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Reischristen

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Andreas Nehring
"REISCHRISTEN": LUTHERISCHE MISSIONARE
UND DIE DALITS IN SÜDINDIEN UM 1900
Der englische Kulturkritiker Stuart Hall hat mehrfach dafür plädiert, kulturelle
Identitäten als "Positionierungen" zu begreifen. Identitäten, so Hall, gehen nicht in
einer "direkten, ungebrochenen Linie aus einem fixierten Ursprung hervor",
sondern sie werden gebildet innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur.
Diese Diskurse sind umstritten und Positionierungen von Identität sind Ergebnisse
von Austausch- und Abgleichungsprozessen.1
Ausgehend von diesen Überlegungen Stuart Halls zur Frage der kulturellen
Identität will ich im Folgenden fragen2, wie sich diese Positionierungspolitik im
missionarischen Kontext in Südindien im 19. Jahrhundert gestaltet hat und wie
insbesondere tamilische Dalits aus der Kaste der Paraiyar3 in den "Kontaktzonen"
von christlicher Kirche und tamilischer Agrargesellschaft positioniert worden sind
und sich positioniert haben. Der Ausdruck "Kontaktzonen", den Mary Louise
Pratt für die Analyse von Reiseliteratur in kolonialen Kontexten eingeführt hat4,
umschreibt den Raum, in dem die Interaktionen und Austauschprozesse der
interkulturellen kolonialen Begegnungen zu verorten sind, anstatt in ihnen nur
westliche Eroberung und Dominanz zu sehen. Kontaktzonen sind Orte von
Kompromissen, Widerstand, Hybridität, Adaptionen, Imitationen, und die
Einführung dieses Begriffs weist in ähnlicher Weise wie Stuart Halls Konzept der
Identitätspositionierungen auf einen, in den Kulturwissenschaften sich
vollziehenden Wandel von einem zeitlich strukturierten Identitätsdiskurs auf ein
Identitätsverständnis hin, das eher räumlich strukturiert ist. In den "Cultural
Studies" wird das Vorgehen, diese Identität zu beschreiben daher oft als
"Mapping"5 bezeichnet. Anstatt Identität zu essentialisieren, von ihren Wurzeln
her zu begreifen und den geschichtlichen Entwicklungen nachzugehen, werden
Subjekte eher dahingehend angeschaut, welche Positionen sie in den
unterschiedlichen Diskursen, die in den Kontaktzonen dominant sind, einnehmen,
sei es nun Religion, Rasse, Ethnizität, Kaste, Geschlecht oder anderes.
1
2
3
4
5
Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora, in: ders.: Rassismus und Identität. Ausgewählte
Schriften, Bd. 2, Hamburg 1994, S. 26-43.
Der Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung eines Abschnitts in einem demnächst
erscheinenden Buch zur Leipziger Mission in Südindien.
Unter kolonialem Einfluss wurde der Name dieser Kaste aus Tamil Nadu für alle "Pariah"
verwendet.
Mary Louise Pratt: Imperial Eyes.Travel Writing and Transculturation, London 1992.
Vg. z.B. Laurence J. Silberstein (Hg.): Mapping Jewish Identities, New York/London 2000.
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Andreas Nehring
"Die Karte – als unsere Allegorie von Macht und Wissen – und das Subjekt – als unsere
Allegorie von Körper und Selbst – offenbaren Identität: ihre Flüssigkeit und ihre Fixiertheit,
ihre Reinheit und ihre Hybridität, ihre Sicherheit und ihre Gefährdung, ihre Transparenz und
ihre Undurchsichtigkeit. Die Karte – als Allegorie von Raum-Zeit – und das Subjekt – als
Allegorie von Ort-in-der-Welt und Grenze-der-Welt – offenbaren, dass ‚Raum’ in aktiver
Weise konstitutiv ist für die Praktiken von Autorität und Widerstand, von der Begründung
6
von Bedeutung und dem Ersetzen von Bedeutung."
Positionierung I: Landkäufe
1893 kaufte der Leipziger Missionar Johannes Kabis 190 ha Land in
Kanachavallipuram im Madras-Distrikt in Südindien, um es an verarmte
kastenlose Paraiyar seiner Gemeinde in Pattareiperumbudur zu verpachten. Das
Land gehörte einer Brahmanenwitwe, die es an einen Großpächter namens
Kuppusami Naiker verpachtet hatte. Ein Teil des gekauften Landes war
Poramboke (Brachland), das die Kolonialregierung den landlosen Paraiyar
zugesagt hatte, das aber von Kuppusami Naiker zuvor immer wieder abgeerntet
worden war. Vor Gericht hatte Kabis für das Recht der Paraiyar gestritten, einen
Teil des Brachlandes zur Bewirtschaftung zu erhalten. In einer 1936 erscheinen
Geschichte der Leipziger Mission von Paul Fleisch heißt es lapidar: "Jetzt kamen
die Leute von Pattareiperumbudur in den Taufunterricht. Am 31. Dezember 1893
wurden die ersten 42 getauft. Scharen folgten."7
Zwischen 1871 und 1901 hat die Zahl der christlichen Population in der
Madras-Präsidentschaft in Südindien von 544.120 auf 1038.854 fast verdoppelt.8
Der Historiker Geoffrey A. Oddie hat die Taufregister der Lutherischen
Gemeinden in Tamil Nadu untersucht und dabei festgestellt, dass der prozentuale
Anstieg der christlichen Bevölkerung im Wesentlichen auf Konversionen
zurückzuführen sei.9 Die Zahl der lutherischen Christen ist in den 50er Jahren des
19. Jahrhunderts im Wesentlichen stabil geblieben. Erst in den 70er Jahren setzten
sogenannte Massenbewegungen ein, und das Wachstum der christlichen
Bevölkerung war in der Madras-Präsidentschaft zwischen 1871 und 1901 viermal
höher als das Wachstum der übrigen Bevölkerung.10 Oddie konnte ebenfalls
aufzeigen, dass die große Mehrheit der in den Jahren 1870 bis1900 getauften
Christen aus der Gruppe der "depressed castes", also der sogenannten Kastenlosen
kam. Die meisten von ihnen waren Paraiyar.
