Uploaded by Carl Ehlers

2021 Book PahlBeitzKonstruktionslehre

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Beate Bender
Kilian Gericke Hrsg.
Pahl/Beitz
Konstruktionslehre
Methoden und Anwendung
erfolgreicher Produktentwicklung
9. Auflage
Pahl/Beitz Konstruktionslehre
Beate Bender · Kilian Gericke
(Hrsg.)
Pahl/Beitz
­Konstruktionslehre
Methoden und Anwendung erfolgreicher
Produktentwicklung
Hrsg.
Beate Bender
Ruhr-Universität Bochum
Bochum, Deutschland
Kilian Gericke
Universität Rostock
Rostock, Deutschland
ISBN 978-3-662-57302-0
ISBN 978-3-662-57303-7 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7
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Planung/Lektorat: Michael Kottusch
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Vorwort zur 9. Auflage
Nach acht erfolgreichen deutschen Auflagen und Übersetzungen in neun Sprachen freuen
wir uns, als Herausgeber der 9. Auflage des Pahl/Beitz in die Erfolgsgeschichte des
Lehrbuchs zur Konstruktionslehre und methodischen Produktentwicklung einzusteigen.
Die Vorarbeiten der Kollegen Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote, deren
Anliegen nach der Integration aktueller Inhalte und hoher Praxisrelevanz im Wechsel
vom Autoren- zum Herausgeberwerk mündete, ermöglichte uns eine hervorragende
Grundlage für diese neue Auflage. Wir werden der Tradition von Gerhard Pahl, Wolfgang
Beitz, Jörg Feldhusen, Karl-Heinrich Grote folgen und den Leserinnen und Lesern
aktuelle Themen und Forschungsergebnisse mit Praxisrelevanz präsentieren. Gleichzeitig liegt uns die Aufrechterhaltung des noch heute aktuellen Kerns der Konstruktionsmethodik am Herzen, wie sie von Gerhard Pahl und Wolfgang Beitz entwickelt und
erprobt wurde.
Das Buch „Pahl/Beitz Konstruktionslehre“ hat seit der ersten Auflage das Ziel verfolgt, angehenden und erfahrenen Konstrukteuren und Entwicklerinnen eine Hilfestellung und Orientierung für ihre Arbeit zu bieten. Die Inhalte erfüllten dabei immer
zwei Anforderungen. Vorgestellte Methoden und Hilfsmittel sollten in der Praxis bewährt
und gleichzeitig wissenschaftlich fundiert sein. Dieser Anspruch hat dieses Werk bekannt
gemacht und seinen Erfolg als Standardwerk in der Lehre begründet.
Die Zielgruppe dieses Werks sind Studierende ingenieurwissenschaftlicher Fachrichtungen sowie erfahrene Ingenieurinnen und Ingenieure aus der Praxis, die ihre
Arbeitsergebnisse nicht dem Zufall überlassen sowie ihre Arbeitsweise effizient gestalten,
dokumentieren und weitervermitteln wollen.
Das Buch ist in fünf Hauptteile gegliedert. Während Teil I die Grundlagen darstellt, orientieren sich die Teile II bis IV an den Hauptentwicklungsphasen Klären der
Aufgabenstellung, Konzipieren und Gestalten. Im Teil V werden Begleitprozesse der
Produktentwicklung beschrieben. Bewährte Inhalte wie die Gestaltungsprinzipien und
die Mehrheit der Gestaltungsregeln wurden beibehalten. Diverse andere Themen wie
zum Beispiel Produktarchitektur, Gestaltung für additive Fertigung oder die Arbeitsschritte der Gestaltung wurden umfangreich überarbeitet. Neue Inhalte wie Nutzerzentriertes Design, der Umgang mit Anforderungen, Ökodesign und Projektmanagement
V
VI
Vorwort zur 9. Auflage
wurden aufgenommen. Das bestehende Autorenteam aus kompetenten Forschern und
Experten aus der Praxis ist für diese 9. Auflage somit weiter angewachsen. Wir möchten
daher an dieser Stelle auch all den Autoren danken, die intensiv an der Überarbeitung des
Buches mitgewirkt haben.
Wir sind stolz darauf, das Lehrbuch, dass unser beider Ausbildung und Berufsleben
in der Hochschule und Industrie geprägt hat, nun als Herausgeber weiterführen zu
können und sind gespannt auf Anregungen für die Weiterentwicklung in den kommenden
­Auflagen!
Rostock Bochum
im April 2020
Kilian Gericke
Beate Bender
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beate Bender und Kilian Gericke
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I
2
3
1
5
Grundlagen
Grundlagen technischer Systeme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Kilian Gericke, Beate Bender,
Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
2.1
System, Anlage, Apparat, Maschine, Gerät, Baugruppe, Einzelteil . . . . . 2.2
Energie-, Stoff- und Signalumsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3
Funktionszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4
Wirkzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5
Bauzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6
Systemzusammenhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung. . . . . . . . Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz,
Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
3.1
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1
Produktentwicklung als Problemlöseprozess . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2
Produktentwicklung als Informationsumsatz . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3
Produktentwicklung als iterativer Prozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4
Produktentwicklung als Koevolution von
Problem und Lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2
Vorgehensstrategien der methodischen Produktentwicklung . . . . . . . . . . 3.3
Allgemein anwendbare Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
9
11
14
18
22
22
24
27
27
28
36
37
39
39
49
54
VII
VIII
4
Inhaltsverzeichnis
Der Produktentwicklungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz,
Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
4.1
Produktlebenszyklus und Produktentstehungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . 4.2
Modelle des physikalischen Produkts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3
Modell des Produktentwicklungsprozesses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1
Allgemeiner Lösungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2
Allgemeines Vorgehensmodell der Produktentwicklung. . . . . . . 4.3.3
Begleitprozesse der Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4
Erstellung und Gebrauch von Prozessmodellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5
Entwicklung kontextspezifischer Produktentwicklungsprozesse . . . . . . . 4.6
Alternative Prozessmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1
Klassifizierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2
Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3
Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II
5
57
58
59
61
61
65
73
74
75
80
80
82
82
90
Klären der Aufgabenstellung
Produktplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Kreimeyer, Werner Seidenschwarz und Matthias Rehfeld
5.1
Abgrenzung der Produktplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2
Vorgehensmodelle zur Produktplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3
Zentrale Grundmethoden in der Produktplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4
Unternehmens- und Produktstrategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4.1
Ebenen der Strategie und Einfluss auf das Produkt. . . . . . . . . . . 5.4.2
Einflüsse und Rahmenbedingungen zur Produktstrategie. . . . . . 5.5
Portfolioplanung und -management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1
Das Portfolio (Produktportfolio, Technologieportfolio). . . . . . . 5.5.2
Planung der Produktroadmap . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6
Planung einzelner Produkte und Produktportfolios. . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1
Vorgehensmodell für die Projektanbahnung. . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2
Rolle der Architektur und der Modularisierung. . . . . . . . . . . . . . 5.6.3
Beispiel: Planung eines Produktprojekts im
Nutzfahrzeugbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7
Begleitung von Entwicklungsprojekten aus Sicht der
Produktplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
98
99
102
109
111
113
115
116
120
123
124
126
127
131
132
Inhaltsverzeichnis
6
7
Nutzerbedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristin Paetzold
6.1
Das Spannungsfeld zwischen Entwickler und
Nutzer – eine Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1
Unterschiedliche Sichtweisen auf das Produkt. . . . . . . . . . . . . . 6.1.2
Verantwortlichkeit der Entwicklung in der
Produktgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2
Charakterisierung und Klassifizierung von Nutzern. . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1
Einflussfaktoren auf Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer . . . . 6.2.2
Bestandteile und Interpretation des Produktbegriffes im
Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3
Unterscheidung von Nutzern nach deren Interesse
am Produkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3
Systematik der Nutzerintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1
Rahmenbedingungen für die Nutzerintegration. . . . . . . . . . . . . . 6.3.2
Ausdifferenzierung der Einzelaspekte der Nutzerintegration. . . 6.3.3
Der Untersuchungsprozess im Rahmen der
Nutzerpartizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4
Auswahl von Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1
Unterscheidung zwischen qualitativen und
quantitativen Untersuchungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2
Typische Methoden der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3
Herausforderungen bzw. Fehlerquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering. . . . . . . . . . Beate Bender und Kilian Gericke
7.1
Zielsystem des Entwicklungsvorhabens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1
Produktbezogene Ziele, Terminziele und Kostenziele. . . . . . . . . 7.1.2
Modell für Ziel-, Objekt-, Prozess-, und Handlungssystem . . . . 7.1.3
Rolle von Zielen und Anforderungen in der
Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2
Entwickeln der initialen Anforderungsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1
Entwicklungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2
Lasten- und Pflichtenheft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3
Arten von Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3
Methodisches Vorgehen beim Klären der Aufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1
Anforderungen ermitteln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2
Anforderungen spezifizieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3
Anforderungen strukturieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4
Anforderungen analysieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
137
137
137
139
140
140
142
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200
204
207
X
8
Inhaltsverzeichnis
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management. . . . . . . . . . . . . . Dietmar Göhlich und Tu-Anh Fay
8.1
Requirements Management im Produktentwicklungsprozess. . . . . . . . . . 8.2
Dokumente und Standards für das Arbeiten mit Anforderungen. . . . . . . . 8.2.1
Anforderungsliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2
Standards und Richtlinien für Lasten- und Pflichtenhefte. . . . . . 8.2.3
Generische Lastenheftstruktur für mechatronische
Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3
Software für das Arbeiten mit Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1
Anforderungen definieren und dokumentieren. . . . . . . . . . . . . . 8.3.2
Anforderungen ändern, versionieren und rückverfolgen. . . . . . . 8.3.3
Anforderungen kommunizieren und über Schnittstellen
austauschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil III
9
211
212
216
217
218
219
221
222
224
227
228
Konzeptentwicklung
Funktionen und deren Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz,
Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
9.1
Abstrahieren zum Erkennen der wesentlichen Probleme . . . . . . . . . . . . . 9.1.1
Ziel der Abstraktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2
Systematische Erweiterung der Problemformulierung. . . . . . . . 9.1.3
Problem erkennen aus der Anforderungsliste . . . . . . . . . . . . . . . 9.2
Aufstellen von Funktionsstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2.1
Gesamtfunktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2
Aufgliedern in Teilfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3
Aufstellen einer Funktionsstruktur anhand eines Beispiels. . . . . 9.2.4
Hinweise zum Erkennen und Bilden von Teilfunktionen . . . . . . 9.2.5
Weitere Beispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3
Praxis der Funktionsstruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Entwickeln von Wirkstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kilian Gericke, Beate Bender, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
10.1 Suche nach Wirkprinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Lösungsfindungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Konventionelle Methoden und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Intuitiv betonte Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Assoziativ betonte Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.4 Diskursiv betonte Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
234
234
236
238
241
242
243
245
247
249
251
254
255
257
258
259
260
266
278
Inhaltsverzeichnis
10.3
XI
Kombinieren von Wirkprinzipien zu einer Wirkstruktur. . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Systematische Kombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Kombinieren mithlife mathematischer Methoden. . . . . . . . . . . . 10.4 Praxis der Wirkstruktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
300
302
303
305
11 Auswahl- und Bewertungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sandro Wartzack
11.1 Einfache Bewertungsverfahren zur Vorauswahl von
Lösungsvarianten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Aufwendige Bewertungsverfahren zur Lösung von
Entscheidungsaufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Komplexe Bewertungsverfahren zur Entscheidungsfindung. . . . . . . . . . . 11.4 Rechnerunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Überprüfung der Bewertungsergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
12 Produktarchitektur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dieter Krause, Thomas Vietor, David Inkermann, Michael Hanna,
Timo Richter und Nadine Wortmann
12.1 Definition der Produktarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Bauweisen technischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Integral- und Differentialbauweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Modulbauweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.3 Verbundbauweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.4 Integrierende Bauweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.5 Multifunktionalbauweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Zielstellungen für die Gestaltung der Produktarchitektur. . . . . . . . . . . . . 12.3.1 Planung und Entwicklung des Produktprogramms. . . . . . . . . . . 12.3.2 Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.3 Produktnutzen für den Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.4 Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen. . . . . . . . . . . . .
12.4 Produktstrukturierung unter Berücksichtigung der Variantenvielfalt . . . . 12.4.1 Herausforderungen der Variantenvielfalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.2 Strategien zur modularen Produktstrukturierung. . . . . . . . . . . . . 12.4.3 Baureihenstrategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Ausgewählte Methoden für die Gestaltung der Produktarchitektur . . . . . 12.5.1 Systematisches Vorgehen bei der Funktionsintegration. . . . . . . . 12.5.2 Strategie der einteiligen Maschine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.3 Change Mode & Effects Analysis (CMEA) . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.4 Theory of Modular Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
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352
356
359
360
361
364
367
XII
Inhaltsverzeichnis
12.5.5
Integration Analysis Methodology auf Grundlage
der Design Structure Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.6 Vorgehen beim Entwickeln von Baukästen. . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.7 Modular Function Deployment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.8 Product Family Master Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5.9 Integrierter PKT-Ansatz zur Entwicklung modularer
Produktfamilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6.1 Anwendung des PKT-Ansatzes zur Modularisierung
von Aufzügen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6.2 Integrales Bodenmodul für leichte Nutzfahrzeuge . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil IV
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377
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385
388
390
Produktgestaltung
13 Gestaltung – Prozess und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sven Matthiesen
13.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Die Einordnung der Gestaltung in den
Produktentwicklungsprozess nach VDI 2221. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Vorgehen in der Gestaltung und wichtige Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.1 Grundlegende Empfehlungen zum Vorgehen
in der Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Risiken in der Gestaltung abhängig von den zentralen
Eingangsgrößen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Contact&Channel-Ansatz – C&C2-A, ein Modell zur
Modellbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.1 Elemente des C&C2-Ansatzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.2 Das Contact&Channel-Modell – C&C2-M, ein Modell
zur Beschreibung der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge
im Produkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.3 Vorgehen bei der Modellbildung mit dem C&C2-Ansatz. . . . . . 13.6 Synthesegetriebene Analyse in der Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.1 Techniken in der synthesegetriebenen Analyse. . . . . . . . . . . . . . 13.6.2 Erkenntnisgewinn in der Gestaltung durch
Hypothesenbildung und -prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.3 „Konstruktionshypothesen“ als Hilfsmittel zum
Erkenntnisgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.4 Gestalt-Funktion-Zusammenhänge erkennen und
überprüfen durch Testing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.5 Quantifizierung von Gestalt-Funktion-Zusammenhängen
durch Entwicklungsprüfständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
397
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402
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454
457
Inhaltsverzeichnis
13.7
XIII
Synthese in der Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7.1 Techniken in der Synthese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.8 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
461
462
463
14 Grundregeln der Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhard Kirchner und Alfred Neudörfer
14.1 Grundregeln, Gestaltungsprinzipien und Gestaltungsrichtlinien. . . . . . . . 14.2 Eindeutig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Konstruktive Aspekte der Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.2 Eindeutigkeit in der Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.3 Die Grundregel Eindeutig im Produktlebenslauf. . . . . . . . . . . . .
14.3 Einfach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Konstruktive Aspekte der Einfachheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Einfache Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.3 Die Grundregel Einfach im Produktlebenslauf. . . . . . . . . . . . . . 14.4 Sicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.1 Rechtliche Grundlagen des sicherheitsgerechten
Konstruierens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.2 Mit Maschinen verbundene Gefahren und Risiken. . . . . . . . . . . 14.4.3 Konstruktionsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
15 Gestaltungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Pahl und Wolfgang Beitz
15.1 Prinzip der Kraftleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Prinzip der Aufgabenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Prinzip der Selbsthilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Prinzip der Stabilität und Bistabilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Prinzip der fehlerarmen Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Gestaltungsrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beate Bender, Kilian Gericke, Jörg Heusel, Thomas Bronnhuber,
Olaf Helms, Jens Krzywinski, Christian Wölfel, Fritz Klocke,
Klaus Dilger, Rainer Müller, Tobias Ehlers
und Roland Lachmayer
16.1 Zuordnung und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Ausdehnungsgerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Kriech- und Relaxationsgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4 Korrosionsgerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.5 Verschleißgerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
472
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563
567
567
570
583
591
605
XIV
Inhaltsverzeichnis
16.6
16.7
16.8
16.9
16.10
16.11
16.12
16.13
Blechgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.1 Blech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.2 Die Prozesskette Blech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.3 Gestalten mit Blech. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.4 Einsatzbereiche der Fertigungsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.6.5 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faserverbundgerecht: Konstruktion von Strukturbauteilen aus
Faser-Kunststoff-Verbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.7.1 Aufbau und Eigenschaften von Faser-KunststoffVerbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.7.2 Gründe für den Einsatz von FKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.7.3 Verfahren zur Herstellung von Faserverbundbauteilen. . . . . . . . 16.7.4 Methodischer Faserverbund-Leichtbau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.7.5 Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit von
Faserverbundbauweisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergonomisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.8.2 Ergonomische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.8.3 Tätigkeiten des Menschen und ergonomische Bedingungen. . . . 16.8.4 Erkennen ergonomischer Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Industriedesign und nutzerzentrierte Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . 16.9.1 Aufgaben und Zielstellung des Industriedesigns in der
interdisziplinären Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.9.2 Merkmale des Industriedesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.9.3 Gesamtproportion, Anmutung, Form und Detailgestaltung. . . . .
16.9.4 Methoden und Werkzeuge des Industriedesigns. . . . . . . . . . . . . 16.9.5 Akademische Einordnung und Entwicklung des
Industriedesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fertigungsgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fügegerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.11.1 Schweißgerechte Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.11.2 Klebegerechte Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Montagegerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.12.1 Die Montage und ihre Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.12.2 Grundregeln für eine montagegerechte Produktgestaltung. . . . . 16.12.3 Produktgestaltung für eine einfache Montage. . . . . . . . . . . . . . . 16.12.4 Diskussion für die montagegerechte Produktgestaltung. . . . . . . Gestaltung für Additive Fertigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.1 Einordnung der Technologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.2 Prozesskette. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.3 Gestaltungsziele: Potenziale in der Produktentwicklung . . . . . . 607
607
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613
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755
755
758
764
Inhaltsverzeichnis
16.13.4 Konstruktionsmethodik für die Additive Fertigung. . . . . . . . . . . 16.13.5 Fertigungsgerechte Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.6 Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.14 Instandhaltungsgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.14.1 Zielsetzung und Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.14.2 Instandhaltungsgerechte Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.15 Recyclinggerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.15.1 Zielsetzungen und Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.15.2 Recyclinggerechte Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.16 Risikogerecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil V
XV
765
773
790
799
799
801
803
804
806
810
811
Begleitprozesse der Produktentwicklung
17 Projektmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Oehmen
17.1 Was ist Projektmanagement?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2 Initiierung von Projekten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.1 Projektcharter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.2 Identifikation wesentlicher Stakeholder des Projektes
und ihrer Rollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3 Projektplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.1 Arbeitspakete und Projektstrukturplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.2 Zeit- und Ablaufplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.3 Ressourcenplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.4 Finanzplanung und –management. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.5 Management von Risiken und Unsicherheiten im Projekt . . . . . 17.4 Projektumsetzung & -controlling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.1 Zentrale Führungsprozesse – Project Governance. . . . . . . . . . . . 17.4.2 Visuelle Planung und Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.3 Earned Value Management (EVM). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.5 Projektabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.5.1 Aktivitäten während des Projektabschlusses. . . . . . . . . . . . . . . . 17.5.2 Lessons Learned . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.6 Kurzübersicht wichtiger Projektmanagement Standards. . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Qualitätssicherung in der Produktentwicklung und Konstruktion. . . . . . . . Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
18.1 Maßnahmen zur Vermeidung produktbezogener Fehler. . . . . . . . . . . . . . 18.1.1 Design Reviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.1.2 Fehlerbaumanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831
831
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889
XVI
Inhaltsverzeichnis
18.1.3 Fehler-Möglichkeits-Einfluss-Analyse (FMEA). . . . . . . . . . . . . 18.1.4 Quality Function Deployment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2 Designlenkung nach ISO 9000 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892
896
899
903
19 Produktdokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sándor Vajna und Michael Schabacker
19.1 Interne Technische Produktdokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2 Externe Technische Produktdokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3 Anforderungen an die Technische Produktdokumentation. . . . . . . . . . . . 19.4 Einflüsse der Technischen Produktdokumentation auf
das Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5 Systeme für die interne und die externe Technische
Produktdokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.6 Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen bei der Einführung eines
Technischen Produktdokumentationssystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905
20 Technisches Änderungsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gamal Lashin
20.1 Grundlagen des technischen Änderungsmanagements. . . . . . . . . . . . . . . 20.1.1 Die Rolle des Änderungsmanagements im
Produktlebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1.2 Definition von „Produktänderungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1.3 Konfigurations- und Änderungsmanagement – Abgrenzung. . . . 20.2 Ursachen für technische Produktänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3 Prozess zum Änderungsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.1 Änderungsmanagement nach DIN 194. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.2 Änderungsmanagement nach VDA 4965 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.3 Praxisbeispiel Änderungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.4 Generischer Prozess zum technischen
Änderungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4 Kennzahlen für das Änderungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.1 Kosten für Produktänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.2 Durchlaufzeit bei Produktänderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.3 Anzahl von Produktänderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.5 IT Technologien für das Änderungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905
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XVII
21 Kostenmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Kauf
21.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Produktkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Einflussfaktoren auf die Produktkosten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.4 Produktkosten im Entwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
22 Ökodesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tim C. McAloone und Daniela C. A. Pigosso
22.1 Motivation für die Umsetzung des Ökodesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.1 Ursprung und Kontext des Ökodesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.2 „Nachhaltigkeit ist nicht mein Geschäft“: ein
passiver Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22.1.3 „Wir müssen anfangen, etwas zu tun“: der reaktive Ansatz . . . . 22.1.4 „Nachhaltigkeit ist wirtschaftlich sinnvoll“: auf dem
Weg zu einem präventiven Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.5 „Nachhaltigkeit als Motor für Innovationen“:
der proaktive Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.6 „Nachhaltigkeit als Geschäftsmethode“: der
integrative Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.7 Unser Schwerpunkt in diesem Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.8 Aber was ist ein Umweltproblem und wie hilft
Ökodesign dabei?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2 Umsetzung von Ökodesign in der Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.1 Fokus auf Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.2 Denken in Multiprodukten und Multi-Lebenszyklen . . . . . . . . . 22.2.3 Voraussetzungen für die Umsetzung des Ökodesigns. . . . . . . . . 22.3 Vorbereitung und Implementierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3.1 Annäherung an das Ökodesign aus der Perspektive des
Entwicklungsprozesses (top-down). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3.2 Annäherung an das Ökodesign aus der Perspektive des
ökologischen Lebenszyklus (Bottom-Up). . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
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XVIII
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23 Umgang mit Normen und Normung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Hövel und Mario Schacht
23.1 Normen-Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2 Normung und Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.1 Normungsorganisation DIN e. V.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.2 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.3 Verschiedene Aspekte von Normen im Überblick. . . . . . . . . . . . 23.2.4 Der Normungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.5 Normen und Spezifikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.6 Normung von Managementsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3 Nutzen der Normung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3.1 Volkswirtschaftlicher Nutzen der Normung . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3.2 Betriebswirtschaftlicher Nutzen der Normung. . . . . . . . . . . . . . 23.3.3 Normung und Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.4 Normung im Innovationsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.4.1 Integration von Normung und Innovation. . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.4.2 Normen in Unternehmens- und Innovationsprozessen . . . . . . . . 23.4.3 Innovation mit Normen und Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.4.4 Entwicklungsbegleitende Normung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.5 Normen und Patente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23.6 Normung als strategisches Instrument. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.6.1 National – Deutsche Normungsstrategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.6.2 Europäisch – Gemeinsame Normungsinitiative. . . . . . . . . . . . . .
23.6.3 International – ISO-Strategie 2016–2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Patente und gewerbliche Schutzrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Erk
24.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.2 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3 Überblick über den Gewerblichen Rechtsschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3.1 Grundprinzipien der gewerblichen Schutzrechte. . . . . . . . . . . . . 24.3.2 Übersicht über die gewerblichen Schutzrechte. . . . . . . . . . . . . . 24.3.3 Arbeitnehmererfinderrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3.4 Entwicklungskooperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3.5 Gewerbliche Schutzrechte und Schutzstrategien. . . . . . . . . . . . . 24.3.6 Aufbau eines eigenen Patentportfolios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3.7 Die Rolle von Patenten im Produktentwicklungsprozess . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023
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25 Virtuelle Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gamal Lashin und Rainer Stark
25.1 Einführung in die virtuelle Produktentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.1 Definition und Motivation der virtuellen Produktwicklung. . . . . 25.1.2 Wandel der Produktentstehung in Richtung zunehmender
Digitalisierung und Virtualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2 Themengebiete der virtuellen Produktentwicklung (Lashin) . . . . . . . . . . 25.2.1 3D-CAD-Technik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25.2.2 Rapid Prototyping and Rapid Tooling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.3 Systeme für die Datenvisualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.4 Systeme für Produktdatenmanagement (PDM). . . . . . . . . . . . . . 25.2.5 Enterprise Resource Planning (ERP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.6 Product Lifecycle Management (PLM). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.7 Wissensmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.8 Systeme für Berechnung und Simulation (CAE). . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX
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Einleitung
Beate Bender und Kilian Gericke
Produktentwicklung ist ein zentraler Erfolgsfaktor für Unternehmen. Neben produktspezifischen Zielen nehmen Projektpläne, Kostenziele, vertragliche Rahmenbedingungen
mit Kooperationspartnern, verfügbare Ressourcen oder auch internationale Handelsvereinbarungen maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten eines zu entwickelnden Produkts. Das Zielsystem für die Entwicklung eines Produkts ist somit
gekennzeichnet von Interdisziplinarität und Dynamik.
Die Komplexität von Markt, Produkt, Prozess und Organisation werden als entscheidende Einflussfaktoren beim Entwickeln von Produkten benannt. Der erweiterte
Produktbegriff im Zusammenhang mit Industrie 4.0, smarten oder cyber-physischen
Produkten sowie der Integration von Dienstleistungen zu Produkt Service Systemen
macht sowohl die Produkte selbst als auch deren Umfeld und den Entwicklungsprozess
komplexer. Experten aus Industrie und Wissenschaft prognostizieren für das Jahr 2040,
dass alle zu entwickelnden Produkte cyberphysische Systeme sein werden (Eckert
et al. 2019). Die deutsche Akademie der Technikwissenschaften nennt im Kontext von
Industrie 4.0 als eines der zentralen Themen die Entwicklung, Implementierung und
Virtualisierung von Produkt-Service-Systeme als ganzheitlichem Leistungsangebot
(Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0 2019). Die Rolle des physischen Produkts
in neuen Geschäftsmodellen kann dabei von untergeordneter Bedeutung sein oder gar
ganz entfallen. Damit wird zum einen die über alle Disziplinen integrierte LebenszyklusBetrachtung eines Produktes zunehmend wichtig, als auch die Entwicklung von Dienst-
B. Bender (*)
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
K. Gericke
Universität Rostock, Rostock, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_1
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2
B. Bender und K. Gericke
leistungen zum integralen Bestandteil des Produktentwicklungsprozesses (Thoben et al.
2014). Das Service Design stellt aus Sicht klassisch ausgebildeter Ingenieure einen
völlig neuen Gegenstand der Entwicklungsaktivitäten dar. Die Bedeutung der Sicht auf
die Bedürfnisse des Kunden und das Verständnis des zugrundeliegenden Erlösmodells
nehmen dabei ebenso wie die Entwicklung nachhaltiger Produkte eine zentrale Rolle ein,
wobei insbesondere die Integration und Orchestrierung der Akteure von Produktplanung,
Produkt-, Dienstleistungs- und Produktionssystementwicklung entlang des gesamten
Produktlebenszyklus als zentrale Aufgabe anzusehen ist.
Wesentliche Unterschiede im Zielsystem nachhaltig entwickelter Produkte und
Services ergeben sich beispielweise aus dem Bestreben der Umsetzung einer Circular
Ecconomy (Lindahl 2019), der Maximierung der Nutzungsdauer eines Produkts, der Einbeziehung von Lebenszykluskosten bereits im Geschäftsmodell sowie der Aufarbeitung
und Weiterverwendung der Produkte nach Ende ihrer ersten Nutzungsphase. Dies
macht offensichtlich, dass die Wahl des zugrundeliegenden Geschäftsmodells in starker
Wechselwirkung mit der Gestaltung des physischen Produkts steht und somit auch bei
der Entwicklung des Lösungskonzepts des physischen Produkts durch die „klassische
Produktentwicklung“ berücksichtigt werden muss.
Das Entwickeln innovativer Produkte findet eingebettet in ein sozio-technisches
System statt (Koltun et al. 2019). Die Beurteilung der Güte vorliegender Lösungen unterliegt somit einem nur interdisziplinär beurteilbaren, sich mit dem Erkenntnisfortschritt
dynamisch ändernden Bewertungssystem. Kooperation über Bereichs- und Disziplingrenzen hinaus kann aufgrund der Produkteigenschaften und der Gestaltung des Produktentwicklungsprozesses zum kritischen Erfolgsfaktor werden. Der Kontext, in dem die
Produktentwicklung stattfindet, ist damit selbst komplex und Gegenstand der Forschung
(Birkhofer 2011; Gericke et al. 2013).
Das Vorgehen beim Entwickeln von Produkten ist gekennzeichnet durch die
Integration einer Vielzahl, teils konkurrierender Ziele und Anforderungen, die arbeitsteilig und disziplinspezifisch im Produkt umgesetzt werden müssen. Charakteristisch
ist dabei die Koevolution von Problem und Lösung (Dorst und Cross 2001), die unvermeidliche Iterationen im Arbeitsfortschritt verursacht. Das Denken in Lösungsalternativen bietet die Chance, ein im Sinne der konkurrierenden Anforderungen
ausgewogene Lösung zu finden. Die Kriterien für die Auswahl und Bewertung von
Lösungsalternativen ändern sich dabei häufig auf der Grundlage neuer Erkenntnisse oder
Anforderungen. In der Folge müssen daher bereits gefundene (Teil-)Lösungen angepasst
oder verworfen werden. Über Schnittstellen und Wechselwirkungen mit anderen Teilsystemen des zu entwickelnden Produkts kann dies auch in späten Entwicklungsphasen noch zu weitreichenden Folgen für das gesamte Produktkonzept führen (Giffin
et al. 2009). Diese Änderungen erzeugen Iterationen im Entwicklungsprozess (Shapiro
et al. 2015), die wiederum in Wechselwirkung mit der Organisation und dem Arbeitsumfeld stehen (Loucopoulos 2005) und entsprechend auch Rückwirkungen auf das zu
entwickelnde Produkt haben. Untersuchungen zeigen, dass die Digitalisierung den Entwicklungsprozess von Produkt-Service-Systemen fundamental beeinflusst (Pagoropoulos
1
Einleitung
3
et al. 2017). Zusätzlich zu den Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Stakeholdern
und den Ergebnissen der Produktentwicklungsprozesses spielen Umfeldfaktoren eine
nicht zu vernachlässigende Rolle. So können beispielsweise Klimakatastrophen oder
politische Ereignisse Entwickler, Nutzer sowie zu entwickelnde Produkte und Prozesse
ebenso beeinflussen wie die verwendeten Methoden und Werkzeuge oder die einer
Berechnung zugrunde liegende Theorie. In der gewählten Lösung für das betrachtete
Problem und deren Bewertung durch Entwickler und Nutzer spiegelt sich somit immer
auch das Umfeld der Produktenwicklung (Abb. 1.1).
Der sich wandelnde Produktbegriff vor dem Hintergrund smarter Produkte sowie
kundenzentrierter Geschäftsmodelle führt zu veränderten Anforderungen an die
Kompetenzen von Produktentwicklern. Angesichts der Dynamik und Komplexität
des Umfelds heutiger Entwicklung wird deshalb ein Paradigmenwechsel in der Ausbildung prognostiziert (Norman 2016; Gulden 2019). Das lebenslange Lernen sowie
die Fähigkeit, in interdisziplinären Netzwerken zu kooperieren stellen dabei Grundvoraussetzungen dar. Industrievertreter benennen in einer Befragung zu erforderlichen
Kompetenzen bei der Entwicklung smarter Produkte methodisches Vorgehen als zentrale
Komponente (Herzog und Bender 2017).
Methodisches Vorgehen hilft insbesondere unerfahrenen Produktentwicklern dabei,
grundlegende Fehler zu vermeiden sowie konkurrierende Anforderungen parallel nachzuverfolgen (Bender 2004). Hinausgehend über die Qualität der gefundenen Lösung
sorgt methodisches Vorgehen für die entwicklungsbegleitende Dokumentation von
Erkenntnissen und Entscheidungen. Dies ermöglicht bei unvermeidlich auftretenden,
iterativen Rücksprüngen im Entwicklungsprozess Lösungsalternativen zu finden,
die auf bereits geleisteter Arbeit aufbauen. Die Bedeutung der Dokumentation von
Lösungsweg und Lösungsalternativen ist nicht nur vor dem Hintergrund sich potenziell
ändernder Anforderungen und neuer Erkenntnisse hoch, sondern auch aufgrund
zunehmend geforderter gesetzlicher und zulassungsrelevanter Regelungen zur Produktdokumentation.
Abb. 1.1 Umfeld der Produktentwicklung. (Nach Earl et al. 2005)
4
B. Bender und K. Gericke
Das vorliegende Lehrbuch stellt unter den beschriebenen Herausforderungen eine
wichtige Arbeitsgrundlage für Ingenieure und insbesondere Produktentwickler dar. Den
Leserinnen und Lesern wird ein Leitfaden bereitgestellt, der dabei hilft, den Überblick
zu behalten und nicht die erste beste Lösung zu wählen, die das vorliegende Problem
zu lösen scheint. Vielmehr stellt methodisches Vorgehen sicher, dass wichtige Ziele und
Restriktionen rechtzeitig erkannt und über den gesamten Entwicklungsprozess nachverfolgt werden. Alternative Lösungen werden gegeneinander abgewogen und Entscheidungen bleiben auch im Nachhinein noch nachvollziehbar. Methodisches Vorgehen
schafft darüber hinaus die Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Die transparente Ermittlung und Dokumentation von Zielsetzungen und Entscheidungskriterien
sowie eine gemeinsame Sprache einen Austausch über den Arbeitskontext bilden hierfür
die Basis.
Seit dem Erscheinen sorgt die fortlaufende Aktualisierung des Buches mit neuen
wissenschaftlichen Erkenntnissen unter Beibehaltung bewährter Inhalte dafür, dass als
Zielgruppe Studierende ebenso wie Praktiker angesprochen werden können.
Die fünf Teile dieses Buchs orientieren sich an den Hauptphasen beim Entwickeln
und Konstruieren.
Voraussetzung für das Entwickeln erfolgreicher Produkte sind Grundlagen über
technische Systeme, methodisches Vorgehen und den Produktentwicklungsprozess im
Teil I. Ergänzt wird dieser Teil um das neu aufgenommene Kapitel zur Produktplanung.
Diese geht dem eigentlichen Entwicklungsprozess voraus, um die Marktfähigkeit des zu
entwickelnden Produkts sicherzustellen.
Dem Klären der Aufgabenstellung widmet sich Teil II, der vollständig überarbeitet
wurde. Als zentraler Punkt wird das Erkennen der Nutzerbedürfnisse adressiert, das im
Fokus der Entwicklungsaktivitäten und des Geschäftsmodells stehen muss. Der Umgang
mit Anforderungen umfasst in zwei Kapiteln das Entwickeln von Anforderungen
in frühen Phasen der Entwicklung sowie das entwicklungsbegleitende Arbeiten mit
Anforderungen.
Die Konzeptentwicklung ist Gegenstand des folgenden Teils III. Dabei geht es
zunächst um das Entwickeln von Funktionen sowie Wirkstrukturen, dem aufgrund
der Integration von physischem Produkt, Software und Dienstleistungen wieder mehr
Bedeutung beigemessen werden muss. Die daraus entstandenen Lösungskonzepte lassen
sich mit Hilfe von Auswahl- und Bewertungsmethoden an den Anforderungen spiegeln.
Abschließend werden Fragen der Produktarchitektur adressiert, die erweitert wurden
und nun auch die Modularisierung, die Konzeptionierung von Produktfamilien sowie die
Gestaltung von Baukästen und Baureihen darstellen.
Die folgende Entwicklungsphase der Produktgestaltung umfasst der Teil IV. Hier
wird in einem neu hinzugekommenen Kapitel beschrieben, wie, ausgehend von der
prinzipiellen Lösung, die eigentliche Konstruktion entsteht. Daran anschließend werden
die Grundregeln der Gestaltung – „eindeutig“, „einfach“ und „sicher“ – erläutert, die
Grundlage für die Gestaltung jedes Produkts sein müssen. Die Gestaltungsprinzipien,
wie beispielsweise die einfache und direkte Kraftleitung, haben seit ihrer ersten
1
Einleitung
5
Formulierung durch Pahl und Beitz nicht an Relevanz verloren. Ein Großteil der sich
daran anschließenden Gestaltungsrichtlinien hat ebenfalls weiterhin Gültigkeit und
wurde teils im Original, teils ergänzt und überarbeitet übernommen. Mehrere völlig neu
überarbeitete Richtlinien, zu nennen sind insbesondere das Industriedesign sowie die
Additive Fertigung, repräsentieren neue Erkenntnisse.
In Teil V werden wichtige Begleitprozesse der Produktentwicklung beschrieben.
Diese erstrecken sich vom Projektmanagement, Produktdokumentation, dem technischen
Änderungsmanagement, dem Kostenmanagement, dem Ökodesign, dem Umgang mit
Normen und Normung, Patenten und gewerblichen Schutzrechten bis zur virtuellen
Produktentwicklung. Auch hier werden bewährte Inhalte mit neuen ergänzt. Zu nennen
für letztere sind etwa Projektmanagement, Kostenmanagement und Ökodesign.
Bei der Begriffsverwendung im Buch wurden Vereinfachungen vorgenommen.
Diese beziehen sich zum einen Auf den Produktbegriff. Nach VDI 2221 ist ein
Produkt ein „Erzeugnis oder Leistung materieller wie immaterieller Art, das oder die
allein oder als System angeboten wird, um den Bedarf am Markt sowie die Bedürfnisse
von Nutzern zielgruppengerecht zu befriedigen“ (VDI 2221, Blatt 1). Das Ergebnis der
Produktentwicklung wird dennoch aus Gründen der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit
des Textes im Folgenden immer als „Produkt“ bezeichnet, unabhängig davon, ob es um
ein physisches Produkt, Software, eine Strategie oder eine integriertes Produkt-Dienstleistungssystem geht.
Der Verweis auf handelnde Personen in der Produktentwicklung, im Unternehmen
oder im Studium meint immer explizit alle Personen, unabhängig vom Geschlecht. Wo
aus unserer Sicht sinnvoll möglich, haben wir geschlechtsneutrale Bezeichnungen verwendet.
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Teil I
Grundlagen
2
Grundlagen technischer Systeme
Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz, Kilian Gericke, Beate Bender,
Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
2.1System, Anlage, Apparat, Maschine, Gerät, Baugruppe,
Einzelteil
Die Lösung technischer Aufgaben wird mithilfe technischer Artefakte erfüllt, die als Anlage,
Apparat, Maschine, Gerät, Baugruppe, Maschinenelement oder Einzelteil bezeichnet
werden. Diese bekannten Bezeichnungen sind grob nach dem Grad ihrer Komplexität geordnet. Eine Anlage kann aus mehreren Apparaten, Geräten oder Maschinen
bestehen. Diese wiederum setzen sich aus diversen Baugruppen zusammen, die jeweils
aus verschiedenen Maschinenelementen bzw. Bauteilen bestehen. Je nach Fachgebiet und
Abstraktionsgrad werden diese Begriffe zum Teil unterschiedlich v­ erwendet.
Die Unterscheidung zwischen Apparat, Maschine und Gerät ist historisch bedingt
und durch den jeweiligen Verwendungsbereich erklärbar. Die Begriffe differenzieren
K. Gericke (*)
Universität Rostock, Rostock, Deutschland
B. Bender
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
J. Feldhusen
RWTH Aachen, Aachen, Deutschland
K.-H. Grote
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_2
9
10
G. Pahl et al.
Systeme hinsichtlich der maßgeblichen Transformation zwischen Eingangsgrößen
und Ausgangsgrößen. Energieumsetzende technische Systeme werden als Maschinen
bezeichnet, stoffumsetzende als Apparate und signalumsetzende als Geräte. Eine strenge
Einteilung nach diesen Merkmalen ist nicht immer möglich oder im Hinblick bereits eingeführter Begriffe nicht immer zweckmäßig, sodass die Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch teils abweichend verwendet werden.
Die etablierte systemtechnische Betrachtungsweise, bezeichnet alle technischen Artefakte als technische Systeme. Technische Systeme stehen mit ihrer Umgebung durch
Eingangsgrößen (Inputs) und Ausgangsgrößen (Outputs) in Verbindung (Hubka 1984;
Hubka und Eder 1992, 1988). Was zum betrachteten System gehört, wird jeweils durch
die Systemgrenze festgelegt. Die Ein- und Ausgangsgrößen überschreiten die Systemgrenze. Ein System kann in Teilsysteme untergliedert werden. Mit dieser Vorstellung ist
es möglich, auf jeder Stufe der Abstraktion, der Einordnung oder der Aufgliederung für
den jeweiligen Betrachtungszweck geeignete Systeme zu definieren. In der Regel sind
sie Teile eines größeren übergeordneten Systems.
Ein konkretes Beispiel ist die in Abb. 2.1 dargestellte kombinierte Kupplung. Sie
ist als ein System „Kupplung“ aufzufassen und stellt innerhalb einer Maschine oder
zwischen zwei Maschinen eine Baugruppe dar, während für diese Baugruppe selbst
die beiden Teilsysteme „Elastische Kupplung“ und „Schaltkupplung“ wiederum selbstständige Baugruppen sein können. Das Teilsystem „Schaltkupplung“ ließe sich weiter in
die Systemelemente, hier „Einzelteile“, zerlegen.
Das in Abb. 2.1 dargestellte System orientiert sich an der Baustruktur. Es ist aber auch
denkbar, es nach Funktionen zu betrachten. Man könnte das Gesamtsystem „Kuppeln“
funktionsorientiert in die Teilsysteme „Ausgleichen“ und „Schalten“ gliedern, das
letztere Teilsystem wiederum in die Untersysteme „Schaltkraft in Normalkraft ändern“
und „Reibkraft übertragen“.
Zum Beispiel könnte das Systemelement g auch als ein Untersystem aufgefasst
werden, das die Funktion hätte, die aus dem Schaltring kommende Kraft in die größere
auf die Reibflächen wirkende Normalkraft zu ändern und durch seine Nachgiebigkeit
einen begrenzten Verschleißausgleich zu ermöglichen.
Wie und nach welchen Gesichtspunkten gegliedert wird, hängt vom Zweck der
Betrachtung ab. Häufige Gesichtspunkte sind:
• die Funktion, um funktionelle Zusammenhänge zu erkennen oder zu beschreiben,
• Fertigungsmodule, um Fertigungsoperationen zu gliedern oder zusammenzufassen,
• Montagebaugruppen, um Montageoperationen zu planen.
Je nach Zweck können solche Systemunterteilungen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten mehr oder weniger weit getrieben werden. Der Konstrukteur muss für den
jeweiligen Zweck identifizieren, welches geeignete Elemente zur Beschreibung des Systems
sind, bestehende Wechselwirkungen mittels der jeweiligen Ein- und Ausgangsgrößen
beschreiben und die Systemgrenze gegenüber der Umgebung deutlich machen. Dabei kann
er die ihm gewohnte oder allgemein übliche Bezeichnung beibehalten.
2
Grundlagen technischer Systeme
11
Abb. 2.1 System „Kupplung“, a … h Systemelemente (beispielsweise); i … l Anschlusselemente;
S Gesamtsystem; S1 Teilsystem „Elastische Kupplung“; S2 Teilsystem „Schaltkupplung“; E
Eingangsgrößen (Inputs); A Ausgangsgrößen (Outputs)
2.2Energie-, Stoff- und Signalumsatz
Grundsätzlich dienen technische Systeme dazu etwas zu bewirken. Dieses „Bewirken“
ist die Funktion des Systems und wird in Kap. 9 behandelt. Funktionen beschreiben
einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den Eingangs- und den Ausgangsgrößen.
Unabhängig vom alltäglichen Sprachgebrauch können grundsätzlich drei Eingangsbzw. Ausgangsgrößen unterschieden werden. Es sind dies die Energie, der Stoff und
das Signal. Entsprechend hat ein technisches System einen Energie-, Stoff- oder Signalumsatz, s. Abb. 2.2. Die zur Erfüllung der Aufgabe umzusetzende Funktion wird als
12
G. Pahl et al.
Abb. 2.2 Umsatz von Energie, Stoff und Signal mit eindeutigem funktionalem Zusammenhang, aber
unbekannter Lösung
„Black Box“ bezeichnet, um zu verdeutlichen, dass hierfür eine technische Lösung
gesucht wird. Gleichzeitig wird die Lösungsneutralität hervorgehoben.
Analysiert man technische Systeme, die Anlage, Apparat, Maschine, Gerät, Baugruppe oder Einzelteil genannt werden, so wird offenbar, dass sie einem technischen
Prozess dienen, in dem Energien, Stoffe und Signale geleitet und/oder verändert werden.
Bei Änderung haben wir es mit dem Energie-, Stoff- und/oder Signalumsatz zu tun, wie
es Rodenacker (1991) formuliert und dargestellt hat.
Der Umsatz von Energie betrifft, z. B. in einem Elektromotor, die Wandlung
elektrischer Energie in mechanische Energie sowie in thermische Energie als Nebengröße.
Die chemische Energie eines Brennstoffs wird beim Verbrennungsmotor ebenfalls in
mechanische und thermische Energie gewandelt.
Stoffe können verschiedene Veränderungen erfahren. Viele Stoffe werden gemischt,
getrennt, gefärbt, beschichtet, verpackt, transportiert oder in andere Zustände überführt.
Aus Rohstoffen entstehen Halbzeug und Fertigprodukte. Mechanisch bearbeitete Teile
erhalten besondere Oberflächen, Produkte durchlaufen Veredelungsanlagen, Teile werden
zwecks Prüfung zerstört.
In jedem technischen System sind Informationen zu verarbeiten. Mithilfe von
Signalen werden diese eingegeben, gesammelt, aufbereitet, weitergeleitet, mit anderen
verglichen oder verknüpft, ausgegeben, angezeigt, registriert.
In technischen Prozessen ist von der Funktion oder von der Art der Lösung her entweder der Energie-, Stoff- oder Signalumsatz dominierend. Es ist zweckmäßig, diesen
dann in Form eines Flusses als Hauptfluss zu betrachten. Meistens ist ein weiterer Fluss
begleitend, häufig sind alle drei beteiligt. So gibt es keinen Stoff- oder Signalfluss ohne
einen begleitenden Energiefluss, auch wenn die benötigte Energie sehr klein ist oder
problemlos bereitgestellt werden kann. Die Probleme der Energiebereitstellung oder des
Energieumsatzes sind dann nicht dominierend, sie treten u. U. in den Hintergrund, aber
der Energiefluss bleibt notwendig. Dabei kann es sich auch um den in der Komponente
vorhandenen Fluss wie z. B. Kraft, Drehmoment, Strom usw. handeln, der dann als
Kraftfluss, Drehmomentfluss oder Stromfluss bezeichnet wird.
Der Energieumsatz zur Gewinnung z. B. von elektrischer Energie ist mit einem Stoffumsatz verbunden. In einem Steinkohlekraftwerk ist der kontinuierliche Stofffluss direkt
2
Grundlagen technischer Systeme
13
sichtbar. Der begleitende Signalfluss ist zur Steuerung und Regelung des gesamten
Prozesses ein wichtiger Nebenfluss.
Andererseits werden in vielen Messgeräten, ohne einen Stoffumsatz zu bewirken,
Signale aufgenommen, gewandelt oder angezeigt. In manchen Fällen muss hierfür
Energie bereitgestellt werden, in anderen kann latent vorhandene Energie ohne Weiteres
genutzt werden. Jeder Signalfluss ist mit einem Energiefluss verbunden, ohne immer
einen Stofffluss bewirken zu müssen.
Für die weiteren Betrachtungen gelten folgende Unterscheidungen:
Energie mechanische, thermische, elektrische, chemische, optische Energie,
aber auch Kraft, Strom, Wärme …
Stoffgasförmige, flüssige, feste Materie,
aber auch Rohprodukt, Material, Prüfgegenstand, Behandlungsobjekt, Endprodukt, Bauteil, geprüfter oder behandelter Gegenstand …
SignalMessgröße, Anzeige, Steuerimpuls, Daten, Informationen …
Im Rahmen dieses Buches werden technische Systeme
• mit dem Hauptfluss Energie als „Maschine“,
• mit dem Hauptfluss Stoff als „Apparat“
• und mit dem Hauptfluss Signal als „Gerät“
bezeichnet. Dies ist allerdings häufig nicht mit dem Sprachgebrauch deckungsgleich. Ein
Telefonapparat hat als Hauptumsatz „Signal“ und ist nach der hier eingeführten Nomenklatur ein Gerät. Ein elektrischer Stromrichter mit dem Hauptfluss „Energie“ ist entsprechend eine Maschine.
Bei jedem Umsatz der beschriebenen Größen müssen Quantität und Qualität beachtet
werden, um eindeutige Kriterien für die Präzisierung der Aufgabe, für die Auswahl der
Lösungen und für eine Bewertung zu erhalten. Jede Aussage ist nur dann präzisiert,
wenn sowohl deren Quantitäts- als auch Qualitätsaspekte berücksichtigt werden. So ist
z. B. die Angabe: „100 kg/s Dampf mit einem Druck von 80 bar und einer Temperatur
von 500 °C“ als Eintrittsmenge für die Auslegung einer Dampfturbine erst dann ausreichend präzisiert, wenn bestimmt wird, dass es sich um die Nenndampfmenge und
nicht z. B. um die maximale Schluckfähigkeit handeln soll und dass ferner die dauernd
zulässige Schwankungsbreite des Dampfzustandes z. B. mit 80 bar ±5 bar und 500 °C
±10 °C festgelegt, also um einen Qualitätsaspekt erweitert wurde.
Für sehr viele Anwendungen ist weiterhin eine sinnvolle Bearbeitung nur möglich,
wenn die Eingangsgrößen in ihren Kosten bzw. ihrem Wert bekannt sind oder angegeben
wurde, zu welchen Kosten die Ausgangsgrößen höchstens erstellt werden dürfen (vgl.
Rodenacker 1991; Kategorien: Menge – Qualität – Kosten).
In technischen Systemen findet also ein Umsatz von Energie, Stoff und/oder Signal
statt, der durch Quantitäts-, Qualitäts- und Kostenangaben präzisiert werden muss,
s. Abb. 2.2.
14
G. Pahl et al.
2.3Funktionszusammenhang
Jedes Produkt dient dazu, eine Funktion zu erfüllen. Die Art der erfüllten Funktion hängt
dabei von der Art des Produkts und dem Kontext ab, innerhalb dessen es verwendet
wird. Im Rahmen dieses Werks soll mit Funktion die Erfüllung einer technischen Aufgabe gemeint sein, so ist z. B. ein „Moment vergrößern“ eine Funktion, die ein Getriebe
erfüllt.
Die Funktion eines technischen Systems beschreibt einen eindeutigen, reproduzierbaren Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen, d. h. beschreibt den zur
Erfüllung einer technischen Aufgabe erforderlichen Energie-, Stoff- und Signalumsatz.
Bei einer Stoffumwandlung soll z. B. unter gegebenen Eingangsgrößen stets das gleiche
Ergebnis bezüglich der Ausgangsgrößen erzielt werden. Auch soll zwischen dem Beginn
und dem Ende eines Vorganges, z. B. dem Füllen eines Speichers, immer ein eindeutiger,
reproduzierbarer Zusammenhang gewährleistet sein. Diese Zusammenhänge sind im
Sinne einer Aufgabenerfüllung stets gewollt.
Zum Beschreiben und Lösen konstruktiver Aufgaben ist folgende Definition für den
Begriff „Funktion“ zweckmäßig:
u Funktion Allgemeiner und gewollter Zusammenhang zwischen Eingang und Ausgang
eines Systems mit dem Ziel, eine Aufgabe zu erfüllen
Bei stationären Vorgängen genügt die Bestimmung der Eingangs- und Ausgangsgrößen,
bei zeitlich sich verändernden, also instationären Vorgängen, ist darüber hinaus die Aufgabe durch Beschreiben der Größen zu Beginn und Ende auch zeitlich zu definieren.
Dabei ist es zunächst nicht wesentlich zu wissen, durch welche Lösung eine solche
Funktion erfüllt wird. Die Funktion wird damit zu einer Formulierung der Aufgabe auf
einer abstrakten und lösungsneutralen Ebene.
Ist die Gesamtaufgabe ausreichend präzisiert, d. h. sind alle beteiligten Größen und
ihre bestehenden oder geforderten Eigenschaften bezüglich des Ein- und Ausgangs
bekannt, kann auch die Gesamtfunktion angegeben werden.
Eine Gesamtfunktion lässt sich in vielen Fällen unmittelbar in erkennbare Teilfunktionen aufgliedern. Die Verknüpfung der Teilfunktionen zur Gesamtfunktion unterliegt dabei oft einer logischen Reihenfolge, da bestimmte Teilfunktionen erst erfüllt sein
müssen, bevor andere Teilfunktionen sinnvoll beginnen können. Oft verbleiben jedoch
Variationsmöglichkeiten bei der Verknüpfung von Teilfunktionen, wodurch Varianten entstehen. In jedem Fall muss die Verknüpfung der Teilfunktionen untereinander verträglich
sein.
