch das bekamen, was sie von ihr erwarteten. Allerdings wurde diese Erwartungshaltung auch immer wieder kritisch hinterfragt, was sich z.B. in dem in der Missionsgeschichtsschreibung zu einem festen Begriff ausgeprägten Wort ‚Reischristen‘ niedergeschlagen hat. Auffällig ist in der Tat, dass die Zahl der Christen in Tamil Nadu während der großen Hungersnöte zunahm und dass oft ganze Familien oder Dörfer konvertiert sind.59 Dennoch ist zu fragen, ob die Gründe, die die Missionare für die Massenbekehrungen angeführt haben, auch wirklich den Erwartungen der kastenlosen neuen Christen entsprochen haben. Insbesondere das Argument, die Missionskirchen seien deshalb attraktiv, weil sie als einzige eine egalitäre gesellschaftliche Ordnung anstrebten und die Christen von den grausamen Bedrückungen der volksreligiösen Praktiken befreiten, ist aus zwei Gründen fragwürdig: Zum einen waren die Zahlen der Bekehrten bei den Leipziger Missionaren, die anders als die englischen Missionen nicht rigoros gegen die Kastentrennung unter Christen in der Kirche vorgegangen sind, prozentual vergleichbar. Zum anderen ist die Behauptung, dass diejenigen Missionare, die gegen Kastenunterschiede gekämpft haben und ein egalitäres Gesellschaftssystem durchsetzen wollten, wesentliche Elemente der Dalit-Bewegung im 20. Jahrhundert bereits angestoßen haben, aus der Sozial- und Religionsgeschichte Tamil Nadus zu relativieren. Es hat in Tamil Nadu immer wieder Bekehrungen zu anderen Religionen in großer Zahl gegeben, um den sozialen und rituellen Status aufzubessern. Buddhismus und zahlreiche Bhakti-Bewegungen in Tamil Nadu waren in der Pallava- und Cholazeit auch deshalb erfolgreich, weil sie eine egalitäre Ethik vertreten haben.60 Und auch die buddhistische Reformbewegung unter Iyothee Thass, die sich zur Zeit von Kabis Wirken in Tamil Nadu zu einer prominenten Vertreterin der Interessen der Paraiyar erhoben hat, ist zwar eine Abspaltung von einer christlich dominierten Paraiyar-Vereinigung, eine direkter Entwicklungslinie von christlicher Predigt zu buddhistischen Anschauungen lässt sich aber eben gerade nicht nachweisen. Susan Bayly hat argumentiert, dass die Versuche, den eigenen Status durch Konversion zu verändern, insbesondere im 18. Jahrhundert Ausdruck wachsender Kastenidentität waren und nicht Ausdruck des Wunsches nach Befreiung von den unterdrückenden Strukturen des Kastensystems. Konversion war auch in früheren Jahrhunderten Ausdruck der Stabilisierung einer Gruppe in einer Sozialordnung. Daher ist auch für die Massenbewegungen unter den Paraiyar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht selbstverständlich davon auszugehen, dass durch die Predigt der Missionare 58 Report of the South Indian Missionary Conference held at Madras, January 2-5,1900, Madras 1900, S. 44 f. 59 Zwischen 1884 und 1885 wuchs die Gemeinde Mayaveram von 1306 auf 1872 Gemeindeglieder an, und 1900 wurden in der Gemeinde 905 Menschen getauft. Fleisch: Hundert Jahre, S. 193 f. 60 Vgl. Shu Hikosaka: Buddhism in Tamil Nadu. A New Perspective, Madras.1989. Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien 237 eine moderne Sozialordnung in ein traditionelles Gesellschaftssystem verändernd eingegriffen hat.61 Die Missionsgeschichtsschreibung hat die Arbeit der Missionare unter den Paraiyar bisher wesentlich als einen zentralen Beitrag zu sozialen Reformen in Indien gewertet.62 Die Arbeit unter den Paraiyar wurde in eine Reihe gestellt mit dem Kampf gegen die Witwenverbrennung satī, gegen das Devadasi-system oder die Frage der Wiederverheiratung von Witwen.63 Sie wurde aber auch in einem engen Zusammenhang mit der ärztlichen Mission und der Schularbeit diskutiert.64 Das heißt, die Motive der Missionare und ihre Sicht der sozialen Missstände waren für die Historiker ein Ansatz, in der Abschaffung dieser Missstände eine soziale Erneuerung zu sehen. So sehr dies in der Frage der Schularbeit und der ärztlichen Mission zutreffen mag, zumindest die Leipziger Arbeit unter den Paraiyar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt, dass hier weniger Neuerungen eingeführt als dass traditionelle Strukturen ausgenutzt und den sich verändernden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst wurden. 61 Susan Bayly: Saints, Goddesses and Kings. Muslims and Christians in South Indian Society 1700-1900, Cambridge u.a. 1989, S. 447. 62 Fleisch widmet dieser Arbeit in seiner Geschichte der Leipziger Mission allerdings nur einen kurzen Abschnitt und wertet den Erfolg der Arbeit unter den Paraiyar vor allem unter dem Aspekt der absoluten Zahlen von Getauften aus. Fleisch: Hundert Jahre, S. 194-198. 63 Grafe: History, S. 183 ff. 64 Z.B. Julius Richter: Indische Missionsgeschichte, Gütersloh 1924.