6
Steve Pile/Nigel Thrift: Mapping the Subject, in: dies (Hg.): Mapping the Subject.
Geographies of Cultural Transformation, London/New York 1995. S. 49.
7 Paul Fleisch: Hundert Jahre Lutherischer Mission, Leipzig 1936, S. 195.
8 Census of India, Bd. II, Madras 1871, S. 31-35; Census of India, Bd. XV.1, Madras 1901, S.
46.
9 Geoffrey A. Oddie: Hindu and Christian in South-East India, London 1991, S. 153.
10 Oddie: Hindu and Christian, S. 153.
Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien
227
Im August 1897 argumentierte Johannes Kabis vor der "Madras Missionary
Conference", dass es vor allem politische und wirtschaftliche Veränderungen und
die zunehmende Auflösung traditioneller Abhängigkeitsverhältnisse waren, die
dazu geführt dazu haben, dass die Kastenlosen sich dem Christentum zuwandten.
Kabis vertrat die Ansicht, dass die Paraiyar-Frage vor allem ein Problem der
Politik geworden sei.11 Koloniale Interventionen in der traditionell hierarchisch
organisierten tamilischen Gesellschaft haben vor allem in den weniger fruchtbaren
Gebieten Tamil Nadus dafür gesorgt, dass bestehende gesellschaftliche
Differenzen sich weiter vertieft haben.12 Auf den Jahrestagungen der mit dem
Nationalkongress verbundenen "Social Reform Conference" wurde die ParaiayarProblematik in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts regelmäßig diskutiert. Um
der Gefahr weiterer Massenkonversionen zum Christentum entgegenzuwirken,
wurde dazu aufgerufen sukzessive Hindu-Tempel für Dalits zu öffnen. Der
Kollektor des Chengalapattu-Distriktes J. H. A. Tremenheere sandte im März
1891 einen Bericht über die Situation der Paraiyar an die Regierung, die er,
ausgehend von einer Analyse des Dorfes Senneri, als "herzerweichend"
bezeichnete. Dieser Bericht wurde im Mai des Jahres von der "Madras Missionary
Conference" zum Anlass genommen, eine Petition bei dem Gouverneur mit
Vorschlägen zur Hebung des sozialen Status der Paraiyar einzureichen. In
Reaktion darauf erließ die Regierung 1892 eine Anordnung, dass Brachland, das
im Besitz der Regierung war, an Paraiyar und andere Kastenlose ausgegeben
werden sollte13 und dass spezielle Schulen für die Paraiyar eingerichtet werden.
Vor allem aber wurden alle Kontrakte zwischen den Mirāsidar-Landbesitzern und
Kastenlosen für ungültig erklärt, die die landlosen Arbeiter in einer, der Sklaverei
ähnlichen, Abhängigkeit hielten.14 Missionare wurden aufgefordert,
Übertretungen dieser Anordnungen anzuzeigen.
Positionierung II: Die Paraiyar als Ureinwohner des Landes
im missionarisch/kolonialen Diskurs
11 Johannes Kabis: Should Legal and Financial Help be given to Pariahs?, in: Harvest Field, 3.
Reihe, Oktober 1897, S. 361-422, hier S. 362 f.
12 Vgl. G. Aloysius: Religion as Emancipatory Identity. A Buddhist Movement amoung Tamils
under Colonialism, New Delhi 1998. S.24 ff.
13 Dazu auch: Brindavan C. Moses: A Brief Note on Panchama Land, in: Religion and Society,
47.2, 2000, S. 51-68.
14 Johannes Kabis: Bewegung unter den Pariahs im Landbezirke von Madras, in: Jahrbuch der
Sächsischen Missionskonferenz XIII, 1900, S. 69-92, hier S. 70; Hugald Grafe: The History
of Christianity in Tamilnadu from 1800 to 1975 (History of Christianity in India, 4.2),
Bangalore/Erlangen 1990, S. 215. Über die englische Arbeit unter den Paraiyar vgl. Graham
Houghton: The Impoverishment of Dependency. The History of the Protestant Church in
Madras 1870-1920, Madras 1983, S. 99 ff. Die politische Situation im Chengalpattu Distrikt
ist dargestellt worden vor allem von: Eugene Irschick: Dialogue and History. Constructing
South India, 1795-1895, Delhi 1994, S. 153 ff.
228
Andreas Nehring
In dem als "Pariah Magna Carta" gepriesenen Erlass sah Kabis einen Anstoß für
die Paraiyar, sich selbst zu organisieren. Bereits 1892 gründete sich die erste
Vereinigung gesellschaftlich etablierter christlicher Paraiyar, die sich für die
Belange der Kastenlosen einsetzte. Sie publizierte ein eigenes Vereinsorgan mit
dem Titel "Pareien". 1895 spaltete sich Iyothee Thass, eine zentrale Persönlichkeit
eine tamilischen Reformbuddhismus15, von der Vereinigung ab und gründete die
‚Adi Dravidu Jana Sabha‘. Diese Abspaltung war signifikant. Zum ersten Mal
wurde ein Begriff in die politische Debatte gebracht, der zentral wurde für die
Identitätspositionierungen südindischer Dalits. Kabis berichtet:
"Während die eine Partei mit gewissem Stolze den alten Kastennamen Pareien beibehalten
und zu Ehren bringen wollte, wünschte die andere den ominösen Namen abzuschütteln und
auch den von der Regierung offiziell für sie eingeführten Namen Panchama (Leute des
fünften Standes) wollten sie nicht annehmen, da sie doch nicht den fünften, sondern den
16
dritten Stand bildeten."