Die sinnvolle und verträgliche Verknüpfung von Teilfunktionen zur Gesamtfunktion
führt zur sog. Funktionsstruktur (siehe Abb. 2.3), die zur Erfüllung der Gesamtfunktion
variabel sein kann. Eine Blockdarstellung in Form von einzelnen Kästen (Black-Box)
vereinfacht das Arbeiten und die Anschaulichkeit. Um die Vorgänge und Teilsysteme die
2
Grundlagen technischer Systeme
15
Abb. 2.3 Unterteilung einer Gesamtfunktion in Teilfunktionen und Verknüpfung zu einer Funktionsstruktur
Abb. 2.4 Symbole zur Darstellung der Fluss- und der Teilfunktionsarten
zur Umsetzung der Teilfunktionen notwendig sind muss sich zunächst nicht gekümmert
werden.
Die Zerlegung der Gesamtfunktion in Teilfunktionen ermöglicht eine Komplexitätsreduktion der Aufgabe. Die Funktionsstruktur fördert somit ein ganzheitliches Verständnis der Aufgabe entkoppelt von bekannten Lösungen. Im weiteren Vorgehen ist die
Funktionsstruktur ein Hilfsmittel für die Lösungssuche und somit wichtiges Element des
methodischen Entwickelns von Lösungskonzepten.
In Abb. 2.4 ist die verwendete Symbolik für Funktionen und Funktionsstrukturen
zusammengefasst.
Die Funktionen werden durch eine Wortangabe mit einem Substantiv und Verb wie
„Druck erhöhen“, „Drehmoment leiten“, „Drehzahl verkleinern“ beschrieben und von
den in Abschn. 2.2 genannten Flüssen des Energie-, Stoff- und Signalumsatzes aufgabenspezifisch abgeleitet. Diese Angaben sollen durch die beteiligten physikalischen Größen
so weit wie möglich ergänzt bzw. präzisiert werden. In den meisten maschinenbaulichen
16
G. Pahl et al.
Anwendungen wird es sich stets um die Kombination aller drei Komponenten handeln,
wobei entweder der Stoff- oder der Energiefluss die Funktionsstruktur maßgebend
bestimmt. Die Analyse der beteiligten Funktionen ist in jedem Fall sinnvoll (vgl. auch
VDI 1995).
Es ist zweckmäßig, zwischen Haupt- und Nebenfunktionen zu unterscheiden: Hauptfunktionen sind solche Teilfunktionen, die unmittelbar der Gesamtfunktion dienen.
Nebenfunktionen tragen im Sinne von Hilfsfunktionen nur mittelbar zur Gesamtfunktion
bei. Sie haben unterstützenden oder ergänzenden Charakter und sind häufig von der Art
der Lösung für die Hauptfunktionen bedingt.
Die Definitionen folgen den Vorstellungen der Wertanalyse (Miles 1961; DIN 2014)
und sind von der jeweiligen Betrachtungsebene bestimmt. Nicht in allen Fällen sind
Haupt- und Nebenfunktionen scharf unterscheidbar, sie nutzen aber einer zweckmäßigen
Unterteilung und Benennung. Ihre Einteilung kann durchaus fließend gehandhabt
werden. Bei Änderung der betrachteten Systemgrenzen können Nebenfunktionen zu
Hauptfunktionen werden und umgekehrt.
Außerhalb der Produktentwicklung ist der Funktionsbegriff teils weiter, teils enger
gefasst. Das hängt davon ab, unter welchen Aspekten er gesehen und gebraucht wird. Im
Lateinischen bedeutet functio „Verrichtung“.
Der Begriff Funktion wird aber auch innerhalb Produktentwicklung mit teils unterschiedlichen Bedeutungen verwendet (Vermaas 2013; Crilly 2010). Unterschiedliche
Disziplinen beschreiben das Produkt dabei häufig aus verschiedenen Perspektiven
(Eisenbart et al. 2012). Im Wesentlichen kann zwischen drei verschiedenen Deutungen
unterschieden werden, die sich im Gebrauch wiederspiegeln. Je nach Gebrauch lässt
sich zwischen einer verhaltensbezogenen (Funktion als das beabsichtigte Verhalten eines
Systems), ergebnisbezogenen (Funktion als die durch das Systemverhalten generierten
erwünschten Effekte) oder aufgabenbezogenen (Funktion als der Zweck für den ein
System verwendet wir) Deutung unterscheiden (Vermaas 2009).
Der Übergang zwischen den Bedeutungen des Begriffs Funktion erfolgt dabei im
Gebrauch oft fließend. Damit die Kommunikation ohne Missverständnisse abläuft, ist es
jedoch wichtig, sich der verschiedenen Bedeutungen und Sichtweisen bewusst zu sein,
und im Zweifelsfall den Gebrauch zu hinterfragen.
Neben dem gewollten Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen
kommt es häufig zu ungewollten bzw. störenden Nebeneffekten, die das reale Verhalten
des Systems beeinflussen. Dies kann zum Beispiel die Wärmeentwicklung in einem
Elektromotor sein (siehe Abb. 2.5). In der Praxis erfordert dieses Verhalten des Produkts
nicht selten einen nennenswerten Zusatzaufwand.
Theoretisch lassen sich Funktionen so aufgliedern, dass die unterste Ebene der
Funktionsstruktur nur aus Funktionen besteht, die sich hinsichtlich allgemeiner Anwendbarkeit praktisch nicht weiter unterteilen lassen (siehe Tab. 2.1). Sie liegen damit auf
einem hohen Abstraktionsniveau. Von dieser Beobachtung ausgehend haben verschiedene
Autoren allgemein anwendbare Funktionen vorgeschlagen, unter deren Zuhilfenahme sich
technische Systeme beschreiben lassen. Rodenacker (1991) definiert sie aus der Sicht der
2
Grundlagen technischer Systeme
17
Abb. 2.5 Funktion und Verhalten eines Elektromotors (Birkhofer et al. 2000)
Tab. 2.1  Übersicht allgemein anwendbarer Funktionen
Rodenacker
Logische Betrachtung
Verknüpfen, Trennen, Führen
Roth
Allgemeine Betrachtung
Wandeln, Verknüpfen (Summativ, Distributiv), Übertragen
(Umformen, Leiten), Speichern
Krumhauer
Allgemeine Betrachtung
Wandeln (Art), Vergrößern/Verkleinern (Größe), Verknüpfen/Verzweigen (Anzahl), Leiten/Sperren (Ort), Speichern (Zeit)
Koller
Wandeln/Rückwandeln, Richtung ändern, Vergrößern/Verkleinern,
Physikalische Betrachtung Koppeln/Unterbrechen, Verbinden/Trennen, Fügen/Teilen, Leiten/
Isolieren, Sammeln/Streuen, Richten/Oszillieren, Führen/Nicht
führen, Absorbieren/Emittieren, Speichern/Entleeren
zweiwertigen Logik, Roth (1982, 2001) hinsichtlich einer allgemeinen Anwendbarkeit,
Koller (1974, 1994) in Bezug auf zu suchende physikalische Effekte. Krumhauer (1974)
untersucht die allgemeinen Funktionen im Hinblick auf eine Rechnerunterstützung in der
Konzeptphase. Dabei betrachtet er den Zusammenhang der Eingangs- und Ausgangsgröße
nach der Änderung von Art, Größe, Anzahl, Ort und Zeit. Er kommt im Wesentlichen zu
den gleichen Funktionen wie Roth, jedoch mit dem Unterschied, dass „Wandeln“ nur die
Änderung der Art von Eingang und Ausgang, dagegen „Vergrößern bzw. Verkleinern“ nur
die Änderung nach der Größe beinhaltet.
Ausgehend von der Definition allgemein anwendbarer Funktionen wurden Vorschläge zur symbolischen Darstellung technischer Funktionen erarbeitet (Hansen 1966;
Hubka 1976; Rodenacker 1991). Bisher hat sich keine Darstellungsform allgemeingültig
durchgesetzt, sodass verschiedene Ansätze parallel existieren. Vor dem Hintergrund
des Zwecks einer Funktionsstruktur ist dies nicht entscheidend. Für die Anwendung
ist es wichtig, dass Funktionen möglichst eindeutig, z. B. mittels Substantiv und Verb
beschrieben werden.
18
G. Pahl et al.
Abb. 2.6 Allgemein anwendbare Funktionen. (Nach Krumhauer 1974)
Im Rahmen dieses Werks werden die allgemein anwendbaren Funktionen nach
Krumhauer (1974) verwendet. In Abb. 2.6 wird die zugehörige symbolische Darstellung
verwendet.
Das Vorgehen beim Aufstellen einer Funktionsstruktur und ausgewählte Beispiele
werden in Kap. 9 dieses Buches erläutert.
2.4Wirkzusammenhang
Das Aufstellen einer Funktionsstruktur erleichtert das Finden von Lösungen, da durch
die Strukturierung die Bearbeitung weniger komplex wird und die Lösungen für Teilfunktionen zunächst gesondert erarbeitet werden können.
Die einzelnen Teilfunktionen, die zunächst soweit möglich lösungsneutral (Black-Box)
dargestellt wurden, werden nun durch eine konkretere Aussage ersetzt. Teilfunktionen
werden in der Regel durch physikalische, chemische oder biologische Prozesse erfüllt,
wobei physikalische Prozesse in maschinenbaulichen Lösungen überwiegen. Lösungen für
die Verfahrenstechnik nutzen insbesondere chemische und biologische Prozesse.
Physikalische Prozesse werden durch das Vorhandensein von physikalischen Effekten
und durch das Festlegen von geometrischen und stofflichen Merkmalen in einen
Wirkzusammenhang gebracht, der erzwingt, dass die Funktion im Sinne der Aufgabenstellung erfüllt wird.
Der Wirkzusammenhang wird daher von den gewählten physikalischen Effekten und
den festgelegten geometrischen und stofflichen Merkmalen bestimmt:
Physikalische Effekte Der physikalische Effekt ist durch physikalische Gesetze, die die
beteiligten Größen einander zuordnen, auch quantitativ beschreibbar: z. B. der Reibungseffekt durch das Coulombsche Reibungsgesetz FR = µ · FN, der Hebeleffekt durch das
Hebelgesetz Fa · a  = Fb · b oder der Ausdehnungseffekt durch das lineare Ausdehnungsgesetz fester Stoffe Δl = α · l · Δδ (s. Abb. 2.7). Vor allem Rodenacker (1991) und Koller
(1994) haben solche Effekte zusammengestellt.
Die Erfüllung einer Teilfunktion kann möglicherweise erst durch Verknüpfen
mehrerer physikalischer Effekte erzielt werden, z. B. die Wirkungsweise eines Bimetalls,
2
Grundlagen technischer Systeme
19
Abb. 2.7 Erfüllen von Teilfunktionen durch Wirkprinzipien, die aus physikalischen Effekten sowie aus
geometrischen und stofflichen Merkmalen aufgebaut werden
die sich aus dem Effekt der thermischen Ausdehnung und aus dem Hookschen Effekt
(Spannungs-Dehnungs-Zusammenhang) aufbaut.
Eine Teilfunktion kann oft von verschiedenen physikalischen Effekten erfüllt werden,
z. B. Kraft vergrößern mit dem Hebeleffekt, Keileffekt, dem elektromagnetischen
Effekt, dem hydraulischen Effekt usw. Der gewählte physikalische Effekt einer Teilfunktion muss aber mit den Effekten von anderen verknüpften Teilfunktionen verträglich sein. So kann eine hydraulische Kraftverstärkung nicht ohne Weiteres ihre Energie
aus einer elektrischen Batterie beziehen. Es ist ferner einleuchtend, dass ein bestimmter
physikalischer Effekt nur unter gewissen Bedingungen die jeweilige Teilfunktion optimal
erfüllt. Eine pneumatische Steuerung ist z. B. nur unter bestimmten Voraussetzungen
einer mechanischen oder elektrischen überlegen.
Verträglichkeit und optimale Erfüllung können in der Regel meist nur im Zusammenhang mit der Gesamtfunktion und erst bei konkreterer Festlegung geometrischer und
stofflicher Merkmale sinnvoll beurteilt werden.
Geometrische und stoffliche Merkmale Die Stelle, an der das physikalische
Geschehen zur Wirkung kommt, kennzeichnet den Wirkort. Hier wird die Erfüllung
der Funktion bei Anwendung des betreffenden physikalischen Effekts durch die
Wirkgeometrie, d. h. durch die Anordnung von Wirkflächen (bzw. -linien, -räumen) und
durch die Wahl von Wirkbewegungen erzwungen (Miller et al. 1960).
20
G. Pahl et al.
Die Gestalt der Wirkfläche wird durch
•
•
•
•
•
Art,
Form,
Lage,
Größe und
Anzahl
einerseits variiert und andererseits auch festgelegt (Rodenacker 1991).
Nach ähnlichen Gesichtspunkten wird die erforderliche Wirkbewegung bestimmt durch
•
•
•
•
•
Art: Translation, Rotation,
Form: gleichförmig, ungleichförmig,
Richtung: in x, y, z-Richtung oder/und um x, y, z-Achse,
Betrag: Höhe der Geschwindigkeit und
Anzahl: eine, mehrere usw.
Darüber hinaus muss eine erste prinzipielle Vorstellung über die Art des Werkstoffs
bestehen, mit dem die Wirkflächen realisiert werden sollen, z. B. fest, flüssig oder gasförmig, starr oder nachgiebig, elastisch oder plastisch, hohe Festigkeit und Härte oder
hochzäh, verschleißfest oder korrosionsbeständig usw. Eine Vorstellung über die Gestalt
genügt oft nicht, sondern erst die Festlegung prinzipieller Werkstoffeigenschaften ermöglicht eine zutreffende Aussage über den Wirkzusammenhang.
Nur die Gemeinsamkeit von physikalischem Effekt sowie geometrischen und stofflichen Merkmalen (Wirkgeometrie, Wirkbewegung und Werkstoff) lässt das Prinzip
der Lösung sichtbar werden. Dieser Zusammenhang wird als Wirkprinzip bezeichnet
(Hansen (1966) z. B. nennt es Arbeitsweise). Das Wirkprinzip stellt den Lösungsgedanken für eine Funktion auf erster konkreter Stufe dar.
Abb. 2.7 gibt einige Beispiele:
• Drehmoment übertragen durch Reibungseffekt nach dem Coulomb’schen Reibungsgesetz an einer zylindrischen Wirkfläche führt je nach Art der Aufbringung der
Normalkraft zum Schrumpfverband oder zur Klemmverbindung als Wirkprinzip,
• Kraft vergrößern mithilfe des Hebeleffekts nach dem Hebelgesetz unter Festlegen des
Dreh- und Kraftangriffspunktes (Wirkgeometrie) führt ggf. unter Berücksichtigung
der notwendigen Wirkbewegung zur Beschreibung des Wirkprinzips als Hebellösung
oder Exzenterlösung usw.,
• elektrischen Kontakt herstellen durch Wegüberbrückung unter Nutzung des Ausdehnungseffekts entsprechend dem linearen Ausdehnungsgesetz führt erst nach
Festlegen der notwendigen Wirkflächen hinsichtlich Größe (z. B. Durchmesser und
Länge) und Lage zu einer gezielten Wirkbewegung des ausdehnenden Mediums, mit
Wahl eines sich um einen bestimmten Betrag ausdehnenden Werkstoffs (Quecksilber)
oder eines Bimetallstreifens als Schaltelement, insgesamt zum Wirkprinzip.
2
Grundlagen technischer Systeme
21
Zum Erfüllen der Gesamtfunktion werden die Wirkprinzipien der Teilfunktionen zu
einer Kombination verknüpft. Hier sind selbstverständlich auch mehrere unterschiedliche Kombinationen möglich. Die Richtlinie VDI 2222 bezeichnet diese Kombination
als Prinzipkombination (VDI 1997).
Die Kombination mehrerer Wirkprinzipien führt zur Wirkstruktur einer Lösung. In
einer Wirkstruktur wird das Zusammenwirken mehrerer Wirkprinzipien erkennbar, die
das Prinzip der Lösung (Lösungsprinzip) zum Erfüllen der Gesamtaufgabe angibt. Kennzeichnend ist, dass die Wirkstruktur ausgehend von der Funktionsstruktur die gewollte
Wirkungsweise, also die Zweckwirkung und die zugehörigen Abläufe auf prinzipieller
Ebene erkennen lässt. Die Wirkstruktur wird teilweise auch als Organstruktur bezeichnet
(Hubka 1984; Hubka und Eder 1992, 1988).
Zur Darstellung genügt bei bekannten Elementen ein Schaltplan oder ein Flussbild.
Mechanische Artefakte werden zweckmäßig als Strichbild wiedergegeben und nicht allgemein festgelegte Elemente erfordern oftmals eine erläuternde Skizze (siehe Abb. 2.7).
Vielfach ist die alleinige Wirkstruktur aber noch zu wenig konkret, um das Prinzip der
Lösung beurteilen zu können. Die Wirkstruktur muss z. B. durch eine überschlägige
Rechnung oder eine grobmaßstäbliche Untersuchung der Geometrie quantifiziert
werden. Erst dann kann das Lösungsprinzip festgelegt werden. Das Ergebnis wird dann
als prinzipielle Lösung bezeichnet.
Durch den Wirkzusammenhang werden die vom Produkt zu erfüllenden Funktionen
entsprechend der Funktionsstruktur und die sie jeweils realisierenden Funktionsträger
festgelegt, siehe Abb. 2.8. Die Funktionsträger werden in diesem Zusammenhang im
Wesentlichen durch den jeweils genutzten physikalischen Effekt repräsentiert.
Der in Abb. 2.8 dargestellte Zusammenhang zwischen Funktionen und den Funktionsträgern wird in diesem ersten Schritt im Wesentlichen aus Sicht der Entwicklung festgelegt. Eine erste Produktgliederung, z. B. in Baugruppen kann evtl. bereits erahnt
werden, ergibt sich aber nicht zwangsläufig. Diese bewusste Festlegung, welche
Funktion durch welchen Funktionsträger und damit letztlich Bauteil oder Baugruppe
realisiert werden, erfolgt mithilfe der Produktarchitektur.
Zu beachten ist ebenfalls die Wechselwirkung des betrachteten Systems mit seinem
Umfeld.
Abb. 2.8 Zusammenhang
zwischen Funktionen
eines Produkts und den sie
realisierenden Funktionsträgern
22
G. Pahl et al.
2.5Bauzusammenhang
Der in der Wirkstruktur bzw. in der prinzipiellen Lösung erkennbare Wirkzusammenhang
ist Grundlage bei der weiteren Konkretisierung, die zur Baustruktur führt. In diesem
Zusammenhang entstehen dann die Bauteile, Baugruppen oder Maschinen mit ihren
zugehörigen Verbindungen, die das konkrete technische Artefakt bzw. System schließlich
darstellen. Die Baustruktur berücksichtigt die Notwendigkeiten der Fertigung, der
Montage, des Transports etc. Abb. 2.9 zeigt am Beispiel der in Abb. 2.1 dargestellten
Schaltkupplung die vorgenannten grundlegenden Zusammenhänge, die in ihrer Reihung
gleichzeitig Konkretisierungsstufen darstellen.
Die realen Elemente einer Baustruktur genügen sowohl der gewählten Wirkstruktur
als auch allen anderen Anforderungen, denen das gesamte System entsprechen muss.
Um diese vollständig und rechtzeitig zu erkennen, sind aber noch systemtechnische
Zusammenhänge zu beachten.
2.6Systemzusammenhang
Technische Artefakte bzw. technische Systeme stehen nicht allein, sie sind im Allgemeinen Bestandteil eines übergeordneten Systems. In einem solchen System wirkt
vielfach der Mensch mit, indem er das technische System im Sinne der Funktionserfüllung durch Einwirkungen (handelnd, korrigierend, überwachend) beeinflusst. Dabei
erfährt er Rückwirkungen, auch Rückmeldungen, die ihn zu weiterem Handeln veranlassen (siehe Abb. 2.10). Er unterstützt oder ermöglicht damit die gewollten Zweckwirkungen des technischen Systems.
Daneben können nicht gewollte Eingänge auf das technische System aus der
Umgebung (auch Nachbarsysteme), also Störwirkungen (z. B. zu hohe Temperatur),
auftreten, die nichtgewollte Nebenwirkungen erzeugen (z. B. Formabweichung, Verlagerungen). Ferner können aus dem Wirkzusammenhang (Zweckwirkungen) ebenfalls
ungewollte Erscheinungen als Nebenwirkungen (z. B. Schwingungen) sowohl aus den
einzelnen technischen Artefakten innerhalb des Systems als auch aus dem Gesamtsystem
nach außen auftreten, die den Menschen oder die Umgebung erreichen.
Gemäß Abb. 2.10 ist nach VDI-Richtlinie 2242 (1986) zweckmäßig wie folgt zu
unterscheiden:
Zweckwirkung
funktionale (gewollte) Wirkung als gewünschtes Ergebnis im Sinne
der Nutzung
Einwirkungfunktionale Beziehung als Handlung des Menschen im technischen
System
Rückwirkungfunktionale Beziehung des technischen Artefakts auf den Menschen
oder auf ein anderes technisches Artefakt
2
Grundlagen technischer Systeme
23
Abb. 2.9 Zusammenhänge in technischen Systemen
Störwirkungfunktional nicht gewollte (unerwünschte) Einflüsse von außen auf das
technische System, technische Artefakte oder den Menschen, die die
Funktionserfüllung beeinträchtigen oder erschweren
Nebenwirkungfunktional unerwünschte und unbeabsichtigte Wirkung des technischen
Artefakts bzw. Systems auf den Menschen und auf die Umgebung
24
G. Pahl et al.
Abb. 2.10 Zusammenhänge in technischen Systemen unter Beteiligung des Menschen
Alle Wirkungen müssen im Gesamtzusammenhang bei der Entwicklung technischer
Systeme verfolgt werden. Um diese rechtzeitig zu erkennen, sie zu nutzen oder ihnen
nötigenfalls zu begegnen, ist es zweckmäßig, eine methodische Leitlinie zu benutzen, die
generelle Zielsetzungen und Bedingungen berücksichtigt.
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3
Grundlagen methodischen Vorgehens
in der Produktentwicklung
Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz,
Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
3.1Grundlagen
Produktenwicklung bedeutet, dass neue Lösungen erarbeitet werden müssen. Das Vorgehen des einzelnen Entwicklers oder eines Teams lässt sich dabei aus verschiedenen
Perspektiven beschreiben. Nachfolgend wird das Vorgehen als Problemlösung,
Informationsverarbeitung, Iteration oder als Koevolution von Problem und Lösung
dargestellt. Tatsächlich ist der Entwicklungsprozess eine Kombination daraus. Die
einzelnen Sichten heben dabei besondere Aspekte hervor, die ein besseres Verständnis dieser anspruchsvollen kognitiven Tätigkeit erlauben und helfen Empfehlungen für
ein methodisches Vorgehen abzuleiten. Sie stellen somit wichtige Grundlagen für ein
methodisches Vorgehen in der Produktentwicklung dar.
Methoden zur Arbeitserleichterung und -verbesserung müssen die Eigenheiten,
Fähigkeiten und Grenzen menschlichen Denkens berücksichtigen (Pahl 1994). Das
methodische Vorgehen in der Produktentwicklung nutzt daher Erkenntnisse der
Kognitions- und Denkpsychologie, Philosophie, und der Arbeitswissenschaften.
K. Gericke (*)
Universität Rostock, Rostock, Deutschland
B. Bender
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
J. Feldhusen
Aachen, Deutschland
K.-H. Grote
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_3
27
28
K. Gericke et al.
Die vorgestellten allgemeinen methodischen Ansätze werden mit Vorgehensweisen
und Einzelmethoden aus verschiedenen nichttechnischen Disziplinen kombiniert. Die
Grundlagen dieser Vorgehensweisen sind dabei jedoch als interdisziplinär zu betrachten.
Im Folgenden werden diese Grundlagen vermittelt, um die später vorgestellten Vorgehensweisen und Einzelmethoden besser einordnen und auch zweckdienlich anwenden
zu können.
3.1.1Produktentwicklung als Problemlöseprozess
Der Konstrukteur sieht sich in seiner Tätigkeit vielfach Aufgaben gegenüber, die
Probleme enthalten, die er nicht ohne weiteres bewältigen kann. Das Problemlösen auf
unterschiedlichem Anwendungs- und Konkretisierungsniveau ist ein Kennzeichen seiner
Tätigkeit.
Die Denkpsychologie erforscht das Wesen menschlichen Denkens und somit auch des
Problemlösens. Erkenntnisse der Denkpsychologie müssen in einer Konstruktionslehre
berücksichtigt werden. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen
auf die Arbeiten von Dörner (1994, 1979).
Bevor auf die Beschreibung der Problemlösung eingegangen wird, soll zunächst
geklärt werden, wann eine Situation als Problem bezeichnet werden kann. Ein Problem
lässt sich durch drei Komponenten beschreiben:
• Anfangszustand, üblicherweise das Vorliegen einer unbefriedigenden Situation.
• Endzustand, eine befriedigende Situation oder ein gewünschtes Ergebnis.
• Bekanntheit der Mittel, die zur Transformation vom unerwünschten Ausgangszustand
zum erwünschten Endzustand benötigt werden.
Hindernisse, die einer Transformation im Wege stehen, können vielfältig sein und verändern das Wesen des resultierenden Problems, so dass verschiedene Kategorien von
Problemen unterschieden werden können (siehe Tab. 3.1). Probleme weisen Merkmale
wie Komplexität und Unbestimmtheit auf. Komplexität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass viele Komponenten mit unterschiedlich starker Verknüpfung bestehen,
die sich gegenseitig beeinflussen. Unbestimmtheit bedeutet, dass nicht alle Anfangsbedingungen bekannt sind, nicht alle Zielkriterien definiert sind, der Einfluss einer Teillösung auf das Ganze oder auf andere Teillösungen nicht überschaubar ist und erst nach
und nach erkannt wird. Die Schwierigkeiten verschärfen sich, wenn der Bereich, in dem
die Probleme zu lösen sind, sich zeitlich ändert. Probleme können somit hinsichtlich der
Klarheit der Zielkriterien und der Bekanntheit der Mittel zur Überwindung der Barrieren
unterschieden werden.
3
Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
29
Alternativ zur Unterscheidung nach Dörner (1979) (siehe Tab. 3.1) wird zwischen
wohldefinierten und schlecht definierten Problemen unterschieden (McCarthy 1956).
Wohldefinierte Problem sind gekennzeichnet durch die Bekanntheit der Lösungsstrategie. Schlecht definierte Probleme hingegen weisen unklare Ziele auf und Lösungsstrategien sind unbekannt.
Damit unterscheidet sich ein Problem von einer Aufgabe. Eine Aufgabe stellt
geistige Anforderungen, für deren Bewältigung Mittel und Methoden eindeutig bekannt
sind. Ein Beispiel wäre die Konstruktion einer Welle bei vorgegebenen Belastungen,
Anschlussmaßen und Fertigungsverfahren.
Beim Konstruieren treten Aufgaben und Probleme häufig vermischt auf und sind
oft nicht klar trennbar. So kann sich eine gestellte Konstruktionsaufgabe bei näherer
Betrachtung als Problem erweisen. Manche größere Aufgabe lässt sich in Teilaufgaben
gliedern, von denen einige sich als schwierige Teilprobleme darstellen. Umgekehrt
kann ein Problem durch Erledigung von mehreren erkannten Teilaufgaben in bisher
unbekannter Kombination gelöst werden.
Sowohl Dörner als auch McCarthy weisen auf die Subjektivität von Problemen hin,
d. h. ob eine Situation ein Problem für eine Person darstellt oder lediglich als Aufgabe
wahrgenommen wird hängt von der Erfahrung und dem Wissen der Person ab.
Tab. 3.1  Unterscheidungen von Problemtypen
Problemkategorie
Beschreibung
Syntheseproblem, Operatorproblem
Ausgangszustand und Endzustand sind bekannt
Die Mittel zur Überwindung sind unbekannt
und müssen noch gefunden werden
Interpolationsproblem, auch Kombinationsoder Auswahlproblem
Ausgangszustand und Endzustand sind bekannt
Die Mittel zur Überwindung sind bekannt.
Die Anzahl ist zu hoch oder die richtige
Kombination ist jedoch unbekannt, sodass ein
systematisches Durchprobieren unmöglich ist
Dialektisches Problem, Such- und
Anwendungsproblem
Ausgangszustand ist bekannt
Die Ziele (Endzustand) sind nur vage bekannt
oder nur unscharf formuliert. Die Lösung entsteht durch dauerndes Abwägen und Beseitigen
von Widersprüchen, bis ein akzeptables
Ergebnis zur Erfüllung wünschenswerter Ziele
entsteht
Kombination aus Synthese und dialektischem
Problem
Ausgangszustand ist bekannt
Endzustand ist nicht bekannt
Die Mittel zur Überwindung sind unbekannt
und müssen noch gefunden werden
30
K. Gericke et al.
Denkprozesse sind Prozesse im Gedächtnis und umfassen auch die Veränderung von
Gedächtnisinhalten. Beim Denken spielen also Gedächtnisinhalte und die Art und Weise,
wie diese im Gedächtnis miteinander verknüpft sind, eine wichtige Rolle. Zunächst
benötigt der Mensch zum Problemlösen ein bestimmtes Faktenwissen über den Realitätsbereich, in dem er das Problem lösen muss. In der Denkpsychologie nennt man das
in das Gedächtnis übertragene Wissen die epistemische Struktur. Weiterhin muss der
Mensch bestimmte Methoden (Verfahren) zur Lösungsfindung kennen, um effektiv
handeln zu können. Dieser Teilaspekt betrifft die heuristische Struktur im Denken des
Menschen. Außerdem kann man zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterscheiden. Das Kurzzeitgedächtnis als eine Art von Arbeitsspeicher hat eine geringe
Kapazität und ist nur in der Lage, etwa sieben Gesichtspunkte oder Merkmale (Einheiten) gleichzeitig bereitzuhalten (Miller 1956). Das Langzeitgedächtnis mit einer
praktisch wohl unendlich großen Kapazität nimmt dagegen das gesamte Fakten- und
heuristische Wissen auf und legt es offenbar strukturiert ab. Dabei ist der Mensch in der
Lage, bestimmte Zusammenhänge (Relationen) in mannigfacher Weise zu erkennen, zu
gebrauchen und neu zu bilden. Solche Relationen, die auch im technischen Bereich hohe
Bedeutung haben, sind beispielsweise:
• Konkret-Abstrakt-Relation, z. B.: Schrägkugellager – Kugellager – Wälzlager – Lager –
Führung – Kräfte leiten und Teil positionieren.
• Hierarchische Relation (Teil-Ganzes-Relation, Meronymie), z. B.: Anlage – Maschine –
Baugruppe – Teil.
• Raum-Zeit-Relation, z. B.: Anordnung: vorn – hinten, unten – oben; Abfolge: dieses
zuerst – jenes später.
Man kann das Gedächtnis als ein semantisches Netzwerk mit Knoten (Wissen) und Verbindungen (Relationen) betrachten, das änderbar und ergänzbar ist. Das Denken besteht
im Aufbau und in der Umbildung von solchen semantischen Netzen, wobei das Denken
selbst intuitiv oder diskursiv betont verlaufen kann.
Intuitives Denken ist stark einfallsbetont, der eigentliche Denkprozess geschieht
weitgehend unbewusst, die Erkenntnis tritt plötzlich durch irgendwelche Ereignisse
oder Assoziationen in das Bewusstsein. Man spricht von primärer Kreativität (Beitz
1985; Kroy 1984). Dabei werden recht komplexe Zusammenhänge verarbeitet. Müller
(1990) verweist in diesem Zusammenhang auf das „Schweigende Wissen“, ein Alltags- und Hintergrundwissen, das auch mit episodenhaften Erinnerungen, mit vagen
Begriffen und unscharfen Definitionen zur Verfügung steht. Es wird durch bewusste
und unbewusste Denkakte aktiviert. Im Allgemeinen benötigt der plötzliche Einfall
eine gewisse, nicht näher vorherbestimmbare Inkubationszeit ungestörten, unbewussten
Denkens, bis er ins Bewusstsein tritt. Diese kann u. a. auch dadurch initiiert werden,
dass z. B. Konstrukteure Lösungsideen frei skizzieren oder zeichnen. Nach Frick und
Müller (1990) wird dabei die Aufmerksamkeit an den Gegenstand gebunden, es verbleiben aber bei der manuellen Handlung mentale Freiräume, die Raum für unbewusste
3
Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
31
Denkprozesse lassen, oder letztere werden durch den zeichnerischen Vorgang zusätzlich
in Gang gesetzt.
Diskursives Denken besteht in einem bewussten Vorgehen, das mitteilsam und
beeinflussbar ist. Fakten und Relationen werden bewusst analysiert, variiert und neu
kombiniert, geprüft, verworfen oder weiter in Betracht gezogen. Beitz (1985) und
Kroy (1984) bezeichnen diesen Prozess als sekundäre Kreativität. Exaktes und wissenschaftlich begründetes Wissen wird über dieses Denken mindestens geprüft und in
einen Wissenszusammenhang gebracht. Dieser Prozess ist im Gegensatz zum intuitiven
Denken langsam und von vielen bewussten kleineren Denkschritten begleitet.
In der Gedächtnisstruktur ist explizit und bewusst erworbenes Wissen vom oben
erwähnten mehr vagen Alltags- oder Hintergrundwissen nicht exakt trennbar, und
die Wissensbestände beeinflussen sich gegenseitig. Entscheidend für ein gut abrufbares und kombinierbares Wissen ist aber vermutlich eine geordnete, in sich logische
Strukturierung des Faktenwissens (epistemische Struktur) im Gedächtnis des Problemlösers, gleichgültig, ob das Denkergebnis mehr intuitiv oder diskursiv entsteht.
Die heuristische Struktur betrifft das explizierbare (erklärbare) und nicht explizierbare Wissen, um die Abfolge von Denkoperationen, von Handlungsoperationen zum
Verändern des Zustands (Suchen und Finden) sowie von Prüfoperationen (Kontrolle
und Beurteilung) organisieren zu können. Oftmals beginnt der Suchende ziemlich planlos, offenbar in der Absicht, aus der Kenntnis seines Wissens auf Anhieb ohne weitere
Mühe eine Lösung zu finden. Erst bei Misserfolg oder Widersprüchen setzt eine mehr
planmäßige oder systematischere Abfolge von Denkoperationen ein.
Eine wichtige elementare Abfolge in Denkprozessen stellt die sog. TOTE-Einheit (Miller
et al. 1960) dar (siehe Abb. 3.1). Dabei handelt es sich um zwei Prozesse, nämlich den
Veränderungsprozess und den Prüfprozess. Die mit TOTE beschriebene Abfolge gibt an,
dass einer Handlungsoperation zunächst eine Prüfoperation (Test) vorangeht, die die Ausgangssituation analysiert. Dann erst wird die entsprechend gewählte Handlungsoperation
Abb. 3.1 TOTE-Einheit
als Grundeinheit der
Organisation von Denk- und
Handlungseinheiten (Dörner
1979; Miller et al. 1960)
32
K. Gericke et al.
(Operation) durchgeführt. Anschließend erfolgt wieder eine Prüfoperation (Test), die den
erreichten Zustand prüft. Ist das Ergebnis befriedigend, wird der Prozess verlassen (Exit),
andernfalls wird die Handlungsoperation entsprechend angepasst wiederholt.
In komplexeren Denkabläufen werden TOTE-Einheiten vielfach hintereinandergeschaltet, oder es werden mehrere Handlungen in Form einer „Handlungskaskade“
nacheinander durchgeführt, bevor ein erneutes Prüfen geschieht. Bei der Kopplung
geistiger Prozesse sind also vielfache Kombinationen und Abfolgen denkbar, die aber
immer wieder auf das Grundmuster der TOTE-Einheiten rückführbar sind.
Das Vorgehen in einzelnen Arbeitsschritten der Produktentwicklung kann daher als
Problemlöseprozess betrachtet werden, der die Kombination mehrerer ­TOTE-Einheiten
anhand typischer Einzeloperationen in der Produktentwicklung beschreibt (siehe
Abb. 3.2). Der Problemlöseprozess beginnt mit der Analyse eines zunächst häufig
unscharf definierten Problems. Basierend auf der Problemanalyse und der dabei
gewonnen Erkenntnisse wird das ursprüngliche Problem neu definiert. Anschließend
erfolgt die Synthese von Lösungen. Die erarbeiteten Lösungen werden anschließend analysiert und hinsichtlich ihrer Eignung, das Problem zu lösen beurteilt. Ausgehend von
dieser Beurteilung werden Teile des Prozesses wiederholt bis das (Teil-) Problem als
gelöst gilt.
Abb. 3.2 Problemlösezyklus in
der Produktentwicklung
3
Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
33
Kennzeichen guter Problemlöser
Die nachfolgenden Aussagen sind zum einen aus den Arbeiten Dörner (1983) und zum
anderen aus mit ihm zusammen durchgeführten Untersuchungen von Ehrlenspiel und
Pahl gewonnen worden. Letztere sind den Veröffentlichungen von Rutz (1985), Dylla
(1991), Ehrlenspiel und Dylla (1991), Fricke und Pahl (1991) und Fricke (1993) zu entnehmen. Die Erkenntnisse werden nachfolgend zusammengefasst (Pahl 1999):
Intelligenz und Kreativität
Unter Intelligenz wird im Allgemeinen Klugheit, die Fähigkeit des Begreifens und Verstehens sowie des Urteilens verstanden. Hierbei stehen oft analysierende Vorgehensweisen im Vordergrund.
Kreativität meint eine schöpferische Kraft, die Neues hervorbringt oder bisher nicht
bekannte Zusammenhänge bildet, wodurch weitere Lösungen oder Erkenntnisse möglich
werden. Kreativität ist häufig mit einer mehr intuitiv ablaufenden, synthetisierenden Vorgehensweise verbunden.
Intelligenz und Kreativität sind Eigenschaften von Personen. Ihre streng wissenschaftliche Definition und eine Abgrenzung zwischen Intelligenz und Kreativität ist bisher nicht gelungen. Mit Hilfe von Intelligenztests wird über einen Intelligenzquotienten
(Vergleich mit dem Mittelwert einer großen Gruppe von Menschen) versucht, das Maß
von Intelligenz zu messen, wobei angesichts vielfältiger Erscheinung von Intelligenz
zum Erfassen des Spektrums auch entsprechend verschiedenartige Tests, sog. Testbatterien, angewendet werden. Erst ihre gemeinsame Betrachtung lässt gewisse Einschätzungen zu. Das gleiche gilt auch für Kreativitätstests.
Zum Problemlösen ist ein Mindestmaß an Intelligenz erforderlich. Mit wachsendem
Intelligenzquotienten steigt auch die Chance für gutes Problemlösen. Wesentlich ist
aber, dass Intelligenztests allein wenig darüber aussagen, worin die Problemlösefähigkeit besteht (Dörner et al. 1983; Dörner 1979). Dörner (1979) begründet das so, dass es
sich bei den Intelligenztests meist um Aufgaben oder Probleme handelt, deren Lösung
nur wenige Denkschritte beansprucht, die daher in ihrer Abfolge meist gar nicht bewusst
werden. Die selbständige Organisation vieler Lösungsschritte zu einer bestimmten
Lösungsprozedur, d. h. das Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Ebenen oder
Möglichkeiten, was bei der Durchführung längerfristiger Denkakte von entscheidender
Bedeutung ist, wird bei Intelligenztests kaum erlangt.
Ähnliches gilt für Kreativitätstests. Letztere werden oft auf einer so niedrigen Stufe
angesetzt, dass der komplexe Problemlöseprozess, der auch viele Anteile des Planens
und Steuerns des eigenen Vorgehens umfasst, nicht angesprochen wird. Ferner ist
im konstruktiven Bereich Kreativität immer zielgerichtet. Eine reine, ungerichtete
Produktivität von Ideen und Varianten kann beim Problemlösen eher hinderlich werden
(Beitz 1985) oder allenfalls in einer bestimmten Phase förderlich sein.
34
K. Gericke et al.
Entscheidungsverhalten
Neben einem gut strukturierten Faktenwissen und einem geordneten Vorgehen beim
Handeln und Prüfen sowie einer zielgerichteten Kreativität ist es erforderlich Entscheidungsprozesse zu beherrschen, für die noch andere geistige Tätigkeiten und
Fähigkeiten ausschlaggebend sind:
Erkennen von Abhängigkeiten
In komplexen Systemen bestehen immer unterschiedlich starke Abhängigkeiten
zwischen einzelnen Teilbereichen. Die Art und Stärke solcher Abhängigkeiten zu
erkennen ist eine wesentliche Voraussetzung zur Gliederung in handhabbare, weniger
komplexe Teilprobleme bzw. Teilziele, die getrennt bearbeitet werden können. Hierbei muss der Bearbeiter aber in der Lage sein, Nah- und Fernwirkungen im Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten.
Einschätzen von Wichtigkeit und Dringlichkeit
Gute Problemlöser zeichnen sich dadurch aus, dass sie es verstehen, Wichtigkeit
(sachliche Bedeutung) und Dringlichkeit (zeitliche Bedeutung) zu erkennen und
daraus für ihr eigenes Vorgehen die richtigen Schlüsse ziehen. Sie werden versuchen,
Dinge von Bedeutung zuerst zu lösen und dann davon abhängige Lösungen für die
übrigen Teilprobleme zu entwickeln. Sie werden den Mut haben, es auf Nebenfeldern
bei Unvollkommenheiten zu belassen, wenn sie bei den bedeutungsvollen Hauptfeldern gute und annehmbare Lösungen gefunden haben. Sie werden sich nicht in
untergeordneten Teilfragen verzetteln und damit wertvolle Zeit verlieren. Gleiches
gilt für die Einschätzung von Dringlichkeit. Gute Problemlöser können notwendigen
Zeitbedarf richtig einschätzen und bauen sich einen Zeitplan auf, der sie zwar fordert,
aber nicht überfordert. Interessant sind die Erkenntnisse von Janis und Mann (1977),
dass milder, d. h. erträglicher, Stress für die Kreativität förderlich ist. Realistische
Terminvorgaben wirken sich auf das Ergebnis von Denkprozessen eher günstig aus,
woraus zu folgern ist, dass Neuentwicklungen am besten unter mäßigem Zeitdruck
ablaufen sollten. Selbstverständlich empfinden und reagieren Menschen je nach Typ
in diesem Zusammenhang unterschiedlich.
Stetigkeit und Flexibilität
Stetigkeit bedeutet kontinuierliches Festhalten am Erreichen der Ziele. Flexibilität
meint hohes Anpassungsvermögen bei wechselnden Bedingungen, was aber nicht zu
einem ziellosen Hin- und Herpendeln fuhren darf.
Gute Problemlöser finden ein angemessenes Maß zwischen Stetigkeit und Flexibilität. Sie weisen ein stetig konsistentes aber zugleich flexibles Verhalten auf. Sie halten
an vorgegebenen Zielen trotz auftretender Schwierigkeiten oder Hemmnisse fest.
Dagegen passen sie ihr Vorgehen an sich ändernde Situationen oder bei auftretenden
neuen Problemen unverzüglich an.
3
Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
35
Dabei sind ihnen vorgegebene Heurismen, Vorgehenspläne und Anweisungen in
erster Linie nur Richtschnur, aber nicht starre Vorschrift. Dörner (1979) schreibt:
„Heurismen oder Heurismenpläne dürfen nicht zu Automatismen entarten. Vielmehr
sollen Individuen lernen, das Erworbene selbstständig fortzuentwickeln. Vorgegebene
Heurismen dürfen nicht als Vorschriften missverstanden werden, sondern müssen als
entwicklungsfähig und entwicklungsbedürftig empfunden werden!“
Misserfolge sind nicht vermeidbar
In komplexen Systemen mit starker innerer Vernetztheit sind wenigstens partielle
Misserfolge kaum vermeidbar, weil in einem solchen Beziehungsgeflecht nicht
sogleich alle Wirkungen erkannt werden können. Beim Erkennen von solchen Misserfolgen kommt es in erster Linie auf die Art der Reaktion an. Wichtig ist die Fähigkeit eines flexiblen Vorgehens, das mit Analysefähigkeit über das eigene Vorgehen
gepaart ist, und ein Entscheidungsverhalten, das zu einem korrigierten Neuaufbau des
eigenen Denkens und daraus resultierendem neuen Handeln führt.
Zusammengefasst ergeben die Erkenntnisse der Denkpsychologie folgendes Eigenschaftsprofil eines guten Problemlösers. Sie besitzen ein gutes fachliches Wissen in
geordneter Weise, d. h. sie haben ein inneres gut strukturiertes Modell, finden ein
richtiges, je nach Situation angepasstes Maß zwischen Konkretheit und Abstraktion,
können auch bei Unschärfe oder Unbestimmtheiten handeln und halten am Ziel bei
flexiblem Vorgehensverhalten fest. Eine solche heuristische Kompetenz ist wohl im
hohen Maße von einer naturgegebenen Persönlichkeitsstruktur abhängig, kann aber
sicherlich durch Training an unterschiedlichen Problemstellungen merklich weiterentwickelt werden.
Die zuvor genannten Forschungsarbeiten haben folgende Kennzeichen guter Entwickler offenbart (G. Pahl 1999):
• Gründliche Zielanalyse zu Beginn der Arbeit und auch bei der Formulierung
von Teilzielen während des Konstruktionsprozesses insbesondere bei unscharfer
Problemformulierung.
• Durchlaufen einer konzeptionellen Phase zwecks Erarbeitens oder Erkennens des
günstigsten Lösungsprinzips und nachfolgender konkreter Gestaltung in einer Entwurfsphase.
• Eine zuerst divergierende und dann rasch konvergierende Lösungssuche mit nicht
zu vielen Varianten auf der jeweils angemessenen Konkretisierungsebene mit
Wechsel der Betrachtungsweise, z. B. abstrakt – konkret, Gesamtproblem – Teilproblem, Wirkzusammenhang – Bauzusammenhang.
• Häufige Lösungsbeurteilungen nach umfassenden Kriterien ohne zu starke
Betonung persönlicher Präferenzen.
• Ständige Reflexion des eigenen Vorgehens und dessen Anpassung an die jeweilige
Problemlage.
36
K. Gericke et al.
Diese Kennzeichen stimmen mit den Anliegen und Vorschlägen der in diesem
Buch beschriebenen Konstruktionsmethodik überein.
3.1.2Produktentwicklung als Informationsumsatz
Die Tätigkeiten der Produktentwicklung bestehen aus einer fortlaufenden Informationsverarbeitung und haben einen hohen Informationsbedarf. Auch Dörner (1979) bezeichnet
das Problemlösen als Informationsverarbeitung.
Informationen werden gewonnen (aufgenommen), verarbeitet und ausgegeben. Man
spricht von einem Informationsumsatz. Abb. 3.3 zeigt diesen Sachverhalt schematisch.
Informationsgewinnung kann z. B. geschehen durch Marktanalysen, Trendstudien,
Patente, Fachliteratur, Vorentwicklungen, Fremd- und Eigenforschungsergebnisse,
Lizenzen, Kundenanfragen und vor allem konkrete Aufgabenstellungen, Lösungskataloge, Analysen natürlicher und künstlicher Systeme, Berechnungen, Versuche, Analogien, überbetriebliche und innerbetriebliche Normen und Vorschriften, Lagerlisten,
Liefervorschriften, Kalkulationsunterlagen, Prüfberichte, Schadensstatistiken, aber auch
durch „Fragen stellen“. Die Informationsbeschaffung stellt beim Lösen von Aufgaben
einen wesentlichen Tätigkeitsanteil dar.
Informationsverarbeitung erfolgt z. B. durch Analyse der Informationen, Synthese
durch Überlegungen und Kombinationen, Ausarbeiten von Lösungskonzepten,
Berechnen, Experimentieren, Durcharbeiten und Korrigieren von Skizzen, Entwürfen
und Zeichnungen sowie durch Beurteilen von Lösungen.
Informationsausgabe erfolgt z. B. durch Festlegen des Überlegten in Skizzen,
Zeichnungen, Tabellen, Versuchsberichten, Montage- und Betriebsanweisungen,
Bestellungen, Arbeitsplänen. Häufig ist noch eine Informationsspeicherung notwendig.
Mewes (1973) gibt einige Kriterien für Informationen an, die zu ihrer Kennzeichnung
hilfreich sind und zur Formulierung von Forderungen des Informationsverbrauchers
benutzt werden können. Im Einzelnen werden genannt:
Abb. 3.3 Informationsumsatz mit Iterationsschleife
3
Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
37
• Zuverlässigkeit, d. h. die Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens und ihre Aussagesicherheit.
• Informationsschärfe, d. h. die Exaktheit und Eindeutigkeit des Informationsinhaltes.
• Volumen und Dichte, d. h. Angaben über Wort- und Bildmenge, die zur Beschreibung
eines Systems oder Vorganges notwendig sind.
• Wert, d. h. die Wichtigkeit der Information für den Empfänger.
• Aktualität, d. h. eine Angabe über den Zeitpunkt der Informationsverwendung.
• Informationsform, d. h. ob es sich um graphische oder alphanumerische
Informationen handelt.
• Originalität, d. h. gegebenenfalls die Notwendigkeit zur Erhaltung des Originalcharakters einer Information.
• Komplexität, d. h. die Struktur bzw. der Verknüpfungsgrad von Informationssymbolen
zu Informationselementen, -einheiten oder -komplexen.
• Feinheitsgrad, d. h. der Detaillierungsgrad einer Information.
Ein solcher Informationsumsatz läuft in der Regel sehr komplex ab. So werden zum
Lösen von Aufgaben Informationen von sehr unterschiedlicher Art, unterschiedlichem
Inhalt und Umfang benötigt, verarbeitet und ausgegeben. Darüber hinaus müssen zur
Anhebung des Informationsniveaus und damit zur Verbesserung häufig bestimmte
Einzelschritte des Informationsumsatzes iterativ mehrmals durchlaufen werden (siehe
Abschn. 3.1.3 und 3.1.4).
3.1.3Produktentwicklung als iterativer Prozess
Das Vorgehen in der Produktentwicklung nicht geradlinig sondern ist dynamisch und
erfordert eine fortlaufende Anpassung der Planung da einzelne Aktivitäten mehrfach
durchgeführt werden müssen. Iterationen sind ein zentrales Merkmal von Produktentwicklungsprozessen (Maier und Störrle 2011; Qureshi et al. 2013), sowohl auf
Makroebene als auch Mikroebene des Prozesses (Wynn und Eckert 2017). Auf der
Ebene kognitiver Prozesse wird dies im TOTE-Schema als wiederholtes durchlaufen
des Test-Operation Zyklus dargestellt (siehe Abb. 3.1) oder ebenfalls als Iteration in der
Beschreibung als Informationsumsatz (siehe Abb. 3.3).
Es existieren verschiedene Formen von Iterationen die sich in ihrem Wesen und in
ihrer Bedeutung für den Entwickler und die Prozessgestaltung unterscheiden. Iterative
Arbeitsabläufe können können in drei Gruppen zusammengefasst werden (Wynn und
Eckert 2017): fortschreitende, korrigierende und koordinierende Iterationen (siehe
Abb. 3.4).
Diese detaillierte Unterschiedung von Iterationen ist hilfreich für die Differenzierung
von Konsequenzen für den Entwickler bzw. das Entwicklungsteam. So ist es wichtig,
klar zwischen Iterationsformen zu unterscheiden, die unvermeidbar sind und positive
Effekte hervorrufen und zwischen Formen, die hauptsächlich nachteilige Effekte wie
zusätzlichen Ressourcen- und Zeitbedarf verursachen.
38
K. Gericke et al.
Abb. 3.4 Ausprägungen von Iterationen in der Produktentwicklung (Wynn und Eckert 2017)
In der Produktentwicklung sollten erkenntnisfördernde Iterationen zugelassen
werden. Dieser Freiraum ist notwendig um neue Ideen zu generieren und auch, um aus
erkannten Fehlern lernen zu können.
Unnötige Iterationen sollten hingegen vermieden werden. Iterationen die Einzelaktivitäten betreffen sind dabei zumeist unkritisch, sofern die Konsequenzen überschaubar
bleiben. Aktivitäten- und Phasenübergreifende Iterationen hingegen sind als kritisch einzustufen, da die teils komplexen Abhängigkeiten zwischen Einzelaktivitäten starke Auswirkungen auf den Gesamtprozess haben können (Ahmad et al. 2012; Keller et al. 2005).
3
Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
39
Abb. 3.5 Koevolution von Problem und Lösung. (Nach Brooks 2010)
3.1.4Produktentwicklung als Koevolution von Problem und
Lösung
Die Informationsverarbeitung und der Erkenntnisgewinn bezüglich einer möglichen
Lösung für eine Entwicklungsaufgabe bzw. eines damit verbunden Problems erfolgt
schrittweise. Dies bedeutet, dass bevor eine Lösung erarbeitet wird, zunächst das
Problem verstanden werden muss. Nachdem ein erster Lösungsvorschlag erarbeitet
wurde, kann dieser analysiert werden und liefert nicht nur Erkenntnisse darüber, wie
die Lösung verbessert werden kann, sondern liefert auch ein besseres Verständnis
des zu lösenden Problems bzw. führt zur Erkenntnis, dass die ursprüngliche Lösungsbeschreibung unzureichend war. Das Verständnis der Lösung und des zugrundeliegenden
Problems entwickelt sich sozusagen infolge mehrerer evolutionärer Schritte (siehe
Abb. 3.5) (Dorst und Cross 2001; Maher und Poon 1994; Maier et al. 2014). Wynn und
Eckert (2017) ordnen diese Form iterativen Vorgehens als fortschreitende Iteration ein
und bezeichnen sie als Exploration (siehe Abb. 3.4).
Die Koevolution von Problem und Lösung kann als eine erweiterte Darstellung des
TOTE-Schemas verstanden werden. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass
die Analyse und die Synthese explizit sowohl die Problembeschreibung als auch den
Lösungsvorschlag zum Gegenstand haben. Dieses Wechselspiel beschreibt den in der
Produktentwicklung typischen schrittweisen Wissenszuwachs. Diese Sicht auf den
Prozess trägt den Besonderheiten in der Produktentwicklung Rechnung und verdeutlicht, dass häufig zu Beginn das Problem nur unscharf oder unvollständig beschrieben ist
(siehe „dialektisches Problem“, Tab. 3.1).