Vor allem der Erlass, den Paraiyar regierungseigenes Land zu überlassen, hatte
weitreichende Folgen. Einerseits wuchs der Widerstand der Landbesitzer,
andererseits ging mit der Vergabe von Land auch ein Projekt einher, die Paraiyar
als die Ureinwohner und ursprünglichen Besitzer des Landes zu etablieren.
Tremenheere hat ein ethnologisches Element wieder aufgenommen, dass bereits
um 1850 der Leipziger Missionsdirektor Karl Graul formuliert hat, dass nämlich
die Paraiyar ursprünglich zusammen mit den Íūdra den indigenen Kern der
indischen Bevölkerung ausgemacht haben. Auch Kabis vertrat die Ansicht, dass
die Paraiyar vor der Einwanderung der Arier eine bedeutendere gesellschaftliche
Rolle gespielt haben.
"Die Pariahs bilden den Volksteil der dravidischen Ureinwohner, die sich jener Kultur und
Religion hartnäckig widersetzten und darum unterjocht und zu Sklaven der eingewanderten
Arier gemacht wurden. Viele interessante Gebräuche bei Dorfgötzenfesten der Shudras, bei
denen die Pariahs vielfach eine Rolle spielen, die mit ihrer sonstigen Stellung sich gar nicht
17
reimt, zeigen, dass die Pariahs einst eine ganz andere Rolle gespielt haben müssen."
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der kolonialen Entdeckung der
Paraiyar als kultureller Größe, entstand auch die Vorstellung, die Paraiyar hätten
eine eigene Religion. Wie in anderen kolonialen Kontexten auch war ein Leitbild
für den Diskurs um indigene Kultur die Vorstellung einer lokalen Volksreligion.18
Um 1900 veröffentlichte der Leipziger Missionar Richard Frölich ein kleines
15 Zu Thass vgl. Aloysius: Religion, S. 50 ff.; auch: Michael Bergunder: Umkämpfte
Vergangenheit. Anti-brahmanische und hindu-nationalistische Rekonstruktionen der frühen
indischen Religionsgeschichte, in: ders./Rahul Peter Das (Hg.): Arier und Draviden.
Konstruktionen der Vergangenheit als Grundlage für Selbst- und Fremdwahrnehmungen
Südasiens, Halle 2002, S. 135-180.
16 Kabis: Bewegung, S. 70 f.
17 Kabis: Bewegung, S. 73.
18 Für den südafrikanischen Kontext vgl. David Chidester: Savage Systems. Colonialism and
Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville/London 1996.
Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien
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Büchlein mit dem Titel "Tamulische Volksreligion". Während die
philosophischen Vorstellungen der Hindus und die Religion der "höheren
Schichten" hinreichend bekannt seien, sei die "niedere Religionsform" der
Volksreligion weitgehend unerforscht. Frölich dagegen scheint "die Bekanntschaft
mit ihr zu einer wirklichen Kenntnis des indischen Geistes durchaus erforderlich
zu sein."19 Ein religionswissenschaftlicher Vergleich zum biblischen Christentum
einerseits und zu der "philosophischen Religion Indiens" andererseits könne, so
Frölich, das "tief gegensätzliche Verhältnis" zum Christentum und die
gegenseitige Abhängigkeit zum Hinduismus aufzeigen.20
Anders als Graul, der in dem Ackerbau der Arier die Grundlage für die
Ausbildung einer Kultur in Indien sah21, der sich Paraiyar und Adivasi widersetzt
haben, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Kabis und anderen den Paraiyar eine
kulturtragende Rolle zugeschrieben, da sie die eigentlich Produzierenden der
indischen Gesellschaft waren.
"Da sie fast ausschließlich Feldarbeiter sind und vom Ackerbau leben, so sind sie nicht etwa
der Hefe abendländischer Völker, den Proletariern Europas zu vergleichen, sondern sie sind
ein Volk, von deren Existenz und Arbeit die Wohlfahrt der ganzen anderen Bevölkerung
22
abhängt."
Das kulturelle Projekt, die Paraiyar, als eine genuine tamilische Bauernklasse zu
repräsentieren und durch Verpachtung von Land zu fixieren, sollte auch kirchliche
Auswirkungen für die Gemeindestrukturen haben. "Der Pariah ist sehr konservativ
und hängt sehr zäh an der Scholle, auf der er geboren ist."23 Der Adidravida als
Ureinwohner eignet sich daher auch in besonderer Weise als Basis für die Kirche.
"Es ist ohne Frage providentiell, dass in Indien, dem Lande der Kaste, die Niedrigsten zuerst
berufen worden sind. Die Entwicklung von unten nach oben ist auch in der Kirche immer die
24
erfolgreichste und gesegnetste gewesen."
Deutlich wird hier die Differenz zu Karls Grauls in den 50er Jahren des 19.
Jahrhunderts. geäußerter Überzeugung, dass die Íūdra den "sittlichen Kern" des
tamilischen Volkes darstellten, während die Paraiyar sittlich verkommen seien.
Während die ÍËdra unter Einfluss der Arier gelernt hätten, das Land zu bebauen,
seien die Paraiyar, die ins Brachland und in die Berge geflüchtet sind, nie ganz
aus ihrem ursprünglichen Nomadentum herausgekommen.25
19 Richard Frölich: Tamulische Volksreligion. Ein Beitrag zu ihrer Darstellung und Kritik,
Leipzig o. J., S. 5.
20 Frölich: Volksreligion, S. 7.
21 Karl Graul: Die Kaste und die Mission, in: Missionsnachrichten der Ostindischen
22
23
24
25
Missionsanstalt zu Halle (MOIMH), Bd. VII, 1855, S. 67.
Kabis: Bewegung, S. 74.
Kabis: Bewegung, S. 88.
Kabis: Bewegung, S. 91.