3.2Vorgehensstrategien der methodischen
Produktentwicklung
Produktentwicklung hat sowohl eine logische als auch eine kreative Komponente und
ist somit mehr als reines Problemlösen (Goel und Pirolli 1989). Dies erfordert spezielle
Vorgehensstrategien, die intuitives und diskursives Denken nutzen, wie z. B. die
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K. Gericke et al.
Dekomposition komplexer Probleme, den Einsatz divergierender und konvergierender
Arbeitsschritte und Abstraktion. Der Gebrauch solcher Vorgehensstrategien und einhergehender Methoden kann dabei bei Bedarf flexibel opportunistisch oder systematisch
erfolgen. Die hier vorgestellte Konstruktionsmethodik versteht sich als Empfehlung und
unterbreitet Vorschläge für das Vorgehen in der Produktentwicklung und Konstruktion.
Diese Empfehlungen sollten vom Anwender jederzeit an den eigenen Kontext angepasst
werden, um ein Höchstmaß an Nutzen zu ermöglichen und nicht als starre Regel verstanden werden, die den Konstrukteur in seiner Arbeit behindert.
Eine allgemeine Konstruktionsmethodik soll branchenunabhängig und ohne fachspezifische Vorkenntnisse des Bearbeiters einsetzbar sein. Sie soll das Denken in
geordneter und effektiver Form unterstützen. Die nachfolgend vorgestellten Ansätze
werden bei speziellen Lösungs- und Vorgehensmethoden immer wieder in mehr oder
minder veränderter Form auftauchen und dann z. T. auf die Belange technischer Produktentwicklung zugeschnitten.
Anliegen dieses Abschnitts ist es, den Leser zunächst über methodisches Arbeiten
allgemein zu informieren. Die folgenden Hinweise und Vorschläge basieren neben den
in den in Abschn. 3.1.1 genannten denkpsychologischen Aspekten vor allem auf die
Arbeiten von Holliger (1970, 1972), Nadler (1963, 1969), Müller (1970, 1990) und
Schmidt (1980). Demnach müssen folgende Voraussetzungen beim methodischen Vorgehen erfüllt werden:
• Ziele definieren durch Mitteilen des Gesamtziels, der einzelnen Teilziele und ihrer
Bedeutung, wodurch die Motivation zur Lösung der Aufgabe sichergestellt und die
eigene Einsicht unterstützt wird.
• Bedingungen aufzeigen, d. h. Klarstellen von Rand- und Anfangsbedingungen.
• Vorurteile auflösen, was erst eine breit angelegte Lösungssuche bei Verminderung von
Denkfehlern ermöglicht.
• Varianten suchen, d. h. stets mehrere Lösungen finden, aus denen dann die günstigste
ausgewählt oder kombiniert werden kann.
• Beurteilen im Hinblick auf die Ziele und gegebenen Bedingungen.
• Entscheidungen fällen, was mit der vorangegangenen Beurteilung erleichtert wird.
Nur Entscheidungen mit sich einstellenden Rückwirkungen machen einen Erkenntnisfortschritt möglich.
Intuitives und diskursives Vorgehen
Nach Abschn. 3.1.1 kann zwischen intuitiver und diskursiver Denkweise unterschieden
werden, wobei ersteres mehr unbewusst und letzteres mehr bewusst abläuft.
Durch Intuition sind eine Vielzahl von guten und sehr guten Lösungen gefunden
worden und werden noch gefunden. Vorbedingung ist allerdings immer eine bewusste
und entsprechend intensive Beschäftigung mit dem vorliegenden Problem. Dennoch ist
bei rein intuitiver Arbeitsweise nachteilig, dass:
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Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
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• der richtige Einfall selten zum gewünschten Zeitpunkt kommt, denn er kann ja nicht
erzwungen oder erarbeitet werden,
• das Ergebnis stark von der Veranlagung und Erfahrung des Bearbeiters abhängt und
• die Gefahr besteht, dass sich Lösungen nur innerhalb eines fachlichen Horizontes des
Bearbeiters vor allem durch dessen Vorfixierung einstellen.
Es ist deshalb anzustreben, ein bewussteres Vorgehen durchzuführen, das schrittweise
ein zu lösendes Problem bearbeitet. Eine solche Arbeitsweise wird diskursiv genannt. Sie
vollzieht die Arbeitsschritte bewusst, beeinflussbar und mitteilsam, in der Regel werden
die einzelnen Ideen oder Lösungsansätze bewusst analysiert, variiert und kombiniert.
Wichtiges Merkmal dieses Vorgehens ist also, dass eine zu lösende Aufgabe selten sofort
in ihrer Gesamtheit angegangen wird, sondern dass man diese zunächst in übersehbare
Teilaufgaben aufgliedert (siehe Dekomposition im folgenden Abschnitt), um letztere
dann leichter lösen zu können.
Es muss nachdrücklich betont werden, dass intuitives und diskursives Arbeiten keinen
Gegensatz darstellen. Die Erfahrung zeigt, dass die Intuition durch diskursives Arbeiten
angeregt wird. Stets sollte angestrebt werden, komplexe Aufgabenstellungen schrittweise
zu bearbeiten, wobei es zugelassen bzw. erwünscht ist, Einzelprobleme intuitiv zu lösen.
Ergänzend sei festgehalten, dass Kreativität durch Einflüsse gehemmt oder gefördert
werden kann (Beitz 1985). So ist nach Abschn. 3.1.1 beim intuitiven Denken wegen
der Inkubationszeit eine Unterbrechung der Tätigkeit oft förderlich. Andererseits kann
ein häufiger Tätigkeitswechsel mit Unterbrechungen ein Störfaktor und damit kreativitätshemmend sein. Dagegen ist ein methodisches Vorgehen mit diskursiven Anteilen
bei wechselnden Betrachtungsebenen, z. B. die Nutzung unterschiedlicher Lösungsmethoden, der Wechsel zwischen mehr abstrakter und mehr konkreter Betrachtung und
umgekehrt, das Informieren anhand von Lösungskatalogen sowie eine Arbeitsteilung im
Team mit entsprechendem Informationsaustausch kreativitätsfördernd. Ferner gilt nach
(Janis und Mann 1977), dass realistische Terminvorgaben eher motivations- und kreativitätsfördernd als hemmend wirken.
Dekomposition als Problemlösestrategie
Komplexe Probleme, wie sie typisch sind in der Produktentwicklung, haben zur
Konsequenz, dass Lösungen nicht direkt erarbeitet werden können. Typisch für das Vorgehen bei der Bearbeitung von komplexen Problemen in der Produktentwicklung ist die
Kombination folgender Schritte (Goel und Pirolli 1992):
•
•
•
•
Analyse und Dekomposition des Problems,
Analyse von Abhängigkeiten zwischen Teilaspekten des Problems,
Lösung von isolierten Teilproblemen,
Integration der Teillösungen unter Berücksichtigung der Abhängigkeiten in eine
Gesamtlösung.
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K. Gericke et al.
Eine vorteilhafte Vorgehensstrategie zur Lösung komplexer Probleme, ist die Zergliederung des Gesamtproblems in Teilprobleme (Dekomposition). Die Unterteilung
beginnt mit einer detaillierten Analyse des Gesamtproblems bevor eine geeignete Unterteilung des Gesamtproblems in Teilprobleme vorgenommen wird. Die Dekomposition
kann bei Bedarf mehrfach erfolgen, bis handhabbare Einzelprobleme definiert sind
(siehe Abb. 3.6).
Begleitend zur Dekomposition von Gesamtproblem und Teilproblemen sind die
jeweiligen Abhängigkeiten auf jeder Detaillierungsebene zu analysieren und zu
dokumentieren. Das Verständnis dieser Abhängigkeiten ist für die spätere Auswahl von
Teillösungen, für die Prioritätensetzung und für die Integration von Teillösungen in eine
Gesamtlösung notwendig.
Das methodische Vorgehen nutzt dies beim Gliedern in Teilfunktionen und beim Aufstellen der Funktionsstruktur, der Suche nach Wirkprinzipien für Teilfunktionen und bei
der Planung der Arbeitsschritte beim Konzipieren und Entwerfen.
Divergenz und Konvergenz
Ausgehend von der initialen Problemstellung werden verschiedene Zwischenergebnisse erarbeitet bevor die finale Lösung erstellt wird. Wie bereits im Abschn. 3.1.3 und
3.1.4 dargelegt, werden dabei mehrere Iterationen durchlaufen und der schrittweise
Wissenszuwachs kann als Koevolution aus Problemverständnis und Lösungsverständnis
beschrieben werden. Ein wichtiger Grundpfeiler methodischen Vorgehens besteht darin,
dieses schrittweise Vorgehen um eine weitere Vorgehensstrategie zu ergänzen. Auf jedem
Konkretisierungsgrad sollte zunächst der Suchraum geeigneter Lösungen systematisch
erweitert werden (Divergenz) und anschließend durch Selektion und Auswahl auf eine
handhabbare Menge von Alternativen reduziert werden (Konvergenz).
Die Einengung des Lösungsraums sollte dabei nicht sprunghaft erfolgen (siehe
Abb. 3.7), d. h. die Konkretisierung von Lösungsvorschlägen sollte nicht voreilig oder ohne
hinreichende Erarbeitung und Analyse von alternativen Lösungen vorgenommen werden.
Abb. 3.6 Dekomposition
komplexer Probleme und
Integration von Lösungen (VDI
2221 1993)
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Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
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Abb. 3.7 Varianten der Suchraumgestaltung (Fricke 1993)
Ebenso ungeeignet ist eine übermäßige Erweiterung des Suchraums, d. h. die
parallele Ausarbeitung zu vieler alternativer Lösungsansätze bevor eine Auswahl erfolgt.
Dies bindet zu viele Ressourcen und ist daher nicht effizient. Sollte eine zunächst verfolgte Lösung sich später als ungeeignet erweisen, so können die zuvor erarbeiteten
Lösungen erneut betrachtet werden und konkretisiert werden.
Eine ausgewogene Suchraumgestaltung ist zu bevorzugen. Diese kennzeichnet
sich durch die Erarbeitung mehrerer alternativer Lösungsvarianten auf jedem
Konkretisierungsgrad und die anschließende Auswahl einer präferierten Variante für die
nachfolgende Konkretisierung (Fricke 1993).
Abstraktion als Lösungsfindungsstrategie
Im Kontext der Produktentwicklung ist es zur Differenzierung vom Wettbewerb, zur
Verbesserung der Leistungsfähigkeit oder der Schaffung gänzlich neuer Funktionen notwendig innovative Lösungen zu erarbeiten. Dies erfordert Kreativität. Kreatives Arbeiten
wird oftmals erschwert z. B. durch die Kenntnis existierender Lösungen, ein etabliertes
Problemverständnis und andere äußere Faktoren wie Termin- und Erfolgsdruck. Eine
häufige Folge ist die Vorfixierung auf eine mögliche Lösung (Crilly 2015; Lindemann
2009) so dass eine voreilige Suchraumeinengung erfolgt bzw. erst gar keine Lösungsalternativen oder ein unvoreingenommenes Problemverständnis erarbeitet werden.
Eine Vorgehensstrategie die hilfreich ist, Vorfixierungen zu vermeiden, basiert auf
der Abstraktion der initialen Problembeschreibung und darauf basierender Lösungsideen (Goldschmidt 2011). Eine systematische Abstraktion resultiert in einem neuen
Verständnis der Aufgabenstellung und kann bestehende Vorurteile und Vorfixierungen
auflösen. Dieses Vorgehen ist ein weiterer zentraler Bestandteil der hier vorgestellten
Kontruktionsmethodik, d. h. bei der Bearbeitung einer Entwicklungsaufgabe werden
ausgehend von einer im Rahmen der Produktplanung erarbeiteten Produktidee explizite
Abstraktionsschritte vorgenommen bevor eine erneute Konkretisierung erfolgt (siehe
Abb. 3.8).
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Abb. 3.8 Abstrahierende Vorgehensweise in der Produktentwicklung. (In Anlehnung an Blessing 1994)
Opportunistisches Vorgehen und systematische Vorgehensstrategie
Die opportunistische Vorgehensweise besteht darin entweder auf Basis der vorhandenen Erfahrungen gewonnene Lösungsmuster (Alexander et al. 1977) zu erkennen
oder aufgrund einer nicht näher spezifizierten Intuition direkt Teillösungen angeben
zu können (Lemburg 2009). Dieses Vorgehen basiert also auf einer durch Erfahrungen
gestützten Kreativität und darf nicht gleichgesetzt werden mit spontanen Einfällen. Die
so gefundenen Lösungen stammen entweder aus dem eigenen Unternehmen oder sind
Lösungen von Wettbewerbern.
Dem Vorteil dieser Vorgehensweise, bei Aufgabenstellungen mit eingeschränkter
Komplexität sehr schnell und effektiv eine mögliche Lösung zu finden, stehen aber auch
Nachteile gegenüber:
• Eine innovative Lösung wird nicht gefunden, da im vorhandenen Lösungsraum, also
im eigenen Unternehmen oder bei marktgängigen Lösungen, gesucht wird,
• mangelnde Berücksichtigung der unterschiedlichen Anwendungsbedingungen der
Lösung bei der neuen und alten Aufgabe,
• eine nicht optimale Lösung wird zu lange verfolgt und
• es wird keine Lösung gefunden, weil auf dem gefragten Aufgabengebiet keine
Erfahrungen vorliegen.
Aus den genannten Gründen ist es immer sinnvoll und meistens auch erforderlich, einen
Wechsel zwischen dem opportunistischen und einem systematischen Vorgehen vorzunehmen.
Im Gegensatz zum opportunistischen Vorgehen, das auf der Nutzung spontaner
Lösungsideen beruht, wird beim systematisch/methodischen Vorgehen der Wechsel
zwischen Arbeitsschritten zur Analyse und Synthese der Aufgabe und Lösung genutzt.
Die typischerweise beim Entwickeln und Konstruieren durchzuführenden Analysen
sind in Abb. 3.9 dargestellt. Je nachdem, in welcher Phase des Produktentwicklungs-
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Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
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Abb. 3.9 Typische Analysen
im Entwicklungs- und
Konstruktionsprozess
prozesses man sich befindet, wird entsprechend die Anforderungsliste, das Konzept, die
grobe Geometrie der Komponenten usw. synthetisiert, also aus einzelnen Elementen
zusammengesetzt.
Die hier vorgestellte systematische Vorgehensstrategie sollte grundsätzlich auch
zur kritischen Bewertung und zur Lösungserweiterung bzw. Absicherung eines
opportunistischen Vorgehens eingesetzt werden. Damit ergibt sich ein prinzipielles Vorgehen entsprechend Abb. 3.10.
Individuelle Arbeitsstile
Dem Konstrukteur sind bei seiner Arbeit Handlungsspielräume zu lassen, die es ihm
ermöglichen, seinen ihm eigenen, meist optimierten Arbeitsstil anzuwenden. Diese
Spielräume können in der Methodenauswahl, in der Reihenfolge bestimmter, notwendiger Einzelarbeitsschritte und in der Wahl des Informationspartners liegen. Dazu
bedarf es der eigenen, flexiblen Planung im jeweils überschaubaren Arbeitsbereich und
deren eigener Kontrolle. Die dann individuell verfolgte Vorgehensweise muss sich selbstverständlich in den allgemeineren Vorgehensplan der Methodik bzw. des Projekts sinnvoll und verträglich einpassen.
Im Allgemeinen sind bei der Neuentwicklung eines Produkts mehrere Teilfunktionen
(Teilprobleme) zu beachten, die dann auch entsprechende Teillösungen nach sich ziehen
und/oder in sich kombiniert werden können. In einer solchen Situation kann der Entwickler individuell unterschiedlich vorgehen. So kann es sein, dass er bei der Lösungssuche zunächst auf der prinzipiellen Ebene für jede der beteiligten Teilfunktionen
entsprechende Wirkprinzipien (Lösungsprinzipien) sucht, ihre gegenseitige Verträglichkeit grob prüft und sie dann zu einer gesamten Wirkstruktur (Lösungskonzept)
kombiniert. Erst dann geht er an die nähere Gestaltung der Komponenten, die er mit
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Abb. 3.10 Wechsel der Vorgehensweisen. (In Anlehnung an Lemburg 2009)
Rücksicht auf die Gesamtkombination vornimmt. Methodisch gesehen geht er dem
Vorgehensplan entsprechend methodisch stufenweise ablauforientiert vor, d. h. er treibt
die unterschiedlichen Funktionsbereiche in der Lösungsfindung parallel vom Abstrakten
(Idee, Vorstellung) zum Konkreten (endgültige Gestaltung) voran (vgl. Abb. 3.11a).
Eine andere Art ist es, für jeden Problem- oder Funktionsbereich nacheinander
die einzelnen Lösungen von der Lösungsidee bis zur endgültigen Gestaltung durchzuarbeiten und sie dann anschließend unter Anpassung miteinander zu kombinieren.
Methodisch gesehen würde dann teilproblemorientiert, also im entsprechenden
Funktions- oder Gestaltungsbereich vorgegangen werden (vgl. Abb. 3.11b).
Die Untersuchungen von Dylla (1991), Ehrlenspiel und Dylla (1991), Fricke und Pahl
(1991) und Fricke (1993) haben gezeigt, dass Anfänger mit methodischer Ausbildung
dazu neigen, methodisch stufenweise ablauforientiert vorzugehen, hingegen erfahrene
Konstrukteure eher teilproblemorientiert arbeiten. Letztere greifen auf ihren Erfahrungsschatz unmittelbar zu, kennen eine Reihe von möglichen Teillösungen und sehen sich
auch in der Lage, diese rasch darzustellen. Sie kommen damit verhältnismäßig schnell
zu einem konkreten Ergebnis, das dann unter Nutzung eines korrigierenden Vorgehens
zu einer Gesamtlösung zusammengefasst wird. Diese Art des Vorgehens ist dann erfolgreich, wenn die einzelnen Komponenten sich nicht stark gegenseitig beeinflussen und
ihre Eigenschaften gut überschaubar sind. Anderenfalls kommt es zum relativ späten
Erkennen über eine mangelnde Funktionsfähigkeit im Zusammenwirken. Auch können
unterschiedliche Teillösungen zu an sich gleichen oder ähnlichen Teilfunktionen entstehen, was häufig nicht wirtschaftlich ist und ein Zurückspringen auf die prinzipielle
Betrachtung mit erneuter Lösungssuche zwingt.
Im methodisch stufenweise ablauforientierten Vorgehen werden die vorgenannten
Gefahren des teilproblemorientierten Vorgehens weitgehend vermieden, es bedarf aber
eines größeren Zeitaufwandes der breiteren, mehr systematischen Betrachtung mit der
Gefahr einer unnötigen Ausweitung (Divergenz) des Lösungsfeldes. Letzteres erfordert
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Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
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Abb. 3.11 Unterschiedlich
individuelles Vorgehen bei
der Lösungsentwicklung
einer Teekochmaschine mit
mehreren zusammenhängenden
Funktionsbereichen:
Grundplatte/Steuerung (A),
Wasserspeicher und Heizung
(B), Ausguss und Verschluss
(C). a Methodisch stufenweise
ablauforientiert, d. h. in
jeder Stufe der Entwicklung
ganzheitliche Betrachtung; b
Teilproblemorientiert, d. h.
jeder Funktionsbereich für
sich entwickelt und dann
zusammengeführt. (Idealisierte
Verlaufsdarstellung nach Fricke
1993)
vom Entwickler das rechte Maß zwischen Abstraktem und Konkretem, d. h. das richtige
Gefühl, eine hinreichend, nicht zu große Menge guter Lösungsansätze zu haben und die
Entschlusskraft, diese möglichst rasch in der Kombination zu einer konkreteren Gesamtgestalt zusammenzuführen (Konvergenz).
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In der praktischen Anwendung ist nun methodisch stufenweise ablauforientiertes
und teilproblemorientiertes Vorgehen nicht immer lupenrein gegeben, sondern es treten
häufig je nach Problemlage Mischformen auf. Dennoch ist bei einzelnen Konstrukteuren
eine mehr oder weniger starke Neigung zu der einen oder anderen Vorgehensweise feststellbar.
Stufenweise ablauforientiertes Vorgehen empfiehlt sich bei starker Vernetzung der
Teilprobleme und beim Betreten von Neuland. Ein teilproblemorientiertes Vorgehen ist
zweckmäßig bei geringerer Vernetzung und bei Vorhandensein bekannter Teillösungen
im Erfahrungsschatz des Anwendungsgebietes.
Ähnliche individuelle Vorgehensunterschiede sind auch bei der Suche einzelner
Lösungen beobachtbar: Entwickelt und untersucht der Konstrukteur bei der Lösungssuche zu einzelnen Teilfunktionen nebeneinander unterschiedliche Lösungsprinzipien
oder Gestaltungsvarianten und vergleicht sie miteinander, um dann die günstigere auszusuchen, bezeichnet man dieses Vorgehen als eine generierende Lösungssuche (vgl.
Abb. 3.12a). Wird hingegen von einer Idee oder einem Vorbild ausgegangen und dieser
erste Ansatz schrittweise im Sinne der Problemstellung verbessert und angepasst bis eine
befriedigende Lösung sichtbar wird, handelt es sich um eine korrigierende Lösungssuche
(vgl. Abb. 3.12b). Bei ihr können dann auch eine Reihe von Lösungsvarianten entstehen,
wenn einzelne Varianten nicht verworfen wurden.
Abb. 3.12 Unterschiedlich
individuelles Vorgehen bei der
Lösungssuche einer elastischen
Abstützung. a Generierend,
d. h. Erzeugung von denkbaren
Lösungsmöglichkeiten und
zielgerichtete Auswahl. b
Korrigierend, d. h. von einer Idee
fortschreitende und korrigierende
Lösungssuche
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Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
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Erstere Art der Lösungssuche bietet eine größere Chance, auf neue, unkonventionelle
Ideen zu kommen, unterschiedliche Prinzipien in Betracht zu ziehen, also ein breiteres
Lösungsfeld zu gewinnen. Allerdings bestehen dann die Probleme der rechtzeitigen und
zielgerichteten Auswahl, um später unnötig erscheinende Arbeit zu vermeiden. Zu dieser
Vorgehensweise neigen wiederum eher methodisch geschulte Anfänger und methodisch
versierte Entwickler.
Die korrigierende Lösungssuche nutzt häufig der erfahrene Konstrukteur, besonders
dann, wenn ihm schon eine im Anwendungsfeld ähnlich bekannte Lösung vorschwebt
oder einfällt. Der Vorteil liegt in einer relativ raschen Konkretisierungsmöglichkeit, wenn auch die Varianten zunächst nicht voll befriedigen. Der Bearbeiter bleibt in
seinem Erfahrungsfeld und weitet es schrittweise aus. Die Gefahr liegt darin, in einem
prinzipiell ungünstigeren Lösungsansatz stecken zu bleiben oder andere vorteilhafte
Lösungsprinzipien nicht zu erkennen.
Wiederum ergeben sich in der praktischen Arbeit Mischformen. Es steht das
Bestreben im Vordergrund, den Arbeitsaufwand jeweils zu minimieren. Der Entwickler
und Konstrukteur neigt aufgrund seiner individuellen Fähigkeit und Erfahrung bzw.
Prägung zu dieser oder jener Vorgehensweise, ohne sich häufig über die Vorteile oder
Gefahren seines jeweiligen Weges bewusst zu sein.
Die gewählte oder auch unbewusst eingeschlagene Vorgehensweise ist individuell von
der Ausbildung und Erfahrung abhängig und beeinflussbar. Strenge Vorschriften sollten
dem Konstrukteur auch nicht gemacht werden, hingegen ist es gut, ihn auf die Vorteile
und Gefahren des jeweiligen Vorgehens aufmerksam zu machen und ihm dann die Entscheidung zu überlassen. Es ist zweckmäßig, durch Schulung (Weiterbildung) und durch
angemessene Führung während des Produktentwicklungsprozesses sich über die jeweils
geeignete Vorgehensweise im Klaren zu werden und sie abzustimmen.
3.3Allgemein anwendbare Methoden
Die im Folgenden dargestellten allgemeinen Methoden sind als weitere Grundlage für
methodisches Arbeiten aufzufassen. Von ihnen wird immer wieder Gebrauch gemacht
(Holliger 1970). Auch neue Methoden basieren oft auf allgemein wiederkehrenden
Methoden oder kombinieren diese in vorteilhafter Weise (Birkhofer 2008; Zier 2014).
Analyse
Eine Analyse ist in ihrem Wesen Informationsgewinnung durch Zerlegen und Aufgliedern sowie durch Untersuchen der Eigenschaften einzelner Elemente und der
Zusammenhänge zwischen ihnen. Es geht dabei um Erkennen, Definieren, Strukturieren
und Einordnen. Die gewonnenen Informationen werden zu einer Erkenntnis verarbeitet.
Zur Vermeidung von Fehlern wurde gefordert, die Aufgabenstellung klar und eindeutig
zu formulieren. Dabei ist es wichtig, das vorliegende Problem zu analysieren. Problemanalyse heißt, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen und bei komplexeren
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Problemstellungen durch Aufgliedern in einzelne, überschaubare Teilprobleme die
Lösungssuche vorzubereiten. Bereitet die Lösungssuche Schwierigkeiten, so kann durch
Neuformulierung des Problems u. U. eine bessere Ausgangsposition geschaffen werden.
Die Umformulierung von Aussagen ist oft ein wirksames Hilfsmittel, um neue Ideen
oder Aspekte zu gewinnen. Die Erfahrung zeigt, dass eine sorgfältige Problemanalyse
und -formulierung zu den wichtigsten Schritten methodischen Arbeitens gehören.
Hilfreich bei der Lösung einer Aufgabe ist eine Strukturanalyse, d. h. das Suchen
nach strukturellen Zusammenhängen, z. B. nach hierarchischen Strukturen oder
logischen Zusammenhängen. Allgemein kann man dieses methodische Vorgehen dahingehend charakterisieren, dass es bemüht ist, über strukturelle Recherchen, z. B. mit Hilfe
von Analogiebetrachtungen (vgl. Kap. 10), Gemeinsamkeiten oder auch Wiederholungen
zwischen unterschiedlichen Systemen aufzuzeigen.
Ein weiteres wichtiges Hilfsmittel ist die Schwachstellenanalyse. Dieser methodische
Ansatz geht davon aus, dass jedes System, also auch ein technisches Produkt, Schwachstellen und Fehler besitzt, die durch Unwissenheit und Denkfehler, durch Störgrößen
und Grenzen, die im physikalischen Geschehen selbst liegen, sowie durch fertigungsbedingte Fehler hervorgerufen werden. Im Zuge einer Systementwicklung ist es wichtig,
ein Konzept oder Entwurf auf seine Schwachstellen hin zu analysieren und nach Verbesserungen zu suchen. Zum Erkennen solcher Schwachstellen haben sich Auswahlund Bewertungsverfahren (vgl. Kap. 11) und Fehlererkennungsmethoden bewährt. Die
Erfahrung zeigt, dass nicht nur eine Detailverbesserung bei Beibehaltung des gewählten
Lösungsprinzips möglich wird, sondern häufig auch die Anregung zu einem neuen
Lösungsprinzip ausgelöst wird.
Abstrahieren
Abstrahierendes Vorgehen ist zum einen für die Planung des Entwicklungsprozesses,
d. h. auf der Makroebene der Prozessbeschreibung von Bedeutung, so wie dies
in Abschn. 3.2 beschrieben wurde und zu anderen auch für das Vorgehen bei der
Bearbeitung von Teilaufgaben und Einzelproblemen.
Ausgehend von einer Analyse ist es in der Regel möglich, aufgrund erkannter
Merkmale durch Abstraktion (Verallgemeinern, Vereinfachen durch Verzicht auf Einzelheiten), einen übergeordneten Zusammenhang zu finden, der allgemeiner und damit
weitreichender ist. Ein solches Vorgehen wirkt zum einen komplexitätsreduzierend und
lässt zum anderen wesentliche Merkmale hervortreten. Letztere wiederum geben Anlass,
nach anderen, die erkannten Merkmale aber enthaltenden Lösungen zu suchen und diese
dann zu finden. Gleichzeitig entsteht beim Bearbeiter eine gedankliche Struktur, in die er
unterschiedliche Erscheinungsformen leichter abrufbar einordnen kann. Die Abstraktion
unterstützt also gleichermaßen kreative als auch systematisierende Denkvorgänge. Mit
ihrer Hilfe ist es auch eher möglich, ein Problem so zu definieren, dass es von Zufälligkeiten der Entstehung oder Anwendung befreit wird und damit in eine allgemeingültige
Lösung überführt werden kann.
3
Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
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Synthese
Die Synthese ist in ihrem Wesenskern Informationsverarbeitung durch Bilden von Verbindungen, durch Verknüpfen von Elementen mit insgesamt neuen Wirkungen und
das Aufzeigen einer zusammenfassenden Ordnung. Es ist der Vorgang des Suchens
und Findens sowie des Zusammensetzens und Kombinierens. Wesentliches Merkmal
konstruktiver Tätigkeit ist das Zusammenfügen einzelner Erkenntnisse oder Teillösungen
zu einem funktionsfähigen Gesamtsystem, d. h. das Verknüpfen von Einzelheiten zu
einer Einheit. Bei diesem Syntheseprozess werden auch die durch Analysen gefundenen
Informationen verarbeitet. Generell ist bei einer Synthese das sog. Ganzheits- oder
Systemdenken zu empfehlen. Es bedeutet, dass bei der Bearbeitung einzelner Teilaufgaben oder bei zeitlich aufeinanderfolgenden Arbeitsschritten immer die Gegebenheiten
der Gesamtaufgabe oder des Gesamtablaufs betrachtet werden müssen, will man nicht
Gefahr laufen, trotz Optimierung einzelner Baugruppen oder Teilschritte, keine günstige
Gesamtlösung zu erreichen. Aus dieser Erkenntnis hat sich auch die interdisziplinäre
Betrachtungsweise der Methode „Wertanalyse“ entwickelt, die nach einer Problem- und
Strukturanalyse durch frühzeitiges Hinzuziehen aller Betriebsbereiche ein ganzheitliches
Systemdenken erzwingt. Ein weiteres Beispiel ist die Durchführung von Großprojekten.
Die gesamte Systemtechnik mit ihren Methoden beruht sehr stark auf diesem Ganzheitsdenken. Besonders bei der Bewertung mehrerer Lösungsvorschläge ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die sich z. B. in der Wahl der Bewertungskriterien ausdrückt,
wichtig, da der Wert einer Lösung nur bei Berücksichtigung aller Bedingungen,
Wünsche und Erwartungen richtig abzuschätzen ist.
Methode des gezielten Fragens
Es kann häufig sehr nützlich sein, Fragen zu stellen. Durch selbst gestellte oder vorgelegte Fragen werden zum einen der Denkprozess und die Intuition angeregt, zum
anderen fördert ein Fragenkatalog auch das diskursive Vorgehen. „Fragen stellen“
gehört mit zu den wichtigsten methodischen Hilfsmitteln. Das drückt sich auch dadurch
aus, dass die Mehrzahl der Autoren zu den einzelnen Arbeitsschritten Fragelisten vorschlagen, mit denen ihre Durchführung erleichtert werden soll. Sie liegen in der Praxis
für verschiedene Arbeitsschritte, z. B. als Checklisten, vor.
Methode der Negation und Neukonzeption
Die Methode der bewussten Negation geht von einer bekannten Lösung aus, gliedert
sie in einzelne Teile bzw. beschreibt sie durch einzelne Aussagen oder Begriffe und
negiert diese Aussagen der Reihe nach für sich oder in Gruppen. Aus dieser bewussten
Umkehrung können neue Lösungsmöglichkeiten entstehen. Beispielsweise wird man bei
einem „rotierenden“ Konstruktionselement auch eine „stehende“ Konzeption verfolgen.
Auch das Weglassen eines Elements kann eine Negation bedeuten. Dieses Vorgehen wird
auch als „methodisches Zweifeln“ bezeichnet (Holliger 1970).
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Methode des Vorwärtsschreitens
Ausgehend von einem ersten Lösungsansatz versucht man, alle nur denkbaren oder
möglichst viele Wege einzuschlagen, die von diesem Ansatz bzw. von dieser Anfangssituation wegführen und weitere Lösungen liefern. Man spricht auch von einem
bewussten Auseinanderlaufenlassen der Gedanken (divergentes Denken bzw. Vorgehen). Divergentes Denken bedeutet jedoch nicht immer ein systematisches Variieren,
sondern häufig auch ein zunächst unsystematisches Auseinanderlaufen der Gedanken.
Die Lösungssuche durch Vorwärtsschreiten soll beispielsweise mit Abb. 3.13 bei der Entwicklung von Wellen-Nabe-Verbindungen gezeigt werden. Die eingezeichneten Pfeile
deuten die Denkrichtungen an.
Durch Nutzung systematischer Merkmale (siehe Kap. 10) kann ein solcher Denkprozess bewusst unterstützt werden, indem die Variation enger in Anlehnung solcher
Merkmale erfolgt. Vielfach, insbesondere bei gut strukturierten Vorstellungen, erfolgt eine
unbewusste, dann aber meist nicht vollständige Nutzung der Merkmale (s. Abb. 3.13).
Methode des Rückwärtsschreitens
Bei dieser Methode geht man nicht von der Anfangssituation des Problems, sondern
von seiner Zielsituation aus. Man betrachtet hier das Entwicklungsziel und beginnt,
rückwärtsschreitend alle nur denkbaren oder möglichst viele Wege zu entwickeln, die
in dieses Ziel einmünden. Man spricht hier auch von einer Einengung oder von einem
bewussten Zusammenführen der Gedanken (konvergentes Denken), da nur solche
Abb. 3.13 Entwicklung von Welle-Nabe-Verbindungen nach der Methode des Vorwärtsschreitens
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Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung
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Gedanken verfolgt werden, die zum Ziel führen bzw. im Ziel zusammenlaufen. Dieses
Vorgehen ist typisch beim Erstellen von Arbeitsplänen und Fertigungssystemen zur
Bearbeitung eines fest vorgegebenen Werkstücks (Zielsituation).
Dieser Methode kann auch das Vorgehen von Nadler (1967) zugeordnet werden,
der zur Lösungssuche vorschlägt, ein ideales System aufzubauen, das die gestellten
Anforderungen vollkommen erfüllt. Es dient dann als Richtschnur für die Entwicklung
des geforderten Systems. Dabei wird ein Idealsystem nicht im eigentlichen Sinne entworfen, vielmehr existiert es als Bedingung, so z. B. ideale Umgebungsverhältnisse ohne
irgendwelche Störeinflüsse. Im Folgenden wird dann schrittweise überprüft, welche
Zugeständnisse gemacht werden müssen, um das theoretische Idealsystem in ein technologisch realisierbares System und schließlich in ein die konkreten Randbedingungen
erfüllendes System zu überführen. Problematisch bei diesem Verfahren ist allerdings
die Festlegung des „Ideals“, denn nicht für alle Funktionen, Systemelemente oder Baugruppen ist von vornherein der Idealzustand eindeutig erkennbar, insbesondere nicht,
wenn sie in einem komplexen System verknüpft sind.
Methode des Systematisierens
Beim Vorliegen von kennzeichnenden Merkmalen besteht die Möglichkeit, durch
systematische Variation ein mehr oder weniger vollständiges Lösungsfeld zu erarbeiten.
Charakteristisch ist das Aufstellen einer verallgemeinernden Ordnung, wodurch erst eine
vollständige Lösungsübersicht erreicht wird. Unterstützt wird dieses Vorgehen durch
eine schematisierte Darstellung von Merkmalen und Lösungen. Auch vom arbeitswissenschaftlichen Standpunkt ist festzustellen, dass dem Menschen das Finden von Lösungen
durch Aufbau und Ergänzung einer Ordnung leichter fällt.
Arbeitsteilung und Zusammenarbeit
Eine wesentliche arbeitswissenschaftliche Erkenntnis ist die Notwendigkeit einer
Arbeitsteilung bei der Bearbeitung umfangreicher und komplexer Aufgabenstellungen.
Eine solche Arbeitsteilung wird durch die ständig fortschreitende Spezialisierung
immer notwendiger, sie ist aber auch durch die geforderten kurzen Bearbeitungszeiten
erforderlich. Arbeitsteilung bedeutet aber auch interdisziplinäre Zusammenarbeit, wozu
organisatorische und personelle Voraussetzungen, unter anderem die Aufgeschlossenheit des Einzelnen gegenüber Anderen, gegeben sein müssen. Es sei aber betont, dass
interdisziplinäre Zusammenarbeit und Teamarbeit umso mehr die Schaffung klarer Verantwortlichkeiten erfordern. So ist beispielsweise in der Industrie die Stellung des sog.
Produktmanagers entstanden, der über die Abteilungsgrenzen hinweg die alleinige Verantwortung für die Entwicklung eines Produkts trägt. Methodisches Vorgehen, gepaart
mit Methoden, die gruppendynamische Effekte nutzen, wie z. B. Brainstorming, Galeriemethode (vgl. Kap. 10) und Beurteilungen durch eine Gruppe (vgl. Kap. 11) helfen,
durch Arbeitsteilung entstandene Informationsdefizite abzubauen und eine gegenseitige
Anregung bei der Lösungssuche zu verstärken.
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K. Gericke et al.
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Der Produktentwicklungsprozess
Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl, Wolfgang Beitz,
Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
Produktentwicklung erfordert Kooperation. Für die Entwicklung komplexer technischer
Produkte sind Fachkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen erforderlich, die die
Zerlegung des Problems in Teilprobleme, parallele Bearbeitung und Reintegration
in eine Gesamtlösung erfordern (Abschn. 3.2).
Produktentwicklung umfasst eine große Bandbreite möglicher Aktivitäten. Diese
können von der Berechnung und Gestaltung einzelner Maschinenelemente wie Lager
oder Schrauben über die Entwicklung von Baugruppen, Maschinen, Anlagen bis zur
Ausarbeitung produktbegleitender Services reichen. Auch strategisch ausgerichtete
Handlungsfelder wie die Konzeptionierung langfristiger Produktstrategien können zu
den Aufgaben der Produktentwicklung gehören (Bender und Steven 2015, 2016; Gericke
und Blessing 2012; Gericke et al. 2013b).
K. Gericke (*)
Universität Rostock, Rostock, Deutschland
B. Bender
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
J. Feldhusen
Aachen, Deutschland
K.-H. Grote
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_4
57
58
K. Gericke et al.
Der Produktentwicklungsprozess beschreibt das Vorgehen beim Entwickeln eines
Produkts. Produktentwicklungsvorhaben werden üblicherweise als Projekte durchgeführt
(Kap. 17). Der Arbeitsablauf besteht aus Aktivitäten, die gemäß einer modellhaften,
gedanklichen Logik aufeinander aufbauen. Das Modell ist angelehnt an das Vorgehen
beim Lösen komplexer Probleme (Kap. 3) und daher für die Produktentwicklung allgemein gültig. Der konkrete Arbeitsablauf, d. h. die aufbau- und ablauforganisatorische
Integration dieser Aktivitäten in einem Unternehmen dagegen müssen immer an den
spezifischen Entwicklungskontext angepasst werden (Abschn. 4.5) und bilden somit die
Grundlage für das Projektmanagement.
Bei der Gestaltung von Produktentwicklungsprozessen gelten im Unterschied zu
vielen anderen Prozessen, wie z. B. der Produktion, besondere Rahmenbedingungen.
Die detaillierte Planung von Produktenwicklungsprozessen wird dabei durch Iterationen
(Abschn. 3.1.3) und die mit dem Problemlösen verbundene Koevolution von Problem
und Lösung (Abschn. 3.1.4) erschwert. Konkurrierende Ziele erfordern Kompromisse
und der offene Lösungsraum, der eine Vielzahl möglicher Lösungen zulässt, erfordern
wiederkehrend eine systematische Auswahl und Bewertung von Alternativen
(Abschn. 3.2). Diese Rahmenbedingungen führen zu typischen Anforderungen an die
Gestaltung von Produktentwicklungsprozessen. Die initiale Zieldefinition muss entwicklungsbegleitend regelmäßig entsprechend dem Erkenntnisfortschritt neu justiert
werden können. Iterationen im Prozess müssen die Berücksichtigung neuer Erkenntnisse
ermöglichen. Die Eigenschaftsabsicherung erfolgt entwicklungsbegleitend bereits für
Teilergebnisse, um die Iterationsschleifen möglichst kurz zu halten.
Je nach Zielsetzung und Betrachtungsschwerpunkt gibt es unterschiedliche Darstellungsformen des Produktentwicklungsprozesses, die beispielsweise auf bestimmte
Anwendungsfelder wie die Mechatronik oder einzelne der genannten Prozessanforderungen wie die Eigenschaftsabsicherung abzielen. In Abschn. 4.3 wird ein
Model des Produktentwicklungsprozess vorgestellt. In Abschn. 4.4 werden Ansätze
zur Modellierung vorgestellt, die für die Anpassung des allgemeinen Models in
(unternehmens-)spezifische Produktentwicklungsprozesse unter Berücksichtigung des
individuellen Kontexts hilfreich sind (Abschn. 4.5). In Abschn. 4.6 wird ein Überblick
über alternative Prozessmodelle gegen.
4.1Produktlebenszyklus und Produktentstehungsprozess
Der Produktlebenszyklus eines Produktes beschreibt die Phasen, die ein Produkt von der
ersten Idee über die Realisierung den Gebrauch bis hin zur Außerbetriebnahme und dem
Recycling oder der Weiterverwendung bzw. Wiederverwendung (Abb. 4.1) durchläuft.
Basierend auf Informationen der Produktplanung beginnt die Produktentwicklung.
Auf Grundlage der während der Entwicklung erstellten Dokumentation des Produktes
erfolgt die Produktherstellung. Produktplanung, Produktentwicklung und Produktherstellung werden teils auch als Produktentstehung zusammengefasst. Diese Phasen
4
Der Produktentwicklungsprozess
Abb. 4.1 Produktlebenszyklus
und Einordnung der
Produktentstehung
(Bender und Gericke 2016)
59
Produktplanung
Produktentwicklung
Produktrecycling
Beschaffung
Außerbetriebnahme
Produktherstellung
Nutzung
Vertrieb
Produktentstehung
erfordern eine besonders enge Abstimmung der Prozesse und teils eine gemeinsame
Konzeptionierung von Produkt und Produktionssystem (Gausemeier et al. 2018).
Das realisierte Produkt wird genutzt und am Ende der Gebrauchsdauer außer Betrieb
genommen. Das Produkt oder Bestandteile davon können nachfolgend ggf. in einem
zweiten Nutzungszyklus wieder- oder weiterverwendet werden oder die verwendeten
Materialien zur Herstellung neuer Produkte recycelt werden.
4.2Modelle des physikalischen Produkts
Der deutsche Begriff „konstruieren“ stammt vom Lateinischen „construere“ ab, was mit
„aufbauen“ oder „errichten“ übersetzt werden kann. Zu Beginn der Industrialisierung
wurden die Produkte von ein und derselben Person erdacht und hergestellt. Überlegungen zur Gestaltung wurden also direkt in Bauteile umgesetzt. Die Arbeitsteilung
zwischen dem „Erdenken“ eines Produkts und dessen Herstellung machte eine modellhafte Abbildung der Überlegungen zur Gestaltung des Produkts erforderlich. Zur modellhaften Abbildung der dreidimensionalen Geometrie eines Bauteils werden bis heute
zweidimensionale Zeichnungen nach genauen Regeln erstellt, s. Abb. 4.2.
Der Modellierung des zu entwickelnden Produkts kommt in der Produktentwicklung eine zentrale Bedeutung zu, da das physikalische Produktmodell nicht nur die
Externalisierung von Gedanken ermöglicht, sondern auch Teil vieler Analyseschritte ist
sowie viele zusätzliche Informationen (Fertigung) transportieren kann. Damit stellt das
Modell eine Grundlage für die Kommunikation zwischen den beteiligten Stakeholdern
aus unterschiedlichen fachlichen Disziplinen dar.
Die verschiedenen Eigenschaften eines Produkts werden mithilfe sehr unterschiedlicher Modelle wiedergegeben: die Geometrie über Zeichnungen, die Festigkeit über
entsprechende Werkstoffgesetze usw. Der Erfolg beim Konstruieren hängt demnach
sehr stark von der Wahl des richtigen Modells ab. Um eine Produkteigenschaft spezifisch, also für den gerade betrachteten Fall voraussagen zu können, müssen die allgemeingültigen Modelle mit den für die Anwendung spezifischen Daten versehen
werden. In einer Zeichnung beispielsweise sind dies die genauen Abmaße, bei einem
60
K. Gericke et al.
Abb. 4.2 Modellhafte Abbildung der Geometrie eines Bauteils (Schweißkonstruktion) durch eine
Zeichnung
Werkstoffgesetz die genauen Werte für die Zugfestigkeit des gewählten Werkstoffs. Ein
Arbeitsschritt beim Konstruieren besteht dann darin, das betreffende Modell, welches
die betrachtete Eigenschaft abbilden kann, mit den aufgabenspezifischen Werten zu
konkretisieren, um eine gesuchte Produkteigenschaft ermitteln zu können. Sehr häufig
bedeutet dies beispielsweise, eine Formel (Modell) mit Werten (Daten) zu füllen und zu
berechnen.
Abb. 4.3 zeigt eine mögliche Anwendung eines einfachen Modells zur Modellierung
der Reibkräfte eines Bauteils. Damit ein Produkt entsteht, muss natürlich eine ganze
Abb. 4.3 Ein Arbeitsschritt beim Konstruieren am Beispiel „Reibkraft bestimmen“
4
Der Produktentwicklungsprozess
61
Reihe solch kleiner Arbeitsschritte vollzogen werden. Letztlich ist es notwendig, jede
Eigenschaft des Produkts durch ein entsprechendes Modell mit den zugehörigen Daten
in einem Arbeitsschritt zu ermitteln. Durch die Summe all dieser Arbeitsschritte wird ein
Produkt in seinen Eigenschaften modellhaft abgebildet. Die Summe aller Arbeitsschritte
von der Produktidee bis zur Erzeugung der Fertigungsunterlagen wird als Produktentwicklungsprozess, bezeichnet.
Die produktbeschreibenden Daten, die bei der Bearbeitung eines Modells verwendet
werden, können, wie z. B. Werkstoffdaten, von außerhalb des Prozesses stammen
und werden dann im Rahmen der Bearbeitung des Entwicklungsauftrags festgelegt.
Typischerweise entstehen produktbeschreibende Daten aber auch im Prozess selbst als
Ergebnis der Verarbeitung eines Modells.
4.3Modell des Produktentwicklungsprozesses
In den vorangegangenen Kapiteln sind die Grundlagen dargestellt. Basierend auf diesen
Vorschlägen und Hinweisen wird ein für die Konstruktionspraxis branchenunabhängiges
und allgemein anwendbares methodisches Vorgehen vorgestellt.
4.3.1Allgemeiner Lösungsprozess
In Abschn. 3.1.1 wurde dargelegt, dass Produktentwicklung als Problemlöseprozess
betrachtet werden kann. Komplexe Probleme zeichnen sich durch folgende Merkmale
aus (Dörner 1989; Schaub 2006):
• VernetztheitVernetzung von Problem- und Lösungselementen untereinander,
• Intransparenz
unvollständige oder unklare Informationen zum Ausgangszustand
sowie dem
Weg, auf dem die Ziele erreicht werden können,
• Dynamikdas zu lösende Problem verändert sich während der Bearbeitung,
• NeuartigkeitNeuartigkeit der Aufgabenstellung und Bekanntheit von Lösungen,
• VielzieligkeitVielzahl von zu erreichenden, teils widersprüchlichen Zielen.
Das Vorgehen beim Lösen derartiger Probleme folgt einem zyklischen Prozess, der neue
Erkenntnisse sowie sich ändernde Ziele und Rahmenbedingungen berücksichtigt. Ein
Beispiel für einen solchen Regelzyklus stellt das TOTE Schema dar (Miller et al. 1960,
siehe Abschn. 3.1.1).
62
K. Gericke et al.
Erkenntnisse der Denkpsychologie zeigen, dass wichtige Vorgehensprinzipien beim
Lösen komplexer Probleme folgende sind (Abschn. 3.1.3 und 3.2):
• die Iteration, d. h. das mehrmalige Durchlaufen (von Vorgehensschritten, jeweils auf
einem neuen Erkenntnisstand)
• das Zerlegen und Zusammenführen (von Problemen, Lösungen, Funktionen),
• das Abstrahieren und Konkretisieren (von Problemen, Lösungen, Funktionen),
• das Variieren und Einschränken (von Problemen, Lösungen, Funktionen),
Die wesentliche Tätigkeit bei der Produktentwicklung und beim Lösen von Problemen
und Aufgaben besteht in einem Vorgang der Analyse und in einem anschließenden Vorgang der Synthese und läuft in Arbeits- und Entscheidungsschritten ab. Dabei wird in der
Regel vom Qualitativen immer konkreter werdend zum Quantitativen vorgegangen.
Es werden im Folgenden Vorgehensweisen und Vorgehenspläne gezeigt, die für den
allgemeinen Lösungsprozess als verbindlich und für die konkreteren Konstruktionsphasen als Vorgehenshilfen anzusehen sind. Mit ihrer Hilfe kann erkannt werden, was
prinzipiell zu tun ist, wobei Anpassungen an die jeweilige Problemlage notwendig sind.
Alle in diesem Buch dargestellten Vorgehenspläne sind daher als Handlungsempfehlungen aufzufassen, die der Logik des hier notwendigen technischen Handelns
und der schrittweisen Lösungsentwicklung folgen. Sie sind nach Müller (1990) Prozessmodelle, die geeignet sind, das im komplexen Zusammenhang notwendige Vorgehen
rational zu beschreiben und damit die Komplexität des Prozesses erfassbar und durchschaubar zu machen.
Vorgehenspläne sind somit keine Beschreibung oder Festlegung des individuellen
Denkprozesses, der durch in Abschn. 3.1.1 beschriebene Merkmale gekennzeichnet
ist und auch von persönlichen Gegebenheiten mitbestimmt wird. Bei der praktischen
Umsetzung der Vorgehenspläne in reale Abläufe vermischen sich operative Handlungsempfehlungen und individuelle Denkprozesse. Sie verdichten sich dann zum
Planen, Handeln und Kontrollieren des eigenen Vorgehens, das sich sowohl an den allgemein gehaltenen Vorgehensplänen als auch an der jeweiligen Problemlage und an
individuellen Erfahrungen orientiert.
Vorgehenspläne sind in erster Linie Richtschnur und keine starre Vorschrift. Sie
sind zwar vom Ablauf her sequentiell aufzufassen, denn es kann z. B. keine Lösung
beurteilt werden, bevor sie nicht gefunden oder erarbeitet wurde. Andererseits sind
Vorgehenspläne an die jeweilige Situation flexibel anzupassen. So können Arbeitsschritte
übersprungen oder in einer anderen Reihenfolge abgearbeitet werden. Auch ist eine teilweise Wiederholung auf höherem Informationsniveau zweckmäßig oder erforderlich.
Ferner kann in bestimmten Produktbereichen ein angepasster, spezieller Vorgehensplan
auf der Basis der hier allgemein gehaltenen Pläne zutreffender oder hilfreicher sein.
Ein Verzicht auf Vorgehenspläne würde aber angesichts des komplexen und mehrstufigen Ablaufs einer Produktentwicklung und des vielfältig notwendigen Methodeneinsatzes zu einem unüberschaubaren Chaos denkbarer Vorgehensweisen innerhalb
4
Der Produktentwicklungsprozess
63
eines Teams führen. Vorgehenspläne ermöglichen die Koordination der Aktivitäten aller
Beteiligten und erlauben eine Kostenplanung für das Produktentwicklungsvorhaben
selbst. Deswegen sind eine Orientierung über den Konstruktionsablauf und der zielgerichtete Einsatz von Einzelmethoden zu den in den Vorgehensplänen vorgeschlagenen
Arbeits- und Entscheidungsschritten zweckmäßig und notwendig.
Diese Tätigkeit des Entwickelns und Konstruierens wird nach Abschn. 3.1.2 als
Informationsumsatz aufgefasst. Nach jeder Informationsausgabe kann es nötig werden,
weitere Verbesserungen oder ein „Höherwertigmachen“ des Ergebnisses des gerade
durchlaufenen Arbeitsschrittes vorzunehmen, d. h. er ist auf einer höheren Stufe an
Informationsgehalt in einer Schleife nochmals zu durchlaufen und zu wiederholen, oder
weitere Arbeitsschritte sind heranzuziehen, bis die nötige Verbesserung erzielt ist.
Bei Produktentwicklungsvorhaben handelt es sich dabei um einen Iterationsvorgang, bei dem man sich der Lösung schrittweise nähert, bis das Ergebnis befriedigend
erscheint. Er verläuft in einer sog. Iterationsschleife, die auch bei den elementaren Denkprozessen, z. B. nach dem TOTE-Schema, zu beobachten ist. Solche Iterationsschleifen
sind fast immer erforderlich und treten innerhalb der Arbeitsschritte und zwischen
ihnen auf. Der Grund liegt darin, dass häufig die Zusammenhänge komplex sind und die
angestrebte Lösung daher nicht in einem Schritt gewonnen werden kann oder dass erst
aus einem anderen, eigentlich nachfolgenden Arbeitsschritt Erkenntnisse für den vorhergehenden gewonnen werden müssen (vgl. Koevolution von Problem und Lösung,
Abschn. 3.1.4). Die in den Vorgehensplänen angebrachten Iterationspfeile verweisen
deutlich auf diesen Sachverhalt. Von einer starren, sequentiellen Arbeitsweise kann daher
nicht gesprochen werden.