Karl Graul: Der Herrn Missions-Direktors Karl Graul Mittheilungen aus einer Missionsreise
nach Ostindien. Elfte Abteilung, in: MOIMH, Bd. IV, 1-4, 1852, S. 55 ff.
Andreas Nehring
230
"Ein geistig und sittlich ganz und gar verkommenes Völklein! Man weiß oft nicht, soll man
sich mehr über ihren bodenlosen Stumpfsinn, oder mehr über ihre sittliche Haltlosigkeit
26
wundern und betrüben. Unter ihnen blühet das Laster der Trunksucht in hohem Grade."
Zwar erkennt Graul die Gründe für diesen Zustand der Paraiyar auch in der
Unterdrückung durch Angehörige anderer Kasten, die Trennung der Kasten
voneinander stellt er aber nicht in Frage, da er in ihr einen Schutz der höheren
Kasten und ein "knöchernes Absperrungs-System" vor sittlichem Verfall sieht.
Die sozialen Bedingungen, unter denen die Paraiyar leiden, werden diesen selbst
angelastet und als Ausdruck geistiger Verkommenheit gewertet.
Eugene Irschick hat darauf hingewiesen, dass das Brachland als Ort der
Pariyar im 19. Jahrhundert zu einem epistemischen Ort für moralischen
Niedergang geworden ist.27
Die vormalige Ausgrenzung der Paraiyar aus dem Diskurs um religiöse und
kulturelle Identität Tamil Nadus wirkte sich aber auch zu Beginn des 20.
Jahrhunderts noch auf die Missionsarbeit aus. Zwar hatten die Leipziger
Missionare von Anfang an auch unter den Paraiyar gearbeitet, aber der
missionsstrategische Plan der Bildung einer tamilischen Volkskirche richtete sich
in erster Linie auf die Arbeit unter den anderen tamilischen Kasten insbesondere
den Vellalar. Graul war der Ansicht: "es wäre in der Tat traurig, wenn die
Heranbildung eines eingeborenen Lehrstandes auf eine Volksklasse, wie die
Pariahs, beschränkt sein müsste"28. Angesichts der realen Strukturen der
Missionsgemeinden in der Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Befürchtung
Grauls reichlich überzogen. Erst am 3. Advent 1890 wurde mit Samuel der erste
Paraiyar als Pfarrer ordiniert, der in Manikrammam eingesetzt wurde, einer
Gemeinde, die ausschließlich aus Paraiyar bestand.29
Die Sozialstruktur der Gemeinden der Lutherischen Mission hat sich in diesen
Jahren von überwiegend urbanen, gebildeten und hochkastigen Gliedern zu einer
vorwiegend von Kastenlosen geprägten Kirche gewandelt. Viele der lutherischen
Dorfgemeinden setzten sich aus Christen ausschließlich aus einer Kaste
zusammen.
Positionierung III: Die Etablierung der neuen/alten Ordnung
Kabis unterschied drei Paraiyar-Gruppen, diejenigen, die in einer
Schuldenabhängigkeit von dem Landbesitzer in der Sklaverei ähnlichen
26 Karl Graul: Reise nach Ostindien über Palästina und Ägypten, IV. Teil, 1855, S. 207; Graul:
Mittheilungen, XI, S. 70 f.
27 Irschick: Dialogue, S. 179.
28 Graul: Reise IV, S. 210.
29 Zur Ordination von Samuel vgl. Evangelisch Lutherisches Missionsblatt (ELMB), 1891, S.
161 ff. Samuel stieß schon ein Jahr nach seiner Ordination auf Probleme mit Kastenhindus,
die seine Position nicht akzeptierten und ihn mehrfach überfielen und mit Stöcken schlugen,
vgl. ELMB 1892, S. 287 f.
Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien
231
Verhältnissen stehen, die paiyā¬,30 diejenigen, die für täglichen Lohn arbeiten, die
kuliyā¬, und diejenigen, die ein Stück Land mit ihren eigenen Ochsen bearbeiten
und an den Besitzer eine Pacht zahlen (kuakai, Kabis: kuddachei)31 oder von ihm
einen Teil des Ertrages (varam) erhalten, die varamaÒ.
Das Land, das Kabis für die Bewohner des Dorfes Pattareiperumbudur kaufte,
wurde nach dem varam-System bewirtschaftet.32 Die Paraiyar-Pächter, die zuvor
für einen Großpächter gearbeitet hatten, der das Saatgut lieferte und dem sie 60
Prozent der Ernte als Pacht zahlen mussten, gingen nun alle zur Mission über und
ließen sich daraufhin taufen. Sowohl paiyā¬ als auch kuakai waren in dem
mirāsi-System nicht nur Abhängige der Landbesitzer, sondern sie gehörten zum
Land. Daher konnten sie zusammen mit dem Land verkauft und in den Dienst
neuer Besitzer übergeben werden. Obwohl die Sklaverei in Indien bereits 1833
durch die britische Regierung abgeschafft worden war, haben dennoch Ende des
19. Jh.s bei Landverkäufen solche Transfers von abhängigen Schuldner der
mirāsidar stattgefunden. Kabis setzte sich immer wieder vor Gericht für die
Kastenlosen ein, um ihre Rechte durchzusetzen und diese Schuldenübertragung zu
unterbinden.33
Er war aber dennoch skeptisch gegenüber dem Vorschlag von Tremenheere,
den Paraiyar eigenständig Land zu überlassen bzw. sie auf regierungseigenem
Land anzusiedeln. Das Konzept, das die Leipziger Mission vertrat, bestand eher
darin, traditionelle Abhängigkeitsstrukturen zunächst nicht abzuschaffen, sondern
Abhängigkeit zu verlagern. Zwar war es Kabis' Ziel, das gekaufte Land langfristig
den Paraiyar als ihr Eigentum zu übertragen, die Befürchtung, dass sich die
Besitzer kleiner Landparzellen schnell wieder neu verschulden und in
Abhängigkeit von mirāsidars zurückfallen könnten, bewog aber die Leipziger
Mission, das erworbene Land zunächst an die Paraiyar nur zu verpachten.34 Damit
praktizierten die Missionare nicht nur ein Zamindari-Recht, sondern sie führten,
wie Henriette Bugge auch für die dänische Missionspraxis gezeigt hat35, das
30 Zum Problem der Sklaverei in Tamil Nadu vgl. Sundararaj Manickam: Slavery in the Tamil
Country: A Historical Overview, 2. Aufl., Madras 1993.
31 Kathleen Gough berichtet, dass kuakai Bewirtschaftung im Tanjore Distrikt für Palla und
32
33
34
35
Paraiyar nicht zulässig war. Katheleen Gough: Caste in a Tanjore Village, in: E. R. Leach
(Hg.): Aspects of Caste in South India, Ceylon and North-West Pakistan, Cambridge 1969, S.
11-60, hier S. 26.
Zu weiteren Landkäufen durch die Lutherische Mission vgl. Paul Fleisch: Hundert Jahre
lutherischer Mission, Leipzig 1936, S. 195 ff.
Z.B. ELMB, 1888, S. 230 f.
ELMB, 1900, S. 425; Johannes Kabis: Sechs neue Gemeinden im Landbezirk von Madrás.
Bilder aus der Pariabewegung, in: Palmzweige vom Ostindischen Missionsfelde, größere
Serie Nr.15, Leipzig, S. 8. Englische Missionare haben ähnliche Überlegungen angestellt, vgl.
dazu A. Andrew: The practical working of Panchama Settlements, in: Harvest Field, Mai
1898, S. 166-175.
Henriette Bugge: Mission and Tamil Society. Social and Religious Change in South India
(1840-1900), Richmond Surrey 1994, S. 161 ff. Zu Rājadharma in Tamil Nadu im 19.
Jahrundert vgl. Pamela Price: Raja –dharma in 19th Century South India. Land, litigation and
largess in Ramnad Zamindari, in: Contributions to Indian Sociology, N.S., 13.2, 1979, S. 207-
232
Andreas Nehring
traditionelle Konzept des rājadharma weiter, das von den mirāsidars im
Chengalapattu-Distrikt aufgrund politischer, legaler und wirtschaftlicher
Veränderungen und der damit zusammenhängenden rechtlichen Lösung der
Abhängigkeitsverhältnisse
von
Landarbeitern
zunehmend
weniger
wahrgenommen wurde. Rājadharma beinhaltet die Aufgabe des Herrschers,
Wohlstand, Frieden, Gerechtigkeit und dharmische Ordnung in seinem
Herrschaftsbereich zu sichern.36 Rājadharma war damit ein Konzept, das
spirituelle wie materielle Ordnung garantieren sollte.
Graul vermutete 1855, dass der Kastentitel für die Paraiyar ‚petta pillai‘
(Kind von Hause) auf eine Ordnung hindeute, in der die Vellalar den Paraiyar
gegenüber Verantwortung zu übernehmen hätten.37 Die Lücke der spirituellmateriellen Versorgung wurde aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
auch nicht durch die britische Kolonialregierung aufgefangen. Die königliche
Erklärung von 1858, die jedem indischen Bürger das Recht auf freie
Religionsausübung zugesprochen hatte und ausdrücklich davon Abstand nahm,
die eigene religiöse Überzeugung den Untertanen aufzuerlegen, erklärte
gleichzeitig auch die traditionellen Landrechte für gültig.38 Die
Kolonialadministration konnte, basierend auf dieser Politik der Neutralität,
Gesetze wie die "Pariah Magna Carta" zwar erlassen, sie war aber, so Kabis, nicht
in der Lage, selbst die Verantwortung für die in die Freiheit entlassenen Paraiyar
zu übernehmen. Allein die Missionare hätten sich bisher in wirklicher
"Barmherzigkeit und Liebe" den Paraiyar zugewandt.39 Die Leipziger Missionare
haben auf ihrer Synode in Tranquebar am 8. Februar 1892 beschlossen, die
vakante rājadharma-Ordnung zu übernehmen.
"Da das naturgemäße und geschichtlich gewordene Hörigkeitsverhältnis der Parias zu den
Grundherrn durch die Annahme des Christentums von Seiten der Hörigen vielfach unmöglich
und hinfällig geworden ist, weil es nicht nur auf einem Vertrage zwischen Arbeit und Lohn
beruht, sondern in gewissem Sinne ein Lebens- und Pietätsverhältnis war, liegt nicht für die
Mission die Verpflichtung vor, ihnen ein ähnliches Verhältnis zu bieten? In der Tat ist es ein
solches Verhältnis, das die Parias mehr oder weniger bewusst suchen, wenn sie das
239.
36 Kane betont, dass in Dorfgemeinschaften das Konzept von Rājadharma ebenso Gültigkeit
besitzt wie für den gesamten Staat. Pandurang Vaman Kane: History of Dharmasastra, Bd.
III, 3. Aufl., Poona 1993, S. 157.
37 Graul bemerkt jedoch zugleich, dass dieses Konzept die Wirklichkeit der
Abhängigkeitsstrukturen verschleiern würde. Graul: Reise IV, S. 189; Schreibweise bei
Graul.
38 "We disclaim alike the right and the desire to impose Our own convictions on any of Our
subjects. [...] We know and respect the feelings of attachment with which the natives of India
regard the lands inherited by them from their ancestors, and We desire to protect them in all
rights connected therewith; subject to the equitable demands of the State; and We will that
generally, inframing and adminstering the law, due regard be paid to the ancient rights,
usages, and customs of India." Auszüge der Erklärung der Königin auch in Stephen Neill: A
History of Christianity in India, Bd. II: 1707-1858, Cambridge 1985.