Mit dem methodischen Vorgehen soll erreicht werden, dass solche Iterationsschleifen
möglichst klein bleiben, um die Konstruktionsarbeit effektiv und zügig zu gestalten. Es
wäre eine katastrophale Situation, wenn z. B. am Ende der Entwicklung eines Produkts
noch einmal von vorn angefangen werden müsste, was einer Iterationsschleife über den
ganzen Konstruktionsvorgang entsprechen würde.
Die Gliederung in Arbeits- und Entscheidungsschritte stellt sicher, dass der notwendige und unlösbare Zusammenhang zwischen Zielsetzung, Planung, Durchführung
(Organisation) und Kontrolle besteht (Beelich und Schwede 1983; Wahl 1969). Mit
diesen grundsätzlichen Zusammenhängen lässt sich in Anlehnung an die Gedanken von
Krick (1969) und Penny (1970) zum Vorgehen beim Lösen von Problemen bzw. Aufgaben ein Grundschema nach Abb. 4.4 aufstellen. Der gezeigte allgemeine Lösungsprozess gliedert sich in die Zielsuche, die Lösungssuche und die Lösungsauswahl (VDI
2221-1 2019).
Jede Aufgabenstellung bewirkt zunächst eine Konfrontation, eine Gegenüberstellung
von Problemen und bekannten oder (noch) nicht bekannten Realisierungsmöglichkeiten,
d. h. es erfolgt eine Situationsanalyse. Wie stark eine solche Konfrontation ist, hängt
vom Wissen, Können und der Erfahrung des Konstrukteurs und des Bereiches ab, in dem
er tätig ist. In jedem Fall sind Informationen über Aufgabenstellung, Bedingungen, mögliche Lösungsprinzipien und bekannte ähnliche Lösungen nützlich. Dadurch wird im
64
K. Gericke et al.
Problem
Abb. 4.4 Allgemeiner
Lösungsprozess, in Anlehnung
an (VDI 2221-1 2019)
Situaonsanalyse
Zielsuche
Zielformulierung
Synthese von Lösungen
Lösungssuche
Analyse von Lösungen
Beurteilung
Lösungsauswahl
Entscheidung
Nachbereiten und
Lernen
Lösung
Allgemeinen die Konfrontation abgeschwächt und der Mut zur Lösungsfindung erhöht.
Zumindest wird aber die Bedeutung der gestellten Anforderungen klarer erkannt.
Eine anschließende Definition der wesentlichen Probleme (Wesenskern der Aufgabe) auf abstrakterer Ebene ermöglicht es, die Zielsetzung festzulegen und die wesentlichen Bedingungen zu beschreiben. Eine solche Zielformulierung ohne Vorfixierung
einer bestimmten Lösung öffnet gleichzeitig die denkbaren Lösungswege, da durch den
Vorgang der abstrahierenden Definition ein Freiwerden vom Konventionellen und ein
Durchbruch zu außergewöhnlichen Lösungen gefördert wird.
Anschließend ist die eigentlich schöpferische Phase zu sehen, die Synthese von
Lösungen, in der Lösungsideen nach verschiedenen Lösungsmethoden entwickelt und
mithilfe methodischer Anweisungen variiert und kombiniert werden. Der Synthese von
Lösungen folgt die Analyse des Lösungsfelds.
Eine Vielzahl von Varianten erfordert eine Beurteilung, die Grundlage zur Entscheidung für die anscheinend bessere Variante ist. Da die Ergebnisse des Denkens und
des Konstruktionsablaufs stets einem Beurteilungsschritt unterworfen werden, entspricht
er einer Kontrolle im Hinblick auf das zu erreichende Ziel.
4
Der Produktentwicklungsprozess
65
Entscheidungen führen zu grundsätzlichen Aussagen:
• Die vorliegenden Ergebnisse sind hinsichtlich der Zielsetzung soweit befriedigend,
dass der nächste Arbeitsschritt ohne Bedenken freigegeben werden kann (Entscheidung: ja, Freigabe des nächsten planmäßigen Arbeitsschrittes).
• Angesichts des vorliegenden Ergebnisses ist die Zielsetzung nicht erreichbar (Entscheidung: nein, nächsten planmäßigen Arbeitsschritt nicht einleiten).
• Wenn mit Wiederholung des Arbeitsschrittes (notfalls mehrere Arbeitsschritte) bei
vertretbarem Aufwand ein befriedigendes Ergebnis aussichtsreich erscheint, so ist
dieser auf höherer Informationsstufe zu wiederholen (Entscheidung: ja, Arbeitsschritt
wiederholen).
Für den Fall, dass die erzielten Ergebnisse eines Arbeitsschrittes nicht die Zielsetzung
der vorliegenden Aufgabe treffen, ist es aber denkbar, dass sie bei modifizierter oder
anderer Zielsetzung sehr interessant wären. Dann muss gefragt werden, ob im konkreten
Fall eine Änderung der Aufgabenstellung möglich ist, oder ob das Ergebnis für andere
Anwendungen genutzt werden kann. Dieser gesamte Ablauf von Zielsuche über
Lösungssuche bis zur Lösungsauswahl wiederholt sich an den verschiedenen Stellen des
Konstruktionsprozesses und findet jeweils auf unterschiedlichen Konkretisierungsstufen
der zu entwickelnden Lösung statt.
Um geeignete Vorgehensweisen zum Entwickeln von Produkten zu finden, können die
Erkenntnisse über komplexes Problemlösen auf den Produktentwicklungsprozess übertragen werden. In einem Regelungszyklus werden die Ziele der Produktentwicklung durch
Aktivitäten, die aus der Denk- und Handlungszyklen abgeleitet werden, in Ergebnisse transformiert. Konkretisiert man hierbei die Aktivitäten des allgemeingültigen Problemlöseprozesses zu Produktentwicklungsaktivitäten, entsteht ein allgemeines Vorgehensmodell der
Produktentwicklung. Dies liefert eine grundsätzliche Logik, nach der im Allgemeinen beim
Entwickeln von Produkten vorgegangen werden kann. Soll aus diesem allgemeinen Modell
jedoch ein spezifischer Produktentwicklungsprozess für ein konkretes Produkt in einem
bestimmten Unternehmen unter gegebenen Rahmenbedingungen abgeleitet werden, so sind
dafür geltende Kontextfaktoren (siehe Abschn. 4.5) zu berücksichtigen.
4.3.2Allgemeines Vorgehensmodell der Produktentwicklung
Die Rahmenbedingungen für eine Produktentwicklung machen die Planung dreier
Produktaspekte erforderlich:
• Inhaltliche Planung des Entwicklungs-/Konstruktionsprozesses,
• Zeitliche und terminliche Planung der Entwicklungs-/Konstruktionsarbeitsschritte,
Kap. 17
• Kostenplanung des Produkts, um einen vorgegebenen Kostenrahmen einzuhalten.
Kap. 21.
66
K. Gericke et al.
Die Planungsinhalte und Umfänge sind dabei stark von der Aufgabenstellung abhängig,
je nachdem, ob es sich um eine Neu-, Anpassungs- oder Variantenkonstruktion handelt.
Nachfolgend wird ein allgemeines Modell des Produktentwicklungsprozesses vorgestellt, welches einen Ausgangspunkt und logischen Rahmen für die inhaltliche
Planung, d. h. für die Planung des Vorgehens beim Entwickeln, darstellen soll. Das
Modell erfordert eine Anpassung an den individuellen Kontext (Abschn. 4.5), sodass sich
z. B. je nach Unternehmen und Entwicklungsaufgabe das daraus abgeleitete Prozessmodell unterscheiden wird, jedoch der gleichen Logik folgt.
Während der Produktentwicklung werden die Eigenschaften des zu entwickelnden
Produktes entsprechend eines vorher definierten Zielsystems festgelegt und dokumentiert
(Kap. 7). Ergebnisse der Produktentwicklung können vielfältig sein:
• Berechnungen wie z. B. Auslegungs- oder Nachweisrechnungen,
• Simulationen wie z. B. geometrische Kollisionsbetrachtungen oder dynamische
Schwingungsuntersuchungen,
• CAD-Daten sowie daraus abgeleitete Zeichnungen,
• Bewertungs- und Auswahllisten, z. B. für Konzeptvarianten,
• Risiko- und Fehlerbetrachtungen,
• Eingangsinformationen für Bedienungsanleitungen, Wartungs- und Instandhaltungspläne oder Montage- und Reparaturanleitungen.
• Spezifikationen von (Teil-)Systemen, z. B. für den Einkauf.
Die physikalische Repräsentation des Produkts in einem Produktmodell (siehe
Abschn. 4.2) wird dabei ausgehend von der abstrakten Beschreibung zunehmend
konkretisiert und je nach Aufgabenstellung bis zum Modell der physischen Gestalt
weiterentwickelt. Die abstrakteste Beschreibung des Produktmodells besteht beim Start
der Aktivitäten aus der Anforderungsbasis, die häufig (zunächst) als Anforderungsliste vorliegt (Kap. 7). Die konkreteste Darstellungsform des Produkts besteht aus dem
Produktmodell, das neben den vollständigen Geometriedaten sämtliche Metadaten wie
Werkstoff- und Fertigungsinformationen enthält (Kap. 19 und 25).
4.3.2.1 Hauptphasen der Produktentwicklung
Entsprechend der gedanklichen Logik beim Problemlösen lässt sich der Produktentwicklungsprozess in die vier Hauptarbeitsphasen Klären der Aufgabe, Konzipieren,
Entwerfen und Ausarbeiten untergliedern. Zu jeder dieser Hauptarbeitsphasen gehören
typische Aktivitäten.
Wie später erkennbar, ist in manchen Fällen eine scharfe Trennung dieser Hauptphasen nicht immer möglich, weil z. B. im Vorgriff Gestaltungsuntersuchungen bereits
beim Konzipieren nötig sind oder beim Entwerfen bereits sehr detaillierte, fertigungstechnische Festlegungen getroffen werden müssen. Auch ist ein Rückgriff nicht immer
4
Der Produktentwicklungsprozess
67
Abb. 4.5 Hauptphasen des Produktentwicklungsprozesses und Begleitprozesse
zu vermeiden, wenn z. B. beim Entwerfen für erst dann erkennbare Nebenfunktionen
prinzipielle Lösungen gesucht werden müssen. Dennoch ist die Unterteilung in Hauptphasen für die Planung, Ablaufgestaltung und Kontrolle des Entwicklungsprozesses
immer hilfreich (Abb. 4.5).
Die VDI 2221 Blatt 1 (2019) definiert in Einklang mit diesen Prozessphasen Aktivitäten der Produktentwicklung (siehe Tab. 4.1). Die in ihrer logischen Verknüpfung
dargestellten Aktivitäten können in der Praxis teils parallel bearbeitet, mehrfach durchlaufen (Iteration) oder weiter unterteilt (Dekomposition) werden. Die Arbeitsergebnisse
werden dabei schrittweise entsprechend dem fortscheitenden Erkenntnisstand verfeinert
und überarbeitet. Während dieses iterativen Prozesses muss durch fortlaufende Eigenschaftsabsicherung sichergestellt werden, dass mit der verfolgten Lösung weiterhin das
Erreichen der angestrebten Entwicklungsziele möglich ist.
Klären der Aufgabe
Basis der Entwicklungs-/Konstruktionsarbeiten ist die Aufgabenstellung. Unabhängig
davon, ob die Aufgabe aus einem durch Produktplanung entstandenen Produktvorschlag
oder aus einem konkreten Kundenauftrag stammt, muss die vorliegende Aufgabe vor
Beginn der Produktentwicklung näher geklärt werden. Diese Klärung der Aufgabenstellung dient zur Informationsbeschaffung über die Anforderungen, die an das Produkt
im Einzelnen gestellt werden, sowie über die bestehenden Bedingungen und deren
Bedeutung. Das Ergebnis ist die informative Festlegung in einer Anforderungsliste.
Die Aussagen und Festlegungen der Anforderungsliste sind auf die Belange
der konstruktiven Entwicklung und der weiteren Arbeitsschritte zugeschnitten und
abgestimmt. Die Anforderungsliste muss stets auf dem neuesten Stand gehalten werden,
da von ihr die Freigabe zum Konzipieren und der weiteren Arbeit ausgehen können
(Kap. 7 und 8).
68
K. Gericke et al.
Tab. 4.1  Aktivitäten der Produktentwicklung, (VDI 2221-1 2019)
Aktivitäten der PE
Beschreibung
Arbeitsergebnisse
1.
Klären und Präzisieren der
Aufgabenstellung
Sammeln aller Informationen,
Prüfen der Vollständigkeit,
Ergänzen durch unternehmensinterne Anforderungen
Anforderungsliste,
Lasten -/Pflichtenheft
2.
Ermitteln von Funktionen
und deren Strukturen
Identifikation der Gesamtfunktion,
Strukturieren in Teilfunktionen
Funktionale/logische
Architektur(en)
3.
Suchen nach Lösungsprinzipien und deren
Strukturen
Ermittlung physikalischer Effekte
sowie geometrisch-stofflicher
Merkmale auf Teilfunktionsebene
Prinzipielle Lösungskonzepte
4.
Bewertung und Auswahl
Kombination von Teillösungen
zu Wirkstruktur(en), welche die
prinzipielle Lösung beschreiben
Lösungskonzepte
5.
Gliedern in Module,
Schnittstellendefinition
Zerlegen in (fachlich) handhabbare Systemarchitektur
Teilsysteme inkl. Schnittstellen
6.
Gestalten der Module
Grobgestaltung der Module, u. U.
parallele Bearbeitung
Vorentwürfe
7.
Integration des gesamten
Produkts
Zusammenfügen der Module,
Ergänzen und Feingestalten
Gesamtentwurf
8.
Ausarbeiten der
Ausführungs- und
Nutzungsangaben
Festlegung der fertigungstechnischen Realisierung, des
Produktgebrauchs und der
Außerbetriebsetzung
Produktdokumentation
9.
Querschnittsaufgaben
Validierung und Verifizierung von
(Teil-)lösungen, Optimierung,
Lösungsauswahl und Entscheidung
Konzipieren
ist der Teil des Konstruierens, der nach dem Klären der Aufgabenstellung durch
Abstrahieren auf die wesentlichen Probleme, Aufstellen von Funktionsstrukturen
und durch Suche nach geeigneten Wirkprinzipien und deren Kombination in einer
Wirkstruktur die prinzipielle Lösung festlegt.
In vielen Fällen wird eine Wirkstruktur erst beurteilbar, wenn sie konkretere Gestalt
annimmt. Diese Konkretisierung umfasst eine bestimmtere Vorstellung über vorzusehende Werkstoffe, meistens eine überschlägige Auslegung (Bemessung) sowie die
Rücksichtnahme auf technologische Möglichkeiten. In der Regel erhält man dann
erst ein beurteilungsfähiges Lösungsprinzip, das die Zielsetzung und bestehende
Bedingungen im Wesentlichen berücksichtigt. Auch hier sind u. U. mehrere prinzipielle
Lösungsvarianten denkbar.
4
Der Produktentwicklungsprozess
69
Die Darstellungsform einer prinzipiellen Lösung (Lösungsprinzip) kann sehr unterschiedlich sein. Bei festliegendem Bauelement genügt vielleicht schon die Blockdarstellung einer Funktionsstruktur, ein Schaltplan oder ein Flussdiagramm. In anderen
Fällen reicht eine Strichskizze oder es muss zu einer grobmaßstäblichen Zeichnung
gegriffen werden. Die Konzeptphase wird in mehrere Arbeitsschritte unterteilt. Diese
Schritte sollen durchlaufen werden, damit von vornherein die Erarbeitung der bestmöglich erscheinenden prinzipiellen Lösung sichergestellt ist, denn die nachfolgende Arbeit
des Entwerfens und Ausarbeitens kann grundlegende Mängel des Lösungsprinzips nicht
oder nur schwer ausgleichen.
Die erarbeiteten Lösungsvarianten müssen beurteilt werden. Erfüllen Varianten die
Forderungen der Anforderungsliste nicht, werden sie gestrichen. Die übrigen werden
nach Kriterien in einem zuvor festgelegten Verfahren bewertet. In dieser Phase beurteilt
man vornehmlich nach technischen Gesichtspunkten, wobei die wirtschaftlichen auch
schon grob berücksichtigt werden können. Man entscheidet sich aufgrund der Bewertung
für das weiterzuverfolgende Konzept.
Oft kann es sein, dass mehrere Varianten nahezu gleichwertig erscheinen und eine
endgültige Entscheidung erst nach weitergehender Konkretisierung möglich ist. Auch
können sich zu einem Lösungsprinzip mehrere Gestaltungsvarianten anbieten. Der
Konstruktionsprozess wird dann auf der konkreteren Ebene des Entwerfens fortgesetzt.
Entwerfen
ist der Teil des Konstruierens, der für ein technisches Gebilde von der Wirkstruktur bzw.
prinzipiellen Lösung ausgehend die Baustruktur nach technischen und wirtschaftlichen
Gesichtspunkten eindeutig und vollständig erarbeitet. Das Entwerfen ist ausgehend von
den qualitativen Vorstellungen, die quantitative gestalterische Festlegung der Lösung.
In vielen Fällen wird man mehrere maßstäbliche Entwürfe neben- oder nacheinander
im Sinne vorläufiger Entwürfe anfertigen müssen, um zu einem besseren Informationsstand über Vor- und Nachteile der Varianten zu gelangen.
Dazu dient diese Phase, die nach entsprechender Durcharbeitung wiederum mit
einer technisch-wirtschaftlichen Bewertung abgeschlossen werden muss. Dabei
werden wiederum neue Erkenntnisse auf höherer Informationsebene gewonnen. Ein
typischer Vorgang ist dabei, dass die favorisierte Lösungsvariante durch Teillösungen
anderer, nicht ausgewählter Varianten ergänzt oder verbessert wird. Durch entsprechende Kombination und Übernahme solcher Teillösungen sowie durch Beseitigen
von Schwachstellen, die durch die Bewertung auch offenbart werden, kann dann die
endgültige Lösung gewonnen werden und die Entscheidung für die abschließende
Gestaltung des endgültigen Gesamtentwurfs fallen.
Der endgültige Gesamtentwurf ermöglicht schon eine Kontrolle der Funktion, der
Haltbarkeit, der räumlichen Verträglichkeit usw. wobei sich die Anforderungen nun
spätestens hier als erfüllbar darstellen müssen. Erst dann ist die Freigabe zur Ausarbeitung zulässig.
70
K. Gericke et al.
Ausarbeiten
ist der Teil des Konstruierens, der die Baustruktur eines technischen Gebildes durch
endgültige Vorschriften für Form, Bemessung und Oberflächenbeschaffenheit aller
Einzelteile, Festlegen aller Werkstoffe, Überprüfung der Herstellmöglichkeit sowie der
endgültigen Kosten ergänzt und die verbindlichen zeichnerischen und sonstigen Unterlagen für seine stoffliche Verwirklichung schafft (ADKI 1966), vgl. auch (VDI 2223
2004). Das Ergebnis des Ausarbeitens ist die herstellungstechnische Festlegung der
Lösung.
In dieser Phase wird die Gestaltung des Produkts mit der endgültigen Festlegung der
Geometrie durchgeführt. Es werden also die erforderlichen Fertigungsoperationen im
Detail bestimmt. Die Funktionssicherheit und die Produktkosten werden stark beeinflusst.
4.3.2.2 Vorgehensmodell
Basierend auf den in Tab. 4.1 beschriebenen Aktivitäten und der Beschreibung der
Hauptphasen der Produktentwicklung wird ein allgemeines Vorgehensmodell der
Produktentwicklung vorgeschlagen (siehe Abb. 4.6). Das gezeigte Vorgehensmodel
stellt die logische Abfolge der Hauptarbeitsschritte dar. Ziel der Darstellung ist nicht
die Planung und Organisation des Projektablaufs eines konkreten Entwicklungsprojekts.
Vielmehr geht es um eine allgemeine Darstellung der Logik des Vorgehens.
Die konkrete Umsetzung von Aktivitäten des modellhaft dargestellten Produktentwicklungsprozess kann in Abhängigkeit von der Zielstellung und dem inhaltlichen
Schwerpunkt sehr unterschiedlich gestaltet werden. Grundsätzliche Modellierungsansätze finden sich in (Abschn. 4.4). Ein Ansatz zur Umsetzung in Projektpläne wird in
Kap. 17 vorgestellt.
In Abhängigkeit von der Aufgabe und dem Entwicklungskontext werden die Aktivitäten in realen Produktentwicklungsprozessen in unterschiedlicher Art und Weise durchlaufen. Einzelne Aktivitäten können auch mehrmals durchgeführt werden oder ganz
entfallen. Die resultierenden verschiedenen Vorgehensstrategien zum Bearbeiten der in
Phasen gegliederten Aktivitäten der Produktentwicklung lassen sich gemäß Abb. 4.7
unterscheiden in: schrittweise sequentiell (a), zyklisch (b), phasenweise wiederholend (c)
und phasenweise konkretisierend (d) (Blessing 1994).
Es ist leicht nachvollziehbar, dass im Rahmen dieser Beschreibung stark verallgemeinert werden muss. In der Praxis ist eine klare Trennung der Arbeitsschritte
und ihrer Ergebnisse nicht immer erkennbar und auch nicht erforderlich. Im Sinne
eines „roten Fadens“ ist es aber auch für Ingenieure in der Praxis sinnvoll, sich die
geschilderten Abläufe und Arbeiten bewusst zu machen, um zum einen nichts zu vergessen und zum anderen die Arbeit besser planen zu können.
4
Der Produktentwicklungsprozess
71
Akvitäten
Ziele
Entwicklungsaurag
Klären und Präzisieren des
Problems bzw. der Aufgabe
Ermieln von Funkonen
und deren Strukturen
Suchen nach
Lösungsprinzipien und
deren Strukturen
Bewerten und Auswählen
von Lösungskonzepten
Gliedern in Module,
Schnistellendefinion
Verfeinerte und
ergänzte
Anforderungen
Phasen
Ergebnisse
Klären der Aufgabe
Anforderungen
Funkonsmodelle
Prinzipielle
Lösungskonzepte
Konzipieren
Lösungskonzept
Systemarchitektur
Gestalten der Module
Teilentwürfe
Entwerfen
Integrieren des
gesamten Produkts
Ausarbeiten der
Ausführungs- und
Nutzungsangaben
Gesamtentwurf
Produktdokumentaon
Ausarbeiten
…
…
virtuell
physisch
Absichern von Ergebnissen
Abb. 4.6 Allgemeines Vorgehensmodell der Produktentwicklung
Das Herstellen von Modellen und Prototypen ist eine wichtige Aktivität zur
Informationsgewinnung und -absicherung und kann jederzeit sofern erforderlich und
wirtschaftlich vertretbar durchgeführt werden. In vielen Fällen sind Modelle und Prototypen schon in der Konzeptphase angebracht, besonders dann, wenn sie grundsätzliche Fragen klären sollen. Die Feinwerktechnik, Elektronik und Firmen der Großserie
machen davon Gebrauch. Im Großmaschinen- und Anlagenbau als Einzelfertigung
sind aus Gründen der Durchführung, des Kosten- und Zeitaufwandes nur als Kundenlieferung denkbar. Dagegen können Prototypen für neu zu entwickelnde Maschinenoder Anlagenteile zur Beurteilung von Detailproblemen an vorhandenen Maschinen
oder Anlagen oder in geeigneten Versuchseinrichtungen untersucht werden. Im Kleinserienbau hingegen wird im Normalfall ein Stück mit entsprechendem zeitlichem Vorlauf gefertigt, um evtl. auftretende Probleme bis zum Serienanlauf beheben zu können.
Dieses vorabgefertigte Produkt wird ebenfalls vermarktet.
72
K. Gericke et al.
Akvitäten
1 2 3
c
1
1
2
Phasen
Phasen
a
3
4
seriell
4
Phasen und Akvitäten
wiederholend
Akvitäten
1 2 3
d
1
2
Phasen
Akvitäten
b
2
3
3
zyklisch
1
2
3
4
Phasen und Akvitäten
und Lösungsraum konzentrisch
Abb. 4.7 Vorgehensstrategien (Blessing 1994)
In der Praxis stehende Konstrukteure werden beim Betrachten der geschilderten Vorgehensweise und der in den nachfolgenden Kapiteln dargestellten Methoden möglicherweise einwenden, dass so viele Arbeitsschritte aus zeitlichen Gründen nicht eingehalten
werden können. Dabei sollte aber doch Folgendes bedacht werden:
• Die Beschreibung der Arbeitsschritte basiert nicht nur auf theoretischen Modellen,
sondern auch auf praktischer Erfahrung und deren Sinnhaftigkeit wurde schon mehrfach untersucht und prinzipiell nachgewiesen (Badke-Schaub und Frankenberger
1999; Bender 2004; Pahl et al. 1999; Rückert 1997)
• Konstrukteure sind in der Regel schon jetzt den beschriebenen Weg gegangen, jedoch
wurden manche Schritte unbewusst durchlaufen und häufig zum Nachteil für das
Ergebnis zu stark zusammengefasst oder zu rasch übersprungen.
• Das bewusst schrittweise Vorgehen verleiht dagegen Sicherheit, nichts Wesentliches vergessen oder unberücksichtigt gelassen zu haben. Der gewonnene Überblick über mögliche
Lösungswege ist dabei recht breit und fundiert. Bei der Suche nach neuen Lösungen, d. h.
bei Neukonstruktionen, empfiehlt sich daher das schrittweise Vorgehen ausnahmslos.
• Bei der Anpassungskonstruktion wird man auf bekannte Vorbilder zurückgreifen
können und nur dort das geschilderte Vorgehen einsetzen, wo es sich als zweckmäßig
und notwendig erweist. Bei einer Detailverbesserung wären also die Anforderungsliste, die Lösungssuche, die Bewertung usw. auf diese Teilaufgabe beschränkt.
• Wird von Konstrukteuren ein besseres Ergebnis erwartet, so sollte es durch
methodisches Vorgehen angestrebt werden, wofür auch die angemessene Zeit
4
Der Produktentwicklungsprozess
73
zugebilligt werden muss. Eine solche Zeit ist durch Offenlegen und Befolgen der
genannten Arbeitsschritte besser zu überschauen und abzuschätzen. Nach den bisherigen Erfahrungen ist der Zeitaufwand für schrittweises Vorgehen im Vergleich zu
den konventionellen Tätigkeiten relativ klein.
4.3.3Begleitprozesse der Produktentwicklung
Die Produktentwicklung hat eine wichtige Aufgabe innerhalb eines Unternehmens und
weist zahlreiche Wechselwirkungen zu anderen Funktionen innerhalb des Unternehmens
auf. Produktenwicklungsprozesse müssen eng mit vor- und nachgelagerten Aktivitäten
und auch mit parallel ablaufenden Aktivitäten abgestimmt werden. Typische sogenannte
Begleitprozesse sind:
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Projektmanagement,
Organisationsentwicklung,
Risikomanagement,
Produktdokumentation,
Änderungswesen,
Anforderungsmanagement,
Konfigurationsmanagement,
Produktmanagement,
Normung und Standardisierung,
Kostenmanagement,
Patentwesen, oder
Fertigungsplanung und Beschaffung.
Dies sind nur beispielhaft genannte häufig vorkommende Begleitprozesse. In ISO 15288
(ISO/IEC/IEEE 15288 2015) werden 25 Teilprozesse in den Prozessgruppen technische
Prozesse, Projektprozesse, organisatorische Projektunterstützungsprozesse und Vertragsprozesse genannt. Die konkreten Wechselwirkungen und Überschneidungen mit dem
Produktentwicklungsprozess variieren dabei jedoch zwischen Unternehmen.
Die Einbettung des Produktentwicklungsprozesses in eine Prozesslandschaft hat zur
Folge, dass umfangreiche Kooperationen zwischen verschiedenen Fachdisziplinen und Unternehmensfunktionen sowie eine übergeordnete Koordination von Terminen und Ressourcen
erforderlich sind. Für die operative Gestaltung von Produktentwicklungsprozessen bedeutet
dies, dass sowohl fachliche als auch organisatorische Schnittstellen zwischen beteiligten
Prozessen und Personen bekannt sein und berücksichtigt werden müssen.
74
K. Gericke et al.
4.4Erstellung und Gebrauch von Prozessmodellen
Produktentwicklung ist kein isolierter Prozess, sondern wie zuvor erläutert eng verzahnt mit
anderen Prozessen und Funktionen im Unternehmen (Maier und Störrle 2011). Verschiedene
Stakeholdergruppen (z. B. unternehmensexterne Partner, andere Unternehmensfunktionen
aber auch Personen mit verschiedenen Funktionen innerhalb eines Entwicklungsteams)
haben unterschiedliche Sichten auf den Prozess bzw. sind in unterschiedlicher Weise
an der Durchführung des Prozesses beteiligt. Dies bedeutet, dass sie einen unterschiedlichen Informationsbedarf haben. Zulieferer und andere Unternehmensbereiche sind z. B.
an Terminen und Schnittstellen zwischen dem Produktentwicklungsprozess und Begleitprozessen interessiert während Mitglieder des Entwicklungsteams ein detailliertes Verständnis der Abhängigkeiten zwischen Einzelaktivitäten und Verantwortlichkeiten haben müssen.
Jede Gruppe hat eine eigene Sichtweise und jede dieser Sichtweisen ist für die erfolgreiche
Bearbeitung des Projektes von Bedeutung (Browning 2009; Gericke und Blessing 2012).
Der unterschiedliche Informationsbedarf verschiedener Stakeholdergruppen resultiert
aus den unterschiedlichen Zwecken, für die ein Prozessmodell jeweils verwendet werden
soll. Mögliche Verwendungszwecke von Prozessmodellen in der Produktentwicklung
sind z. B. (nach Browning et al. 2006):
• Prozessvisualisierung: zur Darstellung und Kommunikation von Aktivitäten,
Abhängigkeiten, und Zuständigkeiten
• Prozessplanung: Auswahl von Aktivitäten, Prozessgestaltung und Strukturierung,
Koordination von Zuständigkeiten und Ressourcen, Abschätzung und Optimierung
von Kennwerten (z. B. Kosten, Dauer, etc.)
• Prozessdurchführung und Kontrolle: Fortschrittsbeurteilung, Prozesskorrektur und
-änderung, Ressourcenkontrolle
• Prozessverbesserung: kontinuierliche Verbesserung des Prozesses, Wissensmanagement,
Schulung von Mitarbeitern, Prozessdokumentation und Qualitätssicherung
Da jedes Modell nur einen Teilaspekt der Realität abbildet, also eine schematische Vereinfachung darstellt, sollte je nach Verwendungszweck ein geeignetes Model erstellt und verwendet werden, dass die jeweils notwendigen Informationen beinhaltet (Browning 2010;
Browning et al. 2006; Eckert und Stacey 2010). Dafür steht eine Vielzahl spezialisierter
Modellierungsansätze zur Verfügung, z. B.: Integrated Definition Method (IDEF0, IDEF3)
(Knowledge Based Systems Inc. 2010), Gantt Diagramm (Gantt 1919), Netzplantechniken
(Kerzner und Grau 2008), Design Structure Matrix (DSM) (Eppinger und Browning 2012)
und Signposting (Clarkson und Hamilton 2000).
Die in den Modellen beinhalteten Informationen variieren zwischen den einzelnen Modellierungsansätzen teils erheblich. Das Spektrum der Informationen die ein
detailliertes Prozessmodell umfassen kann beinhaltet z. B. (Browning 2009; Browning
et al. 2006; Kreimeyer 2009):
4
Der Produktentwicklungsprozess
•
•
•
•
•
•
•
Verantwortlichkeit (Personen, Rollen, Abteilungen),
Umfang von Aktivitäten (Dauer, benötigte Ressourcen),
Abhängigkeiten zwischen Aktivitäten,
Termine,
Arbeitsfortschritt,
Arbeitsergebnisse (Attribute der Ergebnisse, Dokumente, etc.),
Vertrauensniveau in Vorhersagen zu Dauer, Kosten etc. von Einzelaktivitäten.
75
Reale Produktentwicklungsprozesse sind komplex, stark iterativ und beeinflusst durch
den Entwicklungsgegenstand sowie das Prozessumfeld (Eckert und Clarkson 2005;
Gericke et al. 2013a; Kreimeyer 2009; Maier und Störrle 2011). Sie unterscheiden
sich von Fertigungsprozessen und typischen Geschäftsprozessen durch eine höhere
Dynamik und Variabilität (Reinertsen 1998; O’Donovan et al. 2005; Vajna 2005).
Diese Eigenschaften stellen für die Modellierung von Entwicklungsprozessen eine
besondere Herausforderung dar. Prozessmodelle zeichnen sich häufig dadurch aus, dass
der Dynamik und Variabilität realer Prozesse nur in teils stark idealisierter und vereinfachter Weise Rechnung getragen wird. Dies erfordert beim Lesen von Prozessmodellen
Flexibilität und Interpretationsvermögen. Eine klare Kommunikation des intendierten
Verwendungszwecks des Modells, sowie die Angabe vereinfachender Annahmen verringern die Gefahr der Fehlinterpretation solcher Modelle.
Einen weiteren Ansatz zur Modellierung von Produktentwicklungsprozessen stellt
das Integrierte Produktentstehungsmodell IPeM dar (Albers und Braun 2011). In diesem
Modell wird explizit die Verknüpfung von Management- und Entwicklungsperspektive
adressiert. Dazu werden das Zielsystem, das Handlungssystem und das Objektsystem
als miteinander wechselwirkende Teilsysteme betrachtet (Negele et al. 1999). Das Zielsystem beschreibt alle zu erreichenden Ziele, Bedingungen und Wechselwirkungen. Das
Objektsystem enthält alle Dokumente und Artefakte, die als Teillösungen während des
Entstehungsprozesses anfallen, wobei das zu entwickelnde Produkt Teil des Objektsystems ist. Das soziotechnische Handlungssystem verknüpft beide Systeme miteinander und besteht aus strukturierten Aktivitäten, Methoden und Prozessen. Die
Aktivitäten der Produktentwicklung sind folglich Teil des Handlungssystems. Sie
werden aus Problemlöseaktivitäten abgeleitet und umfassen Systemanalyse, Problemeingrenzung, alternative Lösungen, Lösungsauswahl, Tragweitenanalyse, Entscheiden und
Umsetzen, Nachbereiten und Lernen. IPeM bietet eine Darstellungsweise, die eine einfache Anpassung des Handlungssystems an den spezifischen Kontext ermöglicht.
4.5Entwicklung kontextspezifischer
Produktentwicklungsprozesse
Das im vorangegangenen Abschnitt vorgestellte allgemeine Modell der Produktentwicklung
Abb. 4.6 stellt logische Zusammenhänge zwischen Aktivitäten und Arbeitsphasen in der
Produktentwicklung dar. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge hilft dabei zu verstehen, welche
76
K. Gericke et al.
Akvitäten
Ziele
Entwicklungsaurag
Phasen
Klären der
Aufgabenstellung
Konzipieren
Klären und Präzisieren des
Problems bzw. der Aufgabe
Ausarbeiten
Ergebnisse
Anforderungen
Ermieln von Funkonen
und deren Strukturen
Suchen nach
Lösungsprinzipien und
deren Strukturen
Bewerten und Auswählen
von Lösungskonzepten
Gliedern in Module,
Schnistellendefinion
Verfeinerte und
ergänzte
Anforderungen
Entwerfen
Funkonsmodelle
Prinzipielle
Lösungskonzepte
Lösungskonzept
Systemarchitektur
Gestalten der Module
Teilentwürfe
Integrieren des
gesamten Produkts
Ausarbeiten der
Ausführungs- und
Nutzungsangaben
…
Gesamtentwurf
Produktdokumentaon
…
virtuell
physisch
Absichern von Ergebnissen
Abb. 4.8 Grundform des Vorgehensmodell in Phasendarstellung
Probleme im Allgemeinen beim Entwickeln von Produkten in welcher logischen Abfolge
gelöst werden müssen. Soll daraus jedoch ein Ablaufplan für einen konkreten Entwicklungsprozess unter gegebenen Rahmenbedingungen modelliert werden, müssen dafür viele weitere
Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Diese lassen sich ableiten aus den Wechselwirkungen
im Zielsystem der Produktentwicklung, die für jede Produktentwicklung gelten. Das Zielsystem besteht aus produktspezifischen Zielen, Terminzielen und Kostenzielen.
Die Anpassung des allgemeinen Modells der Produktentwicklung zu einem kontextspezifischen Produktentwicklungsprozess ist Voraussetzung, um die Aktivitäten im Sinne
eines operativen Vorgehensmodells zur Unterstützung der Ablaufplanung anzuordnen
und ggf. auch Ressourcen zuzuweisen (vgl. Kap. 17).
Die Darstellung des in Abb. 4.8 gezeigten Vorgehensmodells basiert auf dem allgemeinen Vorgehensmodell gemäß Abb. 4.6 sowie VDI 2221 und den Aktivitäten der
Produktentwicklung gemäß Tab. 4.1. Es nutzt die Darstellungsweise des integrierten
Produktentstehungsmodells (iPeM) gemäß Albers und Braun (2011). Das gezeigte
Phasenmodell (rechte Seite, grau hinterlegte Box) hat keinen präskriptiven Anspruch,
sondern zeigt nur beispielhafte wie ein Phasenmodell dargestellt werden kann.
Ausgangspunkt für die Prozessgestaltung stellen die allgemein formulierten Hauptphasen
der Produktentwicklung (Abb. 4.5) sowie der allgemeine Problemlöseprozess (Abb. 4.4) dar.
Ausgehend von dieser Grundstruktur (siehe Abb. 4.9) erfolgt die Anpassung der allgemeinen
Aktivitäten für einen spezifischen Entwicklungsprozess (VDI 2221-2, 2019) durch:
4
Der Produktentwicklungsprozess
Akvitäten
Phase 1
Querschnisprozesse
1
77
Phase 2
Phase 3
Phase 4
Begleitprozesse
Produktplanung
Klären und Präzisieren des
Problems bzw. der Aufgabe
7
Ermieln von Funkonen
und deren Strukturen
3
6
Suchen nach
Lösungsprinzipien und
deren Strukturen
Bewerten und Auswählen
von Lösungskonzepten
4
5
Gliedern in Module,
Schnistellendefinion
Gestalten der Module
Integrieren des
gesamten Produkts
Ausarbeiten der
Ausführungs- und
Nutzungsangaben
weitere Akvitäten
2
virtuell
physisch
Absichern von Ergebnissen
Herstellungsplanung
Herstellung
Vertrieb, Markeng
Betrieb, Instandhaltung
Produktablösung
Abb. 4.9 Schematische Darstellung der Anpassungsmöglichkeiten des allgemeinen Vorgehensmodells
der Produktentwicklung, gemäß (VDI 2221-2 2019)
1. Umbenennung von Aktivitäten und Phasen (Nutzung der Unternehmensinternen
Terminologie)
2. Ergänzung relevanter Aktivitäten/Verzicht auf einzelne Aktivitäten
3. Untergliederung von Aktivitäten (sequentielle Gliederung)
4. Vorziehen von Aktivitäten
5. Parallelisierung von Aktivitäten (parallele Gliederung)
6. Iteration von Aktivitäten
7. Aufgliederung des Prozesses für verschiedene Gewerke und/oder Zulieferer in Teilprojekte
In Abhängigkeit vom Entwicklungskontext werden diese Aktivitäten in unterschiedlicher Intensität, Häufigkeit und Reihenfolge durchlaufen. Der Entwicklungskontext
kann mittels verschiedener Kontextfaktoren beschrieben werden. Diese lassen sich
dabei aufgrund ihrer Vielzahl und Wechselwirkungen untereinander nicht in Form von
78
K. Gericke et al.
Abb. 4.10 Ebenen der Beschreibung des Produktentwicklungskontexts (Hales und Gooch 2004)
Ursache-Wirkungsbeziehungen in Prozessmerkmale umsetzen. Basierend auf einer Analyse empirischer Studien wurde eine umfangreiche Liste von Kontextfaktoren identifiziert (Gericke et al. 2013a). Diese können gemäß Hales und Gooch (2004) in fünf
Ebenen unterteilt werden die interne und externe Faktoren unterscheiden lassen (siehe
Abb. 4.10). Die VDI 2221 Blatt 2 (2019) beschreibt eine Auswahl der Faktoren mit
der größten Bedeutung für die Anpassung des allgemeinen Vorgehensmodells an den
Kontext eines konkreten Unternehmens. Die folgenden Gruppen von Kontextfaktoren
sind für die Prozessgestaltung häufig von Bedeutung:
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Markt,
Kunde,
Produktion,
Zulieferer,
Innovationswesen,
Projektmanagement,
Erwartung an Entwicklungsergebnisse,
Entwicklungsauftrag,
Einsatz von Methoden und Tools,
Fertigungstechnologie, Stückzahlen.
Eine Auswahl verschiedener Prozesse und der kontextspezifischen Besonderheiten wird
in VDI 2221, Blatt 2 gemäß dieser Logik beschrieben. Tab. 4.2 zeigt eine Übersicht der
dort dargestellten Fälle.
Groß >100.000
Fertigungstechnologie, Stückzahl
Groß >100.000
Etabliert in vielen
Anwendungsgebieten
Etabliert in vielen
Anwendungsgebieten
1
Ausgewählte
Methoden
1–10
>20.000
Wenige, ausEtabliert in vielen
gewählte Methoden Anwendungsgebieten
Elektrogeräte,
Gesamtsystem
Einsatz von
Methoden und
Tools
Verpackungsmaschinen,
Gesamtsystem
Automobil,
Gesamtsystem
Automobil, Teilsystem
Entwicklungsauftrag
Verpackungsanlagen, Gesamtsystem
Verbesserung nach Verbesserung nach Verbesserung nach
Auslieferung mög- Auslieferung mög- Auslieferung mit
lich
lich
hohen Kosten verbunden
Verbesserung nach
Auslieferung mit
extrem hohen
Kosten verbunden
Erwartung an
Verbesserung nach
Entwicklungsergeb- Auslieferung mit
nisse
extrem hohen
Kosten verbunden
Bis 1 Jahr,
bis 30 Personen,
Simultaneous
Engineering
Wenige
spezialisierte
Sehr hoch, zum
Erlernen
Mechatronische
Systeme
Kein Anspruch an
Serienreife
4 Monate,
7 Personen,
agile Projektorganisation
Wenige
spezialisierte
Eigene und geringe Keine, nur Protofremde Produktion typen
Bis zu 6 Monate,
Bis 1 Jahr,
10 bis 15 Personen bis 10 Personen
Wenige
spezialisierte
Studentisches Entwicklungsprojekt
Primär B2B, global B2B, national
4–6 Jahre,
>500 Personen,
Simultaneous
Engineering
Tier-1, breites
OEM, breites
Wenige
Zulieferernetzwerk Zulieferernetzwerk spezialisierte
Zulieferer
Eigene Produktion
B2B, global
Hersteller von
Elektrogeräten
Projektmanagement 2–4 Jahre,
>50 Personen,
Simultaneous
Engineering
Eigene und fremde Eigene und fremde Eigene Produktion
Produktion
Produktion
B2B, Europa
Produktion
B2C, global
Maschinenbauunternehmen
Standard- und Sondermaschinenbau
B2B, global
Automobilhersteller
Markt
Automobilzulieferer
Tab. 4.2  Übersicht beispielhaft beschriebener Produktentwicklungsprozesse gemäß (VDI 2221-2 2019)
4
Der Produktentwicklungsprozess
79
80
K. Gericke et al.
4.6Alternative Prozessmodelle
Das hier vorgestellte allgemeine Vorgehensmodell für die Produktentwicklung stellt
eine mögliche Form der Visualisierung des Produktentwicklungsprozesses dar. Darüber
hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Modelle, die sich durch Umfang der berücksichtigten Lebenszyklusphasen, Detaillierung, Formalisierungsgrad und weitere Aspekte
unterscheiden (siehe Abb. 4.11). Viele der zuvor beschriebenen Eigenschaften für das
hier vorgestellte Vorgehensmodell lassen sich auch auf andere Prozessmodelle übertragen (Gericke und Blessing 2012).
4.6.1Klassifizierung
Modelle des Entwicklungsprozesses lassen sich in verschiedene Gruppen unterscheiden.
Modelle können phasenbasiert oder aktivitätenbasiert sein (Blessing 1994; Lawson 1997),
problemorientiert oder lösungsorientiert sein (Blessing 1996; Wynn und Clarkson 2005)
Abb. 4.11 Darstellungsformen des PEP (VDI 2221-1 2019)
4
Der Produktentwicklungsprozess
81
Abb. 4.12 Klassifizierung von Prozessmodellen (Wynn und Clarkson 2005)
oder auch in präskriptive und deskriptive Modelle unterschieden werden. Diese Klassifizierungen schließen sich nicht gegenseitig aus sondern stellen drei Dimensionen zur
Unterscheidung prozeduraler Prozessmodelle dar. Weitere Formen von Prozessmodellen
werden von Wynn und Clarkson beschrieben (2018) (Abb. 4.12).
Phasenbasierte Vorgehensmodelle (z. B. Cooper 1994; Pugh 1991; Ulrich et al.
2019) gliedern den Entwicklungsprozess in Phasen, die den Entwicklungsfortschritt
beschreiben. Aktivitätenbasierte Vorgehensmodelle (z. B. Jones 1970; Lawson 1997;
Lindemann 2009; March 1984) beschreiben das Vorgehen auf Ebene der Aktivitäten, die beim Entwickeln durchlaufen werden. Eine weitere besteht Gruppe stellen
kombinierte Modelle dar (z. B. Hall 1962; Hubka 1980; NASA 2007; Pahl und Beitz
1977; Roozenburg und Eekels 1995; Ullman 2010), die eine Kombination aus Phasen
und teils sich wiederholender oder phasenspezifischer Aktivitäten vorschlagen (vlg.
Abb. 4.7).
Problemorientierte Modelle (z. B. Dym und Brown 2012; Ehrlenspiel und Meerkamm 2013; French 1999; Hubka 1980; Pahl und Beitz 1977; Ulrich et al. 2019)
betonen im Gegensatz zu lösungsorientierten Vorgehensmodellen (z. B. Archer 1965;
Asimov 1962; Ertas und Jones 1993; Pugh 1991) die Analyse des der Aufgabenstellung zugrundeliegenden Problems und eine damit verbundene Abstraktion der
Aufgabenstellung.
Deskriptive Modelle beschreiben in der Praxis beobachtetes Vorgehen in der Produktentwicklung. Präskriptive Vorgehensmodelle beschreiben, so wie auch das hier vorgestellte allgemeine Vorgehensmodell, ein idealisiertes Vorgehen mit dem Ziel den
Prozess effektiver und effizienter zu gestalten (Blessing 1996). Sie kombinieren Erkenntnissen zu in der Praxis beobachteten erfolgreichen Strategien und Methoden. Der Übergang zwischen diesen Kategorien ist dabei oft nicht eindeutig (Wynn und Clarkson
2005), da sich das Vorgehen in der Praxis kontinuierlich weiterentwickelt.
82
K. Gericke et al.
4.6.2Vergleich
Die große Bandbreite möglicher Aktivitäten, insbesondere die Lösung komplexer
Probleme sowie die interdisziplinäre, arbeitsteilige Bearbeitung dieser Probleme erfordern
ein übergeordnetes methodisches Vorgehen aller Beteiligten. Dieses muss auf einem
gemeinsamen Verständnis des Ziels und der Logik des Ablaufs basieren. In Prozessmodellen kann diese Logik mehr oder weniger allgemeingültig abgebildet werden.
Branchen- und produktunabhängig ist dies mit Hilfe der Systemtechnik bzw. des Systems
Engineering möglich. Disziplinspezifische Modelle existieren beispielsweise für den
Maschinenbau (Cross 2008; French 1999; Pugh 1991; Roozenburg und Eekels 1995;
Ullman 2010; Ulrich et al. 2019), die Softwareentwicklung (Boehm 1988; Cockton und
Gram 1996; Royce 1970) oder die Dienstleistungsentwicklung (Bullinger et al. 2003; Kim
und Meiren 2010; Sakao und Shimomura 2007), ohne dabei auf ein spezielles Produkt
zu fokussieren. Aufgrund der Forderung nach Allgemeingültigkeit sind diese Modelle
abstrakt dargestellt. Sie beschreiben die Hauptphasen und Tätigkeitsfelder des Entwicklungsprozesses, deren Abhängigkeiten und die Zwischenergebnisse der Phasen und
Aktivitäten (Bender und Gericke 2016; Gericke und Blessing 2012).
Während sich die visuelle Erscheinung und die Terminologie der Vorgehensmodelle
meist unterscheidet (vgl. Abb. 4.11) ist dennoch festzuhalten, dass sie auch deutliche
Gemeinsamkeiten aufweisen und den grundsätzlichen Ablauf der Produktentwicklung
ähnlich beschreiben. Gemeinsamkeiten zwischen disziplinspezifischen Prozessmodellen
bestehen beispielsweise in der Einteilung des Entwicklungsprozesses in Entwicklungsphasen (siehe Tab. 4.3), die schrittweise iterativ zu bearbeiten sind.
4.6.3Historie
Der Produktentwicklungsprozess ist in Abhängigkeit von der Komplexität des Produkts
und des Entwicklungskontexts häufig selbst sehr komplex. Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden deshalb Anstrengungen unternommen, diesen Prozess zu
systematisieren und mit Hilfe von unterstützenden Arbeitstechniken, den Methoden,
zielgerichtet ausführen zu können. So wurde im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts
eine Konstruktionsmethodik entwickelt, die dies leisten soll und kann. Die folgende
Darstellung der Entwicklung der Konstruktionsmethodik stellt eine Zusammenfassung
von Bender (2004) dar. Eine sehr gute und ausführliche Darstellung findet sich auch in
Heymann (2005). Bereits sehr früh wurde versucht, einen allgemein gültigen Produktentwicklungsprozess modellhaft abzubilden. Die ersten Überlegungen hierzu machte
Reuleaux (1875) zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Er stellte ein modellhaftes Verfahren zur kinematischen Synthese vor. Erste Ansätze zu einem systematisch
strukturierten Produktentwicklungsprozess hat Wögerbauer (1942) geliefert. Er betont
4
Der Produktentwicklungsprozess
83
Abb. 4.13 Konstruktionsprozess nach Wögerbauer (1942)
bereits die Bedeutung einer geklärten Aufgabenstellung und geht von mehreren Lösungsalternativen sowie einer Lösungsauswahl auf Basis einer Bewertung aus, s. Abb. 4.13.
Mit den Hauptschritten seines Modells des Entwickelns und Konstruierens nennt er im
Wesentlichen bereits die Hauptschritte späterer Modelle des Produktentwicklungsprozesses.
Zusammenfassend kommen dabei folgende Hauptarbeitsschritte vor (vgl. Tab. 4.3):
•
•
•
•
•
Aufgabe klären,
Lösungsidee entwickeln,
Bewerten der Lösung,
Verbessern der Lösung und
Erstellen der Herstellungsunterlagen.
Wögerbauer beschreibt mit seinem Prozessmodell die wesentlichen Arbeitsschritte der
Konstruktionstechnik, die sich zusammenfassen lassen als: „Vom WAS zum WIE“.
84
K. Gericke et al.
Tab. 4.3  Beschreibung der Prozessphasen (Gericke und Blessing 2012)
Bezeichnung
Beschreibung
1.
Ermittlung des Bedarfs
Beginn des Entwicklungsprozesses
durch eine Produktidee, die Identifikation eines Bedürfnisses oder eines
Problems
2.
Analyse der Aufgabenstellung
Detaillierte Analyse der initialen
Beschreibung von Entwicklungsauftrag, Bedürfnis, Problem, oder
Produktidee; zusätzliche Informationen
werden gesammelt
3.
Konzeptphase
Entwicklung prinzipieller Lösungen/
Konzepte zur Lösung des Problems
4.
Entwurfsphase
Detaillierung des Lösungskonzepts
5.
Ausarbeitung
Integration von Teillösungen zu einer
Gesamtlösung; Verfeinerung und finale
Ausgestaltung der Lösung
6.
Implementierung
Integration in Gesamtsystem; Herstellung; Installation; Test; Freigabe;
Markteinführung
7.
Gebrauch
Nutzung, Zustandsüberwachung und
Wartung des Produkts
8.
Produktlebensende/Außerbetriebnahme Recycling; Überarbeitung/Aufarbeitung des Produkts; Entsorgung
Wesentliche Erkenntnisse der Konstruktionsmethodik finden sich jedoch noch nicht in
seinem Prozessmodell. Insbesondere fehlen noch folgende Arbeitsschritte:
•
•
•
•
Die lösungsneutrale Beschreibung der Aufgabenstellung,
Die systematische Lösungsentwicklung, z. B. auf Basis physikalischer Zusammenhänge,
Die systematische Erzeugung von Lösungsalternativen und
die systematische Bewertung der Lösungsalternativen.
Einen ähnlichen Ansatz wie Wögerbauer hat Kesselring (Kesselring 1954). Er fokussiert
in seinem Prozessmodell auf drei Aspekte:
• Die Erfindungslehre: In diesem Prozessabschnitt wird die Lösung für ein technisches
Problem generiert. Hierfür werden Wege zur gezielten Gewinnung von Erfindungen
beschrieben.
• Die Gestaltungslehre: Dies ist der Prozessabschnitt, innerhalb dessen das Konzept auf
Basis von Gestaltungsprinzipien konstruktiv ausgeführt wird.
• Die Formungslehre: Dieser Prozessabschnitt dient der wirtschaftlichen Betrachtung
der Konstruktion.
4
Der Produktentwicklungsprozess
85
Abb. 4.14 Hauptprozessschritte nach Hansen (1965)
Kesselring schlägt also, insbesondere durch die „Formungslehre“, Prozessabschnitte vor,
wie sie auch heute einen Schwerpunkt bei der Konstruktion bilden.
Hansen (1965) schließlich sieht die systematische Lösungsentwicklung und
-erweiterung als Prozessschritte vor, s. Abb. 4.14. Damit legt er die wichtigen Grundlagen der Konstruktionsmethodik.
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen haben dann ab ca. 1970 Rodenacker (1991),
Roth et al. (Roth et al. 1971; Roth 2000), Hubka (1976), Koller (1976) sowie Pahl und
Beitz (Beitz 1971; Pahl und Beitz 1977) die einzelnen Arbeitsschritte in sehr ähnlicher
Weise definiert. Beispielhaft für diese entwickelten Prozessmodelle soll hier das Modell
von Pahl und Beitz (1977) wiedergegeben werden (Abb. 4.15), das sich in verschiedene
Hauptarbeitsschritte gliedert.
Diese verschiedenen Prozessmodelle fanden dann Eingang in der ersten Auflage der
VDI Richtlinie 2221 (VDI 2221 1986). In ihr wurden erstmalig die bisherigen Erkenntnisse in einem allgemeingültigen Prozessmodell des Entwickelns und Konstruierens
zusammengefasst. Die Richtlinie wurde 2019 erneut überarbeitet (VDI 2221-1 2019;
VDI 2221-2 2019).
Ein anderes Vorgehensmodell für die Produktentwicklung ist das V-Modell (siehe
Abb. 4.16). Die für komplexe mechatronische Systeme notwendige enge Integration von
Maschinenbau, Elektrotechnik und Softwaretechnik in den Entwicklungsprozess führte
zur Überarbeitung dieses aus der Softwareentwicklung stammenden Vorgehensmodells
(Verein Deutscher Ingenieure 2004). Das Modell betont die Eigenschaftsabsicherung.
Während Integration der domänenspezifischen Entwicklungsanteile in ein Gesamtsystem werden die Eigenschaften des Produkts kontinuierlich gegen definierte Testfälle
abgesichert.
Es gibt aber einen weiteren Aspekt im Rahmen der Produktentwicklung und
Konstruktion, der bei den bisher dargestellten Prozessmodellen nicht dargestellt wird.
86
Abb. 4.15 Vorgehensmodell nach Pahl und Beitz (1977)
K. Gericke et al.
4
Der Produktentwicklungsprozess
87
Abb. 4.16 Modell des Produktentwicklungsprozesses (Verein Deutscher Ingenieure 2004)
Es handelt sich dabei um die Abhängigkeit der Entwicklungs- und Konstruktionsergebnisse von den vorgefundenen Rahmen- und Randbedingungen. Beispielsweise
muss häufig bereits eingekauftes und sonst nicht verwendbares Material wenn möglich
bei einem aktuellen Projekt genutzt werden. Dies führt evtl. zu einer nicht optimalen
Gestaltung, ist aber wirtschaftlich für das Unternehmen von Vorteil. Auch fehlende
(personelle) Ressourcen führen häufig zu Lösungen, die nicht ausschließlich anhand
ihres technischen Nutzwertes bewertet werden können.
Eine Konstruktion ist demnach immer das Ergebnis aller im Unternehmen zusammenwirkenden Funktionsbereiche und somit aus unternehmerischer Sicht übergeordneter
Optimierungskriterien.
Ehrlenspiel (Ehrlenspiel und Meerkamm 2013) bezeichnet dieses Zusammenwirken
beim Entwickeln und Konstruieren, bei dem die vorhandenen Rahmenbedingungen und
die Bedürfnisse aller Unternehmensteile berücksichtigt werden, als „integrierte Produktentwicklung“. Weitere Ansätze der integrierten Produktentwicklung wurden von z. B.
Andreasen und Hein (Andreasen und Hein 2000) und Vajna (2014) vorgestellt.
Wie eingangs dieses Kapitels dargelegt ist die Produktentwicklung eng mit der Produktplanung und Produktion verbunden, so dass diese Prozesse gemeinsam betrachtet und eng
aufeinander abgestimmt werden müssen bzw. teils zeitgleich erfolgen. Gausemeier et al.
(2018) beschreiben entsprechend den Produktentstehungsprozess mittels vier einander
bedingender Zyklen. Der erste Zyklus beschreibt die strategische Produktplanung, der
zweite Zyklus die Produktentwicklung, der dritte die Dienstleistungsentwicklung und der
vierte Zyklus die Produktionssystementwicklung (Abb. 4.17).
88
K. Gericke et al.
Abb. 4.17 4-Zyklen-Modell der Produktentstehung (Gausemeier et al. 2018)
Alle bisher wiedergegebenen Modelle des Produktentwicklungsprozesses stellen den
logischen Ablauf der einzelnen Arbeitsphasen dar. Dies erweckt evtl. den Eindruck eines
sequentiellen Ablaufs, in dem eine Arbeitsphase vollständig abgeschlossen sein muss,
bevor die nächste gestartet werden kann. In der Praxis ist dies natürlich nicht der Fall.
Dies hat verschiedene Gründe:
1. Wie bereits zuvor erläutert, ist im Sinne eines Regelkreises eine kontinuierliche Überprüfung der Arbeitsergebnisse mit den Vorgaben erforderlich. In der Praxis werden
dabei meistens nicht im Sinne aller Zielkriterien optimale Ergebnisse durch eine
weitere Iterationsschleife im Prozess verbessert. Es wird also zurückgesprungen zu
einem früheren Prozessschritt.
2. Teilprozesse, insbesondere die Beschaffung von Material betreffend, werden ebenfalls in der Praxis häufig vorgezogen. Bauteile oder Material mit langen Lieferzeiten müssen bestellt werden, bevor die Konstruktion abgeschlossen ist, um einen
gegebenen Terminplan einhalten zu können.
3. Für viele Produkte ist die „Time to Market“ für den Erfolg entscheidend. Deshalb wird
versucht, möglichst viele Prozessteile des Entwicklungsprozesses zu parallelisieren.
4
Der Produktentwicklungsprozess
89
Auch aus theoretischer Sicht können die Arbeitsphasen nicht sequentiell durchlaufen
werden. Aufgrund der Koevolution von Problem und Lösung (Abschn. 3.1.4) beim
komplexen Problemlösen können manche Anforderungen an das Produkt erst durch das
Konkretisieren der technischen Lösung gefunden werden. Die Umsetzung dieser neuen
Anforderungen in der zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Lösung kann dabei Rücksprünge in frühere Entwicklungsphasen erfordern (Abschn. 3.1.3).
Die Anzahl und Abfolge der Arbeitsphasen im Entwicklungsprozess wird je nach Entwicklungsaufgabe und Rahmenbedingungen variiert. Für eine Anpassungskonstruktion
sind die frühen Phasen der Suche nach Lösungskonzepten oft nicht erforderlich, bei
einer Wettbewerbsanalyse stehen Analyse- und Bewertungsschritte im Vordergrund und
für eine Fehlersuche reichen evtl. Methoden der Eigenschaftsabsicherung aus.
Um der Variabilität der Reihenfolge von Aktivitäten der Produktentwicklung
Rechnung zu tragen schlägt Lindemann (2007) ein netzartiges Modell vor (siehe
Abb. 4.18). Es berücksichtigt u. a., dass in der industriellen Praxis häufig von ersten
Lösungen, meistens von Vorgängerprodukten, ausgegangen wird. Die so erarbeiteten
Gesamtlösungen werden dann im Sinne des V-Modells nach Abb. 4.16 mit den gesetzten
Zielen verglichen und, wenn notwendig, optimiert. Es wird also demnach nicht rein
sequenziell oder parallel gearbeitet. Vielmehr wird zwischen den einzelnen Schritten
des Entwicklungsprozesses hin und her gesprungen. Der Startpunkt des Prozesses muss
dabei nicht zwangsläufig die Zielanalyse nach Abb. 4.18 sein.
Abb. 4.18 Münchener Vorgehensmodell (Lindemann 2007)
90
K. Gericke et al.
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Teil II
Klären der Aufgabenstellung
5
Produktplanung
Matthias Kreimeyer, Werner Seidenschwarz und Matthias Rehfeld
In der Produktplanung werden die Rahmenbedingungen gesetzt, anhand derer sich die
spätere Gestaltung des Produkts ausrichtet – je nach Geschäftsmodell des Unternehmens
kann diese ganz unterschiedliche Form haben, vom technologiegetriebenen Innovationsführer im Markt über den spezialisierten Nischenanbieter bis hin zum kostenorientierten
Massenproduzenten sind viele Ausprägungen denkbar. Allen gemein ist das Ziel der
Produktplanung: Die für das Geschäftsmodell des Unternehmens richtigen Ideen finden,
diese aus Sicht der Vermarktbarkeit und Machbarkeit bewerten und die Entwicklung
und Detaillierung so aufsetzen, dass sich ein Produkt effizient entwickeln lässt. Das
Geschäftsmodell schlägt sich dabei in Form der Strategie des Unternehmens und des
angestrebten Produktportfolios nieder, das in der Produktplanung den Kontext aller Entscheidungen bildet. Elementares Ergebnis der Produktplanung ist die klare Beschreibung
des jeweiligen Entwicklungsauftrags, um aus der Planung heraus entsprechende Entwicklungsprojekte zu starten und zu begleiten.
Insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen ist eine dedizierte
Produktplanung oft nicht erkennbar. Der Start von Projekten oder Entwicklungsaufgaben
basiert auf oft „zufälligen“ Ideen, ohne dass ein systematisches Vorgehen zugrunde liegt.
Diese Vorgehensweise kann zu erfolgreichen Produkten führen, wenn Erfahrung und
Know-How zu Markt und Technologie vorhanden sind, aber je unbekannter diese sind,
desto höher sind die Risiken (Kramer und Kramer 1997). Größere Unternehmungen
besitzen zumeist spezialisierte Arbeitsgruppen, die der Geschäftsführung oder dem
Vorstand zuarbeiten.
M. Kreimeyer (*) · M. Rehfeld
MAN Truck & Bus SE, München, Deutschland
W. Seidenschwarz
Seidenschwarz & Comp. GmbH, Starnberg, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_5
97
98
M. Kreimeyer et al.
Abb. 5.1 Disziplinen im Kontext der Produktplanung
5.1Abgrenzung der Produktplanung
Abb. 5.1 zeigt das thematische Umfeld der Produktplanung. In der Essenz ist die
Produktplanung eine transdisziplinäre Tätigkeit, in der fast alle Unternehmensfunktionen
zusammenkommen.
Die Produktplanung ist eng mit der Unternehmensstrategie verwoben. Die Unternehmensstrategie bietet typischerweise Leitplanken zu den Produktentscheidungen, etwa
zu Märkten, auf denen das Unternehmen sinnvoll seine Produkte platzieren kann oder
zu Randbedingungen in Produktionsweisen, in der Aufstellung des Vertriebsnetzes und
in der Positionierung der Produkte im Wettbewerb (inkl. der zugehörigen antizipierten
Preisbildung und Preispositionierung).
Die Produktplanung hat eine enge Schnittstelle zu den Märkten, im Unternehmen
oft durch den Vertrieb oder das Marketing repräsentiert. Neben der Beurteilung der
Performanz der schon bestehenden Produkte (Wachstum von Marktanteilen, Stückzahlen oder Segmenten des Markts) kommen aus Sicht der Produktplanung besonders
die Segmentierung des Marktes bzw. das Clustern in Kundengruppen, die Erfassung der
Anforderungen pro Kundengruppe und die Bewertung von Marktpotenzialen zukünftiger
Produkte als Aufgaben in Betracht (Hermann 2008).
Der Bewertung der Entwicklungs- und Produktionsfähigkeiten im Unternehmen im
Sinne der Technologie kommt eine besondere Rolle zu, da es auch die Aufgabe der
Produktplanung ist, die Machbarkeit einer neuen Idee zu bewerten. Das bedeutet, dass
die Produktplanung sich auch um die Umsetzbarkeit einer Idee im Markt kümmert,
d. h. die Innovation1 (Specht und Möhrle 2002) als „eine Invention mit Markterfolg“
1Übersicht
von unterschiedlichen Definition des Innovationsbegriffs vgl. ‎Pfeiffer et al. (1985).
5
Produktplanung
99
(Hermann 2008; Schumann et al. 2003) (angelehnt an Hauschildt 2004) treibt. Somit
ist die Findung neuer Ideen (z. B. über Kreativitätstechniken oder Recherche) zwar
wichtig aber nicht ausreichend; vielmehr ist die Umsetzbarkeit unter Berücksichtigung
der Fähigkeiten und des Wissens des Unternehmens hierzu von Bedeutung. Der Grad
der Innovation kann dabei auf das Produkt (Produktinnovation), aber auch auf die Herstellung oder den Vertrieb (Prozessinnovation, Hybrides Produkt) bezogen sein. Der
Produktentwicklungsprozess, der mit der Produktplanung angestoßen wird, ist damit
zugleich der Innovationsprozess (Eversheim 2003).
Damit ist indirekt schon gesagt, dass auch die betriebswirtschaftliche Bewertung
nicht vergessen werden darf. Neben der Sicht des Business Case auf die neue Produktidee, die sich in der Planung befindet, kommen so auch die Bewertung der Projektkosten
(Aufwandsschätzungen, Dienstleister, Beschaffungs- und Auditierungs-/Zertifizierungskosten,…), der Produktkosten (Montageaufwände, Produktkostenanalyse, idealerweise
Target Costing,…), der nötigen Betriebsmittel (Maschinenpark, Werkzeuge,…) und
zuletzt der verfügbaren finanziellen Mittel und Ressourcen zur Durchführung des Entwicklungsvorhabens zusammen.
5.2Vorgehensmodelle zur Produktplanung
Viele Unternehmen installieren eine Abteilung oder Gruppe, die den nachhaltigen Erfolg
im Markt sicherstellen soll. Die wichtigste Aufgabe ist dabei die Einsteuerung neuer
Ideen für Produkte, was auf der einen Seite bedingt, ein klares Bild für die Zukunft des
Unternehmens zu kennen und Entscheidungen daran auszurichten (Schnittstelle zur
Unternehmensstrategie), auf der anderen Seite steht die Transparenz über das bestehende
Produktportfolio einschließlich der Kenntnis um den Markt (ggf. in der Schnittstelle zu
Vertrieb und Marketing), die Technologien (ggf. in der Schnittstelle zu Forschung und
Entwicklung) und die Leistungsfähigkeit der eigenen Unternehmung. So kann übergreifend das Risiko von Flops vermieden werden. Herangezogen wird dabei – je nach
Phase – ein gewisses grundlegendes Set an Arbeitsmethoden.
Die typischen Aufgaben ordnen sich gemäß des groben Vorgehens, wie in Abbildung
Abb. 5.2 gezeigt. Es ordnet die Produktplanung als Schritt zwischen die Unternehmensstrategie und die eigentliche Entwicklung neuer Produkte bzw. die Überarbeitung
bestehender Produkte. Auf dieser Ebene kann man die Produktplanung in vier Hauptaufgaben herunterbrechen: Die Produktstrategie, die die Leitplanken des Unternehmens auf das Produkt herunterbricht, das Portfoliomanagement als fortwährende
„Bewachung“ des existenten Portfolios an Produkten, die Planung von einzelnen
(neuen bzw. veränderten) Produkten und Produktportfolio und die Begleitung einzelner
Produktprojekte aus Sicht der Produktplanung, um die Ziele einzelner Produktprojekte
auch bestmöglich über die Beschreibung in Form von Anforderungen und Zielen in
der Entwicklung sicherzustellen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels bildet dieses
Ordnungssystem auch die Struktur der Unterkapitel.
100
M. Kreimeyer et al.
Abb. 5.2 Ordnungssystem für die Produktplanung
Dieses Ordnungssystem ist eng verwandt mit dem Vorgehen zur Produktplanung nach
VDI 2220 (VDI-Richtlinie 2220 1980; Schmidt et al. 2016), das in Abb. 5.3 gezeigt ist.
Neben diesen Ansätzen gibt es zahlreiche Vorschläge für eine systematische Produktplanung (Brankamp 1974; Eversheim 2003; Gausemeier et al. 2001; Geyer 1972;
Kramer 1987; Spath und Grabowski 2001), die im Wesentlichen das gleiche Vorgehen
beschreiben und auf unterschiedliche Kontexte erweitern. Der zentrale Arbeitsschritt
ist das Finden und Auswählen von Produktideen als Ergebnis einer mehr oder weniger
strukturierten Suche. Nach einem Auswahlschritt schließt sich die Ausarbeitung bzw.
Konkretisierung zu Produktvorschlägen an, was im Wesentlichen dem methodischen
Konzipieren auf einer weniger verbindlichen Ebene entspricht. Wann diese zur Marktreife weiterentwickelt werden, wird in der Umsetzungsplanung festgelegt bzw. es erfolgt
ein Entwicklungsauftrag und der Produktvorschlag wird, um eine Anforderungsliste
erweitert, der Entwicklung und Konstruktion übergeben. Den Kontext für dieses Vorgehen bilden in allen Fällen die Märkte, die Technologien und das Unternehmen.
Der dargestellte Vorgehensplan ist nicht als starre Abfolge deutlich trennbarer Arbeitsschritte zu verstehen; er ist kein „Geradeausweg“ mit sequenzieller Abfolge, sondern nur
Leitfaden für ein grundsätzlich zweckmäßiges Handeln. Je nach Unternehmen können
die einzelnen Tätigkeiten im Unternehmen institutionalisiert und regelmäßig erfolgen
oder die Produktplanung wird zu bestimmten Zeitpunkten als Projekt im Sinne einer Vorentwicklung durchgeführt. Entsprechend vielfältig sind auch die anwendbaren Modelle,
Methoden und Werkzeuge.
Aus diesem Grund verfolgt das in diesem Kapitel vorgeschlagene Vorgehen das in
Abb. 5.3 vorgeschlagene Vorgehen als Struktur. Nach Erfahrung der Autoren ist es näher
an der organisatorischen Ausrichtung, die viele größere Unternehmen im Maschinenbau
und im produzierenden Gewerbe für sich eingerichtet haben.
5
Produktplanung
101
Abb. 5.3 Vorgehen bei der Produktplanung. (In Anlehnung an Kramer 1987; VDI 2220 1980)
In diesem Zusammenhang gilt auch festzustellen: Die Produktplanung beschränkt
sich idealerweise nicht auf das technische Produkt, sondern sie bezieht die
mechanischen, elektrischen und softwareseitigen Bestandteile ebenso mit ein wie die
Dienstleistungen, die zum Produkt mit angeboten werden – der Begriff des „Produktangebots“ oder „Leistungsangebots“ ist damit der Fokus der Produktplanung (Hepperle
2013). In der Forschung und Wissenschaft wird in diesem Zusammenhang auch oft von
„hybriden Leistungsbündeln“ oder „Product-Service-Systems“ gesprochen (Kernschmidt
et al. 2012; Schmidt et al. 2016). Ein Beispiel aus der Welt der Nutzfahrzeuge zeigt dies:
102
M. Kreimeyer et al.
Klassischerweise fokussierte die Produktplanung zum Beispiel auf neue Leistungsstufen,
etwa einen Sprung von 540 auf 580 PS für schwere Sattelzugmaschinen. Diese basiert
rein technisch vor allem auf einer angepassten Parametrierung der Motoren, die eine
andere Absicherung bedingt. Im Zuge der schrittweisen Digitalisierung ist nun denkbar,
dem Kunden einen 540 PS Motor anzubieten mit der Option, diesen später im Betrieb
temporär oder dauerhaft für eine höhere Leistungsstufe freizuschalten. Neben der grundlegenden Auslegung bedeutet das aus Sicht der Produktplanung, schon frühzeitig nicht
nur die technischen Leistungsstufen, sondern auch die spätere Interaktion mit dem
Kunden (etwa eine Art AppStore) und die Freischaltung während des Betriebs (etwa ein
„Update over the Air“) inklusive aller Implikationen auf rechtliche Rahmenbedingungen
oder auch Garantie und Kulanzleistungen zu durchdenken.
5.3Zentrale Grundmethoden in der Produktplanung
Es gibt eine Reihe Methoden, die sich in allen Phasen der Produktplanung – von
ersten groben strategischen Betrachtungen bis hin zur detaillierten Erarbeitung einer
Anforderungsliste – immer wieder als das grundlegende Handwerkszeug des Produktplaners (in der Folge synonym zu „Produktmanager“ verwendet) darstellen. Diese
sollen in der Folge skizziert werden. Alle verbindet, dass sie in unterschiedlicher Form
den Markt bzw. das Kundenbedürfnis beleuchten: Für den Erfolg eines Produkts ist es
von zentraler Bedeutung, dass dieses den Wünschen und Bedürfnissen des Kunden entspricht. Als Folge dieser Erkenntnis hat sich die Kundenorientierung zunehmend zu
einer Integration der Kundensicht bis hin zu ihrer direkten Integration in alle Phasen der
Produktentstehung entwickelt (Beitz 1996; Kleinaltenkamp et al. 1996).
Dabei gilt zu beachten, dass die Kundenperspektive zwar die Ausrichtung eines
Produkts treibt, am Ende aber nicht das einzige Entscheidungskriterium ist. Es liegt auch
immer in der Verantwortung der Produktplanung, ein Produkt oder eine Produktfamilie
wirtschaftlich auszurichten. In diesem Sinne tragen die nachfolgenden Methoden immer
auch einer systematischen und ganzheitlichen Entscheidungsfindung zu, wie Tab. 5.1
aufzeigt.
Vier Methoden haben eine gewisse stellvertretende Rolle und sollen übergreifend etwas genauer betrachtet sein: Quality-Function-Deployment, Szenariotechnik, Roadmapping und der Produktlebenszyklus (siehe auch die weiteren Kapitel
hierzu). Letzterer ist eigentlich keine Methode im klassischen Sinne, er zeigt mehr die
Betrachtungsweise in den anderen Methoden auf, die in der Produktplanung notwendig
ist.
Die QFD-Methode (Quality Function Deployment) (Akao 1992), die auf dem Leitgedanken des Kundenwunsches als zentraler Aspekt des Innovationsprozesses aufbaut,
wurde als Werkzeug zur Überführung von Kundenwünschen in Produktmerkmale in
der Produktplanung eingeführt (Eder 1995; Kleinaltenkamp et al. 1996). Es gibt zudem
Vorschläge zur Gestaltung des Produktplanungsprozesses, die die QFD als integralen
5
Produktplanung
103
Tab. 5.1  Grundmethoden in der Produktplanung
Methoden und weiterführende Quellen
Ausrichtung der Nutzung als Teil der Produktplanung
Benchmarking (Camp 1994), (Sabisch und
Tintelnot 1997) Use Cases (Rumbaugh
et al. 1993), (Bruegge und Dutoit 2000)
Analysewerkzeug zur Unternehmens- und
Produktsituation im Markt und im Wettbewerbsvergleich; Erfassung der kundenrelevanten Sicht
und Beschreibung/Analyse der Produktnutzung
als Basis einer weiterführenden Betrachtung und
Abgrenzung im Markt
Prognosen in der Form von Schätzen
Analysewerkzeuge zur groben Bewertung in unter(Ehrlenspiel 2003)/Trendanalyse bzw.
schiedlichen Graden des Aufwands; oft stark an
Delphi-Analyse (Daenzer und Büchel 2002) Expertise zur existenten Situation gebunden
Technologische Evolution bzw. Technologische S-Kurven (Altschuller 1984),
(Daenzer und Büchel 2002), (Gausemeier
et al. 2001), (Weule 2002)
Analysewerkzeug zur Technologiereife, insb. bei
der Betrachtung und Bewertung von Produkten mit
hohem Neuigkeitsgrad
Ursachen-Wirkungs-Analyse (Daenzer und
Büchel 2002)/Wirkungsnetz (Daenzer und
Büchel 2002)/Einflussmatrix (Lindemann
et al. 2004), (Ulrich und Eppinger 2000)
Analysewerkzeug zu den Treibern und Einflussfaktoren auf ein Produkt und die zugehörigen
Produktentscheidungen und deren Wechselbeziehungen untereinander
ABC-Analyse bzw. Pareto-Analyse
(Daenzer und Büchel 2002), (Nebl 2004)
Analysewerkzeug zur Priorisierung und Schwerpunktbildung, insb. bei frühen Bewertungen und
Entscheidungen
Plausibilitätsanalyse (Daenzer und Büchel
2002)/Konsistenzanalyse (Mörle et al.
2013)
Analysewerkzeug zur Sicherstellung, dass
im Rahmen der Bildung von Annahmen und
Schätzungen der Gesamtkontext der Entscheidung
konsistent und richtig bleibt, ohne durch die
inhärenten Unsicherheiten verzerrt zu werden
Bewertung (Ehrlenspiel 2003)/Paarweiser
Vergleich (Lindemann 2009)/VorteilsNachteils-Bewertung (Bruegge und Dutoit
2000)/Stärken-Schwächen-Profil bzw.
SWOT Analyse (Thompson 1994)
Analysewerkzeuge zur Vorbereitung einer Entscheidung in unterschiedlichen Detailgraden
Szenariotechnik (Mörle et al. 2013;
Gausemeier et al. 1996)
Analysewerkzeug zu Richtungs- und Detailentscheidungen in der Darstellung unterschiedlicher
Entscheidungsalternativen
Roadmapping (Mörle et al. 2013)
Modellierungswerkzeug zur Darstellung einer
Strategie und der Entwicklung einer Thematik
(Technologie, Produkt, Wettbewerb,…) meist über
einen längeren Zeitraum
Business-Case (Schmidt 2015)/KapitalAnalysewerkzeug für die gesamtwirtschaftliche
wert-Methode („Net present Value [NPV]“) Bewertung einer Produktentscheidung
(Kruschwitz und Husmann 2012)
104
M. Kreimeyer et al.
Bestandteil nutzen (Hoffmann 1997; Lesmeister 2001; Mai 1998). Prinzipbedingt weisen
diese Ansätze jedoch Schwächen in Bezug auf die Planung hochinnovativer Produkte
auf: Einerseits sind gerade bisher unbekannte Kundenwünsche ein wesentlicher Ansatz
für Neuprodukte. Andererseits behindert die frühzeitige Festlegung von Produktmerkmalen die Definition von Produktvorschlägen mit neuartigen Eigenschaften. QFDbasierte Ansätze zur Produktplanung eignen sich daher besonders zur Überarbeitung
bestehender Produkte (Seidel 2005), und die Methodik hilft insbesondere bei der
kontinuierlichen Pflege und Weiterentwicklung (Kreimeyer 2016).
Abb. 5.4 zeigt die grundsätzliche Logik: In Form einer Liste werden die
Anforderungen bzw. Kundenbedürfnisse („user needs“) oder Merkmale bzw. Eigenschaften des Produkts, die der Markt für ein Produkt fordert, aufgeführt. Diese können
über ein zusätzliches Attribut gewichtet werden und bilden die Basis. Über die Wettbewerbsmatrix kann auch die relative Bedeutung jeder Anforderung im Markt nochmal
ergänzend gewichtet werden. So bilden die Zeilen des Modells die Ziel-Marktsicht ab.
Über die Spalten werden die prinzipiellen technischen Merkmale aufgeführt, beispielsweise die Abmaße, Leistungsstufen, technische Optionen o. ä. des finalen Produkts.
Diese können über die Matrix im Inneren in Bezug zueinander gesetzt werden;
ergänzend dient das „Dach“ als Möglichkeit, die Konsistenz der technischen Merkmale
zueinander abzubilden (Passen alle in den Bauraum? Sind sie konsistent zueinander? etc.).
Abb. 5.4 Quality-Function-Deployment, allgemeiner Aufbau
5
Produktplanung
105
Im Inneren der Matrix werden diese dann aufeinander übertragen – so kann sichergestellt werden, dass die einzelnen Marktbedürfnisse auch bedient werden. Durch diese
grundlegende Darstellung der Markt- und der Techniksicht kann die QFD-Methode
helfen, dass die technische Lösung auf die Marktbedürfnisse fokussiert und die richtigen
Umfänge mit den richtigen Lösungen bedient. Zugleich ist die QFD-Methode auch zu
einem späteren Zeitpunkt im Prozess ein passendes Werkzeug, die Vollständigkeit einer
Entwicklung zu überprüfen.
Die Szenariotechnik (Gausemeier et al. 1996) ist eine weitere Grundlage der
Produktplanung und tritt in allen Phasen auf. Sie erlaubt es, unterschiedliche Szenarios
(d. h. alternative Zukunftsmodelle) zu einer Aufgabenstellung zu ermitteln und zu vergleichen. Das „Denken in Szenarios“ ist eine wichtige Grundhaltung eines Produktplaners. Sie besteht aus traditionell fünf Schritten zur Vorbereitung einer Entscheidung
(Abb. 5.5).
Die Nutzung der Szenariotechnik empfiehlt sich immer dann, wenn beispielsweise
strategische Entscheidungen zur Ausrichtung des Unternehmens oder zu Entwicklungsschwerpunkten zu treffen sind. Die Szenariotechnik ist aber auch dann sinnvoll, wenn
grundlegende konzeptionelle Entscheidungen zu fällen sind, da sie eine wertvolle
Methode zur systematischen Auseinandersetzung mit der möglichen und denkbaren
Abb. 5.5 Vorgehen in der Szenariotechnik. (Angelehnt an Mörle et al. 2013)
106
M. Kreimeyer et al.
Zukunft ist (Lindemann 2009), weil sie es erlaubt, die Unsicherheiten, die einer Entscheidung zugrunde liegen, transparent zu machen. Sie hat als hilfreichen Nebeneffekt,
dass sie eine disziplinenübergreifende Kommunikation und Denkweise anregt und so
mögliche Risiken minimiert.
Das Roadmapping bzw. das Erstellen von Roadmaps wird meist verwendet, um eine
gewisse strategische Ausrichtung kommunizieren zu können. Roadmaps kommen daher
insbesondere in der Produktplanung zum Einsatz und sind ein typisches Werkzeug eines
Produktplaners. Sie können für alle Bereiche eingesetzt werden – Technologieroadmaps,
Produktroadmaps, Wettbewerbs-Roadmaps, Forschungs-Roadmaps, usw. Eine wichtige
Rolle in der Produktplanung eines Unternehmens liegt darin, diese verschiedenen Roadmaps aneinander auszurichten und die Kommunikation über die betroffenen Bereiche
hinweg sicherzustellen (Oliviera und Rozenfeld 2010).
Die zentrale Roadmap ist meist die Produkt-Roadmap, die die einzelnen Produktereignisse einer Firma darstellt. Diese Roadmaps können die unterschiedlichsten Formen
annehmen (Schumann et al. 2003). Tab. 5.2 zeigt einige Literaturstellen zu bekannten
Fallstudien auf, die als Referenz dienen können. Da die Produktroadmap einer Firma
meist das geheimste Dokument neben der Finanzplanung ist, ist es oft schwierig, gute
Beispiele zu finden.
Tab. 5.2  Unterschiedliche Case-Studies zu Roadmapanwendungen in großen Unternehmen
Firma
Quelle
ABB
Technology Roadmapping: Delivering Business Vision. EIRMA.
1997 (European Industrial Research Management Association
1997). Bruxelles
Bergbauindustrie generell
Amadi-Echendu, Joe; Lephauphau, Obbie; Maswanganyi, Macks;
Mkhize, Malusi. “Case studies of technology roadmapping in
mining”. Journal of Engineering and Technology Management. 28
(1–2): 23–32. 2011 (Amadi-Echendu et al. 2011)
Motorola
Willyard, Charles H.; McClees, Cheryl W. “Motorola’s Technology
Roadmap Process”. Research Management. 30 (5): 13–19. 1987.
(Willyard und McClees 1987)
Philips
Groenveld, Pieter. “Roadmapping Integrates Business and Technology”. Research-Technology Management. 40 (5): 48–55. 1997
(Groenveld 1997)
Siemens
Lischka, Jan Marc; Gemunden, Hans Georg. “Technology
roadmapping in manufacturing: a case study at Siemens AG”. International Journal of Technology Intelligence and Planning. 4 (2).
2008 (Lischka und Gemunden 2008)
Honeywell
Petrick, Irene J.; Echols, Ann E. “Technology roadmapping in
review: A tool for making sustainable new product development
decisions”. Technological Forecasting and Social Change. 71 (1–2):
81–100. 2004 (Petrick und Echols 2004)
5
Produktplanung
107
Eine typische Produktroadmap in der Produktplanung umfasst meist die Perspektive
mehrerer Jahre, und sie beschreibt auf oberster Ebene die wichtigsten Produktereignisse, etwa die Einführung neuer Produkte, neuer Varianten oder die Erschließung neuer
Märkte oder Geschäftsfelder. Diese Ereignisse sind meist in der Form von Meilensteinen
oder Ereignissen vermerkt. Zusätzlich tragen die Roadmaps meist die wichtigsten
Rahmenbedingungen auf, etwa große Messen, wichtige Veränderungen in den gesetzlichen Rahmenbedingungen oder die erwarteten Produktereignisse wichtiger Wettbewerber. Im Nutzfahrzeugbereich ist die Einführung neuer Umweltgesetzgebungen in
Form der Euro-Stufen oder CO2-Regulierungen beispielsweise ein wichtiger Treiber,
so dass diese den Rahmen für große Produktereignisse bilden. Abb. 5.6 zeigt ein
abstrahiertes Beispiel aus dem Nutzfahrzeugbereich.
Die Roadmaps dienen meist als Darstellung des größeren Kontexts, bevor einzelne
Entscheidungen getroffen werden – ein hoher Detaillierungsgrad ist daher selten von
Relevanz (Petrick und Echols 2004). Wichtiger ist vor allem die Quervernetzung von
Informationen, um so den Entscheidungskontext möglichst vollständig zu bilden. Dies
umfasst neben den bereits genannten Aspekten wie Wettbewerb etc. auch die erwarteten
Gesamtkosten der Implementierung einer Roadmap, die Größe und das Potenzial
der zugeordneten Märkte (etwa in Form einer Profit-Pool Analyse (Gadiesh und
Gilbert 1998)) oder Kooperationsaktivitäten mit anderen Unternehmen, wie etwa die
gemeinsame Entwicklung und Vermarktung eines Motors.
Abb. 5.6 Darstellungsform einer industriellen Roadmap
108
M. Kreimeyer et al.
Eine wichtige Grundlage ist dabei – gerade mit Blick auf Risiken oder auch nur Einflussfaktoren auf eine Entscheidung – der Produktlebenszyklus, für den es eine Vielzahl
von Modellen gibt (Eigner und Stelzer 2009; Feldhusen und Gebhardt 2009; Bullinger
et al. 2009).
Abb. 5.7 zeigt die typischen sieben Schritte auf: Mit der Definition der Anforderungen
beginnt der Lebenszyklus, und er endet mit dem Recycling. Dabei gilt der Zyklus sowohl
auf der Meta-Ebene (d. h. für ein ganzes Produkt) wie auch für die einzelnen Bestandteile, etwa die Komponenten.
Der Produktlebenszyklus ist aus zwei Gründen ein wichtiger Rahmen für die
Produktplanung: Zum einen gilt die „Zehnerregel“ (Lindemann 2009): Gerade in den
späten Phasen der Entwicklung entstehen oft hohe Kosten aus späten Anpassungen
oder Änderungen am Produkt („Zehnerregel“ – in jeder Phase ist eine Änderung zehnmal teurer als in der Phase davor). Dies bedingt beispielsweise, dass eine fundierte Entscheidung aus Sicht der Produktplanung auch späte Aspekte des Produktlebens – etwa
die Recyclebarkeit oder die Kosten im Service und Aftersales – mit einbeziehen muss.
Zum anderen muss eine fundierte Produktplanung auch die späten Phasen des Produktlebens mit einbeziehen und in der Spezifikation abbilden (z. B. in der Anforderungsliste).
Dafür ist ein Verständnis des jeweils spezifischen Produktlebenszyklus’ unabdingbar.
Tab. 5.3 zeigt die grundlegenden Kategorien für die Konzeptentscheidungen zu
technischen Komponenten eines Nutzfahrzeugs auf (Kreimeyer et al. 2012): Im Gegensatz zu Abb. 5.7 wird deutlich, dass die Einflussgrößen entlang des Produktlebenszyklus ungleich komplexer ausfallen können, als ein erster Blick dies zeigen mag. Ein
gutes Beispiel bildet das so genannte „Second Life“, das insbesondere für schwere LKW
gilt: Ein neues Fahrzeug wird meist zunächst in Ländern mit hohen Betriebskosten ausgeliefert, z. B. in Westeuropa, oft als Leasing-Fahrzeug und nicht durch den direkten
Verkauf. Nach ca. vier Jahren wird das Fahrzeug dann zurückgenommen, und es geht
oft in außereuropäische Länder, für die beispielsweise andere gesetzliche Regelungen
(z. B. Abgasvorschriften) gelten. Das Produkt muss dafür dann später adaptiert werden,
um über seinen gesamten Lebenszyklus profitabel zu sein. Eine Entscheidung für eine
technische Ausprägung in die eine oder andere Richtung muss also mindestens alle diese
Sichten einbeziehen.
Abb. 5.7 Standard-Produktlebenszyklus (Eigner und Stelzer 2009)
5
Produktplanung
109
Tab. 5.3  Kategorien im Lebenszyklus technischer Komponenten eines Nutzfahrzeugs (Kreimeyer
et al. 2012)
Kategorie
Beschreibung
Entwicklung
Aufwendungen für Konstruktion, Zeichnungserstellung, Projektmanagement, Softwareentwicklung, Simulation/Berechnung,
Abstimmung Lieferanten, interne Abstimmung, Stücklistenerstellung
Erprobung
Aufwendungen für Planung, Vorbereitung/Durchführung Erprobungen,
Aufwendungen zur Erstellung von Prototypen von Vorserien
Qualitätssicherung
Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen zur Qualitätsplanung,
Investitionen für Mess- und Prüfgeräte,
Prüf- und Einstellaufwendungen pro Modul, Aufwendungen für Nacharbeiten und zur Fehlerbehebung
Materialkosten
Materialkosten, Mengeneffekte, anteilige Investitionskosten, Entwicklungskosten und Werkzeugkosten
Gewicht
Einfluss auf das Gesamtgewicht eines Fahrzeuges durch den Einsatz
des Moduls (Erhöhung oder Reduzierung des Gewichts pro Fahrzeug),
Mehr-/Mindergewicht pro Fahrzeug
Produktmanagement
Anforderungen vom Produktmanagement werden erfüllt?
Angabe einer Begründung, falls die Anforderungen und Vorgaben nicht
erfüllt werden
Produktionsstrategie
Anforderungen Produktion werden erfüllt? Angabe einer Begründung,
falls die Anforderungen und Vorgaben vom Produktionslastenheft nicht
erfüllt werden
Produktion
Aufwendungen für Planung/Vorbereitung von Produktionsanläufen,
Erstellung/Überarbeitung von Betriebsmitteln, Planung/Anpassung
Arbeitsplätzen, Montagezeit pro Modul, Berücksichtigung von
Produktivitätsverlusten, Aufwendungen zum Materialhandling
Technische Risiken
Angabe Entwicklungsrisiko
Angabe einer Begründung, falls technische Risiken gesehen werden
Entwicklungsstand
Das Modulkonzept ist eindeutig definiert, die Modulschnittstellen sind
dokumentiert und mit dem Baureihenverantwortlichen abgestimmt
Life-cycle-cost (LCC)
Anforderungen LCC werden erfüllt? Beschreibung der Abweichungen,
wenn die LCC Anforderungen nicht werden erfüllt; LCC Kosten pro
Kilometer
5.4Unternehmens- und Produktstrategie
Der Rahmen für die Produktplanung wird durch die strategische Unternehmensführung mit ihrem Kernelement, der Strategie, vorgegeben. Die Strategie wird von
verschiedensten Einflussfaktoren abgeleitet und muss im gesamten Unternehmen verinnerlicht werden.
110
M. Kreimeyer et al.
Der Begriff „Strategie“ bezeichnet generell den Weg zur Zielerreichung (Seidenschwarz und Lindemann 2016; Andrews 1997) und setzt den Rahmen dafür, wie die
Ziele erreicht werden sollen. Um eine gelungene Umsetzung der Strategie sicherzustellen, ist es jedoch notwendig, nicht nur die Strategie zu definieren, sondern diese in
eine integrale Umgebung einzubetten – die sogenannte Strategiepyramide (Abb. 5.8).
Dazu wird zunächst die Mission eines Unternehmens bestimmt. Die Mission
beschreibt insbesondere den Zweck der Unternehmung und setzt deren strategischen
Leitplanken („Was ist unser Geschäftsfokus?“ und „Was soll nicht getan werden?“)
(Seidenschwarz und Lindemann 2016). Damit setzt die Mission insbesondere für
das Produkt die zentralen Leitlinien, etwa von „Wir liefern LKWs.“ bis hin zu „Wir
organisieren den Transport für den Kunden.“ – in ersterem Falle ist das Angebot nur das
Fahrzeug, in letzterem auch alle organisatorischen Dienstleistungen zum Warentransport.
Die Vision skizziert ein Bild von der Zukunft eines Unternehmens (Kaplan und
Norton 1992) anhand einer Leitidee. Es entwirft also den Zustand des Unternehmens,
den es in der Zukunft erreichen möchte und zielt auf eine nachhaltige Änderung des
aktuellen Zustandes ab („Was wollen wir künftig erreicht haben?“). Dabei wird untersucht, worauf es dem Kunden in Zukunft ankommen wird, was die Wettbewerbsvorteile
des Unternehmens sein werden und wie es sich im Markt positionieren wird.
Hieraus lässt sich nun eine Strategie formulieren, aus welcher sich wiederum die
Balanced Scorecard (Kaplan und Norton 1992) ableiten lässt. Die Methode der Balanced
Abb. 5.8 Zentrale Elemente einer Strategiepyramide (Seidenschwarz und Lindemann 2016)
5
Produktplanung
111
Scorecard ist dabei ein typisches Werkzeug des strategischen Managements und hat eine
große Verbreitung gefunden. Ziel der Balanced Scorecard ist es, die strategischen Ziele
messbar zu machen und das Fortschreiten der Realisierung überwachen und vorantreiben
zu können. Ihr liegt die Philosophie „What gets measured gets done.“ als Instrument
der Fortschrittsmessung zugrunde (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Aus Sicht
der Produktplanung können in der Balanced Scorecard – so diese im Unternehmen verwendet wird – oder in der generellen Unternehmensstrategie und -mission wichtige
Rahmenbedingungen entstehen, die als Leitplanken für das Produkt und dessen Eigenschaften berücksichtigt sein müssen.
Zur Umsetzung werden oft strategische Initiativen, oft auch als „Leuchtturmprojekte“
benannt, verwendet. Sie definieren, was konkret umgesetzt werden soll, um die entwickelte Strategie zu erreichen (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Da die Strategie
aus Sicht der Mitarbeiter oft zu vage oder zu unkonkret ist, helfen solche Initiativen
dabei, die Motivation der Mitarbeiter zu steigern und den Zielzustand in die Breite zu
tragen. Gerade aus Sicht einer Produktstrategie – etwa der Wandel hin zu längeren und
aerodynamischeren LKWs im Fernverkehr – kann so ein Leuchtturm helfen, zukünftige
Produkte früher „greifbar“ zu machen, die Diskussion hierzu anzuleiten und so den
strategischen Wandel zu stärken. Frühe Prototypen oder Demonstratoren sind dabei eine
typische Form solcher „Leuchttürme“.
Schlussendlich werden die Ziele der Strategie mit persönlichen Zielen der Stakeholder und Führungskräfte verknüpft, um so die Umsetzungsbeteiligten eng in die
Strategie(-umsetzung) einzubinden und eine Identifikation mit dieser zu erreichen. Dies
wird insbesondere getan, um die Strategie über Schlüsselpositionen im Unternehmen
zu kaskadieren. Dabei ist es für eine erfolgreiche Strategieumsetzung von besonderer
Bedeutung, die richtigen Schlüsselpersonen zu identifizieren (Kaplan und Norton 1992).
Außerdem gilt: je mehr Umsetzungsbeteiligte dabei involviert werden, desto größer
ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Strategie von den Schlüsselspielern implementiert
werden wird und sich diese stark mit ihr identifizieren (Seidenschwarz und Lindemann
2016).
5.4.1Ebenen der Strategie und Einfluss auf das Produkt
Um die Strategie über alle Unternehmensebenen hinweg erfolgreich zu kaskadieren,
muss eine entsprechende Ableitung der Gesamtunternehmensstrategie für alle Ebenen
des Unternehmens definiert werden (Abb. 5.9). Die verschiedenen Ebenen wirken sich
dabei unterschiedlich auf die Produktplanung aus.
Aus der Gesamtunternehmensstrategie geht hervor, ob das Unternehmen eine
Wachstums-, Schrumpfungs- oder Stabilisierungsstrategie verfolgt. Außerdem wird festgelegt, ob das Unternehmen lokal oder global agieren möchte und ob es verstärkt auf
externe Partnerschaften in der Entwicklung setzt oder nicht (Abb. 5.9). Dies setzt insbesondere für die Märkte, auf denen ein Produkt eingesetzt werden soll, den Rahmen.
112
M. Kreimeyer et al.
Abb. 5.9 Strategieebenen (Seidenschwarz und Lindemann 2016)
Bei Unternehmen mit mehreren Managementebenen kann die Gesamtunternehmensstrategie auf zwei Wege über die Ebenen hinweg auf die Produktplanung wirken (Seidenschwarz und Lindemann 2016):
• Vertikale Geschäftsstrategien, in deren Fokus bspw. exzellente strategische
Positionierungen mit einem dazugehörigen Geschäftsportfolio stehen, oder
• Horizontale Geschäftsstrategien, die für bereichs- und regionenübergreifende
Optimierungen sorgen (bspw. Plattformlösungen).
Auf der Ebene der marktnahen Einheiten (Geschäftseinheiten) werden Wettbewerbsstrategien entwickelt, die zunehmend hybrid sind, also nicht mehr rein auf Kostenführerschaft, Differenzierung oder Nischenabdeckung abzielen, sondern eine Kombination der
drei darstellen. Damit diese Wettbewerbsstrategie eine erfolgssteigernde Wirkung hat,
gilt es folgende Kriterien zu erfüllen (Seidenschwarz und Lindemann 2016):
1. Alleinstellungsmerkmal generieren
2. Klar werden darüber, was „man nicht tun will“
3. Klar werden über die „Grundstrategie“ – Strategie der operationalen Exzellenz,
Strategie der Kundenvertrautheit oder Strategie der Produktführerschaft?
4. Strategie muss implementiert werden
5
Produktplanung
113
Im Sinne eines „strategic fit“ müssen alle vier Kriterien erfüllt sein, um eine erfolgreiche
Produktplanung abzuleiten und die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens langfristig zu verbessern. Auf dieser Ebene zeigt die Strategie insbesondere die Abgrenzung
zu Wettbewerbsprodukten aus Sicht einzelner Merkmale und der Preispositionierung auf.
Dies hat zur Konsequenz, dass bei der Planung eines Produktes idealerweise schon früh
der Dialog mit den Märkten geführt wird, um so grobe Prämissen zu jedem angestrebten
Markt abzuleiten.
5.4.2Einflüsse und Rahmenbedingungen zur Produktstrategie
Bei der Erstellung der Produktstrategie müssen verschiedenste Einflussfaktoren berücksichtigt werden, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen:
1. Externe Einflüsse,
2. Geschäftszielsetzungen und
3. Interne Einflüsse.
Dabei ist zu bedenken, dass alle diese Faktoren nicht statisch sind, sondern sich
kontinuierlich wandeln bzw. einer gewissen Dynamik unterliegen.
Externe Einflüsse entstehen häufig im Unternehmensumfeld und können unterschiedlicher Natur sein, darunter beispielsweise wirtschaftspolitische Ereignisse und
regulatorische Eingriffe, Ressourcenverknappung, Substitutionen durch innovative
Technologien oder neue Forschungsergebnisse. Im Umfeld der Automobilindustrie
hat sich über die Jahre insbesondere die Vorgabe immer neuer Abgasgesetzgebungen
als wichtiger Treiber der Strategie dargestellt; ohne diese schrittweise Beschränkung
der Motorentechnologie wäre aktuell wahrscheinlich noch kein Übertritt in alternative
Antriebsweisen (Hybrid, Elektromobilität,…) erkennbar.
Die Einflüsse können allerdings auch direkt aus dem Markt entstehen. So können beispielsweise die technische und wirtschaftliche Stellung des eigenen Produkts am Markt
(bspw. Umsatzrückgang, Entwicklung des Marktanteils), die Änderung der Marktwünsche und Bedürfnisse (bspw. nach neuen Funktionen oder neuer Formgebung),
welche auch soziokulturell bedingt sein können, Anregungen und Kritik der Kunden und
technische und wirtschaftliche Vorteile der Produkte von Wettbewerbern die Strategie
beeinflussen.
Auch die Zielsetzungen des Gesamtunternehmens beeinflussen die Entwicklung
einer Produktstrategie. So gilt es beständig abzugleichen, wie sich die Geschäftsziele verändern, und welche Auswirkungen dies auf die Produktstrategie hat. Eine
Differenzierung gegenüber den Wettbewerbern kann so einen Effekt haben, etwa indem
ein Nutzfahrzeughersteller beschließt, sich eine stärkere Positionierung als „grüner
Anbieter“ von umweltfreundlichen Elektrofahrzeugen zu geben; dies bedingt dann
114
M. Kreimeyer et al.
eine stärkere Fokussierung auf den städtischen Lieferverkehr, wo Elektromobilität eine
stärkere Rolle hat.
Die internen Einflussfaktoren auf die Strategie umfassen unter anderem die
zentralen Wertevorstellungen und die gelebte Kultur eines Unternehmens, also die
Art und Weise, wie etwas im Unternehmen getan wird (Kaplan und Norton 1992).
Ist eine Strategie nicht mit der Kultur eines Unternehmens vereinbar, so wird es für
das Unternehmen schwer werden diese umzusetzen, da sich Mitarbeiter nicht mit
ihr identifizieren können. Darüber hinaus können die Nutzung von Ideen und Eigenforschungsergebnissen in Entwicklung und Fertigung, neue Funktionen zur Erweiterung
oder Befriedigung des Absatzgebietes, die Einführung neuer Fertigungsverfahren,
Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktpalette und der Fertigungsstruktur, die
Nutzung von Beteiligungsmöglichkeiten und ein höherer Diversifikationsgrad, d. h.
genügend breite Abstützung auf mehrere Produkte, die sich im Lebenszyklus sinnvoll
überlappen, die Strategie beeinflussen.
Immer wieder auftretende Disruptionen aus Technologie, Gesellschaftsentwicklung,
Politik und Märkten können Einfluss darauf haben, ob eine Strategie die richtige ist oder
nicht. Deshalb muss auch der Strategieprozess kontinuierlich hinterfragt und gegebenenfalls die Strategie angepasst bzw. neu bewertet werden, wenn unerwartet größere Ereignisse auftreten.
Die Nicht-Beachtung solcher größeren Ereignisse kann zu Wettbewerbsnachteilen
führen, wenn das Unternehmen nicht proaktiv oder marktprägend agiert, Frühwarnsysteme die auftretenden Ereignisse nicht erkennen oder das Unternehmen sich im
Tagesgeschäft im Roadmapping bzw. der Multiprojektplanung verliert und somit den
Blick für das große Ganze verloren hat (Seidenschwarz und Lindemann 2016).
Angesichts stetig kürzer werdender Lebenszyklen ist eine Produktplanung als
Reaktion auf das Bekanntwerden der oben genannten Einflussfaktoren und Impulse
heute oft zu spät. Aus diesem Grund müssen entsprechende Fakten zur Gewinnung eines
zeitlichen Vorteils prognostiziert werden, wozu beispielsweise bestehende Trends oder
disruptive Marktentwicklungen herangezogen werden können.
u
Fast alle Märkte unterliegen früher oder später gewissen Disruptionen. Eine
Strategie sollte daher nicht nur auf der kontinuierlichen Weiterentwicklung
eines bestehenden Produkts aufsetzen – auf lange Sicht ist dies selten nachhaltig, wie z. B. die Technologie-S-Kurven zeigen (Foster 1986). Die Ausarbeitung neuer radikaler Ideen ist meist prädestiniert für die Umsetzung in
kleinen, agil arbeitenden Teams.
Versäumt es ein Unternehmen disruptive Entwicklungen selbst einzuleiten oder erkennt
es solche bedeutsamen Marktveränderungen in Innovations- und Technologiefeldern gar
zu spät oder gar nicht, so kann dies für ein Unternehmen weitreichende Folgen haben
(Seidenschwarz 2015).
5
Produktplanung
115
Schafft es ein Unternehmen jedoch eine klar formulierte Unternehmensstrategie für
eine disruptive Entwicklung mit ausgereiften Architektur-, Plattform-, Modularisierungsund Standardisierungskonzepten für nachfolgende Produkt- und Geschäftsmodellkonzepte zu entwickeln, so kann es einen großen Wettbewerbsvorteil aufbauen
(Seidenschwarz 2015). Häufig basieren diese disruptiven Konzepte auf dem Lean-Startup Gedanken, die auf schnell anfassbare und auslieferbare Produkte abzielen, aber
trotzdem auf eine längerfristige, übergeordnete Produktentwicklung, den „Polarstern“,
hinarbeiten.
Außerdem gewinnen neue Produktentwicklungsphilosophien, wie die agile Produktentwicklung, vor allem im Hinblick auf die Softwareentwicklung (Seidenschwarz
und Lindemann 2016), inzwischen aber bereits auch im Hinblick auf mechatronische
Systeme, immer mehr an Bedeutung. Das agile, kurzfristigere Planen erschwert eine
Produktplanung mit konventionellen Methoden und die für eine neue Produktentwicklung zur Verfügung stehende Zeit wird drastisch verkürzt.
Entscheidungen zum Einstieg in neue Technologien müssen allerdings aufgrund der
langen Vorlaufzeiten in der Regel dann fallen, wenn die betrachtete Technologie noch
sehr jung ist, also nur wenige Informationen als Entscheidungsgrundlage vorliegen. Den
resultierenden Unsicherheiten ist mit einem systematischen Vorgehen zu begegnen. Es
gilt aus der Menge aller Technologien nach der Festlegung eines Suchraums, die als
möglicherweise relevant erkannten Technologien mit geeigneten Hilfsmitteln, wie z. B.
der Portfolioanalyse, zu untersuchen (Specht et al. 2002).