39 Kabis: Bewegung, S. 72.
Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien
233
Christentum annehmen. [...] Das Verhältnis der Eingeborenen zu den Europäern müsste auf
höherer Stufe dasselbe sein wie das jetzige Verhältnis der Hörigen zu ihren Grundbesitzern –
40
väterliches und wo nötig auch strenges Regiment und kindlicher Gehorsam."
Missionar Georg Stosch war der Ansicht, dass die Mission ein Zamindariat mit
einem deutschen Landwirt als Verwalter einrichten sollte, um christlichen
Paraiyar zu helfen. Die Missionsleitung hatte diesem Plan, der auch auf der
Tranquebarer Synode verabschiedet wurde, zunächst zugestimmt, ab 1899 aber
weiter Landkäufe durch die Missionare untersagt. Kabis wurde in mehreren
Dörfern, die er im Auftrag der Mission als Grundbesitzer verwaltete, als ein
geistiger Führer angesehen, dem die bekehrten Paraiyar als Zeichen ihrer
Unterwerfung Kultgegenstände und Götterstatuen aushändigten.41 Von den
Irulern, einem nomadisierenden Volk von Waldbewohnern42, das durch
Ansiedlung auf von der Regierung überlassenem Gebiet mit Hilfe der Mission
sesshaft gemacht werden sollte, wird sogar berichtet, dass sie in einigen Dörfern,
die zu der Gemeinde Andimadam gehörten, bis 1903 in einem paˆˆaiyā¬Verhältnis gestanden haben, das heißt in einem sklavenähnlichen Verhältnis. Von
den Engländern wurde das paˆˆaiyā¬-System bereits Mitte des 19. Jahrhunderts
als Sklaverei gebrandmarkt43, in Gemeinden der Leipziger Mission, in denen
dieses System übernommen worden war, wie in Velichangudi, wurde es jedoch
erst 1903 aufgrund von wirtschaftlichen Verlusten im Ackerbau abgeschafft und
in ein Pachtverhältnis umgewandelt.44
Schomerus hat als Nachfolger von Kabis in Pandur dessen langfristiges Ziel,
die christlichen Paraiyar in die Unabhängigkeit von selbstständigen Kleinbauern
zu entlassen, so umgesetzt, dass er christliche Paraiyar-cheris in den zu Pandur
gehörigen Gemeinden nach dem Prinzip des panchajatirāj organisierte.45 Dadurch
wurden die Christen so weit in die nichtchristliche Umgebung integriert, dass
40 ELMB, 1892, S. 152 ff.
41 Kabis: Sechs Gemeinden, S. 23. Gehring berichtet, dass sie Kabis eine Vishnustatue aus
42
43
44
45
ihrem Dorf als Geschenk überreichten, um, wie er meint, den völligen Bruch mit dem
"Heidentum" zu dokumentieren. Alwin Gehring: Johannes Kabis. Ein Vater der Paria,
Leipzig o.J., S. 51.
Die Iruler gehörten offiziell zu den Íūdras, durch intensive Rodungen der Wälder sind sie
jedoch aus ihrem Lebensraum vertrieben und gezwungen worden, sich als abhängige
Landarbeiter ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Vgl. ELMB, 1894, S. 263; ELMB, 1904, S.
411; ELMB, 1905, S. 545 f.
William Adam: The Law and the Custom of Slavery in British India, Boston 1840, S. 177.
Der Landprediger Joseph schreibt: "Gegenwärtig sind in Wölitschangudi (d.H. Lichthausen)
15 Irulerfamilien und in dem benachbarten Kilneduwai fünf Padeiātschis angesiedelt. Diese
Iruler standen bis 1902/03 zur Mission im ‚Pannei-‚ (d.h. Hörigen-) Verhältnis, das der
Mission große Verluste eingetragen hat." ELMB, 1905, S. 546; zu den paˆˆaiyā¬s vgl. auch
Irschick: Dialogue, S. 33 f.
"Unsere Gemeindeversammlungen sind im wesentlichen Pantschayats nach dessen
bestimmten Regeln, und Ordnungen und Beschlüsse werden nach den Regeln der Kaste
gefaßt." ELMB, 1911, S. 378.
234
Andreas Nehring
auch Hindus die christlichen Oberhäupter des Paraiyar-cheri anerkannten und die
Beschlüsse der von Christen besetzten panchajats respektierten.46
Positionierung IV: "Reischristen" oder "echte" Christen?