5.5Portfolioplanung und -management
Die Portfolioplanung und das Portfoliomanagement haben zum Ziel, das angebotene
Produktportfolio (seien es physische Produkte, Dienstleistungen oder eine Kombination
daraus) im Markt zu steuern. Dies umfasst insbesondere das Führen und Realisieren des
Innovationsprozesses sowie das Führen des zugehörigen Portfolios an (Entwicklungs-)
Projekten im Kontext der Strategie. Das Portfoliomanagement ist damit ein dynamischer
Steuerungsprozess, in den alle bestehenden Produktprojekte und alle Neuproduktprojekte einbezogen werden, unabhängig davon in welcher Phase des Produktlebenszyklus’ sie sich befinden. Das bedeutet auch, dass auch das „vom-Markt-Nehmen“ zum
Aufgabenspektrum gehört.
Bestehende Produkte werden hinsichtlich ihres Erfolgs am Markt bewertet, und neue
Produktprojekte werden entworfen, gestartet, neu bewertet, beschleunigt oder verworfen.
Die benötigten Ressourcen werden entsprechend gesteuert. Das Portfoliomanagement
ist also eine laufende Aktualisierung und Bewertung der Produktprojekte. Es kann als
116
M. Kreimeyer et al.
Abb. 5.10 Vorgehen Portfoliomanagement
funktionsübergreifende PLM -Prozesssicht (Product Lifecycle Management) oder
funktionsspezifische Sicht aufgesetzt werden (Seidenschwarz und Lindemann 2016):
• Bei der funktionsübergreifenden Prozesssicht wird das Portfoliomanagement in den
PLM-Prozess eingebunden. Die Schaffung von Profitabilität durch die Erhöhung des
Kundennutzens über den gesamten Produktlebenszyklus steht hier im Vordergrund.
• Eine funktionsspezifische Sicht betrachtet das Portfoliomanagement aus Sicht der
jeweiligen Funktionsbereiche, also bspw. Vorentwicklung, Produktdefinition, Entwicklung, Konstruktion oder weitere Funktionsbereiche.
Da auch das Portfoliomanagement einen funktionsübergreifenden Charakter aufweist, ist
die PLM-Sicht zu bevorzugen. Aufbauend auf der Prozesssicht können nun die zentralen
Elemente eines Portfoliomanagementprozesses skizziert werden, über die eine Übersicht
in Abb. 5.10 gegeben wird.
5.5.1Das Portfolio (Produktportfolio, Technologieportfolio)
Die Darstellung der aktuellen Situation des Unternehmens erleichtert das Erkennen von
Handlungsoptionen – die Darstellung als Portfolio, geordnet nach wenigen Kriterien, ist
dazu die übliche Form. Dazu werden unternehmensspezifische Daten gesammelt, ggf.
aufbereitet und in einer überschaubaren Form in einer meist zweidimensionalen Matrix
gegenübergestellt. In diesem Ansatz werden drei Portfoliostufen aus dem strategischen
Management herausgegriffen, aus denen folgend das Portfoliomanagement der Entwicklung abgeleitet wird. Sie basieren auf der Vision und der Geschäftsstrategie des
Unternehmens (Abb. 5.10).
Durch den Portfolioansatz aus dem strategischen Management sollen verschiedene Geschäfte miteinander vergleichbar gemacht und strategische Empfehlungen
abgeleitet werden, aber auch Synergiepotenziale aufgezeigt werden (Seidenschwarz
5
Produktplanung
117
und Lindemann 2016). Es sollen Priorisierungen zur Verteilung der finanziellen Mittel
herbeigeführt und visualisiert werden.
Die am weitesten gefasste Stufe einer Portfolioerweiterung stellt sich mit der Diversifikationsfrage. Diese dreht sich um die Frage, ob und in wie weit ein Unternehmen in
einen Diversifizierungsprozess zu gehen beabsichtigt (Seidenschwarz und Lindemann
2016). Der Grad der Diversifikation wird dabei zum einen durch die Vertrautheit mit
einer bestimmten Technologie und zum anderen durch die Vertrautheit mit einem Markt
bestimmt (Abb. 5.11; vgl. Lerchner und Müller-Stevens 2005). Ist ein Unternehmen
weder mit dem Markt, noch mit der Technologie vertraut, so wird es eher zu einer ausgelagerten Lösung tendieren. Ist es hingegen gut vertraut mit Markt und Technologie so
wird es eine interne Lösung bevorzugen.
Mit direktem Bezug zu bereits in Arbeit befindlichen Märkten eines Unternehmens
kann man in einer nächsten Konkretisierungsstufe des Portfoliomanagements beispielsweise mit der Wettbewerbspositions-Marktattraktivitäts-Matrix arbeiten (Abb. 5.12;
vgl. Lerchner und Müller-Stevens 2005). Dabei wird die relative Wettbewerbsposition
mit der Attraktivität des Marktes ins Verhältnis gesetzt. In einem späteren ProduktAnforderungsliste kann hieraus abgeleitet werden, welche Merkmale ein Produkt aufweisen muss, um sich entsprechend einzuordnen.
Abb. 5.11 Wahl der Diversifikationsform in Abwägung der Vertrautheit mit Markt und Technologie
(Seidenschwarz und Lindemann 2016)
118
M. Kreimeyer et al.
Abb. 5.12 Wettbewerbspositions-Marktattraktivitäts-Matrix (Seidenschwarz und Lindemann 2016)
Marktattraktivität und Wettbewerbsposition ergeben sich dabei durch die Bewertung
folgender Faktorenkataloge (Seidenschwarz und Lindemann 2016):
Marktattraktivität:
•
•
•
•
Marktwachstum und Marktgröße
Marktqualität (Segmente, Profit Pool,…)
Energie- und Rohstoffversorgung
Umfeldsituation (u. a. Inflation)
5
Produktplanung
119
Relative Wettbewerbsposition:
• Relative Wettbewerbsposition im Sinne von Marktanteil und Risiko
• Relatives Produktpotenzial
• Relatives FuE-Potenzial im Sinne von Innovationspotenzial und Verfügbarkeit der
Technologien
• Relative Mitarbeiterqualität
• Relative Qualität der Systeme und Strukturen
Die verschiedenen Felder im Portfolio geben Empfehlungen für die Investitionen in
die einzelnen Geschäfte ab. So wird beispielsweise für Geschäfte, in denen das Unternehmen schlechter als die Hauptkonkurrenten und die Attraktivität gering ist, empfohlen
zu desinvestieren. Bei Geschäften mit hoher Attraktivität, in denen das Unternehmen
besser als die Hauptkonkurrenzen ist, sollen hingegen die Investitionen maximiert
und eine Marktführerschaft angestrebt werden, sie sollen wachsen. In den Feldern
dazwischen muss selektiv entschieden werden.
Für die Anwendung des Portfolioansatzes auf die Bewertung technologischer
Potenziale wurde der Ansatz des Technologieportfolios entwickelt (Abb. 5.13; vgl.
Pfeiffer et al. 1985). Bei diesem wird davon ausgegangen, dass ein Technologielebenszyklus viel länger andauert als ein Produktlebenszyklus (Lerchner und Müller-Stevens
2005, S. 297). Es wird die Technologieattraktivität der Ressourcenstärke eines Unternehmens gegenübergestellt. Gegenüber dem Ansatz, den Markt zu bewerten, kann ein
Technologieportfolio dabei helfen, technologiegetriebene Innovationen zur Erschließung
neuer Märkte transparent zu machen.
Die Technologieattraktivität wird einerseits durch potenzialseitige Indikatoren, also
durch das Weiterentwicklungspotenzial und die Kompatibilität der Technologie, sowie
durch bedarfsseitige Indikatoren, also die Anwendungsbreite der Technologie, bestimmt
(Abb. 5.13).
Die Ressourcenstärke hingegen wird durch die vorhandene Know-how-Stärke und
die Finanzstärke im Unternehmen bestimmt. Diese zwei Kriterien werden durch die
Bewertung des technisch-qualitativen Beherrschungsgrades („Wie ist unsere Lösung
in technisch-wirtschaftlicher und qualitativer Hinsicht im Verhältnis zur wichtigsten
Konkurrenzlösung einzuschätzen?“), der Potenziale („Stehen finanzielle, personelle,
sachliche und rechtliche Ressourcen zur Ausschöpfung der in diesem Bereich noch
bestehenden Weiterentwicklungsreserven zur Verfügung?“) und der (Re-) Aktionsgeschwindigkeit („Wie schnell können wir im Vergleich zur Konkurrenz eventuelle
technische Weiterentwicklungsmöglichkeiten ausschöpfen?“) bestimmt (siehe Abb. 5.13;
vgl. Seidenschwarz und Lindemann 2016).
Auch hier wird aus der zweidimensionalen Matrix eine Investitionsempfehlung
gegeben. Für schwache Ressourcenstärke und geringe Technologieattraktivität desinvestieren, für starke Ressourcenstärke und hohe Technologieattraktivität investieren
und dazwischen erneut selektieren.
120
M. Kreimeyer et al.
Abb. 5.13 Technologieportfolio
Mit diesem Ansatz kann für die Produktplanung eine Empfehlung für die VorabPriorisierung verschiedener Technologien abgegeben werden (Seidenschwarz und
Lindemann 2016).
5.5.2Planung der Produktroadmap
Aus den drei Portfoliostufen kann nun eine erste Roadmap abgeleitet werden. In dieser
wird festgelegt, welches Produkt zu welchem Zeitpunkt auf dem Markt erscheinen soll.
Diese zeitliche Positionierung hängt stark davon ab, welche Innovationsstrategie eine
Geschäftseinheit verfolgt. Beispielsweise kann es die Strategie eines Unternehmens sein,
eine neue Technologie immer als erstes auf den Markt zu bringen. Es kann jedoch auch
den Wert darauf legen, ein „Trendsetter“ zu sein und eine Technologie nicht als erstes auf
den Markt zu bringen, sondern genau dann, wenn ein großer Boom bevorsteht. Hieraus
lassen sich drei Investitionsstrategien ableiten: first-to-market, fast-to-market und slowto-market (Seidenschwarz und Lindemann 2016). Roadmaps sollten deshalb stetig
hinterfragt werden, um zu überprüfen, ob die getroffenen Annahmen noch die richtigen
sind um der Investitionsstrategie zu genügen.
5
Produktplanung
121
Besteht ein grober Überblick darüber, wie die Technologien und Produkte positioniert
werden sollen, folgt nun eine Aufteilung des zur Verfügung stehenden Budgets. Es
wird unter Beachtung der Technologie- und Marktbewertung sowie der übergeordneten
Strategien festgelegt, in welche Produkte (typischerweise wie viel F&E2-Budget) über
die nächsten Jahre investiert werden soll und wie viel Budget in den nächsten Jahren
in Wartung und Pflege fließen soll. Ziel ist es typischerweise, die Investitionen über die
Jahre zu steigern und die Wartungs- und Pflegekosten zu verringern.
Diese aus der Unternehmensstrategie abgeleitete Aufteilung der Mittelverwendung
wird mithilfe des Töpfe-Ansatzes realisiert. Zunächst werden dabei die Leitplanken
durch die Geschäfts- und Innovationsstrategie gesetzt, das heißt „welche Mittel man
für welche Kategorien der Produktentwicklung generell zur Verfügung stellen möchte“
(Seidenschwarz und Lindemann 2016). Beispielsweise kann eine Einteilung in die
Geschäfts- und Innovationsstrategien „Geschäftswachstum durch Innovationsführerschaft“, „Geschäftswachstum durch Einsatz von Entwicklungsressourcen für die
installierte Basis“ und „Erfolg in der Forschungscommunity, der das Innovationsimage
eines Unternehmens in einer Branche unterstreicht“ erfolgen.
Daraus lassen sich spezifizierte operative Töpfe für die nächsten jeweils ein bis zwei
Jahre ableiten, die sich wiederum weiter in einzelne Projekte unterteilen lassen. Diese
einzelnen Projekte in den verschiedenen Töpfen können dabei in einem unterschiedlichen Stadium sein (Abb. 5.14). So können einzelne Projekte in den verschiedenen
Kategorien/Töpfen top-down vorsortiert werden (Seidenschwarz und Lindemann
2016). Aus Sicht eines Nutzfahrzeugherstellers können solche Töpfe beispielsweise
die klassische Serienentwicklung und -pflege des bestehenden Produktportfolios sein,
erweitert um Töpfe für zukünftige Antriebstechnologien, die Entwicklung (teil-)autonomer Fahrzeuge und die Fehlerbehebung im Feld.
Innerhalb der einzelnen Töpfe wird eine unternehmensspezifische Priorisierung
vorgenommen, wobei zumeist nach den Kriterienkategorien strategische Bedeutung,
Profitabilität, Innovationsgrad und Risiko entschieden wird (Seidenschwarz und
Lindemann 2016). Weitere Aspekte, die es während des Priorisierungsprozesses zu
beachten gilt, sind beispielsweise strategische Leitstrukturen, eine interdisziplinäre
Diskussion, begrenzte Personen- und Kriterienzahl, die Fähigkeit auch nein sagen zu
können, Innovationshüter für „junge Pflanzen“ und das Zeitnehmen für den Prozess
des Priorisierens, da dieser oft wichtiger ist, als das Resultat selbst (Seidenschwarz und
Lindemann 2016).
Mithilfe der zuvor ermittelten Projektpriorisierung werden nun die zur Verfügung
stehenden Ressourcen auf die Projekte aufgeteilt. Dazu wird im ersten Schritt eine
grobe Füllstandsmarkierung gezogen, also bis wohin die zuvor priorisierten Projekte
theoretisch mit den vorhandenen Ressourcen umsetzbar sind (Seidenschwarz und
Lindemann 2016). Im zweiten Schritt werden dann Beziehungen der einzelnen Projekte
2Forschung
und Entwicklung.
122
M. Kreimeyer et al.
Abb. 5.14 Portfoliomanagement – von der Strategie bis zur Maßnahmenebene
untereinander analysiert – sind beispielsweise zwei Projekte voneinander abhängig,
wobei das eine höher priorisiert wurde und das andere niedriger, so kann es notwendig
sein, dass das niedrigere, obwohl es unterhalb des Füllstandes liegt, auch realisiert
werden sollte (Seidenschwarz und Lindemann 2016). In einem dritten Schritt wird ein
Projektranking mit den in Schritt eins herausgearbeiteten Filterkriterien durchgeführt,
welches zu einer Überarbeitung der Priorisierung führt. Die so entstandene Projektliste wird nun noch einmal mit den Topfgrößen abgeglichen (Pfeiffer et al. 1985). In
einem letzten Schritt kann es je nach Unternehmenskultur sein, dass noch Ermessensentscheidungen seitens der Unternehmensführung gefällt werden (Seidenschwarz und
Lindemann 2016).
Schlussendlich werden die zur Verfügung stehenden Ressourcen dann auf die
priorisierten Projekte im Rahmen einer Multi-Projektplanung aufgeteilt und in
mehreren Planungsstufen auf die einzelnen Teams und Abteilungen heruntergebrochen.
Dies geschieht typischer Weise in einem Gegenstromverfahren (Top-Down Projektpriorisierung, Bottom-Up Ressourcenplanung) (Seidenschwarz und Lindemann 2016).
Die Multi-Projektplanung wird im Normalfall viertel- oder halbjährig in einem
Review überprüft. Im Falle von kurzfristigen Budgetrestriktionen kann es sein, dass
unterjährig noch einmal umpriorisiert werden muss (Seidenschwarz und Lindemann
2016).
5
Produktplanung
123
5.6Planung einzelner Produkte und Produktportfolios
Aufbauend auf den Erkenntnissen und der Vorausschau der Portfolioplanung werden
Entwicklungsvorhaben aufgesetzt. Kern dieses Aufsatzes ist meistens der Entwicklungsauftrag samt Anforderungsliste. Diese Dokumente dienen als Projekt-Charter, die damit
die Ziele des Projekts und die weiteren Rahmenbedingungen beschreibt. Den Rahmen
dazu setzt die Planung des Portfolios inklusive der Bewertung der verfügbaren Mittel
und Ressourcen. Ziel der Produktplanung ist damit vor allem die Operationalisierung
und Konkretisierung dieser Aspekte, um daraus einzelne dedizierte Entwicklungsvorhaben oder -projekte zu starten (Cooper et. al. 2001).
Entgegen der klassischen Vorgehensweise, die in der Literatur oft vorgeschlagen
wird, laufen Projekte selten als Neuentwicklungen, sondern vielmehr als Anpassungsentwicklungen bestehender Produkte. Dies bedingt, dass viele Unternehmen nur die
Abweichung zum bestehenden Produkt beschreiben. Derartige Entwicklungsaufträge
und Anforderungslisten sind in der Realität also in den wenigsten Fällen vollständig,
vielmehr werden sie oft erst während der frühen Phasen der Projektarbeit komplettiert –
bei der Anbahnung des Projektes liegt oft also nur ein grobes Dokument vor.
Dasselbe gilt auch oft für die Beschreibung neuer Produktentwicklungen, gerade
während der Anbahnung des Projektes: Während das Projektteam noch nicht vollständig
benannt ist und zunächst noch die Ideen und Konzepte gesammelt werden, ist in vielen
Fällen keine vollständige Anforderungsliste erstellbar – auch in solchen Fällen liegt bei
Start des Projekts erst eine grobe Beschreibung vor.
Wichtig ist in beiden Fällen aber, dass die vorliegenden Informationen es zulassen,
die Erfolgswahrscheinlichkeit des Projekts ganzheitlich abzuschätzen und so ein sinnvolles Projekt aufzusetzen. Ist dies nicht möglich, kann es notwendig sein, weitere
Vorab-Tätigkeiten zu starten, etwa eine Vorstudie, die vertiefte Klärung der Randbedingungen, die Entwicklung einer Technologie oder die detaillierte Studie des Marktes.
Der Planung der Produktentwicklung kommt damit vor allem die Rolle der ganzheitlichen Chancen- und Risikoabschätzung zu (vgl. Oehmen 2016).
Dazu ist es Aufgabe in der Produktplanung, ein ganzheitliches Bild der Projektinhalte
zu erfassen:
•
•
•
•
•
•
Strategische Gesichtspunkte
Technische Gesichtspunkte
Die Wirtschaftlichkeit
Die Leistbarkeit
Die Marktakzeptanz und die Marktanforderungen
Die grobe Umsetzungsplanung
124
M. Kreimeyer et al.
5.6.1Vorgehensmodell für die Projektanbahnung
Das in Abb. 5.15 gezeigte Vorgehen soll hier stellvertretend diese Aspekte aufnehmen –
es richtet sich an typischen Vorgehensweisen in der Industrie aus und kann damit in
vielen Fällen als generische Leitlinie gelten; in kleineren und mittleren Unternehmen
kann es entsprechend im Umfang reduziert werden.
Die relevanten Aufgaben spiegeln sich in den unterschiedlichen Meilensteinen wider.
Das Vorgehen nimmt zudem typische Aspekte einer Projektanbahnung auf, wie etwa die
späten Prüfaufträge im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung mit den Geschäftsführern oder dem Vorstand oder aber die organisatorischen Aspekte des Kickoffs etc.
Übergeordnet lässt sich das Vorgehen aus der Abbildung in drei Schritte aufteilen: Die
Setzung der strategischen Grundlagen, die Konsolidierung und Bewertung von Produktideen und das Herbeiführen der Entscheidung. Diese sind als drei Phasen abgebildet.
Innerhalb der drei Phasen werden drei Dokumente fortgeschrieben: Die grobe
Anforderungsliste als Beschreibung der Ansprüche an das Produkt aus allen Sichten
des Produktlebenszyklus’ (Markt, Produktion, Service,…), das Grob-Konzept als
Beschreibung der technologischen Machbarkeit über alle Sichten im Unternehmen
Abb. 5.15 Vorgehen zur Projektanbahnung
5
Produktplanung
125
(Technologie, Produktion, Vermarktung,…) und der Business-Case als Bündelung
aller monetären Kenngrößen einschließlich der wirtschaftlichen Machbarkeit (Kosten,
erwarteter Umsatz, Ressourcenverfügbarkeit,…). Diese drei Dokumente sind als Zeilen
in der Grafik erkennbar.
u
Je dichter die Anbahnung der tatsächlichen Entscheidung kommt, desto
schwerer ist es, diese agil durchzuführen, da eine Vielzahl von Informationen
im Business Case zusammenfließen und konsistent sein müssen. Umgekehrt
bietet es sich aber an, gerade die frühen Phasen bis zur Erstellung der groben
Anforderungsliste agil durchzuführen.
Während der Strategie-Phase steht insbesondere die Konsolidierung aller Inputs und die
Sicherstellung einer gewissen Vollständigkeit im Mittelpunkt – hierfür steht im Mittelpunkt die 360°-Betrachtung, die vor allem Inputs aus der Unternehmensstrategie, dem
Markt und der Produktpositionierung aufnimmt, aber auch auf Gesetze, Abkündigungen
und Einkaufsthemen oder andere für das Unternehmen relevante Entwicklungen
schaut. Liegen diese Inputs zu Meilenstein G1 vor, entstehen daraus erste Themensteckbriefe und ein Entwurf der späteren Anforderungsliste, um diese dann sukzessiv
zu detaillieren. Eine derartige Entscheidung kann zum Beispiel Sinn machen, wenn
aus Sicht der Produktion eine neue Technologie (z. B. Schleifen statt Läppen für Zahnräder) eingeführt wird und sich diese in gewissen Entwicklungsumfängen resultiert (z. B.
die Anpassung der Toleranzen und die Absicherung im Versuch). Mit Vorliegen dieser
Themenübersicht kann dann zu Meilenstein G2 eine erste Grobentscheidung getroffen
werden, um das eine oder andere Themenpaket weiterzuverfolgen oder zur Seite zu
legen. Dabei ist zu bedenken: Entscheidungen in einer derart frühen Phase der Entwicklung bedeuten immer, die Risiken und Unsicherheiten bestmöglich abzuschätzen
(Chalupnik et al. 2013). In diesem Sinne bietet es sich oft an, Ideen etwas länger zu verfolgen und „im Rennen zu behalten“ (Lindemann und Ponn 2008). Während der Phase
der Bewertung der Produktideen ist es die Aufgabe der Produktplanung, die grobe
Anforderungsliste zu erstellen und zu komplettieren, um so den späteren Entwicklungsauftrag besser zu beschreiben. Die Details einer sinnvollen Anforderungsbeschreibung
werden später in diesem Buch beschrieben. Parallel erfolgt die Erarbeitung des GrobKonzepts. Dieses dient als Grundlage für die folgenden Zwecke:
• Abschätzung der technologischen Risiken und der Erfüllbarkeit der Anforderungen
• Abschätzung der Aufwände zur Entwicklung, Produktion, …
• Erste Bewertung der Marktfähigkeit, ggf. zusammen mit Kunden, einschließlich einer
ersten Bewertung der möglichen Preisbildung
• Erste Bewertung der Produktkosten und ggf. Ableitung von Kostenzielen mittels
Target Costing
• Ableitung der notwendigen Projektorganisation und des Projektplans
126
M. Kreimeyer et al.
Dabei baut das Grobkonzept natürlich analog dem Vorgehen in der VDI 2221 (VDI
1993) auf der Anforderungsliste auf, und der Business Case wiederum setzt mit Meilenstein G3 auf beiden auf. Wichtig ist dabei aber, dass diese Aufgaben nicht sequentiell
nacheinander erfolgen, sondern parallel zueinander weiterlaufen, um die Erkenntnisse, die jeweils entstehen, konsistent zueinander zu halten und zugleich in die spätere
Projektorganisation zu überführen. Dieser Konsistenz und dem zugehörigen Anspruch
an die Vollständigkeit (gerade aus Sicht gesetzlicher Rahmenbedingungen) trägt der
Meilenstein G4 Rechnung, der eine gesamthafte Prüfung auf Konsistenz und Vollständigkeit (z. B. mittels des Quality-Function-Deployments) einleitet. Ist dies mit
Meilenstein G5 vorhanden, so kann die Entscheidung getroffen bzw. vorbereitet werden.
In der industriellen Realität ist es fast nie der Fall, dass eine Entscheidung als Dokument
vorbereitet und dann direkt getroffen wird – gerade in großen Unternehmen handelt es sich
um komplexe Vorgänge, die zu einer Entscheidung führen (Mintzberg 1994). Die Phase der
Entscheidungsvorbereitung (G5 bis Start Entwicklungsprojekt) kann daher sehr kurz oder
auch sehr lang sein, je nach Situation und Größe des Unternehmens. Am Ende der Phase
steht neben der eigentlichen Entscheidung ein Projektauftrag zur Verfügung, der durch die
grobe Anforderungsliste, das Grob-Konzept und den Business-Case detailliert wird.
Vor allem während der Entscheidungsfindung nimmt dabei der Business-Case eine vergleichsweise wichtige Rolle ein, da er neben der eigentlichen Idee („Invention“) auch deren
Markterfolg („Innovation“) in den Mittelpunkt stellt. In der Betriebswirtschaft existieren
hierzu viele Modelle, Methoden und Werkzeuge zur Beschreibung. Eine oft angewendete
Methode zur Betrachtung der Wirtschaftlichkeit ist der klassische Business-Case auf Grundlage der Kapitalwertmethode (auch als NPV „Net Present Value“ bezeichnet) oder eines
ähnlichen dynamischen Modells; in einfachen Fällen reicht auch eine statische Betrachtung
auf Grundlage einer Kostenvergleichsrechnung o. ä. (Kruschwitz und Husmann 2012).
5.6.2Rolle der Architektur und der Modularisierung
Werden breitere Produktportfolios oder Produktfamilien und nicht nur einzelne Produkte
entwickelt, kommt der übergreifenden Planung aller Produkte eine besondere Rolle zu. Der
Grundlegende Gedanke hierbei ist, dass Produktfamilien oder -portfolios von den Kommunalitäten zwischen den einzelnen Produktmerkmalen profitieren (Förg et al. 2014; Blees 2011).
Der in Abb. 5.16 gezeigte Produktarchitektur-Entwicklungsprozess (Schuh et al. 2010)
nimmt diesen Gedanken auf, er steht hier stellvertretend für viele vergleichbare Vorgehensweisen (Robertson und Ulrich 1998; Simpson et al. 2001; Krause et al. 2018). Die Idee hierbei ist, dass eine Baukastenentwicklung dann erfolgreich ist, wenn auch die Planung des
Produkts, also die in der Anforderungsliste benannten Merkmale und Eigenschaften, eine
Modularität verfolgen. Das Wirkprinzip lässt sich mit „same customer need = identical
function“ übersetzen, wie es etwa Scania als Prinzip verfolgt (Scania 2017).
Konsequenz für die Produktplanung und die Anbahnung einzelner Projekte ist, innerhalb eines einzelnen Projekts bereits – im Sinne der Produktroadmap – vorauszudenken
5
Produktplanung
127
Abb. 5.16 Produktarchitektur-Entwicklungsprozess (Schuh et al. 2010)
und ggf. kommende Anforderungen an eine Lösung mit in die Anforderungsliste aufzunehmen und im Rahmen der Vorbereitung eines Projekts zu bewerten. In der Praxis
bedeutet das insbesondere, die zusätzlichen Aufwände, die durch die Entwicklung eines
Baukastens an Stelle einer einzelnen Lösung entstehen, transparent zu machen.
5.6.3Beispiel: Planung eines Produktprojekts im
Nutzfahrzeugbereich
Anpassungsentwicklungen und Erweiterungen bestehender Produkte und Produktportfolios bedingen, dass bekannt ist, welche Teile des Produktportfolios im geplanten
Produktvorhaben – wie bspw. die Einführung eines ACC-Systems (Adaptive Cruise
Control) – betroffen sind. Unternehmen mit einem großen Portfolio ist es oft aus Gründen
der Ressourcenverfügbarkeit nicht möglich, Produktverbesserungen in einem Zug über das
gesamte Portfolio auszurollen – im Hinblick auf den Erfolg am Markt ist dies auch nur in
seltenen Fällen ratsam (Elberse 2008). Die oben beschriebenen Kommunalitäten zwischen
Produktmerkmalen können das Ausrollen über große Teile eines Portfolios erleichtern.
In Abb. 5.17 ist die Zuordnung der in diesem Beispiel geplanten ACC-Einführung in einer vereinfachten Portfoliodarstellung abgebildet. Zur Ermittlung des
128
M. Kreimeyer et al.
Entwicklungsaufwands müssen in einer solchen Portfoliozuordnung Produktmerkmale berücksichtigt werden, die eine Schnittstelle zu neu- oder weiterentwickelten
Komponenten besitzen (diejenigen also, die gegebenenfalls auch zu Anpassungen
führen und Aufwände erzeugen).
Grundlage für die Portfolioplanung kann eine Bewertung der marktseitigen Performanz oder Relevanz von Produktvorhaben über die einzelnen Teile des Portfolios
sein. Hierzu werden am Beispiel der ACC-Einführung die erzielbaren Mehrerlöse am
Markt gepaart mit dem erzielbaren Volumen über die Kombinationen verschiedener
Produktmerkmale (= Teilportfolios) aufgetragen (Abb. 5.18).
Abb. 5.17 Geplantes Produktvorhaben (ACC – Adaptive Cruise Control) in einer vereinfachten
Portfoliodarstellung anhand ausgewählter Produktmerkmale
5
Produktplanung
129
Hinter jedem Teilportfolio kann sich je nach Segmentierung bspw. ein spezieller
Markt oder eine besondere Kundengruppe verbergen, deren Kaufkraft und Zahlungsbereitschaft so mit in die Planung einfließen. Grundlage der Beurteilung ist dabei vor
allem die Nutzung des Produktes durch den Kunden in dem jeweiligen Marktsegment,
etwa anhand von Kundensteckbriefen, Use Cases oder ähnlichen Untersuchungen. Auch
kurze, skizzenhafte Abfragen im Markt sind denkbar.
Anhand der beiden Übersichten (Abb. 5.17 und 5.18) kann nachvollzogen werden,
dass eine mögliche Portfolioerweiterung „ohne“ Aufwände – aufgrund gegebener
Kommunalitäten zwischen den betroffenen Produktmerkmalen (am Beispiel: Motor
und Fahrerhaus [FHS]) – unter Umständen keine oder nur geringe Erlöse und Volumen
am Markt erzielen kann. In der Praxis kann dies für Unternehmen mit einem großen
Produktportfolio zu Komplexität und damit verbundenen Kosten (Validierungs-,
Dokumentations- und Pflegeaufwände) ohne die nötigen Einnahmen führen.
Abb. 5.18 Marktkenngrößen (erzielbare Mehrerlöse und Volumina) zugeordnet zum Produktportfolio
am Beispiel der Einführung eines ACC
130
M. Kreimeyer et al.
Zur Vorbereitung der Entscheidung über ein Produktprojekt fließen die gesammelten
Informationen aus der Produktplanung zusammen: Das Produktvorhaben wird als grobe
Anforderungsliste beschrieben, und die darin gesammelten Informationen bilden die
Basis zur Ermittlung des Marktpotenzials. Die daraufhin und auf Basis erster Konzeptvorschläge erstellte Zuordnung des Produktvorhabens auf das Portfolio ist wesentliche
Einflussgröße für die Ermittlung der Entwicklungsaufwände. Unter Einbeziehung der
weiteren Aufwände zur Realisierung des Produktvorhabens (z. B. Investitionen) kann ein
Business Case erstellt und ein Net Present Value (Abschn. 5.6.1) ermittelt werden.
Dieses Vorgehen in der Entscheidungsvorbereitung ist in Abb. 5.19 am Beispiel des
ACC-Produktvorhabens (Adaptive Cruise Control) dargestellt. Zur Priorisierung einzelner Produktvorhaben für ein Produktprojekt können diese anhand wichtiger Kenngrößen,
wie Kundennutzen und Net Present Value (NPV), einander gegenübergestellt werden.
Abb. 5.19 Entscheidungsvorbereitung und Übersicht zur Priorisierung von Produktvorhaben am Beispiel des ACC
5
Produktplanung
131
5.7Begleitung von Entwicklungsprojekten aus Sicht der
Produktplanung
Die Umsetzung der Produktvorhaben geschieht meist im Rahmen zueinander
abgegrenzter Produkt(entstehungs)projekte, mit klarem Ergebnis, definiertem Start- und
Endzeitpunkt und klar definierten Ressourcen. Die Begleitung und intensive Betreuung
dieser Projekte durch die Produktplanung gewährleistet eine zielgerichtete Umsetzung
der Produktvorhaben und den Rückfluss wichtiger Informationen, die als Planungsprämissen weiterer Produktvorhaben vorausgesetzt werden können.
Die Randbedingungen eines Projekts werden durch die Projektcharter beschrieben
Kap. 17 (Projektmanagement), zur detaillierteren Beschreibung des Entwicklungsauftrags und zur Sammlung aller Anforderungen wird in der frühen Phase der Projekte
eine Anforderungsliste erstellt. Sie beschreibt die Leistungen und Lieferungen des Auftragsnehmers (Entwicklungsabteilungen, bei fremdvergebenen Entwicklungsumfängen:
Lieferant) aus Sicht des Auftraggebers (Produktplanung, bei fremdvergebenen Entwicklungsumfängen: OEM [Original Equipment Manufacturer]) (DIN 69901-5:2009-1).
Dem Produktplaner (oft auch: Produktmanager) kommt in der Projektarbeit, vor allem
bei der Erstellung der Anforderungsliste, die Rolle des Qualitätswahrenden zu. Sein
oberstes Ziel muss es sein, dass im Projektcharter verankerte und der Produktplanung
zugrunde liegende Ergebnis des Projekts zu wahren. Dies bedeutet, dass die gesamthafte Konsistenz, Klarheit und Korrektheit über alle Informationen zentral gewahrt wird.
Dies betrifft damit vor allem die Prüfung der Detaillierung der Anforderungen, etwa bei
Ergänzungen, Umformulierungen oder bei Kürzungen (durch bspw. Ressourcen- oder
Zeitengpässe): Hier muss der Produktplaner die Kompatibilität zur Produkt- und Unternehmensstrategie sicherstellen.
Mit diesem Anspruch geht oft einher, dass der Produktplaner auch die Übergabe
und Durchsprache der Inhalte der Anforderungsliste begleitet. Dies hat zum einen den
Hintergrund, dass der Produktplaner so auf eventuelle Fragen eingehen kann und durch
die Rücksprache eine bessere Verbindlichkeit der Anforderungsliste sicherstellen kann,
zum anderen ist es der Einstieg in den folgenden Änderungsprozess, mit dem sichergestellt wird, dass Änderungen an der Anforderungsliste und am Projektauftrag auch
nach Projektstart aktiv geplant, gesteuert und nachverfolgt werden.
Oft werden Anforderungslisten aus Sicht der Produktplanung als statische Dokumente
behandelt und Änderungen sind nur gegen großen Widerstand innerhalb laufender Entwicklungsprojekte möglich. Dahinter verbirgt sich nach Einschätzung der Autoren
in vielen, vor allem großen Unternehmen der Wunsch nach geordneten Prozessen und
geringem Änderungsaufwand sowie die fehlende Nachvollziehbarkeit (Nachverfolgbarkeit) der Änderungen (vgl. auch „Zehnerregel“, Lindemann 2009). Häufige Änderungen
in laufenden Projekten werden der Produktplanung in der Regel negativ angelastet. Ein
von der Produktplanung gesteuertes Änderungsmanagement für Anforderungslisten mit
entsprechender Nachverfolgbarkeit der Anforderungen sowie deren Änderungen kann
der Produktplanung im Unternehmensumfeld zu größerer Akzeptanz und im eigenen
Sinne zu erhöhter Planungssicherheit verhelfen.
132
M. Kreimeyer et al.
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6
Nutzerbedürfnisse
Kristin Paetzold
6.1Das Spannungsfeld zwischen Entwickler und Nutzer – eine
Einführung
Technische Systeme können dem Menschen helfen, gegebene natürliche Leistungsgrenzen zu überwinden bzw. aufzuheben. Dabei ist es unabhängig davon, wodurch die
Leistungsgrenzen bedingt sind (z. B. biologisch, krankheitsbedingt oder altersbedingt).
Man denke allein an die Möglichkeit zu fliegen. Technische Systeme in ihren unterschiedlichen Ausprägungen können helfen, unsere eigenen Ressourcen zu stärken und
unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Aktivitäten sowohl im beruflichen als auch
im privaten Umfeld lassen sich zeit- und energiesparend ausführen, was wiederum Freiraum für eine persönliche Selbstverwirklichung schafft. Die Nutzung setzt aber voraus,
dass die technischen Systeme vom Nutzer als attraktiv wahrgenommen werden, ihre
Funktionsweise verstanden wird und Konsequenzen der Nutzung und einhergehende
Aufwände akzeptiert werden.
6.1.1Unterschiedliche Sichtweisen auf das Produkt
Grundlage dafür, den Menschen in seiner alltäglichen Lebensführung zu unterstützen ist,
dass der Entwickler den Nutzer mit seinen Bedarfen und Wünschen aber auch dessen
individuelles Lebensumfeld versteht. Dazu muss man berücksichtigen, dass der Mensch
K. Paetzold (*)
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_6
137
138
K. Paetzold
in der Bewertung und Interpretation von Produkten zwei unterschiedliche Rollen
­einnehmen kann (Paetzold 2018):
• In der Rolle als Nutzer nimmt der Mensch ein Produkt und interpretiert dessen
Funktionalität über die Gestaltgebung und die Eigenschaften. Indem er die so für sich
definierte Funktionalität in seinen Lebenskontext stellt, der durch seine individuelle
Lebens- und Handlungssituation geprägt ist, entscheidet der Nutzer über die
Gebrauchstauglichkeit des Produktes für sich. Entscheidungen für ein Produkt sind
entsprechend nicht nur geprägt durch dessen Funktionalität, sondern auch durch
affektive, emotionale und soziale Aspekte.
• In der Rolle als Entwickler greift er technologische Möglichkeiten auf, um diese in
den Nutzer potenziell unterstützende Funktionen innerhalb eines Produktes umzusetzen. Diese technologiegetriebene Denkweise orientiert sich natürlich an Bedürfnissen des Nutzers, reduziert diese jedoch häufig auf Betrachtungen zu dessen
Leistungsfähigkeit. Mit der Ingenieurssicht verbundene Entscheidungen sind einerseits geprägt durch physikalische Zusammenhänge und berücksichtigen andererseits eher rationale Aspekte wie DFX-Kriterien, die technische Machbarkeit und die
fertigungstechnische Realisierbarkeit.
Die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Produkt durch den Nutzer und Entwickler
sind in Abb. 6.1 verdeutlicht. Während der Entwickler nach dem Finalitätsprinzip
handelt und auf Basis eines definierten Systemzwecks die Produktfunktionalitäten
und letztlich das Produkt gestaltet, handelt der Nutzer nach dem Kausalitätsprinzip.
Er muss sich die Produktfunktionalität quasi erarbeiten. Die Basis hierfür bilden seine
Erfahrungen und Erwartungen an das Produkt. Die genutzte Funktionalität, die auf
Abb. 6.1 Unterschiedliche Sichtweisen auf das Produkt durch den Nutzer und den Entwickler
(Paetzold und Nitzsch 2014)
6
Nutzerbedürfnisse
139
Basis dieser Interpretation entstanden ist, wird vom Nutzer hinsichtlich ihres Nutzungszwecks geprüft und führt für diesen zu einer Entscheidung, ob und wie er das Produkt als
technische Assistenz annimmt.
Diese unterschiedlichen Sichtweisen bezeichnet Sarodnick (2006) als „symmetrische
Ignoranz“ zwischen Nutzer und Entwickler. Sie führt letztendlich dazu, dass zwar
funktional und qualitativ hochwertige Produkte entstehen, diese aber vom Nutzer
nicht akzeptiert werden, weil sie nicht im Sinne der Problemlösung vom Nutzer wahrgenommen werden.
Eine Nichtbeachtung dieser Zusammenhänge kann dazu führen, dass Nutzer das
Produkt nicht akzeptieren und der wirtschaftliche Erfolg des Produktes und damit die
Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens beeinträchtigt werden. Dies macht deutlich, dass
es eines guten Verständnisses des Nutzers bedarf, um dessen Bedürfnisse zu erkennen
und verantwortungsvoll in Produktideen und deren Ausgestaltung einfließen zu lassen. In
diesem Kontext finden zunehmend Methoden der Nutzerintegration Verwendung, wobei
Nutzerintegration und Nutzerpartizipation synonym verwendet werden. Im Folgenden soll
auf Basis einer ausführlichen Nutzerbetrachtung hergeleitet werden, wie und mit welchen
Randbedingungen der Nutzer in den Entwicklungsprozess integriert werden kann und
welche Methoden hierfür im Wesentlichen zur Verfügung stehen.
6.1.2Verantwortlichkeit der Entwicklung in der
Produktgestaltung
Mit der Unterstützung der Menschen durch technische Systeme nimmt der Entwickler
eine große Verantwortung auf sich. Technische Systeme und Produkte dienen dazu, den
Menschen in der Bewältigung von Aufgaben zu unterstützen. Aufgabenbewältigung
bedeutet dabei immer auch, dass der Mensch hierzu Widerstände überwinden muss,
diese resultieren nicht nur aus äußeren Rahmenbedingungen, sondern können auch
motivationsgeprägte Ursachen haben („…sowas hab ich noch nie gemacht…“ Gransche
2017). Technische Systeme liefern dabei die Assistenz zum menschlichen Handeln, sie
liefern Beistand in der Aufgabenbewältigung indem sie Kompetenzen erweitern resp.
ersetzen.
Die Kompetenzersetzung durch ein Produkt als technische Assistenz ist dann positiv
konnotiert, wenn sie zur Stärkung und Steigerung der eigenen Aufgabenbefähigung beitragen und als solche durch den Menschen als Nutzer auch wahrgenommen werden.
Dieser positive Effekt wiederum kann in Anlehnung an Seligman und Csikszentmihalyi
(2014) auf zwei Arten ausgeprägt sein: Zum einen kann die Aufgabenbewältigung für
den Menschen eine Homöostase ermöglichen bzw. unterstützen, was sich aus der
Bedürfnisbefriedigung zu Zielen oder Wünschen ergibt. Das damit verbundene gute
Gefühl resultiert aus der Sicherheit, mit einer Situation umgehen zu können (Pleasure).
Andererseits kann mit der Aufgabenbewältigung das positive Gefühl einhergehen,
etwas Neues erfahren bzw. Grenzen überwunden zu haben. Dies entspricht eher dem
140
K. Paetzold
­ berwinden eines Gleichgewichtszustandes bzw. des Aufbaus auf einer neuen Ebene,
Ü
was zum Wohlbefinden und Wachsen der Persönlichkeit beiträgt (Enjoyment). Gleichzeitig werden mit der Verrichtung von Tätigkeiten auch eigene Fähigkeiten trainiert und
aufgebaut, was wiederum den Kompetenzerhalt unterstützt.
Wird der Beistand durch die technische Assistenz vom Nutzer als Komfort wahrgenommen, der in erster Linie dazu dient, Widerstände zu vermeiden, wirkt sich die
Kompetenzersetzung für den Nutzer schnell negativ aus. Sie führt zu einem Kompetenzverlust, der dem Nutzer nicht unbedingt bewusst ist oder auch billigend in Kauf
genommen wird. Dann ist die Kompetenzersetzung negativ konnotiert. Beispielsweise
kann die ausschließliche Nutzung von Navigationssystemen zur Orientierungsunterstützung zu einer Reduktion der kognitiven Fähigkeit, innere Karten zu bilden, führen.
Aus diesen Überlegungen heraus erscheinen für weitere Betrachtungen der Nutzerintegration vor allem zwei Aspekte von besonderer Bedeutung:
• Produkte als technische Assistenz gilt es, durch den Entwickler bereit zu stellen.
Dazu muss sich der Entwickler Gedanken machen, was für die Aufgabenbewältigung
benötigt wird und wie dies im Sinne der Verbesserung oder Erhaltung der Lebensqualität umgesetzt werden muss.
• Die Inanspruchnahme der Produkte als technische Assistenz durch den Nutzer
orientiert sich an dessen Bedarfen und Intentionen in der Produktnutzung, also daran,
wie er die Aufgaben für sich definiert und mit welchen Zielen er an die Aufgabenbewältigung geht.
Dies erfordert vom Ingenieur ein tiefgehendes Verständnis vom Nutzer, welches nicht
auf die eher funktionale Betrachtung seiner Leistungsfähigkeit reduziert werden darf,
sondern auch dessen Lebens- und Handlungssituation berücksichtigt werden muss.
6.2Charakterisierung und Klassifizierung von Nutzern
Grundsätzlich sollen im Folgenden als Nutzer die Menschen verstanden werden, die
mit dem Produkt interagieren, um für sich in ihrer Lebens- und Arbeitsumwelt eine
bestimmte Wirkung zu erzielen.
6.2.1Einflussfaktoren auf Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer
Ob sich der Nutzer für ein Produkt zur Aufgabenbewältigung entscheidet und die Art
und Weise, wie er dieses dann nutzt bzw. seine Funktionalität für sich interpretiert, ist
nicht nur von seinen sensorischen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten abhängig,
sondern auch von affektiven, psychologischen und sozialen Aspekten. Diese beeinflussen nicht nur die Bedürfnisse des Nutzers, sondern auch sein Nutzungsverhalten.
6
Nutzerbedürfnisse
141
Der Produktentwickler steht vor der Herausforderung, die gewünschte Wirkung zu antizipieren und hierbei die Wünsche und Bedürfnisse des Nutzers aus deren spezifischer
Sicht heraus zu berücksichtigen. Hierzu wird als Grundlage für die Entwicklung ein
Zielsystem definiert. Ein Zielsystem umfasst nach Oerding (2009) alle Informationen zu
einem Produkt und dessen Wechselwirkungen mit den interessierenden übergeordneten
oder auch gleichgestellten Systemen, wobei hier das sozio-technische System im Fokus
steht. Es beinhaltet alle expliziten Ziele eines zu entwickelnden Produktes einschließlich
deren Abhängigkeiten und Randbedingungen innerhalb eines definierten Interessensbereiches zu einem bestimmten Zeitpunkt (Lohmeyer 2013). Wichtig erscheint, dass das
Zielsystem nicht allein auf das Produkt bezogen wird sondern auf das Ergebnis in der
Anwendung des Produktes. So muss eine Kaffeemaschine z. B., nicht nur Kaffee oder
Variationen von diesem erzeugen, sondern auch vom Nutzer bedienbar und wartbar sein.
In diesem Kontext muss auch darüber nachgedacht werden, dass in kleinen Küchen möglicherweise nicht genug Platz ist, um zur Wartung seitlich Teile wie den Tresterbehälter
heraus zu ziehen. Daher dient die Beschreibung des Zielsystems nicht dazu, Produktideen zu generieren oder Produkte zu bewerten, sondern es kann im Sinne eines Handlungsumfeldes bzw. zur Beschreibung der Handlungssituation des Nutzers verstanden
werden.
Ein Zielsystem definiert entsprechend:
• die Funktionalität des zu entwickelnden Systems,
• die Rahmenbedingungen aus der Umgebung, unter denen die gewünschte Wirkung
erreicht werden soll,
• das Nutzerverhalten, also die Art und Weise, wie der Mensch das Produkt nutzt, um
sich seine Wirkung zu erschließen.
Nicht nur die Erfassung der Nutzerbedürfnisse und Wünsche, sondern auch die daraus
resultierende Beschreibung von Zielsystemen erweist sich hierbei als anspruchsvoll. Es
existieren Nutzermodelle, mit denen sensorische, kognitive und motorische Leistungsfähigkeiten identifiziert und beschrieben werden können (Weißmantel und Biermann
1995). Hier sei z. B. auf antropomethrische Modelle der Ergonomie verwiesen (z. B.
Duffy 2009). Zum Aufbau kognitiver Modelle z. B. zur Beschreibung von kognitiven
Arbeitsbelastungen dient die Modellierungsmethode ACT-R (z. B. Rasmussen 1986). Die
sensorische Leistungsfähigkeit das Menschen ist in verschiedenen Katalogen beschrieben
(z. B. in Weißmantel und Biermann 1995). Die darin enthaltenen Informationen können
zum Aufbau von Regelkreisen verwendet werden. Dies hilft aber nur bedingt, Nutzerbedürfnisse zu konkretisieren, da diese nur zu einem geringen Teil aus der Leistungsfähigkeit resp. der Leistungseinschränkung resultieren. Die Funktionsbeschreibungen für bzw.
die Anforderungen an technische Systeme werden damit nur teilweise vervollständigt,
weil diese eher mechanische Sichtweise affektive, psychische und soziale Aspekte vernachlässigt. Vor allem in den Fachgebieten der Humanwissenschaft und Geisteswissenschaft existieren Ansätze, um den Menschen genauer hinsichtlich dieser Effekte zu
142
K. Paetzold
beschreiben. Diese sind aber nicht nur vergleichsweise komplex, sondern durch den Entwickler für seine Arbeit schwierig zu interpretieren.
Um ein besseres Verständnis vom Nutzer für die Produktentwicklung zu erhalten, und
die Entwicklung stärker am Nutzer und seinen Bedarfen auszurichten, erweisen sich die
Methoden der Nutzerintegration als probates Mittel. Sie erfordern nicht nur eines klaren
Verständnisses des Nutzers, sondern auch des Produktes bzw. seiner Bedeutung für den
Nutzer. Hierfür sollen im Folgenden gängige Sichtweisen analysiert und unterschieden
werden.
6.2.2Bestandteile und Interpretation des Produktbegriffes im
Kontext
Wie aus den vorangegangenen Abschnitten deutlich wird, umfasst die Zielsystembeschreibung weit mehr als nur die Definition potenzieller Produktfunktionalitäten.
Das bringt es aber auch mit sich, dass vom Produkt ein bestimmtes Verhalten in spezifischen Anwendungssituationen erwartet wird, welches nicht allein aus den Funktionsbeschreibungen abgeleitet werden kann. Zur vollständigen Beschreibung eines Produktes
sind daher auch Dienstleistungen zum Produkt bzw. im Kontext der Produktnutzung,
zum technischen Design als Produktsprache sowie ergonomische Aspekte zur Unterstützung der Bedienung und Anwendung genauso wie zur Personalisierung zu berücksichtigen (Abb. 6.2).
Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden darf,
ist der, dass der Nutzer mit dem Produkt zur Assistenz seiner Aktivitäten bestimmte
Abb. 6.2 Bestandteile des Produktes zur Erfüllung von Nutzererwartungen
6
Nutzerbedürfnisse
143
Wertvorstellungen verbindet. Nach Ottoson (2010) kann nach vier Wertekategorien
unterschieden werden.
Der funktionale Wert beschreibt inwiefern vor allem die Kombination aus
technischen Funktionalitäten, der Bedienbarkeit und den zugehörigen Dienstleistungen
die Aufgabenbewältigung für den Nutzer unterstützt wird.
Der wahrgenommene Wert ergibt sich aus den Sinneseindrücken, die der Nutzer
mit dem Produkt verbindet und wird neben der Funktionalität auch sehr stark durch das
technische Design und ergonomische Aspekte geprägt, da damit die Produktsemantik
zum Ausdruck gebracht wird. Im Kontext hier transportieren technisches Design und
Ergonomie die Funktionsbeschreibung an den Nutzer. Dessen Interpretation wird dazu
beitragen, wie sich der Nutzer die technische Funktionalität erschließt.
Der Image-Wert beschreibt mehr oder weniger das Bild, welches der Nutzer mit der
Nutzung des Produktes anderen vermitteln will. Es beeinflusst das Fremdbild, welches
andere Menschen vom Nutzer erhalten. Der Image-Wert manifestiert sich z. B. in Dingen
wie dem Markennamen bzw. der Markenwahrnehmung. Entscheidungen darüber sind
von Nutzerseite vor allem mit Fragen der sozialen Integration und Zugehörigkeit verbunden. Damit einher gehen z. B. auch Aussagen zur Technikaffinität eines Nutzers bzw.
darüber, inwieweit er bereit ist, eine technische Assistenz zur Aufgabenbewältigung
anzunehmen und zu akzeptieren.
Der emotionale Wert thematisiert das subjektive Wohlfühlen des Nutzers im Umgang
mit dem Produkt. Das Wohlbefinden beschreibt dabei einen mentalen Zustand im
Umgang mit dem Produkt und erlaubt damit letztlich Rückschlüsse auf die Motivation
für die Produktnutzung (Hollnagel 2014). Es ist anzunehmen, dass dieses subjektive
Wohlfühlen aus einer gewissen Sicherheit resultiert, die der Nutzer in der Situation der
­Aufgabenbewältigung durch die technische Unterstützung erhält.
6.2.3Unterscheidung von Nutzern nach deren Interesse am
Produkt
Der Grundgedanke, den Nutzer stärker in Unternehmensprozesse im Allgemeinen und
in Entwicklungsprozesse im Besonderen zu intergieren, findet nicht nur in der Produktentwicklung zunehmend Anklang, sondern wird auch in anderen Fachgebieten wie
z. B. dem Marketing oder dem Innovationsmanagement thematisiert. Die Gründe dafür
liegen auf der Hand: es gilt, den Nutzer und das Nutzungsverhalten besser zu verstehen,
um Trends wie Individualisierung und Personalisierung bedienen zu können. Hierbei verändert sich zunehmend die Perspektive im Blick auf den Nutzer. Seine vormals
passive Rolle wird zunehmend zu einer aktiven Rolle im Entwicklungsprozess bzw. in
der Produktentstehung, was mit einer stärkeren Ausdifferenzierung sowohl hinsichtlich
der Sichten auf den Nutzer als auch der Rolle vom Nutzer in der Entwicklung einhergeht. Hieraus ergeben sich verschiedene Interpretationen des Nutzers, die im Folgenden
­unterschieden werden sollen.
144
K. Paetzold
Abb. 6.3 Soziotechnisches System als Betrachtungsgegenstand
Ausgangspunkt bildet dabei die Überlegung, dass nicht mehr allein das technische
System die Assistenzfunktion des Produktes determiniert, sondern das Produkt und
Mensch als ein System zusammenwirken (Abb. 6.3).
In die Betrachtung des soziotechnischen Systems fließt der Mensch als Nutzer mit
seinen Fähigkeiten aber auch seiner Lebens- und Handlungssituation ein, aus denen einerseits Verhaltensanforderungen an das Produkt entstehen, die aber andererseits auch auf
Verhaltensweisen im Umgang mit dem Produkt schließen lassen. Um die verschiedenen
Wertvorstellungen in der Nutzung des Produktes durch den Nutzer integrieren zu können,
muss in der Beschreibung des technischen Systems auch die Ergonomie, das technische
Design und Dienstleistungen mitberücksichtigt werden.
6.2.3.1 Differenzierung der Nutzer durch Grenzziehung
Grundsätzlich gilt es zwischen Nutzer und Konsument (Consumer) zu unterscheiden,
was sich in einer Grenzziehung bzw. der Sichtweise auf das sozio-technische System
manifestiert. Dem Konsument (Consumer) wird eine eher passive Rolle im soziotechnischen System zugeordnet, im Fokus steht nicht seine direkte Interaktion mit
dem Produkt. Zwar wird der Mensch als Konsument gerade in Fachgebieten wie dem
Marketing weiter ausdifferenziert, im Fokus steht dabei aber nicht die Interaktion mit
dem Produkt, sondern externe Aspekte dazu, wie Kaufentscheidungen zustande kommen
(Gabler Wirtschaftslexikon 2019). Im Gegensatz dazu wird bei der Betrachtung des
Menschen als Nutzer auf die Analyse und Beschreibung der Wechselwirkungen mit dem
Produkt fokussiert.
6.2.3.2 Differenzierung der Nutzer durch Interesse am Produkt
Produkte werden für einen definierten Systemzweck entwickelt, trotzdem gibt es Nutzer,
die mit dem Produkt interagieren, dabei aber nicht den originären Systemzweck verfolgen.
Am Produkt haben häufig eine Vielzahl von Menschen sehr unterschiedliche Interessen.
Es gilt, verschiedene Stakeholder am Produktverhalten zu berücksichtigen, wobei hier auf
solche fokussiert werden soll, die in die Produktnutzung in irgendeiner Art involviert sind.
6
Nutzerbedürfnisse
145
Exemplarisch hierfür sei ein Flugzeug, dessen Nutzer nicht allein der Passagier ist, der
von A nach B befördert werden möchte, sondern auch der Pilot, das Servicepersonal, das
Wartungs- und Reinigungspersonal, die am Produkt und dessen Verhalten Interesse haben.
Daher soll nach Stakeholdern unterschiedlichen Grades unterschieden werden. Während
Stakeholder 1. Grades ein direktes Interesse am Systemzweck des Produktes haben
(Passagier und Pilot), sind Stakeholder 2. Grades am Produkt dahingehend interessiert,
dass sie dessen originären Systemzweck bestmöglich verfügbar machen. Die Gründe für
das Nutzungsinteresse von Stakeholdern 2. Grades sind ­vielfältig:
Co-User bezeichnet solche Nutzer, die das Produkt zwar direkt nutzen, aber derart,
dass der originäre Systemzweck unterstützt bzw. abgesichert werden soll. Hierzu zählen
z. B. Bedien- oder Wartungstätigkeiten im Flugzeug (Janhager 2013).
Bezüglich der Verwendung von Produkten muss zwischen Kunden und Nutzern
unterschieden werden. Auch der Kunde gilt als indirekter Nutzer, wenn er das Produkt
beschafft, aber nicht direkt selbst nutzt. Beispielhaft sei das Unternehmen genannt,
welches Werkzeugmaschinen beschafft, um durch deren Verwendung durch den Arbeiter
die Unternehmensexistenz abzusichern (Arens und Hehenberger 2015).
Als Side-User (in der Literatur auch tertiärer Nutzer oder Stakeholder dritten Grades
genannt (z. B. Reinicke 2004)), sollen die Menschen bezeichnet werden, die durch die
Produktnutzung auch bzw. primär durch andere in ihrer Lebens- und Handlungssituation
beeinflusst werden (Janhager 2013). Beispielhaft sei hier auf Menschen verwiesen, die
nahe einer Straße wohnen und durch die Nutzung von Autos durch Lärmentwicklung
und Schadstoffe beeinflusst werden.
6.2.3.3 Differenzierung der Nutzer durch ihre Art der Produktnutzung
Vor allem im Innovationsmanagement und unter betriebswirtschaftlichen Aspekten
werden Nutzer nach ihrer Art der Produkt-Nutzung unterschieden. Ziel der Überlegungen ist es dabei, Innovations- und Diffusionsprozesse für neue Produkte und
Technologien durch die gezielte Ansprache von Personengruppen zu unterstützen,
von denen man sich aufgrund ihrer hohen Innovations- und Adaptionsbereitschaft
eine entsprechende Affinität für Neuerungen erwartet (Fichter 2005). Fichter (2005)
unterscheidet dazu sechs unterschiedliche Nutzertypen, die entweder eine Rolle im
Innovationsprozess oder eine Rolle im Diffusionsprozess wahrnehmen (Abb. 6.4).
Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist der Lead-User als trendführender
Nutzer. Das auf von Hippel (1986) zurückgehende Konzept charakterisiert den Lead-User
als Menschen, die gerade hinsichtlich ihrer Technikaffinität ihrer Zeit voraus aber auch
in der Lage sind, Ideen und Anforderungen für Produkte zu formulieren. Entsprechend
erscheint deren Expertise von besonderer Bedeutung für die Produktentwicklung.
Nichtsdestotrotz sind auch die in Abb. 6.4 genannten Nutzer, die vor allem in der
Diffusionsphase von Produkten für die Prozesse der Nutzerintegration von Interesse,
da deren spezifische Sichtweise wiederum interessante Erkenntnisse zur Nutzung
bzw. Nicht-Nutzung von Produkten liefern können sowie Rückschlüsse zu Akzeptanzmechanismen für Produkte erlauben.
146
K. Paetzold
Abb. 6.4 Nutzertypen im Innovationsprozess. (In Anlehnung an von Hippel 1986)
6.2.3.4 Differenzierung nach der Integrationsstärke des Nutzers in die
Produktentstehung
Grundlage für diese Art der Differenzierung bildet v. Hippels Konzept der funktionalen
Quellen der Innovationen (von Hippel 1979). Demnach entwickelt der Mensch eine
funktionale Beziehung zum Objekt. Als Nutzer wird er dann bezeichnet, wenn er
aus der Nutzung des Produktes einen Vorteil bezieht. Profitiert er aus der Herstellung
bzw. Entwicklung des Produktes, wird er zum Hersteller (Fichter 2005). Hat der
Mensch wiederum eine aktive Nutzerrolle, kann aber gleichzeitig durch das Äußern
von Präferenzen oder durch die Möglichkeit das Produkt zu individualisieren, ist er
gleichzeitig Nutzer und Hersteller. Diese Art der Nutzer werden auch als Pro-Sumer
bezeichnet (Szymusiak 2013).
Die Ausprägung der Einflussnahme auf das Produkt und damit auch die Frage, wie
stark der produzierende Anteil ausgeprägt ist, variiert natürlich von Anwendung zu
Anwendung. Ein Beispiel hierfür seien Handys für Unternehmen. Diese gilt es, meist
mit nicht unerheblichem Aufwand, durch den Nutzer zunächst auf seine Bedürfnisse und
Anwendungspräferenzen anzupassen, bevor es wirklich produktiv verwendet werden
kann. Ohlander et al. (2017) nutzen dafür auch den Begriff des Co-Designers, der den
Nutzer als Mitentwickler und Kooperationspartner in der Entwicklung betrachten. Sie
beschreiben damit eine Rolle in der partizipativen Produktentwicklung.
Nicht zuletzt lässt sich aus der Beschreibung der Integration des Nutzers in die Entwicklung auch ein Rollenverständnis für die Nutzerintegration ableiten. Der Nutzer ist
im Entwicklungsprozess im Wesentlichen in die drei Aufgaben involviert: Generierung
6
Nutzerbedürfnisse
147
von Produktideen, die Bewertung von Produktideen bzw. Produkten sowie die Lösungsfindung und Realisierung von Produktfunktionen.
Auch hierbei kann die Art und Intensität in der Wahrnehmung bzw. Ausführung
dieser Rolle sehr stark variieren und ist aus Nutzersicht vor allem von seiner Motivation,
seinem Kenntnisstand und seinen Erfahrungen sowie seiner Bereitschaft zur Mitarbeit
aber auch von den zu behandelnden Problemfeldern abhängig.
6.3Systematik der Nutzerintegration
Mit der Nutzerintegration soll ein besseres und tiefer gehendes Verständnis für den
Nutzer, seine Wünsche und Bedürfnisse, aufgebaut werden. Die mit den Methoden der
Nutzerintegration erarbeiteten Informationen unterstützen den Transformationsprozess
für ein gegenseitiges Verständnis von Entwickler und Nutzer und fließen in unterschiedlicher Art und Weise in den Produktentwicklungsprozess ein. Die Integration des Nutzers
bietet diesem die Möglichkeit der Mitgestaltung. Die Produktentwicklung kann aus
dreierlei Sicht hier Nutzen daraus ziehen. Nutzerintegration
• trägt zur Generierung und Erzeugung von Ideen bei,
• hilft, Produktideen und Produkte aus der Nutzersicht heraus zu bewerten,
• liefert Lösungsansätze für spezifische Problemstellungen.
Primär geht es darum, mit den Methoden der Nutzerintegration Daten und Informationen
zum Nutzer, seinen Wünschen und Bedürfnissen im Kontext seiner spezifischen Lebensund Handlungssituation zu sammeln und so zu strukturieren und aufzubereiten, dass
einerseits Einsatzbedingungen und Voraussetzungen für Produkte und Nutzungsmöglichkeiten identifiziert werden, andererseits aber auch der Mensch als Nutzer besser verstanden wird und somit Produkte, dem Gedanken des soziotechnischen Systems folgend,
zielgerichteter entwickelt werden können. Damit einher geht, dass von den Methoden
der Nutzerintegration erwartet wird, dass sie den Informations-Transformationsprozess
unterstützen. Es geht nicht allein darum, aus Nutzerwünschen und -bedürfnissen
konkrete Zielsystembeschreibungen und technische Parameter für die Entwicklung abzuleiten. Methoden der Nutzerintegration tragen dazu bei, Fehlinterpretationen sowohl
aufseiten der Nutzer als auch auf Seiten der Entwickler zu vermeiden. Die gemeinsame
Ideenfindung und Umsetzung für technische Assistenzen zur Alltagsunterstützung helfen
nicht nur, die Technologie-Interpretation, sondern auch die Lebens- und Handlungssituation der Nutzer besser zu verstehen.
Häufig ist der Nutzer hierbei nur in die Ideen- und Lösungsfindung integriert, nicht
aber in die Konkretisierung und Umsetzung. Das hierzu erforderliche Know-How entspricht im Allgemeinen den Kernkompetenzen des Unternehmens, die nicht preisgegeben werden sollen. Wieder stärker ist der Nutzer dann in die Produktbewertung am
Ende des Entwicklungsprozesses involviert. Hierdurch entstehen nicht nur Brüche im
148
K. Paetzold
Integrationsprozess, sondern es ergeben sich auch unterschiedliche Anforderungen an
die Gestaltung der Nutzerintegration. Hieraus resultieren sehr heterogene Ausprägungsmöglichkeiten für die Berücksichtigung von Nutzerinteressen in der Produktentwicklung.
Im Folgenden werden ein methodischer Ansatz vorgestellt und Anpassungsmöglichkeiten aufgezeigt, die helfen, Nutzer effizient und aufgabenspezifisch in den
Entwicklungsprozess zu integrieren. Hierauf aufbauend werden Indikatoren für die Ausdifferenzierung von Strategien zur Nutzerintegration abgeleitet.
6.3.1Rahmenbedingungen für die Nutzerintegration
Für die Nutzerintegration stehen eine Vielzahl von Methoden sowohl aus den Ingenieurwissenschaften als auch aus den Sozialwissenschaften zur Verfügung. Im Folgenden soll
der Frage nachgegangen werden, wie bzw. nach welchen Kriterien die Methodenauswahl
für die Nutzerintegration erfolgen kann. Für die Strukturierung und Abgrenzung soll
auf eine Modellvorstellung aus dem Management zurückgegriffen werden, welches als
Bezugsrahmen dient, um die unterschiedlichen Entscheidungen im Rahmen der Nutzerintegration in ihrem Gesamtzusammenhang zu verstehen (Reinicke 2004). Hierzu wird
in die drei Ebenen wie in Abb. 6.5 dargestellt unterschieden.
Auf normativer Ebene werden grundsätzliche Prinzipien, Normen und Philosophien
für das Handeln definiert. Generelle Ziele für Entscheidungen in Nutzerprozessen im
Allgemeinen und den Entwicklungsprozess im Besonderen. Auf Basis solcher grundlegenden Entscheidungen werden auf strategischer Ebene Vorgehensweisen und Methoden
installiert, die der Erreichung der übergeordneten Ziele dienen. Die Umsetzung der
Abb. 6.5 Strukturierungsansatz für Methoden zur Nutzerintegration. (In Anlehnung an Reinicke 2004
und Ruegg-Stürm und Grand 2014)
6
Nutzerbedürfnisse
149
Strategien erfolgt durch die Auswahl geeigneter Methoden, Werkzeuge und Instrumente
auf der operativen Ebene (Ruegg-Stürm und Grand 2014).
Die Entscheidung, den Nutzer in die Entwicklung zu integrieren, ist auf normativer
Ebene angesiedelt. Diese Festlegung sollte nicht aus einem Projekt heraus motiviert
sein, sie beruht vielmehr auf der Zustimmung der Unternehmensleitung, wodurch
diese in den Entwicklungsprozessen verankert werden kann und damit auch die
organisatorischen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Auf strategischer Ebene werden dann in Abhängigkeit von der Zielstellung konkrete
Methodiken für die Nutzerintegration definiert und beschrieben. Diese Methodiken
orientieren sich an den Rollen, die der Nutzer im Entwicklungsprozess einnehmen
kann. Dies kann z. B. das Design Thinking sein (z. B. in Plattner et al. 2009), welches
die Rolle des Ideengenerators thematisiert. Mit Methoden der User Experiences oder
auch der Akzeptanzbewertung steht die Rolle des Bewerters im Vordergrund. Es bietet
aber auch ausreichend Spielraum, um produkt- und kontextspezifische Anpassungen
existierender Methodiken vorzunehmen oder spezifische Vorgehensweisen aufzubauen
und zu implementieren (Gericke et al. 2013).
Auf der operativen Ebene werden Methoden konkret ausgewählt, Instrumente und
Werkzeuge entwickelt und angepasst, um die Daten im Sinne der Zielstellung zu erheben
und zu analysieren und hieraus Informationen für den Entwicklungsprozess abzuleiten.
Hierzu kann auf eine breite Palette von Methoden zurückgegriffen werden, auf die im
Folgenden noch etwas näher eingegangen werden soll.
6.3.2Ausdifferenzierung der Einzelaspekte der Nutzerintegration
Die Aufgaben der Nutzerintegration selbst können vielfältig und verschiedenartig ausgeprägt sein. Wird der Nutzer beispielsweise als Ideenlieferant in den Prozess involviert,
wird er sich auf Basis seiner Wertvorstellungen und Präferenzen in den Prozess einbringen, was entsprechende Methoden erforderlich macht, um sein Potenzial voll auszuschöpfen. Hieraus lassen sich aber auch Faktoren für Lösungsansätze ableiten bzw.
Kriterien für die Produktbewertung ableiten. Unabhängig davon, welche konkrete Zielstellung mit der Nutzerintegration verbunden ist, wird der Fokus immer darauf liegen,
den Nutzer in seiner Lebens- und Handlungssituation zu verstehen und hieraus Bedarfe
und Wünsche zu identifizieren.
Für die konkrete Ausgestaltung der Nutzerintegration (Abb. 6.6) gilt es zunächst zu
klären, was mit dieser erreicht werden soll. Die erwarteten Ergebnisse konkretisieren
nicht nur die Zielgruppe und die daraus abzuleitende repräsentative Nutzergruppe,
sondern auch die zeitliche Integration der Nutzer in den Entwicklungsprozess und die
Intensität der Integration, die notwendig ist, um erforderliche Informationen vom Nutzer
zu erhalten. Diese Aspekte sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
150
K. Paetzold
Abb. 6.6 Einflussfaktoren auf die Gestaltung von Nutzerintegrationsprozessen
6.3.2.1 Ergebnisdefinition für die Nutzerintegration
Ausgangspunkt aller Maßnahmen zur Nutzerintegration ist die Frage nach den
erwarteten Ergebnissen. Entsprechend der übergeordneten Zielstellung ein tiefgehendes
Nutzerverständnis aufzubauen und damit konkreter auf Wünsche und Bedürfnisse an
technische Assistenzsysteme eingehen zu können, werden in Anlehnung an die in oben
genannten Aufgaben mit der Nutzerintegration folgende Ziele verfolgt
• Ideengenerierung für technische Assistenzsysteme für den Nutzer,
• Ausgestaltung resp. Lösungsfindung für spezifische Problemstellungen,
• Bewertung von Produktideen, Lösungsansätzen oder Produkten
Demzufolge wird der Nutzer unterschiedliche Rollen im Entwicklungsprozess einnehmen: die als Ideenlieferant, als Lösungsfinder oder die als Bewerter. Es ist
dabei davon auszugehen, dass diese Rollen nicht immer eindeutig sind und sich überschneiden können. Wichtig ist, die Erwartungen an die zu integrierenden Nutzer genau
zu formulieren und den beteiligten Nutzern zu kommunizieren. Außerdem bildet diese
Zielbeschreibung die Grundlage für die Auswahl geeigneter Methoden zur Integration.
Die Rolle des Ideenlieferanten fokussiert auf die frühen Phasen der Entwicklung
und kann durchaus unabhängig vom eigentlichen Entwicklungsprozess erfolgen. Der
Lösungsfinder dagegen muss direkt in den Entwicklungsprozess integriert sein, wobei
auch hier die frühen Phasen von besonderer Bedeutung sind. Der Bewerter dagegen wird
6
Nutzerbedürfnisse
151
Tab. 6.1  Erwartungen an die Nutzer im Entwicklungsprozess
Nutzerrolle
Erwartete Informationen für den Entwicklungsprozess
Ideenlieferant
Wünsche und Bedürfnisse artikulieren und in der Transformation in
Anforderungen unterstützen
Wünsche und Bedürfnisse über Lösungsvorschläge explizit machen
Lösungsfinder
Lösungen für Teilprobleme aus der konkreten Lebens- und Handlungssituation
und damit aus einem gewissen Pragmatismus heraus entwickeln
Bewerter
Einschätzung von Lösungen aus dem persönlichen Handlungskontext heraus
Basierend auf dem Erfahrungswissen wird die Nützlichkeit abgeschätzt
erst gegen Ende des Entwicklungsprozesses bzw. signifikanter Entwicklungsschritte
involviert sein. Diese unterschiedlichen Rollen des Nutzers im Entwicklungsprozess
bedürfen auch unterschiedlicher Nutzercharakteristika, worauf im nachfolgenden Kapitel
noch einmal eingegangen wird. Die Erwartungen an die Nutzerrollen bezüglich der
Informationen für den Entwicklungsprozess sind in Tab. 6.1 zusammengefasst.
Im Sinne der Zielbeschreibung ist es auf operativer Ebene wichtig, klar festzulegen,
woran der Nutzer beteiligt wird, respektive wofür seine Informationen verwendet werden
sollen. Es gilt daher auch zu klären, was Gegenstand der Entwicklung ist (das Produkt,
Teilsysteme am Produkt, Prozesse, Dienstleistungen, Funktionen etc.).
6.3.2.2 Identifikation der Zielgruppe und der zu integrierenden Nutzer
Im Sinne der Betrachtung des Umgangs mit dem Produkt als soziotechnischen System
wird die Nutzung der Produkte und die Nützlichkeit eines Produktes maßgeblich durch
den Nutzer beeinflusst. Daher ist die präzise Definition der Zielgruppe von besonderer
Bedeutung, um einerseits repräsentative Nutzer für den Entwicklungsprozess zu identifizieren und andererseits diese dann auch zielführend in den Entwicklungsprozess
integrieren zu können.
Für die Auswahl von Nutzern zur Beteiligung am Entwicklungsprozess spielen vier
Kriterien eine wichtige Rolle:
• Fähigkeiten und Kompetenzen, um erforderliche Nutzerinformationen einbringen
zu können; der Fokus liegt dabei auf der Verfügbarkeit von Anwendungswissen und
Nutzungsanforderungen
• Bereitschaft und Motivation des Nutzers, sich in den Prozess einzubringen; hierbei
spielt die Zeit eine Rolle, die der Nutzer aufbringen muss bzw. investieren kann
• Aufgeschlossenheit gegenüber Technologien und Veränderungen sind von Bedeutung
• Repräsentation der gewünschten Zielgruppe und die Anerkennung durch diese;
hierdurch wird die persönliche Lebens- und Handlungssituation abgebildet und
repräsentativ gemacht
Differenzierungen in den Fähigkeiten und Kompetenzen können z. B. anhand einer im
Innovationsmanagement üblichen Nutzerklassifizierung vorgenommen werden, wie sie
152
K. Paetzold
Tab. 6.2  Charakterisierung von Nutzern hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen für die
Produktentwicklung
Nutzer
Charakteristik
Lead User
Zeigt
Fähigkeit zur
potenzielle
Problemerkennung;
Bedürfnisse eilen dem Bedarfe
Massenmarkt voraus;
Nutzenerwartung
durch Problemlösung
Experte
Lieferant für
Anwendungen und
Nutzungsszenarien;
Bereitschaft zur
Erprobung neuer
Dinge im Lebensumfeld
Rolle des Nutzers als
Ideenlieferant
Liefert
Nutzungsszenarien für
Ideen
Lösungsfinder
Bewerter
Liefert
Umsetzungsvorschläge
Kaum Relevanz
Liefert
pragmatische
Lösungen
Kritische
Beurteilung von
Ideen
Repräsentativer Repräsentiert die Ziel- Kaum Relevanz Zeigt Nutzungspotenziale im
Nutzer
gruppe in Lebens- und
Alltag
Handlungssituation;
prinzipielle Nutzungsbereitschaft von
etablierten Lösungen
Kritische
Bewertung von
Lösungen
bereits in Abb. 6.4 dargestellt wurde (von Hippel 1979). Die Einteilung in drei Nutzertypen erscheint hilfreich. Tab. 6.2 charakterisiert diese und beschreibt die Eignung für
die im Rahmen der Nutzerintegration einzunehmenden Rollen.
Soll eine stärkere Ausdifferenzierung hinsichtlich der Lebens- und Handlungssituation
der Nutzer erfolgen, erscheinen Klassifizierungsansätze aus der sozialwissenschaftlichen
Forschung hilfreich. Hier sei insbesondere auf die Clusterbildung in sogenannte SinusMilieus verwiesen (Sinus Institut 2019) die im industriellen Umfeld eine breite Akzeptanz
genießen. Die Sinus-Milieus (Abb. 6.7) nutzen nicht allein Kriterien wie die Schulbildung, Einkommen oder den Beruf für die Nutzerklassifikation, sondern fokussieren
auf den Lebensstil und die Lebensumwelt der Menschen. Sinus-Milieus umfassen also
Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, sie basieren
auf Wertorientierungen und Alltagseinstellungen (Sinus Institut 2019) Abb. 6.7 zeigt
die Sinus-Milieus, die sich aus der Gegenüberstellung von sozialer Lage und Grundorientierung im Leben ergeben.
6.3.2.3 Integrationsmöglichkeiten in den Entwicklungsprozess
Die Organisation und Gestaltung des Entwicklungsprozesses unterliegt Effizienzkriterien. Neuartige und qualitativ hochwertige Produkte gilt es in kurzer Zeit auf
den Markt zu bringen, um hierdurch die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens
6
Nutzerbedürfnisse
153
Abb. 6.7 Beispiel für Sinusmilieus (Sinus Institut 2019)
a­bzusichern. Dieser Prämisse muss auch die Nutzerintegration folgen, was voraussetzt, dass in Abhängigkeit der definierten Ziele die Art und Weise bzw. die Intensität
der Nutzerintegration zu überlegen ist. Letztlich gilt es die Frage zu klären, in welcher
Phase die Expertise der Nutzer den Entwicklungsprozess unterstützen kann bzw. welche
Informationen in welchen Phasen der Entwicklung vom Nutzer benötigt werden. Neben
dem Zeitpunkt der Integration und den Informationsbedarfen sind auch organisatorische
Fragen der Einbindung zu klären (Einbindung in Kernteam, parallele Informationserfassung, Nutzung externer Möglichkeiten zur Informationserfassung) und Fragen zu
verfügbaren Produktartefakten zur Veranschaulichung zu klären. Abb. 6.8 fasst diese
genannten Einflüsse zusammen.
Während in der frühen Phase der Nutzer als Ideenlieferant nicht nur für die Beschreibung
von Wünschen und Bedürfnissen, sondern auch zur Klärung der Nutzungssituation und
der Leistungsbedarfe beiträgt, steigt in der Konzept- und Detaillierungsphase vor allem der
Bedarf an der Beteiligung in der Lösungsfindung. Ab der Konzeptphase sind Bewertungen
von Ideen, Teilsystemen oder Produkten durch den Nutzer erforderlich (Wolf und Priebe
2003). In Abhängigkeit von der Rolle des Nutzers und dem damit verbundenen Informationsbedarf werden Art und Intensität der Integration und Untersuchungsdesign1 festgelegt. Nachfolgend erfolgt die Auswahl geeigneter Methoden zur Datenerfassung und -auswertung.
1In
Abhängigkeit von der Rolle des Nutzers und dem damit verbundenen Informationsbedarf
werden Art und Intensität der Integration und Untersuchungsdesign festgelegt. Nachfolgend erfolgt
die Auswahl geeigneter Methoden zur Datenerfassung und -auswertung.
154
K. Paetzold
Abb. 6.8 Informationsgewinnung und -verwertung in der Entwicklung
Besonderes Augenmerk bei der Planung der Nutzerintegration ist auf die verfügbaren
Produktartefakte zu legen, die zur Diskussion und Bewertung zur Verfügung stehen.
Typische Produktartefakte, wie z. B. das CAD-Modell, Komponentenprototypen oder
auch Produktprototypen sind im Allgemeinen Modelle, die nur ausgewählte Eigenschaften abbilden. Diese Modelle müssen für den zu integrierenden Nutzer verständlich
und interpretierbar sein, um unverfälschte Ergebnisse und Informationen für den Entwicklungsprozess ableiten zu können. Wird das Produktmodell dem Nutzer erst durch
den Entwickler erklärt, kann eine indirekte Beeinflussung der Meinungsbildung des
Nutzers erfolgen (Bias).
Weiterhin kann in der Intensität, mit der ein Nutzer in den Entwicklungsprozess eingebunden wird, differenziert werden nach: (Sarodnik und Brau 2006)
• Bei einer passiven Mitwirkung wird die Meinung der Nutzer erhoben, durch den
Entwickler interpretiert und entsprechend in der Gestaltung berücksichtigt.
• Von einer aktiven Mitwirkung spricht man, wenn Nutzer in die Entscheidungsfindung mit einbezogen sind.
• Von einer aktiven Partizipation spricht man, wenn Nutzer im Entwicklungsprozess
gemeinsam mit dem Entwickler gestaltend tätig werden.
6
Nutzerbedürfnisse
155
Abb. 6.9 Intensität und Informationsgehalt für Nutzerintegration
Der Grad der Intensität, mit der Nutzer in den Entwicklungsprozess eingebunden
werden können, hängt vom erforderlichen Informationsumfang bzw. der gewünschten
Kompetenznutzung ab. Die Zusammenhänge sind in Abb. 6.9 noch einmal verdeutlicht.
6.3.3Der Untersuchungsprozess im Rahmen der
Nutzerpartizipation
Ziel ist die Gewinnung von Informationen und Wissen über Nutzer und Produkt(en) im
Sinne eines soziotechnischen Systems. Geeignete Methoden aus den Ingenieurwissenschaften als auch aus den Sozialwissenschaften dienen dabei in erster Linie der Analyse der
Gegebenheiten im Umgang bzw. in der Benutzung der Produkte als technische Assistenz
aber auch der Erfassung möglicher Bedürfnisse aus der Lebens- und Handlungssituation
heraus. Letztendlich sind Entwickler an der Synthese interessiert, also an der Nutzung der
Erkenntnisse für die Systemgestaltung. Dies ist aber nur sekundär Gegenstand der Untersuchungen und wird daher im Allgemeinen in einem nachgelagerten Schritt betrachtet.
Ausgangspunkt der Nutzerpartizipation bildet eine Problemstellung, die auf Basis
des interessierenden Sachverhaltes zum soziotechnischen System, also z. B. zum
Nutzungsverhalten von Personen, zum Umgang mit Produkten oder auch zur Bedarfserfassung aus Alltagssituationen heraus resultieren. Auf Basis dieser Problemstellung
wird verfügbares Wissen zu dem zu betrachtenden Sachverhalt zusammengetragen, um
hieraus einen theoretischen Rahmen für die Untersuchung abzuleiten. Im Ergebnis entsteht eine Theorie oder Hypothese, die es im Rahmen der Untersuchung zu überprüfen
gilt. In der Beschreibung der Hypothese erscheint es durchaus zielführend, bereits die
Betrachtung von Lösungsansätzen zu bedenken, allerdings sollte das primäre Ziel der
Hypothese sein, ein tiefgehendes Verständnis vom Nutzer in einer spezifischen Lebensund Handlungssituation zu erhalten, um erst danach unvoreingenommen über mögliche
Unterstützungspotenziale nachzudenken.
156
K. Paetzold
Im Rahmen der Nutzerpartizipation werden zwei Fälle für die weitere Vorgehensweise unterschieden:
• Ist die Lebens- und Handlungssituation oder das Nutzungsverhalten nicht sicher
beschreibbar, bedarf es zunächst Untersuchungen dazu, wie und warum der Mensch
in spezifischen Situationen agiert. Hier gilt es zunächst Hypothesen zum Nutzungsverhalten zu entwickeln, um den Nutzer in seinen Handlungen zu verstehen und
Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu beschreiben.
• Sind solche Kenntnisse zum Nutzungsverhalten und den Einflussfaktoren bereits vorhanden werden mit den Hypothesen abhängige und unabhängige Variablen identifiziert, um die Ursache-Wirkungs-Beziehungen quantifizieren und ausdifferenzieren
zu können.
Je nach Untersuchungsgegenstand variieren nicht nur das Untersuchungsdesign, sondern
auch die Methoden zur Datenerhebung und -auswertung, welche im Rahmen der
konzeptionellen Phase nun näher zu spezifizieren sind. Das Untersuchungsdesign legt
zunächst ganz grundsätzlich fest, wie sich der Problemstellung genähert werden soll,
also ob ingenieurwissenschaftliche oder sozialwissenschaftliche Methoden oder eine
Kombination aus diesen zu nutzen sind. Bei den sozialwissenschaftlichen Methoden
muss weiterhin zwischen qualitativen und quantitativen Untersuchungsmethoden unterschieden werden, auf die in einem späteren Abschnitt noch einmal explizit eingegangen
wird. Auf Basis des gewählten Untersuchungsdesigns können dann konkrete Methoden
zur Datenverarbeitung festgelegt werden. Die Datenverarbeitung untergliedert sich in
die Einzelschritte: Datenerhebung, Datenanalyse und Auswertung, Datenaufbereitung,
wie in Abb. 6.10 dargestellt.
Abb. 6.10 Konzeption des Untersuchungsdesigns
6
Nutzerbedürfnisse
157
• Zur Datenerhebung stehen sowohl Methoden aus den Ingenieurwissenschaften
als auch aus den Sozialwissenschaften zu Verfügung. Ingenieurwissenschaftliche
Methoden erlauben Daten vom Menschen in spezifischen Untersuchungssituationen
über geeignete Sensorik zu erfassen. Exemplarisch sei hier auf Messung von Vitaloder Bewegungsparametern oder das Eye-Tracking verwiesen. Die Messungen z. B.
über Kraft- oder Bewegungssensoren oder auch Vitalmessungen geben Rückschlüsse
auf das Verhalten oder den körperlichen Zustand des Probanden. Zur Absicherung
der Validität bzw. zur Bewertung der Untersuchungssituation bedarf es geeigneter
Referenzen bzw. Menschmodelle. Gerade für die Einbeziehung des Menschen finden
heute vielfach sozialwissenschaftliche Methoden Verwendung. Je nach Untersuchungsdesign stehen hier in erster Linie Befragungen, Observationen oder das Experiment zur
Datengewinnung zur Verfügung, auf die später noch eingegangen wird. Ergänzend zu
einer solchen Primärdatenerhebung erfolgt üblicherweise eine Sekundärdatenerhebung,
d. h. die Erfassung von Daten aus Fachliteratur, Datenbanken, Statistiken oder anderen
Informationssystemen. Ziel der Sekundärdatenerfassung ist die Unterstützung der
Hypothesenbildung. Außerdem helfen diese Erkenntnisse, die im Rahmen der Primärdatenerhebung gewonnenen Daten plausibel zu machen und zu interpretieren.
• Die Phasen der Datenanalyse und Auswertung hängen üblicherweise eng
zusammen. Dieser Prozess dient dazu aus den erfassten Daten die notwendigen
Informationen für die betrachtete Zielstellung abzuleiten. Die Datenauswertung wird
einerseits determiniert durch das gewählte Untersuchungsdesign. Andererseits können
die zur Verwendung kommenden Methoden durch die unterschiedlichen Sichtweisen
auf das Datenmaterial sehr vielfältig sein. Statistische Verfahren für Messwerte
gehören hier genauso dazu (Diekmann 2007) wie interpretative Verfahren (Kodierung
und Interpretation) für qualitativ erfasste Daten (Flick et al. 2005).
• Die Datenaufbereitung hat das Ziel, die Erkenntnisse und Informationen, die im
Rahmen der Datenanalyse entstanden sind, so zusammenzustellen, dass sie für
die Entscheidungsfindung im Entwicklungsprozess nutzbar werden. Entsprechend
eng hängt mit der Datenaufbereitung auch die Datennutzung zusammen. Letztendlich muss es das Ziel der Datenaufbereitung sein, Modellvorstellungen des soziotechnischen Systems Mensch-Produkt abzuleiten, die den Nutzer respektive sein
Nutzungsverhalten erklären und Impulse für die Ideengenerierung und Produktgestaltung liefern aber auch im Entwicklungsprozess zur Validierung und Verifikation
eingesetzt werden können. Solche Datenaufbereitungen können z. B. Menschmodelle für Kinematiksimulationen, kognitive Menschmodelle oder auch einfache
­Persona-Beschreibungen sein.
Die einzelnen Schritte in der konzeptionellen Phase sind in Abb. 6.10 noch einmal
zusammengefasst.
In der anschließenden Operationalisierung werden die in der konzeptionellen
Phase ausgewählten Methoden zur Datenerhebung präzisiert. Hat man sich also z. B.
für eine qualitative Untersuchung entschieden, in deren Rahmen eine Hypothese zum
158
K. Paetzold
Nutzerverhalten aufgestellt werden soll, gilt es nun, geplante Experteninterviews vorzubereiten. Hierbei sind nicht nur die Fragen im Einzelnen zu formulieren, sondern
auch in einem Interviewleitfaden zusammen zu stellen und zu erläutern, sodass diejenigen, die die Daten erheben sollen, die dahinterliegenden Untersuchungsfragen
verstehen, interpretieren und nachvollziehen können. Zudem gilt es, die sogenannte
Untersuchungseinheit festzulegen. Dies meint, dass entschieden wird, wer befragt
werden soll, wer also als potenzielle Nutzergruppe identifiziert wurde. Auch die
Stichprobengröße ist zu definieren. Für quantitative Untersuchungen z. B. ist diese so
zu wählen, dass eine sinnvolle statistische Auswertung möglich wird. Die Stichprobe
hängt dabei nicht nur von der erwarteten Marktgröße, sondern auch von der Homogenität der Nutzergruppe ab. Bei sehr spezifischen Aufgaben wie z. B. die Nutzung
eines Werkzeuges im betrieblichen Umfeld darf die Nutzergruppe kleiner sein, soll
ein Werkzeug im Heimwerkerbereich bewertet werden, muss die Nutzergruppe entsprechend angepasst werden, um repräsentativ zu sein. Weiterhin ist zu überlegen,
welche Produkte bzw. Produktartefakte herangezogen werden und wie diese im Sinne
der zu klärenden Fragestellung zu gestalten sind. Die Festlegung der Umgebungsrandbedingungen determiniert, wie stark die tatsächlichen Lebens- und Handlungssituation
der Nutzer in der Untersuchung berücksichtigt werden können.
Für die anschließende Erhebungsphase von Daten sind vor allem Zeit- und Kostenaspekte zu berücksichtigen. Nicht nur, dass die Datenerhebungen selbst, vor allem auch
die Datenauswertung ist zeitaufwendig. Auch teilnehmende Probanden müssen Zeit
investieren, die je nach avisierter Zielgruppe nur begrenzt zur Verfügung steht. Auch
gilt es zu beachten, dass die Aufmerksamkeit der Probanden zeitlich eingeschränkt ist.
Je länger die Datenerhebung dauert, desto unaufmerksamer werden Probanden, was zur
Ergebnisverfälschung führen kann. Kosten entstehen nicht nur weil Ressourcen für die
Datenerhebung und -auswertung nötig sind, sondern sind gegebenenfalls erforderlich,
weil Aufwandsentschädigungen für die Probanden zu berücksichtigen sind. Des Weiteren
gilt es Datenschutz, ethische Aspekte und rechtliche Fragen zu bedenken (z. B. Kämper
2016). Für die Datenerhebung müssen die Untersuchungsleiter eingewiesen und entsprechende räumliche und technische Rahmenbedingungen vorbereitet sein. Nach der
Datenerhebung erfolgt die Datenaufbereitung als Vorbereitung für die eigentliche Auswertung. Im Ergebnis entstehen Informationen entsprechend der Zielstellung.
Im Rahmen der anschließenden Interpretationsphase werden die Ergebnisse auf
Basis der verwendeten Hypothesen und der zu klärenden Untersuchungsfragen analysiert
und ausgewertet. Schlussfolgerungen sollen die Kausalbeziehungen beschreiben und
präzisieren. In der Diskussion und Interpretation der Ergebnisse kommt nun auch der
Syntheseaspekt hinzu, die Ergebnisse sind so aufzubereiten, dass nicht nur die Ideen zur
Lösungsfindung abgeleitet werden können sondern auch zum besseren Verständnis des
soziotechnischen Systems beitragen. Idealerweise entstehen Nutzermodelle, die, gezielt
aufbereitet, in den verschiedenen Phasen der Produktentwicklung weiter genutzt werden
können.
6
Nutzerbedürfnisse
159
6.4Auswahl von Methoden
Auf Basis der vorangegangenen Einordnung der Erwartungen an die Nutzerintegration
und der Beschreibung des Informationsbedarfs über den Nutzer gilt es nun, geeignete
Methoden und Werkzeuge so auszuwählen, dass relevante und interessierende Daten
erfasst und hieraus die essentiellen Informationen abgeleitet werden. Bevor auf einzelne
Methoden eingegangen wird, soll zunächst kurz der Prozess der Informations- und
Wissensgenerierung im Rahmen der Nutzerpartizipation skizziert werden, um die
Methodenauswahl und Zuordnung in einen Kontext zu setzen.
Gerade im Aufbau von Erkenntnissen zum bzw. über den Nutzer gewinnen sozialwissenschaftliche Methoden auch in der Produktentwicklung zunehmend an Bedeutung.
Mit den empirischen Methoden der Sozialwissenschaften stehen Werkzeuge zur Analyse von sozialen Handlungen zur Verfügung, um Ursache-Wirkungs-Beziehungen zur
Interaktion des Menschen mit Produkten in seinem Lebensumfeld zu erfassen, zu analysieren und zu interpretieren. Analog zur ingenieurwissenschaftlichen Herangehensweise geht der Verwendung sozialwissenschaftlicher Methoden eine Theoriebildung
voraus, also die Ableitung von einleuchtenden beweisbaren Annahmen über das Verhalten soziotechnischer Systeme. Ziel ist es, Beschreibungen und Erklärungen für
kausale Beziehungen im Umgang mit technischen Systemen durch den Menschen in
seiner sozialen Umgebung zu finden (Henecke 1999).
Die soziale Wirklichkeit erscheint dabei nicht vollständig erfassbar. Lebens- und
Handlungssituationen sind durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren geprägt, wie z. B.
der emotionale Zustand, der wiederum aus der Erfassung und Bewertung der aktuellen
Situation bestimmt aber auch durch körperliche Faktoren beeinflusst wird, die das
Wohlfühlen determinieren. Es bedarf daher einer Selektion und Konzentration auf den
zu betrachtenden Ausschnitt und damit einer Spezifizierung des Untersuchungsgegenstandes. Im Rahmen der anwendungsorientierten Forschung ist es erforderlich, auf
konkrete soziotechnische Probleme zu fokussieren, für die ein adäquates Verständnis
aufgebaut werden soll. Dies wiederum determiniert die Art und Weise der empirischen
Erfassung, hierfür wird zwischen qualitativen und quantitativen Methoden unterschieden.
6.4.1Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen
Untersuchungen
Erkenntnisse aus der Anwendung sozialwissenschaftlicher empirischer Methoden
basieren auf Zusammenhängen, die sich aus Erfahrungen ergeben. Überprüft werden
Behauptungen über Phänomene an der Wirklichkeit. Grundsätzlich stehen hierfür
zwei Kategorien an Forschungsmethoden zur Verfügung: qualitative und quantitative
Methoden. Grundlage für die Differenzierung sind Unterschiede in der verwendeten
Erkenntnistheorie, also der Beantwortung der Frage, wie die Realität wahrgenommen
und daher Wissen aufgebaut wird (Wolf und Priebe 2003):
160
K. Paetzold
Im Sinne des Positivismus wird davon ausgegangen, dass die reale Welt unabhängig
von einer subjektiven Wahrnehmung und damit einem Beobachter existiert, was die
Welt objektiv beschreibbar macht. Ein objektiver Beobachter erkennt und reguliert
dann Ursache-Wirkungs-Beziehungen auf Basis der Empirie. Damit verbunden ist
die Möglichkeit, allgemeingültige Gesetze herauszuarbeiten. Dies ist die Basis für die
quantitative Untersuchungen. Theoretische Modelle (Hypothesen) werden durch
Testen und Messen nachgewiesen.
Dem Konstruktivismus liegt die Annahme zugrunde, dass die Realität durch
die subjektive Wahrnehmung geprägt ist und damit Interpretationen auch durch den
Betrachter erlaubt sind. Ursache-Wirkungs-Beziehungen resultieren aus der subjektiven
Wahrnehmung des Betrachters, was eine Generalisierung außerhalb des betrachteten
Kontextes schwierig macht. Untersucht werden entsprechend individuelle Konzepte und
Interpretationen externer Faktoren. Die daraus abgeleitete qualitative Untersuchung
entwickelt entsprechende Theorien, indem die Realität beobachtet und interpretiert wird.
Qualitative Untersuchungsmethoden
Mittels qualitativer Untersuchungen soll die Wirklichkeit anhand der subjektiven Sicht
von Beobachtern auf den Betrachtungsgegenstand mit dem Ziel erfolgen, Ursache
für deren Verhalten zu erkennen, zu verstehen und nachzuvollziehen (Wolf und Priebe
2003). Mit einer stärkeren Subjektbezogenheit geht einher, dass nicht so hohe Fallzahlen erforderlich sind, um Aussagen zu soziotechnischen Systemen als Untersuchungsgegenstand treffen zu können. Vergleichbar zur quantitativen Untersuchung bedarf es
erster theoretischer Annahmen, um die Erhebungsinstrumente für qualitative Forschung
auswählen und anpassen zu können, allerdings zeichnet sich die Vorgehensweise der
qualitativen Forschung durch eine größere Offenheit aus, die es erlaubt, flexibel auf
unvorhergesehene oder unbekannte Aspekte zu reagieren. Damit gewinnen qualitative
Methoden vor allem für die explorative Untersuchung und die Hypothesengenerierung
an Bedeutung.
Die Datenauswertung selbst erfolgt üblicherweise interpretativ, damit können sich für
unterschiedliche Akteure unterschiedliche Bedeutungen und Interpretationen von Daten
ergeben. Diese mangelnde Objektivität wird als wesentlicher Kritikpunkt für die Verwendung gesehen. Eine gewisse Objektivierung der Ergebnisse wird dadurch erreicht,
dass die Vorgehensweise, die gewählten Methoden und der Interpretationsprozess ausführlich dokumentiert werden. Mit der Darstellung des Kontextes der Ergebnisse lassen
sich diese entsprechend in ihrer Güte beurteilen (Flick et al. 2005).
Quantitative Untersuchungsmethoden
Quantitative Forschung zeichnet sich durch einen Objektbezug aus. Es gilt,
Ursache-Wirkungszusammenhänge zu identifizieren und zu quantifizieren. Durch
­
die Annahme der Objektivität ist die Realität für das soziotechnische System mit
kontrollierten Methoden erfassbar. Modelle und Zusammenhänge lassen sich durch
numerische Daten genau beschreiben, was eine Vorhersagbarkeit von Aktionen und
6
Nutzerbedürfnisse
161
Reaktionen mit sich bringt. Daten werden theoriegeleitet und gezielt gesammelt. Sie
müssen im Sinne der Theorieprüfung entsprechenden Gütekriterien (Validität und
Reliabilität) gerecht werden (Wolf und Priebe 2003).
Quantitative Untersuchungsmethoden sind immer dann sinnvoll, wenn bereits
genügend Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand vorliegen, um Hypothesen
über Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufstellen und Beurteilungskriterien ableiten
zu können, über die diese Beziehungen quantifizierbar sind. Die Datenerfassung
erfolgt dann durch Messen und Zählen. Typische Methoden der Datenerfassung sind
z. B. strukturierte Interviews und Experimente, bei denen abhängige und unabhängige
Variablen klar identifizierbar sind. Entsprechend kann für die Datenauswertung auf
mathematisch-statistische Verfahren zurückgegriffen werden. Dies wiederum erfordert
eine ausreichend große und repräsentative Stichprobe (Flick et al. 2005).
In Tab. 6.3 sind Unterschiede, Vor- und Nachteile von qualitativem und quantitativem
Vorgehen in Anlehnung an (Wolf 1995) noch einmal zusammengestellt.
6.4.2Typische Methoden der Datenerhebung
Für sozialwissenschaftliche Untersuchungen stehen verschiedene Methoden zur Datenerhebung zur Verfügung die in unterschiedlichen Ausprägungen angewendet werden
können (Kromrey 2009). Auf die wichtigsten Methoden soll hier kurz eingegangen
werden.
Das Interview
Interviews sind Befragungen von Personen in mündlicher oder schriftlicher Form, die
sich aber signifikant für qualitative und quantitative Untersuchungen unterscheiden.
Für quantitative Untersuchungen sind Interviews, egal ob mündlich oder schriftlich,
streng strukturiert. Bei schriftlichen Formen werden Interviewbögen vom Interviewer
oder vom Befragten selbst ausgefüllt. Im letzteren Falle muss das Ausfüllen ohne Vermittlungshilfe oder Rückfragen möglich sein. Die Fragen gilt es entsprechend präzise
und verständlich zu formulieren. Es ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung,
einen brauchbaren Fragebogen aufzusetzen. Sozialwissenschaftler können beim Erstellen
des Fragebogens mit einer professionellen Methodenlehre und einem Regelsystem
helfen, die absichern, dass mögliche Fehler vermieden bzw. Fehlerquellen ausgeschaltet
werden und damit der Erhebungsprozess transparent und kontrollierbar wird (Bogner
et al. 2014).
Gerade für die Produktentwicklung haben qualitative Untersuchungen zur Ermittlung
von Ursache-Wirkungs-Beziehungen, also zur Bedarfsermittlung respektive zur
Beschreibung des Verhaltens von Nutzern im Umgang mit Produkten eine große
Bedeutung. Daher soll auf die Gestaltung solcher Interviews etwas intensiver eingegangen
werden.
Für die qualitative Untersuchung sind die Befragungen semi-strukturiert, allerdings
gilt es einen Interviewleitfaden zu erarbeiten, der vor allem die Objektivierung
162
K. Paetzold
Tab. 6.3  Gegenüberstellung qualitativer und quantitativer Untersuchungen
Qualitative Untersuchungen
• Fokussiert auf Untersuchung
realer Situationen ohne konkrete
Festlegung abhängiger und
unabhängiger Variablen (werden
identifiziert)
• Frage nach wer, wann, wie, was,
warum
• Lebenswelten werden aus Sicht
der handelnden Menschen erfasst
Quantitative Untersuchungen
Ziel
• Untersucht abhängige Variablen
durch Variation unabhängiger
Variablen
• Erklären kausaler Zusammenhänge
zwischen Phänomenen
• Frage nach wie viel, wie oft, wie
lange
• Auffinden genereller
Wirkzusammenhänge zur Erklärung
soziotechnischer Systeme
• Beobachten und interpretieren
Datenerfassung
• induktiv, Sinn-verstehend
und -auswertung
• in semistrukturierter Art und Weise
• Messen und testen
• deduktiv, messend
• in strukturierter Art und Weise
• Beobachter ist in Untersuchungssituation integriert
• Interaktion bietet Möglichkeit,
Hintergründe zu erfragen
• Subjektiver Charakter der
Resultate
Rolle des Untersuchenden
• Untersuchender als unabhängiger
Beobachter
• Repräsentative Ergebnisse durch
große Stichproben und statistische
Auswertung
• Objektiver Charakter der Resultate
•D
ynamisches interaktives
­Vorgehen
• Theorie unterliegt Wachstumsprozess
• Vorgehen anpassbar während
Untersuchung
• Weiche realitätsnahe Daten
UntersuchungsProzess
• Statisches Vorgehen
• Theorie wird getestet
• Wenig flexibel während der
­Untersuchung
• Harte replizierbare Daten
• Flexible Anwendung
•O
ffenes Vorgehen ermöglicht Entdeckung neuer Sachverhalte
•H
ohe inhaltliche Validität durch
nicht-determiniertes Vorgehen
• Tiefer Informationsgehalt durch
offene Datenerhebung
Vorteile
• Exakt quantifizierbare Ergebnisse
und statistische Zusammenhänge
• Repräsentativität und Objektivität
durch große Stichproben
• Geringer Kosten- und Zeitaufwand
• Hohe externe Validität durch große
Stichproben
•Z
eit- und Kostenintensiv
Hohe Anforderungen an die
­Qualifikation und Kompetenz des
Durchführenden
• Vergleichsweise aufwändige
­Auswertung
Nachteile
• Wenig flexibel im Vorgehen durch
standardisierte Untersuchungssituation
• Keine Ermittlung von Ursachen
oder Einstellungen der betrachteten
Person möglich
• Keine Hinweise für Veränderungspotenzial
6
Nutzerbedürfnisse
163
der Ergebnisse unterstützen soll. Vom Interviewer wird sowohl ein hohes Maß an
Kommunikationsfähigkeit und Gesprächsgeschick als auch genaue Kenntnisse über
den theoretischen Rahmen und die Zielstellung erwartet, um interessante Aspekte, die
ad hoc aufkommen können, aufnehmen und interpretieren zu können. Ein Interview in
der qualitativen Untersuchung ist immer eine Form der Kommunikation, gerade auch
bei offenen und wenig strukturierten Interviews erscheint es daher unbedingt notwendig,
nicht nur die Antworten zu protokollieren sondern auch auf das außersprachliche Verhalten wie Mimik und Gestik, Körpersprache, Tonfall und Lautstärke zu achten, da sie
den Aussagen der Probanden Bedeutungstiefe verleihen können. Dabei gilt auch zu
beachten, dass das Interview zwar eine Form der Kommunikation nicht aber ein Diskurs
ist. Es gilt nicht nur, die eigene Meinung zurückzuhalten, sondern Fragen auch neutral
und offen zu formulieren.
Hochwertige und tiefgehenden Aussagen lassen sich nur in einem offenen Gesprächsklima erreichen. Hierbei kann eine Variation der Fragetechnik hilfreich sein. Anhaltspunkte liefert Tab. 6.4. (Bogner et al. 2014). Häufig werden auch biographische Elemente
in die Interviews einbezogen, die Interviewten werden gebeten, besondere Erlebnisse oder
Aspekte aus Ihrem Leben zu schildern. Dies hilft nicht nur, Gesprächsbarrieren abzubauen, sondern erlaubt auch andere Sichtweisen auf die zu untersuchende Fragestellungen.
Hierdurch kann es gelingen, die Lebens- und Handlungssituation des Nutzers besser zu
erfassen und zu verstehen bzw. deren Einfluss auf die zu untersuchende Problemstellung
zu beschreiben. Wichtig ist zu beachten, dass nur Aussagen und Einstellungen oder
Meinungen erfasst werden, nicht aber ein tatsächliches Verhalten (Flick et al. 2005).
Tab. 6.4  Fragetypen für halb- oder unstrukturierte Interviews
Frageart
Beispiel
Einleitung
… können Sie mir etwas erzählen über…
Folgefragen;
Motivation zum
­weiterreden
Mmm….; Kopfnicken; jede Form der Zustimmung; Verständnis durch
Körpersprache; Wiederholen von Schlüsselwörtern; Auswählen anhand
des spezifischen Untersuchungsinteresses
Untersuchungsfragen
… können Sie etwas mehr davon erzählen? Warum denken Sie, dass …
Spezifizierungsfragen
… Können Sie mir das näher erklären? Können Sie mir ein Beispiel
nennen?