In der Missionsgeschichtsschreibung werden immer wieder theologische
Argumente hervorgehoben, die Kabis dazu bewogen haben, Land für die Mission
zu kaufen.47 Kabis selbst hat die materielle Hilfe, die die Mission den Paraiyar
zukommen ließ, als Wegbereitung für das Reich Gottes bezeichnet und betont,
dass es nicht die Aufgabe der Mission sei, "nach dem Evangelium der neuen
Socialisten die Armut aus der Welt schaffen zu helfen"48. In der Situation der
Paraiyar sah er eine gratia praeveniens, da durch die Notlage die Armen zu Gott
geführt würden.49 In der Katechumenatsordnung der Tranquebarer Synode, auf
die sich Kabis in diesem Zusammenhang berief, wurde materielle Not als Grund
dafür, die Taufe zu begehren, nicht grundsätzlich abgelehnt, die Predigt vom
Reich Gottes jedoch als die Hauptaufgabe der missionarischen Zuwendung zu den
Paraiyar bezeichnet.50
Es ist unmöglich zu beurteilen, welchen Eindruck die Predigt vom Reich
Gottes und die in den Missionsberichten immer wieder erwähnten Bilder von der
Hölle in den Predigten der Missionare auf die Hilfe suchenden Paraiyar gemacht
hat, da keine Briefe oder Berichte von Paraiyar-Christen vorhanden sind.51 Man
kann nur feststellen, dass es in zahlreichen lutherischen Gemeinden in Zeiten
relativen Wohlstandes Abfälle vom Christentum unter den Paraiyar gegeben hat,
dass aber in denjenigen Gemeinden, in denen Land nach dem rājadharma Prinzip
verwaltet wurde, die Rekonversionen geringer waren.52 Die Rekonvertiten deuten
zumindest darauf hin, dass die Predigt von einem jenseitigen Reich Gottes als
Modell von Erlösung in vielen Fällen nicht zu einem als sinnvoll erfahrenen
46 ELMB, 1911, S. 375 ff.
47 Oddie: Hindu and Christian, S. 159; Houghton: Impoverishment, S. 119.
48 Kabis: Bewegung, S. 85; Kabis: Legal Help, S. 421. "So fern es uns liegen muß und so wenig
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es auch unsre Aufgabe sein kann, mit neuen sozialpolitischen Plänen den Parias aufzuhelfen
oder für ihre Emanzipation (Befreiung) zu agitieren, so ist es doch unsere christliche Pflicht,
denen, die Christen geworden, auch in ihren leiblichen Nöten zu helfen". ELMB, 1897, S.
376.
Kabis: Bewegung, S. 79.
"Findet sich, dass die nächste Veranlassung zum Begehr der Taufe der Wunsch ist, von dem
Missionar Hilfe im Irdischen zu empfangen, so sind die Bewerber deshalb nicht ohne
weiteres zurückzuweisen. Es soll ihnen aber zugleich ernstlich zu Gemüte geführt werden,
dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt sei, und dass die Nachfolge Christi keine
irdischen Vorteile, sondern Kreuz und Trübsal bringe." Zitiert bei Kabis: Bewegung, S. 79.
Z.B. schreibt Kabis: "Ich ermahnte sie auf das Eindringlichste, malte ihr Himmel und Hölle
vor die Augen, aber nichts schien auf ihr kaltes, hartes Herz Eindruck zu machen." ELMB,
1888, S. 229. Dieses Problem sieht auch Oddie: Hindu and Christian, S. 161.
Fleisch: Hundert Jahre, S. 198.
Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien
235
Modell für Welt und Selbstauffassung der Paraiyar geworden ist.53 Missionar
Frölich erklärt diese Probleme der Mission, indem er die Religion der Tamilen als
Diesseitsreligion konstruiert, eine Religion, die von der "echten" Religion des
Christentum zu unterscheiden sei, letztlich aber auch von der "philosophischen
Religion" des Hinduismus.
"Um den Satz ‚Das Christentum ist für uns unmöglich’ zu verstehen, muß man die Tatsache
ins Auge fassen, dass die tamulische Volksreligion wesentlich Diesseitsreligion ist, eine
Verehrung übermenschlicher Mächte (‚Götter’) durch Gelübde und kultische Leistungen, die
54
man tut, um irdische Gaben oder Beistand in irdischer Not zu erlangen".
Da die Lutherischen Kirche ihre Missionsstrategie in den ersten Jahren der
Massenkonversionen zum Christentum zunächst nicht wesentlich geändert hat,
stellt sich die Frage nach den Gründen für dieses Phänomen. Ein Problem, diese
Frage zu beantworten, ist die einseitige Quellenlage. Die kastenlosen Christen
haben wie die meisten unterdrückten und der Schriftsprache nicht mächtigen
Gesellschaftsschichten kein oder nur wenig schriftliches Material hinterlassen, das
ihre Bekehrungsmotive dokumentieren könnte. Alle Spekulationen über diese
Motive sind daher im wesentlichen auf soziologische Analysen und die Berichte
von Missionaren angewiesen.55 Protestantische Missionare standen den
Massenbekehrungen zunächst kritisch gegenüber, da die Konvertiten in
Kastengruppen kamen und die Entscheidung zur Konversion ganzer Gruppen oder
Dörfer von den Kastenführern, dem Kasten-panchayat, oder den Ältesten eines
Dorfes getroffen wurden.56 Bereits 1879 wurde auf der Missions-Konferenz für
Südindien und Ceylon nach den Motiven der Konvertiten gefragt, über das
Verhältnis von Spiritualität und materieller Hilfe für die Armen diskutiert und
letztere als eine notwendige und dringliche Angelegenheit für die missionarische
Arbeit bezeichnet.57
Auf der Südindischen Missionskonferenz im Jahr 1900 wurden dann fünf
Gründe, die für die Massenbewegungen unmittelbar ausschlaggebend gewesen
seien, angeführt: 1. die Überzeugung, dass das Christentum die wahre Religion
sei; 2. das Wissen, dass diejenigen die Christen geworden waren, charakterliche
und gesundheitliche Verbesserung erfahren haben; 3. der Schutz vor
53 Vgl. dazu Clifford Geertz: Religion als Kulturelles System, in: ders.: Dichte Beschreibung.
Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987, S. 47.
54 ELMB 1913, S. 506.
55 Zahlreiche Analysen der Massenbewegungen zum Christentum sind bisher erschienen:
Waskom Pickett hat als Direktor der Abteilung "Mass Movement Study" des Nationalen
Kirchenrates von Indien 1933 eine erste grundlegende Studie vorgelegt. Waskom Pickett:
Christian Mass Movements in India. A Study with Recommendations 1933 (Reprint:
Lucknow 1969). Siehe auch Studien bei Duncan Forrester: Caste and Christianity. Attitudes
and Politics on Caste of Anglo-Saxon Protestant Missions in India, London 1980; Sundararaj
Manickam: The Social Setting of Christian Conversion in South India, Wiesbaden 1977;
Oddie: Hindu and Christian, S. 153 ff. Dazu auch ELMB, 1899. S. 261 f.
56 Kabis berichtet von einer Bekehrung des Cheri im Dorf Tombur durch die Entscheidung des
"Häuptlings". Kabis: Sechs Gemeinden, S. 10 f.
57 The Missionary Conference: South India and Ceylon 1879, Vol. I, Madras 1880, S. 55.
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Andreas Nehring
Unterdrückung und materielle Hilfe durch die Missionare; 4. der Wunsch nach
besserer Schulbildung; 5. der Einfluss christlicher Verwandter.58 Die
Argumentationsstruktur dieses Kriterienkataloges impliziert, dass die Bekehrten
von der Mission auch das bekamen, was sie von ihr erwarteten. Allerdings wurde
diese Erwartungshaltung auch immer wieder kritisch hinterfragt, was sich z.B. in
dem in der Missionsgeschichtsschreibung zu einem festen Begriff ausgeprägten
Wort ‚Reischristen‘ niedergeschlagen hat.
Auffällig ist in der Tat, dass die Zahl der Christen in Tamil Nadu während der
großen Hungersnöte zunahm und dass oft ganze Familien oder Dörfer konvertiert
sind.59 Dennoch ist zu fragen, ob die Gründe, die die Missionare für die
Massenbekehrungen angeführt haben, auch wirklich den Erwartungen der
kastenlosen neuen Christen entsprochen haben. Insbesondere das Argument, die
Missionskirchen seien deshalb attraktiv, weil sie als einzige eine egalitäre
gesellschaftliche Ordnung anstrebten und die Christen von den grausamen
Bedrückungen der volksreligiösen Praktiken befreiten, ist aus zwei Gründen
fragwürdig: Zum einen waren die Zahlen der Bekehrten bei den Leipziger
Missionaren, die anders als die englischen Missionen nicht rigoros gegen die
Kastentrennung unter Christen in der Kirche vorgegangen sind, prozentual
vergleichbar. Zum anderen ist die Behauptung, dass diejenigen Missionare, die
gegen Kastenunterschiede gekämpft haben und ein egalitäres Gesellschaftssystem
durchsetzen wollten, wesentliche Elemente der Dalit-Bewegung im 20.
Jahrhundert bereits angestoßen haben, aus der Sozial- und Religionsgeschichte
Tamil Nadus zu relativieren. Es hat in Tamil Nadu immer wieder Bekehrungen zu
anderen Religionen in großer Zahl gegeben, um den sozialen und rituellen Status
aufzubessern. Buddhismus und zahlreiche Bhakti-Bewegungen in Tamil Nadu
waren in der Pallava- und Cholazeit auch deshalb erfolgreich, weil sie eine
egalitäre Ethik vertreten haben.60 Und auch die buddhistische Reformbewegung
unter Iyothee Thass, die sich zur Zeit von Kabis Wirken in Tamil Nadu zu einer
prominenten Vertreterin der Interessen der Paraiyar erhoben hat, ist zwar eine
Abspaltung von einer christlich dominierten Paraiyar-Vereinigung, eine direkter
Entwicklungslinie von christlicher Predigt zu buddhistischen Anschauungen lässt
sich aber eben gerade nicht nachweisen. Susan Bayly hat argumentiert, dass die
Versuche, den eigenen Status durch Konversion zu verändern, insbesondere im
18. Jahrhundert Ausdruck wachsender Kastenidentität waren und nicht Ausdruck
des Wunsches nach Befreiung von den unterdrückenden Strukturen des
Kastensystems. Konversion war auch in früheren Jahrhunderten Ausdruck der
Stabilisierung einer Gruppe in einer Sozialordnung. Daher ist auch für die
Massenbewegungen unter den Paraiyar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
nicht selbstverständlich davon auszugehen, dass durch die Predigt der Missionare
58 Report of the South Indian Missionary Conference held at Madras, January 2-5,1900, Madras
1900, S. 44 f.
59 Zwischen 1884 und 1885 wuchs die Gemeinde Mayaveram von 1306 auf 1872
Gemeindeglieder an, und 1900 wurden in der Gemeinde 905 Menschen getauft. Fleisch:
Hundert Jahre, S. 193 f.
60 Vgl. Shu Hikosaka: Buddhism in Tamil Nadu. A New Perspective, Madras.1989.
Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien
237
eine moderne Sozialordnung in ein traditionelles Gesellschaftssystem verändernd
eingegriffen hat.61
Die Missionsgeschichtsschreibung hat die Arbeit der Missionare unter den
Paraiyar bisher wesentlich als einen zentralen Beitrag zu sozialen Reformen in
Indien gewertet.62 Die Arbeit unter den Paraiyar wurde in eine Reihe gestellt mit
dem Kampf gegen die Witwenverbrennung satī, gegen das Devadasi-system oder
die Frage der Wiederverheiratung von Witwen.63 Sie wurde aber auch in einem
engen Zusammenhang mit der ärztlichen Mission und der Schularbeit diskutiert.64
Das heißt, die Motive der Missionare und ihre Sicht der sozialen Missstände
waren für die Historiker ein Ansatz, in der Abschaffung dieser Missstände eine
soziale Erneuerung zu sehen. So sehr dies in der Frage der Schularbeit und der
ärztlichen Mission zutreffen mag, zumindest die Leipziger Arbeit unter den
Paraiyar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt, dass hier weniger
Neuerungen eingeführt als dass traditionelle Strukturen ausgenutzt und den sich
verändernden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst wurden.
61 Susan Bayly: Saints, Goddesses and Kings. Muslims and Christians in South Indian Society
1700-1900, Cambridge u.a. 1989, S. 447.
62 Fleisch widmet dieser Arbeit in seiner Geschichte der Leipziger Mission allerdings nur einen
kurzen Abschnitt und wertet den Erfolg der Arbeit unter den Paraiyar vor allem unter dem
Aspekt der absoluten Zahlen von Getauften aus. Fleisch: Hundert Jahre, S. 194-198.
63 Grafe: History, S. 183 ff.
64 Z.B. Julius Richter: Indische Missionsgeschichte, Gütersloh 1924.
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