Direkte Fragen (später) Wenn Sie über … nachdenken, woran denken Sie dann spontan/
genauer?
… denken Sie spontan an … oder eher an …?
Indirekte Fragen
Wie glauben Sie, sehen andere das Problem? Denken andere in gleicher
Art und Weise darüber nach?
Strukturierungsfragen
Vielen Dank für das Statement. Ich würde jetzt gern noch mal auf ….
Eingehen.
Stille
Interpretationen
Also, was ich mitgenommen habe ist Folgendes…
164
K. Paetzold
Die Beobachtung
Die Beobachtung von Menschen in spezifischen Handlungs- und Lebenssituationen
respektive in der Nutzung technischer Systeme ist ebenfalls geeignet, Ursache-WirkungsBeziehungen zu identifizieren. Diese Methode kann in Laborumgebung oder im Feld
durchgeführt werden. Letzteres hat den Vorteil, dass ein Agieren in der gewohnten
Umgebung die Lebens- und Handlungssituation der Probanden einbezieht und damit die
Ergebnisaussage detaillierter und tiefer wird. Beobachtet werden meist nicht nur die
reinen Handlungen, sondern man lässt den Probanden seine Handlungen kommentieren
und erfasst zusätzlich das gesprochene Wort. Zudem ist es hilfreich, die außersprachlichen
Faktoren wie Gestik, Mimik, Körperhaltung und Körpersprache mit zu erfassen. Daten
werden über Sprachprotokolle, Videoaufzeichnungen, Notizen, Bilder und Fotos aufgenommen. Neue Technologien wie das Eye-Tracking liefern hier sehr interessante Ergebnisse, da der Blickwinkel aus Sicht des Probanden eine eigene Perspektive darstellt, die
ohne diese Technologie nicht zugänglich wäre.
In der Beobachtung kann der Bobachter zwei Rollen einnehmen: passiv und teilnehmend. Die passive Bobachtung unterstützt die Objektivität der zu untersuchenden
Situation. Bei der teilnehmenden Beobachtung versucht der Beobachter sich selbst, in
die zu beobachtende Situation zu integrieren, um ein tiefgehendes Verständnis für diese
aufzubauen. Verbunden damit ist aber auch die Gefahr, dass die Beobachtungssituation
beeinflusst wird bzw. Schlussfolgerungen durch eine starke Identifikation mit der
Situation zu subjektiv werden.
Eine Variation bzw. Weiterentwicklung der Beobachtung ist die Aktionsforschung,
bei der der Beobachter gleichzeitig beobachtet und aktiver Teilnehmer an den zu untersuchenden soziotechnischen Fragestellungen ist. Die Beobachter sind damit gleichzeitig
„Datenlieferant“ und aktiv in die untersuchten Projekte eingebunden, sowohl in die
Planung als auch in die Durchführung und Auswertung (Flick et al. 2005). Die Aktionsforschung erfordert vom Beobachter viel Erfahrung und Gefühl für die Situation, um
einerseits akzeptiert zu werden und andererseits die Untersuchungsbedingungen nicht zu
stark zu beeinflussen.
Das Experiment
Für die Beschreibung von Phänomenen zum soziotechnischen System kann sich auch
des Experiments bedient werden. Dabei wird eine relevante Situation nachgebildet, in
der der Nutzer entsprechend handeln muss. Das Experiment zeichnet sich durch Planbarkeit, Wiederholbarkeit und Variierbarkeit aus. Über eine Hypothese werden unabhängige
Variablen identifiziert (z. B. Nutzer die ein Handy neben der Kommunikation auch
für die Navigation verwenden), deren Veränderung (Eigenschaften der Navigation
werden variiert, z. B. durch Sprach- oder Vibrationsunterstützung) zu Veränderung der
abhängigen Variablen führt (Adaption des Nutzungsverhaltens durch den Nutzer in
unbekannten Umgebungen). Das Experiment ist zur Datenerhebung im Allgemeinen
gekoppelt mit Methoden der Beobachtung und des Interviews, um vom Handelnden
6
Nutzerbedürfnisse
165
einerseits die Informationen zu erhalten und andererseits den Untersuchungskontext zu
spezifizieren.
Die Herausforderung im Experiment liegt in der Gestaltung der Umgebungssituation.
Laborumgebungen als künstliche Umgebungen vernachlässigen nicht nur die Lebensund Handlungssituation des Nutzers respektive des Probanden, in der dieser eigentlich
agieren soll, sondern auch, dass sein emotionaler Zustand durch andere Einflussfaktoren
unabhängig vom Experiment beeinflusst ist. Aus dem Bewusstsein der Künstlichkeit der
Situation verändert sich die Reaktion des Probanden, auch weil sie einen natürlichen
Habitus nicht zulassen. Experimente im Feld umgehen solche Herausforderungen, lassen
sich aber möglicherweise nicht mehr so gut steuern, da die Umgebungsbedingungen
variieren können. Hierdurch sind auch statistische Effekte in der Datenerhebung
­möglich.
6.4.3Herausforderungen bzw. Fehlerquellen
Auch für die Ergebnisse aus der empirischen Sozialforschung muss die Validität (Gültigkeit) und Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Ergebnisse nachgewiesen werden. Aufgrund
der Methodencharakteristik liegt bei qualitativen Untersuchungsmethoden der Fokus auf
der Validität, bei quantitativen Verfahren gilt es zudem die Reliabilität abzusichern.
Untersuchungsergebnisse können durch Mängel oder unbeabsichtigte Fehler verfälscht
werden, sodass keine angemessene Beantwortung der Forschungsfrage möglich ist. Auf
mögliche Fehlerquellen vor allem in der Datenerhebung und Datenauswertung soll kurz
eingegangen werden. Im Rahmen der Datenerhebung bei qualitativen Untersuchungsmethoden verfälschen vor allem Einflüsse durch den Interviewer. Interviewer und Befragter
stehen in einer Kommunikationsbeziehung, die Aussagen des Befragten werden nicht
nur den ersten Eindruck, sondern auch durch Mimik, Gestik, Körpersprache, Tonfall etc.
geprägt, was zu einer Beeinflussung (Bias) führen kann. Unterschwellig kommunizierte
Erwartungshaltungen des Interviewers beeinflussen ungewollt die Ergebnisse im Sinne
einer Bestätigung der Hypothese.
Auch Versuchspersonen selbst antworten aus einer Wert- und Normenvorstellung
heraus, die dem Versuchsleiter üblicherweise nicht bekannt sind. So entstehen leicht
Meinungsäußerungen, die eher einer sozialen Erwünschtheit als die reale Meinung der
Versuchsperson wiederspiegeln.
Ein ähnlicher Effekt ist für die Beantwortung von Fragebögen für quantitative Untersuchungen bekannt. Versuchspersonen reagieren z. T. nicht adäquat und flexibel, sondern
folgen Mustern und Schemata in der Beantwortung (response set), was zur sogenannten
„ja-Sager-Tendenz“ führt. Solche bekannten Effekte gilt es daher durch die Gestaltung
der Fragebögen von vorneherein zu vermeiden (Henecke 1999), indem z. B. die
Antwortlogik (eher zustimmend, eher ablehnend) immer wieder verändert wird.
In der Datenauswertung für quantitative Untersuchungen zeigt sich die Übersetzung von sprachlichen Aussagen (nie, selten, oft, sehr oft) in konkrete Zahlen als eine
166
K. Paetzold
Schwierigkeit. Es gilt zu prüfen, ob der Intensitätsabstand beispielsweise zwischen „nie“
und „selten“ genau so groß ist wie zwischen „oft“ und „sehr oft“. Schwankungen ergeben
sich allein daraus, dass jeder Befragte ein anderes Verständnis für diese Kategorien hat.
Am Ende suggerieren produzierte Zahlenwerte eine Genauigkeit, die durch die textbasierte Erfassung möglicherweise nur bedingt erzeugt werden kann. Eine Pseudogenauigkeit wird zudem durch die Anzahl der Stellen nach dem Komma provoziert. Hier
ist mit gesundem Augenmaß zu prüfen, wie viele Stellen nach dem Komma wirklich
sinnvoll sind und zur Aussage beitragen (Henecke 1999).
Auch statistische Methoden wie der Signifikanztest oder Korrelationsfaktoren gilt
es in ihrer Verwendung zu hinterfragen. Es muss differenziert werden, ob mit diesen
Methoden Aussagen über die Hypothese abgeleitet werden sollen oder als Messverfahren
für die Güte der Ergebnisse dienen. Statistisch signifikante Zusammenhänge bilden
nicht zwangsläufig kausale Erklärungsmuster ab. Es gilt, die Berechnungsansätze in die
Bewertung der Ergebnisse mit einzubeziehen.
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Nutzerbedürfnisse
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7
Entwickeln der Anforderungsbasis:
Requirements Engineering
Beate Bender und Kilian Gericke
Produktentwicklungsvorhaben stellen ebenso wie die Produkte selbst komplexe Systeme
dar, die aus einer großen Anzahl von untereinander vernetzten Elementen und Teilsystemen bestehen sowie einer hohen Dynamik unterliegen. Im Sinne der Arbeitspsychologie stellt das Entwickeln von Produkten „komplexes Problemlösen“ dar (Hacker 1998).
Aufbauend darauf können zur Klassifikation der Anforderungshöhe von Konstruktionsaufträgen die Kriterien Widersprüchlichkeit der Ziele, Komplexität, Intransparenz, Anzahl der
Freiheitsgrade zur Entwicklung der Lösung, Dynamik der gegebenen Rahmenbedingungen
sowie dem erforderlichen Wissen herangezogen werden (Schroda 2000). Insbesondere
die Entwicklung innovativer Lösungen durch die iterative Konkretisierung von Problemdefinition und Lösungsansatz (vgl. Abschn. 3.1.4 Koevolution von Problem und Lösung,
(Maher et al. 1996; Dorst und Cross 2001)) verursacht für die Entwickler ein hohes Maß
an Intransparenz sowohl in Bezug auf die zu entwickelnde Lösung als auch auf den zu verfolgenden Lösungsweg.
Eine hohe Dynamik beim Entwickeln ist unter anderem gekennzeichnet durch sich
während der Problembearbeitung ändernde Rahmenbedingungen (Bender 2004; Rückert
1997; Rückert et al. 1997) wie z. B. sich durch neue Erkenntnisse, Testergebnisse, sich
wandelnde Wettbewerbssituation oder – z. B. durch die Weiterentwicklung der Lösung
identifizierte – geltende Normen. Hinzu kommt, dass komplexe Entwicklungsvorhaben
in interdisziplinärer Zusammenarbeit innerhalb von Kooperationsnetzwerken erfolgen.
B. Bender (*)
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
K. Gericke
Universität Rostock, Rostock, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_7
169
170
B. Bender und K. Gericke
Die Entwicklung findet häufig abteilungs- oder auch unternehmensübergreifend statt
(Franke 2011; Ehrlenspiel und Meerkamm 2017). Eine zeitparallele Bearbeitung ermöglicht darüber hinaus die Verkürzung der Entwicklungszeit. Das Entwicklungsvorhaben
wird in Teilprojekte und Arbeitspakete zerlegt, um sie von unterschiedlichen Fachdomänen gemäß eines übergeordneten Projektplans (vgl. Kap. 17 Projektmanagement)
arbeitsteilig zu bearbeiten. Die Teilergebnisse müssen entsprechend ihrer logischen
und zeitlichen Anhängigkeiten zur Gesamtlösung zusammengeführt werden. Dieser
Vorgang beinhaltet insbesondere für komplexe Systeme ein Fehlerrisiko im Hinblick
auf die Konsistenz der Ziele untereinander und damit auch für die Konsistenz der Teillösungen innerhalb der der Gesamtlösung.
Vor dem Hintergrund der genannten Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen
kommt dem kontinuierlichen Abgleich zwischen Problem, Ziel und Lösungskonzept
eine zentrale Rolle in der Produktentwicklung zu. Dies erfordert eine möglichst gute
Operationalisierung aller Ziele in Form messbarer Anforderungen, welche die Arbeitsgrundlage des Entwicklungsteams darstellen. Die arbeitsteilige Bearbeitung der
Anforderungen im interdisziplinären, verteilten Kooperationsnetzwerk erfordert, dass
alle aktuell gültigen Anforderungen für alle Beteiligten zugänglich dokumentiert werden.
Schnittstellen zu anderen Datenquellen (z. B. ERP-, PDM oder CAD-Systeme) und
Unternehmensprozessen müssen widerspruchsfrei gestaltet und doppelte Datenhaltung
vermieden werden (vgl. Kap. 8 Arbeiten mit Anforderungen und Kap. 25 Virtuelle
Produktentwicklung). Die ebenfalls parallel zum Entwicklungsprozess stattfindende
Validierung und Verifikation muss möglichst früh zeigen, inwieweit die in der gewählten
technischen Lösung umgesetzten Anforderungen geeignet sind bzw. sein könnten, das
vorliegende Entwicklungsproblem zu lösen (vgl. Kap. 17 Projektmanagement und
Kap. 18 Qualitätssicherung in der Entwicklung und Konstruktion).
In der ersten Arbeitsphase eines Entwicklungsprojekts findet daher das Erarbeiten
einer möglichst stabilen Anforderungsbasis statt, um gemeinsam mit allen Stakeholdern
ein entsprechend dem Informationsstand vollständiges, eindeutiges und widerspruchsfreies Zielsystem zu repräsentieren. Dabei ist das Mandat zu berücksichtigen, das der
Entwicklungsauftrag beinhaltet. Das Mandat bezeichnet Art und Umfang der Interpretationsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheit des Entwicklungsteams, die bei der
Lösung des Problems, definierter Teilziele oder Teillösungen genutzt werden dürfen.
Ausgehend vom initialen Zielsystem wird die initiale Anforderungsbasis über den
gesamten Projektverlauf weiterentwickelt (Abb. 7.1). Sie dient allen Stakeholdern in
allen Entwicklungsphasen als Vergleichsgröße für die Beurteilung des Projekterfolgs.
Gegenstand dieses Kapitels ist die Erarbeitung der initialen Anforderungsbasis in den
frühen Phasen eines Entwicklungsprojekts. Die Aktivitäten beim projektbegleitenden
Arbeiten mit der Anforderungsbasis, ihre Einbettung in weitere Unternehmensprozesse,
wie insbesondere in den Lasten-/Pflichtenheftprozess, sowie Unterstützungsmöglichkeiten durch Tools finden sich in Kap. 8 Arbeiten mit Anforderungen.
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
171
7.1Zielsystem des Entwicklungsvorhabens
Das Zielsystem für ein Entwicklungsvorhaben besteht aus produktbezogenen Zielen,
Kosten- sowie Terminzielen (Abb. 7.2). Die technische Produktspezifikation ist dabei ein
wichtiger Bestandteil des Zielsystems. Sie reicht jedoch nicht aus, um die Anforderungen
an die Lösung des Entwicklungsproblems vollständig und bestmöglich umzusetzen.
Kosten- und Terminziele sowie die Rahmenbedingungen, unter denen alle spezifizierten
Ziele erreicht werden müssen, haben einen ebenso großen Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten für das Produkt.
Übereinstimmend wird in der DIN ISO EN 9000 (2015) die technische Spezifikation allgemein als das Dokument bezeichnet, in dem Anforderungen festgelegt werden. Diese können
sich auf Produkte beziehen (Produkt- oder Leistungsspezifikation), aber auch auf Tätigkeiten.
Beispiele hierfür sind Verfahrens- und Prozessdokumentationen oder Testspezifikationen.
Zwischen den Zielen und Teilzielen sowie den Rahmenbedingungen für einen Entwicklungsauftrag existieren bei der Umsetzung in eine konkrete Lösung häufig Zielkonflikte,
d. h. konkurrierende Wechselwirkungen. Die Verbesserung eines Zielwerts kann für eine
definierte Lösung mit der Verschlechterung eines oder mehrerer anderer Zielwerte verbunden
sein, etwa wenn die Leistungssteigerung eines Motors bei einfacher Skalierung auch dessen
Gewicht erhöht. Die gleichzeitige Umsetzung zweier oder mehrerer Ziele kann sich gegenseitig u. U. ganz ausschließen, beispielsweise wenn verfügbare nachhaltige Materialien
für eine ökologischere Ausrichtung nicht die geforderten mechanischen Eigenschaften
aufweisen. Konflikte in der Zielerreichung hängen also von der Wahl und Umsetzung der
Lösung ab. Typischerweise können viele dieser Wechselwirkungen erst nach dem Projektbeginn identifiziert werden, da entweder technische Expertise oder die Konkretisierung
möglicher Lösungskonzepte erforderlich ist, um diese Zielkonflikte zu erkennen oder zu
quantifizieren. Eine erfolgreiche Durchführung jedes Entwicklungsvorhabens erfordert
die Ermittlung eines initialen Zielsystems unter Berücksichtigung aller Ziele, das dann als
Querschnittsaufgabe begleitend zum Entwicklungsprozess aktualisiert und nachverfolgt
wird. Ausgehend vom initialen Zielsystem zum Zeitpunkt t0 wird das Zielsystem parallel
zum Entwicklungsprozess fortlaufend weiterentwickelt und regelmäßig entsprechend neuer
Erkenntnisse zu den Zeitpunkten t1, t2, .... bis tn dokumentiert (Abb. 7.1).
Abb. 7.1 Initiales Zielsystem und Weiterentwicklung
172
B. Bender und K. Gericke
7.1.1Produktbezogene Ziele, Terminziele und Kostenziele
Jedes Entwicklungsvorhaben ist zusätzlich zu den produktbezogenen Zielen an Terminziele und Kostenziele gebunden (Abb. 7.2). Die produktbezogenen Ziele zp spezifizieren das
Produkt, das einen definierten Kundennutzen erfüllen soll (vgl. Kap. 6 Nutzerbedürfnisse
und Kap. 5 Produktplanung). Die Terminziele zT legen die Terminkette bis zur Auslieferung
an den Kunden fest (vgl. Kap. 17 Projektmanagement), die Kostenziele zK für das Gesamtsystem bzw. Teilsysteme oder -funktionen werden im Sinne des Target Costing aus dem verhandelten bzw. angestrebten (Markt-)Preis des Produkts heruntergebrochen (vgl. Kap. 21
Kostenmanagement). Die produktbezogenen Ziele, Termin- und Kostenziele sind nicht
unabhängig voneinander. Ein Produkt, das beispielsweise aus Sicherheitsgründen hohen
Qualitätsansprüchen genügen muss, kann höhere Herstellkosten oder einen aufwendigeren
Fertigungs- und Montageprozess bedingen. Umgekehrt müssen bei einem möglichst kostengünstigen Produkt in der Regel Kompromisse im Hinblick auf dessen Qualität oder Lieferzeit gemacht werden. Die Ziele von Entwicklungsvorhaben konkurrieren also miteinander,
sie können nicht gleichzeitig oder unabhängig voneinander für eine gewählte Lösung
optimiert werden. Aufgrund dieser für die Produktentwicklung typischen Zielkonflikte muss
für jede Entwicklungsaufgabe in einem definierten Entwicklungskontext (siehe Abschn. 4.5
Entwicklung kontextspezifischer Produktentwicklungsprozesse) immer ein spezifischer
Kompromiss aus diesen konkurrierenden Zielsetzungen gefunden werden (Song et al.
2018). Diese Kompromissfindung erfordert die Beteiligung aller relevanten Stakeholder zur
Priorisierung der Anforderungen im Rahmen eines Aushandlungsprozesses. Ein wichtiger
Stakeholder ist der spätere Nutzer des Produkts. Weitere, bei der Entwicklung des Zielsystems zu berücksichtigende Stakeholder können über den gesamten Produktlebenszyklus
(Abschn. 4.1 Produktlebenszyklus und Produktentstehungsprozess) im und außerhalb des
Unternehmens zu finden sein. Beispiele hierfür sind die unternehmensinterne oder -externe
Produktion, Produktmanager oder Projektleiter benachbarter Produktlinien, Mitglieder von
Normen und Richtlinienausschüssen, Vertreter aus dem Umweltschutz oder auch bestimmte
Nutzergruppen wie etwa Behindertenverbände.
Ergänzend zu den Entwicklungszielen müssen die Rahmenbedingungen bekannt sein,
unter denen das Produkt entwickelt, eingesetzt, genutzt, gewartet und instandgehalten
sowie entsorgt werden muss. Dies können Normen und Richtlinien zur Auslegung
und Berechnung, Vorgaben aus Qualitätsmanagementsystemen, zu berücksichtigende
Umgebungsbedingungen oder Kennzeichnungssysteme für das Recycling sein (siehe
Abschn. 7.2.3 Arten von Anforderungen).
Entwicklungsteams bestehen in der Regel aus einer Vielzahl von Personen aus unterschiedlichen fachlichen Domänen, die teilweise verteilt über unterschiedliche Standorte
oder auch Organisationen arbeiten (z. B. Zulieferer, Dienstleister, Berater). Während
des Entwicklungsprojekts werden alle Einzelanforderungen zur Bearbeitung auf diese
Personen und Organisationseinheiten verteilt (vgl. Abschn. 7.3.3) und stellen deren
Arbeitsgrundlage dar. Deshalb müssen alle produktbezogenen Ziele sowie die Terminund Kostenziele eines Entwicklungsvorhabens in der Gesamtheit der Anforderungen an
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
173
Abb. 7.2 Termin-, kosten- und produktbezogene Ziele
das zu entwickelnde Produkt repräsentiert werden. Nur so kann sichergestellt werden,
dass die Kompromissfindung zwischen konkurrierenden Zielen konsistent im gesamten
Entwicklungsteam und damit auch in allen Teillösungen des Lösungskonzeptes
umgesetzt wird. Wird etwa aufgrund der funktionalen Arbeitsteilung in einem Unternehmen in der Abteilung für die mechanische Auslegung der Komponenten höchste
Priorität auf die Modularisierung und Standardisierung des Produkts gelegt, dagegen
im Bereich zur Entwicklung der steuerungstechnischen Lösung eine möglichst detailgenaue Anpassung an Kundenwünsche nachverfolgt, führt das zu einem inkonsistenten
Lösungskonzept. Für das Produkt als Ganzes hätte dies zur Folge, dass weder die
Modularisierung noch die kundenindividuelle Anpassung bestmöglich umgesetzt
würden. Am Markt könnte sich ein solches Produkt damit weder gegen durchgängig
modular gestaltete Produkte noch gegen kundenindividuell angepasste Sonderlösungen
behaupten.
Nicht alle Anforderungen und Randbedingungen sowie deren Wechselwirkungen
können beim Start der Entwicklungsaktivitäten vollständig erfasst werden. Neben
Definitionslücken, d. h. noch nicht (explizit) festgelegten Anforderungen, bestehen
in dieser frühen Phase auch Wissenslücken, die erst mit den Erkenntnissen aus der
Konkretisierung der Lösung geschlossen werden können (Hastings, D. und McManus,
H. 2005). Dies können zum einen weitere Rahmenbedingungen, Anforderungen an die
technische Umsetzung oder Wechselwirkungen mit anderen Teilsystemen sein. Beispielsweise aus einem gewählten Lösungsprinzip, das als Antriebsenergie Druckluft
vorsieht, ergeben sich neue zu berücksichtigende konstruktive Anforderungen an die
Ausführung und Dichtheit des Systems, geltende Normen und Richtlinien sowie sicherheitstechnische Aspekte. Zum anderen werden Entwicklungsziele durch Kooperationsbeziehungen, etwa mit anderen Unternehmensbereichen, externen Lieferanten oder
Zulassungsbehörden modifiziert oder Rahmenbedingungen neu definiert. Auch können
Zielkonflikte während der Bearbeitung des Entwicklungsauftrags durch die Wahl
174
B. Bender und K. Gericke
bestimmter Lösungsprinzipien oder ihrer technischen Ausgestaltung erst erkannt werden.
Der Umgang mit Zielkonflikten und das Arbeiten mit Anforderungen sind somit entwicklungsbegleitende Aktivitäten, die nicht am Ende der ersten Arbeitsphase „Klären
der Aufgabe“ abgeschlossen werden dürfen. Diese Aufgabe kann nur durch Kooperation
im Entwicklungsteam und mit den anderen Stakeholdern erreicht werden. Aus diesem
Grund wird die Produktentwicklung auch als informationsumsetzender Prozess
charakterisiert, dessen Kernaufgaben die Gewinnung, Verarbeitung und Weitergabe von
Informationen umfasst (Ehrlenspiel und Meerkamm 2017).
7.1.2Modell für Ziel-, Objekt-, Prozess-, und Handlungssystem
Die Ziele eines Produktentwicklungsvorhabens werden durch Aktivitäten, die sich aus
dem Problemlösezyklus herleiten lassen, in Ergebnisse transformiert (vgl. Kap. 3 „Grundlagen methodischen Vorgehens in der Produktentwicklung“). Dabei werden Syntheseund Analyseschritte durchgeführt. Die Ziele werden verwendet, um Lösungskonzepte
zu synthetisieren, die dann durch Analyse wiederum mit den Zielen abgeglichen werden
(Abb. 7.3). Während der Produktentwicklung findet so ein stetiger Informationszuwachs
durch die Weiterentwicklung der Lösung statt. Das Inkrafttreten neuer Normen und
Gesetze, neue Berechnungsmethoden aber auch der technische Fortschritt erfordern einen
ständigen Abgleich der Anforderungen und Lösungen mit den für das Produkt geltenden
Abb. 7.3 Informationszuwachs durch Synthese und Analyse im Produktentwicklungsprozess
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
175
bzw. angenommenen Rahmenbedingungen. Deshalb kann jedes Produktentwicklungsvorhaben als dynamisches System verstanden werden, welches durch Informationsumsetzung
einer stetigen Zustandsänderung unterliegt. Zusätzlich zu den Wechselwirkungen zwischen
produktbezogenen Zielen, Termin- und Kostenzielen beeinflussen die Eigenschaften des
zu entwickelnden Produkts, der entwickelten Zwischenstände sowie der Entwicklungsprozess selbst die Möglichkeiten zur Lösung des Entwicklungsproblems. Sind etwa
bestimmte Ressourcen wie Rohstoffe, Testeinrichtungen oder auch Fachexperten für die
gewählte technische Lösung nicht verfügbar, müssen unter Umständen alternative Lösungen
gefunden werden.
Die Wechselwirkungen zwischen Produkt, Entwicklungsprozess und Entwicklungszielen können in einem Modell dargestellt werden. Zurückgehend auf die zuerst von
Ropohl (2009) im Kontext der Systemtechnik vorgenommenen Definitionen von Handlungssystem, Sachsystem und Zielsystemen entwickelte Negele ein Beschreibungsmodell
für die Produktentwicklung bestehend aus Ziel-, Objekt-, Prozess und Handlungssystem
(Negele 1998). Dieses wurde weiterentwickelt zum integrierten Produktentstehungsmodell
iPeM (Albers et al. 2016), in dem Prozess- und Handlungssystem zusammengefasst sind
(vgl. Kap. 4, Der Produktentwicklungsprozess). Die Relevanz der Wechselwirkungen
der Zielsetzungen für das Risikomanagement in der Produktentwicklung zeigt Neumann
auf, in dem er daraus eine Vorgehensweise zur risikoorientierten Entwicklung innovativer
Produkte herleitet (Neumann 2017). Der in diesen Modellen dargestellte Zusammenhang zwischen dem zu entwickelnden Produkt, den Zielsetzungen und dem menschlichen Handeln im Rahmen eines Entwicklungsprozesses verdeutlichen, dass auch die
Anforderungen für ein bestimmtes Entwicklungsprojekt nie isoliert von übergeordneten
Zielen, Prozessen und handelnden Menschen zu betrachten sind (Abb. 7.4).
Die Wechselwirkungen innerhalb des Systems im Produktentwicklungsvorhaben
lassen sich anhand des folgenden Beispiels veranschaulichen. Bei der Entwicklung
eines Schienenfahrzeugs beinhaltet das Zielsystem (z. B. im Ausschreibungstext) die
Abb. 7.4 Wechselwirkungen im Zielsystem eines Entwicklungsprojekts
176
B. Bender und K. Gericke
Anforderung, dass der Zug zu einem definierten Zeitpunkt mit definierten Eigenschaften
wie der erreichbaren Höchstgeschwindigkeit bei einer maximalen Achslast zugelassen
an den Kunden zu übergeben ist. Es könnte am zu entwickelnden Zug (Objektsystem)
nach Vertragsabschluss etwa der Einbau von Schiebetritten zur Verringerung des Spalts
zwischen Zug und Bahnsteig als erforderlich für die Zulassung des Zuges erkannt
werden. Der Einbau von Schiebetritten geht mit einer Veränderung der Masse bzw.
Achslasten und damit der fahrdynamischen Eigenschaften des Zuges einher. Daraus
wiederum ergeben sich Anforderungen an die maximal erlaubte Masse und erforderliche
Leistung vieler weitere Systeme im Zug, um die zulässige Gesamtmasse nicht zu überschreiten. Je nach Zeitpunkt des Feststellens dieser zusätzlichen Anforderungen können
signifikante Lieferzeitverzögerungen und damit u. U. Strafzahlungen wegen Terminverzug die Folge sein. Es müssen demnach Maßnahmen (im Handlungssystem) im Umgang
mit diesen Änderungen definiert werden, die wiederum Einfluss auf die Ausgestaltung
des technischen Systems (Objektsystem) und evtl. auch auf die erreichbaren Entwicklungsziele (Zielsystem) haben können.
7.1.3Rolle von Zielen und Anforderungen in der
Produktentwicklung
Nach Ehrlenspiel sind Ziele Soll-Vorstellungen des Auftraggebers, die unscharf sein
können. Als Beispiele werden genannt „Die Spülmaschine soll leiser sein als alle der
Konkurrenz!“. Für die Durchführung des Entwicklungsprojekts müssen diese Ziele
in bearbeitbare Anforderungen umformuliert werden. Im angeführten Beispiel könnte
diese lauten „Das Geräusch der Spülmaschine darf 70 dBA in 2 m Abstand im Normraum nicht übersteigen.“ (Ehrlenspiel 2009). Dabei enthält die Umformulierung in
Anforderungen zwei wesentliche Aspekte. Zum einen wird das unspezifische Ziel durch
die fachliche Expertise des Entwicklungsteams konkretisiert (70 dBA). Zum anderen
stellt die Formulierung sicher, dass anhand objektiv messbarer Kriterien eindeutig
festgestellt werden kann, ob und in welchem Umfang die Anforderung durch das entwickelte Produkt erfüllt wird.
Aufgabe des Entwicklungsteams ist also die Entwicklung der technisch oder in
sonstiger Hinsicht unscharfen Zielvorstellungen eines Auftraggebers zu voneinander
abgrenzbaren Anforderungen, die den bearbeitenden Personen bzw. Organisationseinheiten zugeordnet werden können. Für die Ausarbeitung der Ziele oder schon durch
den Auftraggeber formulierten Anforderungen in mess- und prüfbaren Kriterien ist die
Expertise des Entwicklungsteams erforderlich. Anforderungen, deren Erfüllung im
Rahmen der Validierung und Verifikation nicht ermittelbar ist, müssen umformuliert oder
aus der Anforderungsbasis entfernt werden. Darüber hinaus muss im Rahmen der jeweils
aktuellen Erkenntnisse sichergestellt werden, dass die Summe aller Anforderungen die
Gesamtheit der Entwicklungsziele incl. der Nutzerbedürfnisse vollständig repräsentieren.
Das nachträgliche Ergänzen von übersehenen oder vorhersehbaren Anforderungen kann
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
177
aufgrund der oben genannten Wechselwirkungen zwischen produktspezifischen Zielen,
Termin- und Kostenzielen dazu führen, dass eine gewählte Lösung als nicht geeignet zur
Erfüllung der Entwicklungsziele verworfen werden muss.
Die Anforderungen stellen über die gesamte Entwicklungszeit die Arbeitsgrundlage für
jedes Entwicklungsprojekt dar. Sie dienen in allen Phasen eines Entwicklungsvorhabens
als Messgröße dafür, inwieweit die Entwicklungsziele erreicht werden bzw. aufgrund der
aktuellen Erkenntnisse mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erreicht werden könn(t)
en. Entwicklungsziele, die nicht in den Anforderungen repräsentiert werden, können nicht
systematisch über alle Projektphasen und bis auf alle Konkretisierungsebenen nachverfolgt werden. Widersprüche zu bestehenden (Teil-)Zielen oder im Rahmen der Entwicklung
identifizierten neuen Zielen können somit oft nicht (rechtzeitig) identifiziert werden. Auch
übergeordnete Prioritätensetzungen wie z. B. die Umsetzung von Modularisierungskonzepten oder Wartungs- und Instandhaltungsanforderungen können für das technische
Gesamtsystem nur über die Analyse und Umsetzung von spezifischen Anforderungen für den
konkreten Entwicklungsauftrag gesteuert werden.
Änderungen von Anforderungen – und damit der Erreichbarkeit von Zielen – führen
aufgrund der Komplexität des Gesamtsystems sowie deren Wechselwirkungen untereinander insbesondere in späten Projektphasen zu überproportionalen hohen Änderungskosten und -aufwänden in allen Unternehmensbereichen (Giffin et al. 2009). Dies lässt
sich mit Hilfe des „Dilemma der Produktentwicklung“ (Ehrlenspiel und Meerkamm
2017) anschaulich darstellen (vgl. Abb. 7.5). Mit fortschreitender Ausgestaltung des
Produkts und der damit verbundenen Aktivitäten in anderen Unternehmensfunktionen
ist eine zunehmende Anzahl von Personen und weiterer Unternehmensfunktionen von
Abb. 7.5 Dilemma der Produktentwicklung
178
B. Bender und K. Gericke
den Inhalten der Entwicklung betroffen, die bei Anforderungsänderungen jeweils ihren
Arbeitsanteil prüfen und ggf. anpassen oder gar neugestalten müssen. Beispiele für
solche durch Änderungen betroffene Aktivitäten können sein:
• Erarbeiten technischer Konzepte und Schnittstellen zu weiteren Teilfunktionen des
Produkts,
• Auslösung von Bestellungen im Einkauf,
• Planung und Vorbereitung der Produktion,
• Durchführung von Kundengesprächen und Übergabe von Informationsmaterial durch
den Vertrieb,
• Erarbeitung einer Ressourcenplanung im Controlling.
Mit zunehmendem Arbeitsfortschritt der zum Zeitpunkt der Anforderungsänderung
durchgeführten Arbeiten steigt der Aufwand zur Einarbeitung der dadurch verursachten
Änderungen am Produkt, den Berechnungen oder begleitenden Unterlagen wie Wartungsund Instandhaltungspläne oder Zertifizierungsdokumente. Zudem erhöht das nachträgliche Ändern in bestehenden Zeichnungen, Berechnungen oder sonstigen Daten mit
zunehmendem Arbeitsfortschritt die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu verursachen.
Die initiale Transformation von oft vagen Zielen in überprüfbare, möglichst widerspruchsfreie Anforderungen findet in der ersten Phase des Produktentwicklungsprozesses
statt. Dem Klären der Aufgabe kommt damit eine zentrale Rolle in der Produktentwicklung zu, da hier die entscheidenden Weichen für den Erfolg des zu entwickelnden
Produkts gestellt werden. Die initiale Anforderungsbasis muss über den gesamten Produktentwicklungsprozess weiter ausgearbeitet und konkretisiert werden (vgl. Abb. 7.1). Die
systematische Nachverfolgung von Zielen und daraus abgeleiteten Anforderungen, ihrer
Wechselwirkungen im Ziel-, Objekt-, und Handlungssystem (vgl. Abb. 7.4) sowie die Art
und Weise ihrer Umsetzung als Beitrag zum Gesamtsystem (vgl. Abb. 7.2) dient dabei als
Steuerungsinstrument und Messgröße für den Erfolg des Entwicklungsvorhabens.
7.2Entwickeln der initialen Anforderungsbasis
Im Rahmen eines Entwicklungsprozesses findet die Umsetzung der Entwicklungsziele in
ein Produkt statt. Entwicklungsprozesse können nach unterschiedlichen Kriterien gestaltet
werden (vgl. Kap. 4 Produktentwicklungsprozess). Die Ausgestaltung in einem Unternehmen kann mehr oder weniger detailliert vorgegeben oder reglementiert sein. Wie in
Kap. 4 dargestellt, folgt jeder Entwicklungsprozess einer bestimmten, an den Phasen des
Problemlöseprozesses orientierten Logik (vgl auch VDI 2221 2018). Diese ist unabhängig
von den durch den Entwicklungskontext bestimmten Rahmenbedingungen, festgelegten
Prozessschritten oder Meilensteinen. Die erste Phase eines Entwicklungsvorhabens besteht
danach im Klären der Aufgabe. Das Ergebnis dieser Phase ist eine dokumentierte initiale
Anforderungsbasis. Sie dient dem Entwicklungsteam als Ausgangspunkt für die Suche
nach Lösungsmöglichkeiten in der darauf folgenden Konzeptphase. Ein Praxisbeispiel
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
179
für das Erarbeiten der initialen Anforderungsbasis für einen Akkuschrauber in Form eines
Workshops beschreibt Baumgart (Baumgart 2016).
Ziel dieser ersten Arbeitsphase „Klären der Aufgabe“ ist es, auf Grundlage der im
Entwicklungsauftrag benannten Entwicklungsziele (Abb. 7.2) mit Hilfe der technischen
Expertise des Entwicklungsteams die initialen Anforderungen an das Produkt zu ermitteln,
zu analysieren und ggf. in Abstimmung mit allen Stakeholdern entsprechend der Prioritäten zwischen den zu erreichenden Zielen anzupassen oder zu konkretisieren. Damit wird
das Entwicklungsvorhaben mit den zu diesem Zeitpunkt bekannten Rahmenbedingungen
so strukturiert und geplant, dass konsistente übergeordnete produktbezogene Ziele, Terminund Kostenziele erreicht werden können. Die Zielsetzungen, Anforderungen oder Rahmenbedingungen eines Entwicklungsprojekts ändern sich aufgrund äußerer Einflüsse wie
geänderten Kundenanforderungen oder Inkrafttreten neuer Normen, aber auch durch den
im Verlaufe der Entwicklung erarbeiteten Erkenntnisfortschritt, dies könnte z. B. ein erst
durch Festlegung von geometrischen Kenngrößen ermittelbarer Materialkennwert sein. Das
initiale Zielsystem wird so über den Projektverlauf kontinuierlich konkretisiert und wenn
nötig angepasst (Abb. 7.6, vgl. Abb. 7.1). Dabei müssen unter Beteiligung aller relevanten
Stakeholder die Regeln des Änderungsmanagements Anwendung finden (siehe auch
Kap. 20 Technisches Änderungsmanagement).
In den darauffolgenden Entwicklungsphasen werden aufgrund des erzielten Erkenntnisfortschritts weitere, detaillierte Anforderungen oder Rahmenbedingungen ermittelt
und die initiale Anforderungsbasis wird schrittweise ergänzt, konkretisiert und vervollständigt. Änderungen insbesondere initialer Anforderungen müssen deshalb immer im
Hinblick auf ihre Wechselwirkungen mit der gewählten Lösung sowie innerhalb des
Zielsystems überprüft werden. Dies bedeutet umgekehrt, das beim Klären der Aufgabe
Abb. 7.6 Ableiten der Anforderungsbasis aus dem Zielsystem
180
B. Bender und K. Gericke
eine sorgfältige und gründliche Ermittlung aller produkt-, termin-, und kostenbezogener
Anforderungen von zentraler Bedeutung für den Entwicklungserfolg ist, um vermeidbare
spätere Änderungen auszuschließen. Eine eindeutige Klärung aller offenen Punkte und
Widersprüche aufgrund fehlenden Wissens ist zu diesem Zeitpunkt jedoch oft noch nicht
möglich. In diesem Fall werden zunächst Annahmen getroffen, die im Entwicklungsverlauf bestätigt oder korrigiert werden. Auch aus diesem Grund müssen die initialen
Anforderungen und die Entwicklungsplanung dokumentiert und während aller folgenden
Arbeitsphasen ständig nachverfolgt und aktualisiert werden.
7.2.1Entwicklungsauftrag
Der Start eines Entwicklungsvorhabens erfolgt mit der Aufgabenstellung – einem internen
oder externen Entwicklungsauftrag. Synonym wird auch der Begriff Projektauftrag oder
Projektcharter verwendet, weil Produktentwicklungen in Unternehmen oft in Form von
Projekten durchgeführt werden (vgl. Kap. 17 Projektmanagement). Der Entwicklungsauftrag ist als Ergebnis der Produktplanung das zentrale Kommunikationsmittel an der
Schnittstelle zur Produktentwicklung. Ein interner Entwicklungsauftrag kommt aus dem
eigenen Unternehmen und kann z. B. durch die Bereiche Marketing, Produktmanagement,
Vertrieb oder auch der Produktion (Betriebsmittelkonstruktion) initiiert werden. Externe
Entwicklungsaufträge können direkt vom Kunden (z. B. im Anlagenbau) erteilt oder
durch einen Kooperationspartner (Systempartner, Entwicklungsdienstleister) ausgelöst
werden. Der Entwicklungsauftrag muss alle entwicklungsrelevanten Informationen enthalten, was neben einer kunden-/marktorientierten technischen Produktspezifikation
auch wirtschaftliche und terminliche Randbedingungen wie z. B. die einzuhaltenden
Termine und Kosten, Personal- und Einsatzmittel, vorgesehener Markt und Umsatz,
sowie Stückzahlen einschließt (Feldhusen 2013; Ehrlenspiel und Meerkamm 2017). In
jedem Fall ist sicherzustellen, dass schriftlich fixiert ist, auf Grundlage welcher produktbezogenen Ziele, Terminziele und Kostenziele die Beauftragung stattfindet und anhand
welcher Kriterien die erfolgreiche Erfüllung des Auftrags gemessen wird. Auch muss
ein Verfahren festgelegt sein, wie das Entwicklungsteam mit Zielkonflikten umgeht, die
unvermeidlich während der Bearbeitung des Entwicklungsauftrags identifiziert werden.
Insbesondere ist zu klären, wer für das Entwicklungsteam interne und/oder externe Verhandlungspartner für den Umgang mit identifizierten Zielkonflikten, der notwendigen
Priorisierung von Zielen und bei der Kompromissfindung sind. Laut DIN muss der Entwicklungsauftrag mindestens folgende Punkte enthalten: „Zielsetzung, erwartete Ergebnisse, Randbedingungen, Verantwortlichkeiten, geplante Ressourcen, übereinstimmende
Willensbekundung des Auftraggebers und des Projektverantwortlichen“ (DIN 699015:2009-01). Die DIN ISO 21500:DIN ISO 2150-02 (DIN ISO 21500:2016-02) ergänzt,
dass der Entwicklungsauftrag „das Projekt mit den strategischen Zielsetzungen der
Organisation“ verknüpft und „etwaige einschlägige Spezifikationen, Verpflichtungen,
Annahmen und Randbedingungen beinhalten“ sollte. Zur Klärung und Präzisierung des
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
181
Entwicklungsauftrages sollten deshalb Fragen zu den Projektbeteiligten, zum Hintergrund
und Nutzen des Projektes, zum Projektumfang (Liefergegenstände), zu den Grenzen des
Projektes, zum Projektaufwand und zu den Projektrisiken beantwortet und dokumentiert
werden (Meyer und Reher 2016). Damit die Entwicklungsaufgabe umfassend verstanden
wird, sind Zusatzinformationen z. B. über das Nutzenversprechen, zukünftige Entwicklungen oder die Hintergründe des Zustandekommens von Anforderungen erforderlich (Abb. 7.7). Die Bereitstellung dieser Informationen erhöht zudem die Akzeptanz des
Entwicklungsauftrages bei den involvierten Entwicklern und vergrößert ihre Weitsicht
(Echterhoff 2016) (Abb. 7.7).
In der Praxis ist ein heterogenes Bild hinsichtlich der Art und Informationsqualität
der Auftragsdokumente zu beobachten. Ursache ist die Vielfalt denkbarer Entwicklungsprojekte und Rahmenbedingungen, unter denen diese durchgeführt werden können.
Form und Umfang der Entwicklungsaufträge können von der mündlichen Auftragserteilung bis hin zu mehreren hundert Seiten umfassenden Aufgabenbeschreibungen und
Abb. 7.7 Übergabeinformationen und -dokumente im Entwicklungsauftrag
182
B. Bender und K. Gericke
ganze Ordner füllenden Vertragspapieren reichen (Jakoby 2015). Einfluss auf die Unterschiede nimmt der Entwicklungskontext, in dem Faktoren wie Unternehmensgröße,
Projektgröße, Neuheitsgrad oder das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer subsummiert werden (Bender und Gericke 2016).
Das Vorgehen in dieser Arbeitsphase wird vom Verhältnis zwischen Auftraggeber,
Auftragnehmer und Nutzer des Produkts bestimmt. Handelt es sich um den Businessto-Consumer Markt (B2C, auch Konsumgütermarkt), so ist der Kunde aus Sicht des
Unternehmens anonym. In diesem Fall werden in der Regel Kundenbefragungen oder
Marktstudien zur Identifikation von Kundenbedürfnissen und Rahmenbedingungen
durchgeführt (siehe Kap. 6), die von einem unternehmensinternen Bereich wie dem
Marketing oder Produktmanagement oder auch von externen Dienstleistern zu für das
Unternehmen verwertbaren Zielen oder auch ersten konkreten Anforderungen ausgewertet werden. Auch hier muss geklärt werden, welcher interne Repräsentant des
Unternehmens der Verhandlungspartner für das Entwicklungsteam beim Klären der
Aufgabe ist. Änderungen des Entwicklungsauftrags dürfen keinesfalls „auf Zuruf“
(informell) oder nach eigener Interpretation der Kundenanforderungen durch das Entwicklungsteam vorgenommen werden. Die „Interpretation“ von Kundenanforderungen
kann Auswirkungen haben, die in der Entwicklung zunächst nicht bekannt sind. Dies
können beispielsweise Auswirkungen auf die Abgrenzbarkeit des zu entwickelnden
Produkts von Wettbewerbsprodukten sein, durch die Abmessungen oder Masse veränderte Verpackungs- und Versandkosten oder auch der durch die Wahl eines anderen
Fertigungsverfahrens neue mögliche Zeitpunkt des Markteintritt des Produkts sein.
Im Business-to-Business Markt (B2B, auch Investitionsgütermarkt oder Anlagenbau)
wird der Entwicklungsauftrag direkt durch einen spezifischen Kunden erteilt. Hier ist
dem Entwicklungsauftrag häufig ein Ausschreibungsverfahren mit anschließenden Auftragsverhandlungen vorausgegangen. Die unternehmensinternen Repräsentanten, d. h.
die Verhandlungspartner des Entwicklungsteams sind dann meist der Vertrieb oder das
Produktmanagement. Eigenständige technische Verhandlungen mit dem Auftraggeber sind
dem Entwicklungsteam auch hier nicht ohne festgelegtes Verfahren erlaubt, da jegliche
Änderungen am vertraglich vereinbarten Liefer- und Leistungsumfang vor allem rechtliche Konsequenzen für das Ausschreibungsverfahren haben können. Zudem können auch
hier technische, kalkulatorische oder terminliche Auswirkungen auf das Projektergebnis
vorliegen, die aus Sicht des Entwicklungsteams nicht unmittelbar erkennbar sind. Beispielsweise kann die Verwendung eines alternativen, vermeintlich baugleichen technischen
Bauteils Auswirkungen auf den Montageprozess haben – etwa durch eine veränderte Verpackung bei Anlieferung – oder auf vertragliche Regelungen zum Lieferzeitraum. Zudem
geht die Zusage bestimmter technischer Eigenschaften des Produkts mit dem Rechtsanspruch des Kunden auf Gewährleistung einher. Auch im Falle eines externen Auftraggebers muss also ein interner Verhandlungspartner für das Entwicklungsteam benannt
werden. Erst nach unternehmensinterner Abstimmung und Klärung des Mandats darf ggf.
direkt mit dem Kunden verhandelt werden. Änderungen an Zielen und Anforderungen aus
dem Entwicklungsauftrag sind immer vollumfänglich und ausnahmslos zu dokumentieren
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
183
und vom internen sowie ggf. dem externen Auftraggeber schriftlich zu bestätigen. Ein
häufig verwendetes Vorgehen zur Umsetzung eines Kundenauftrags in ein konsistentes
internes Arbeitsdokument für das Entwicklungsteam ist der Lasten- und Pflichtenheftprozess. Das Ergebnis der Entwicklungsphase Klären der Aufgabe wird in der
Anforderungsbasis dokumentiert, die in Form eines Textdokuments, einer Tabelle oder
einer Datenbank vorliegen kann (vgl. Kap. 8 Arbeiten mit Anforderungen).
7.2.2Lasten- und Pflichtenheft
Im Lasten- und Pflichtenheftprozess werden die vom Auftraggeber formulierten
Anforderungen im sog. Lastenheft dokumentiert, das dem Auftragnehmer (das ausführende Unternehmen) zur Verfügung gestellt wird. Das Lastenheft beantwortet die
Frage nach dem „Was und Wofür“ für das zu entwickelnde Produkt. Im Pflichtenheft
beschreibt das auftragnehmende Unternehmen auf welche Art und Weise die Realisierung
aller Anforderungen des Lastenheftes stattfinden soll. Dafür werden die Anforderungen
des Auftraggebers, evtl. mit ihm gemeinsam, durch Ergänzung und Vervollständigung
detailliert und zu Realisierungsanforderungen konkretisiert. Die zu beantwortende Frage
lautete für das Lastenheft: „Wie und Womit“ werden die Anforderungen umgesetzt (VDI
2519) (Abb. 7.8, siehe auch Kap. 8). Die Begriffe und das Vorgehen stammen ursprünglich
aus dem B2B-Markt, in vielen Bereichen des B2C Marktes werden inzwischen vergleichbare interne Prozesse angewendet. Ein interner Kunde, beispielsweise aus dem Vertriebsbereich, dient dabei als Repräsentant des (anonymen) externen Kunden und übernimmt die
Rolle des Auftraggebers im Lasten- und Pflichtenheftprozess.
Ziel des Lasten- und Pflichtenheftprozesses ist die Einigung auf einen Liefer- und
Leistungsumfang, der die Kundenanforderungen mit der Erfahrung und der Expertise des
Auftragnehmers im Rahmen der für ihn technisch machbaren und wirtschaftlich sinnvollen
Umsetzung ergänzt. Der Prozessablauf sowie wichtige Meilensteine sind exemplarisch
im Abschn. 8.1 dargestellt. Der Kunde beschreibt dabei einen im Idealfall lösungsneutralen Soll-Zustand, den er mit der Nutzung des Produkts erreichen will und überlässt
die (technische) Definition des Produkts dem Experten, d. h. dem Auftragnehmer. In der
Praxis ist eine lösungsneutrale Beschreibung des Soll-Zustands aus mehreren Gründen
nicht immer anzutreffen. Zum einen werden Produkte oft auf der Basis von Vorgängeroder Vergleichsprodukten entwickelt. Es existieren also bereits konkrete Vorstellungen
davon, welches Lösungskonzept geeignet sein könnte oder wie das Produkt gestaltet
sein soll. Zum anderen erfordert eine Beschreibung von lösungsneutralen Zielen jenseits technischer Umsetzungsideen ein hohes Abstraktionsvermögen sowohl im Hinblick
auf den Bedarf als auch auf den Nutzen des Produkts. Zudem werden von Kunden häufig
detaillierte Lösungen oder Rahmenbedingungen vorgegeben, die den Lösungsraum einschränken. Ein Beispiel stellt die Vorgabe von Schnittstellen, Anschlussmaße oder eines
konkreten Lieferanten für ein bestimmtes Bauteil dar. Praktisch existieren im Lastenheft
demzufolge, in Abhängigkeit vom Kunden und Entwicklungskontext, unscharfe Ziele
184
B. Bender und K. Gericke
und konkrete Anforderungen in der Regel nebeneinander und werden im Rahmen des
Lasten- und Pflichtenheftprozesses parallel bearbeitet.
Im Lastenheft beschreibt der Kunde Soll-Zustände sowie Eigenschaften des Produkts,
aber auch Rahmenbedingungen, die für ihn wichtig sind, und priorisiert diese z. B.
im Vergleich zu anderen produktspezifischen Zielen, zu Lieferzeit oder den Lieferkosten (Methoden zur Strukturierung von Anforderungen siehe Abschn. 7.3). Diese
Beschreibung der Ziele durch den Kunden ist jedoch nicht vollständig und ausreichend,
um ein dauerhaft funktionstüchtiges, zugelassenes, sicheres, wart- und instandhaltbares,
produzierbares oder recyclebares Produkt zu entwickeln, da dem Auftraggeber in der
Regel die fachliche Expertise zur Festlegung dieser Anforderungen fehlt (z. B. geltende
Normen und Richtlinien) oder der Bedarf aus seiner Sicht nicht besteht (z. B. Verwendbarkeit der Lösung auch für andere Kunden). Weitere Anforderungen ergeben sich aus
dem Ziel des Auftragnehmers, den Auftrag gewinnbringend abwickeln zu können, da
sonst Sinn und Zweck der Geschäftstätigkeit in Frage gestellt sind. Beispiele sind die
Einhaltung interner Standardisierungsvorgaben oder Kostenziele, die aus Sicht des
Kunden nicht relevant für die Auftragserfüllung sind und die ihm nicht notwendigerweise bekannt sein müssen. Eine Checkliste mit möglichen Quellen und Kriterien für
Anforderungen findet sich im Abschn. 7.1.3 (Abb. 7.12 Checkliste zur Ermittlung von
Anforderungen).
Das Pflichtenheft ist durch die Ergänzungen und Konkretisierungen des Auftragnehmers zu verstehen als dessen spezifischer Realisierungsvorschlag für die im Lastenheft genannten Kundenanforderungen. Das Pflichtenheft eines anderen Auftragnehmers
für dasselbe Lastenheft (z. B. im Zuge einer Ausschreibung) kann aufgrund unternehmensspezifisch anderer Rahmenbedingungen wie Fertigungsmöglichkeiten, vorhandener technischer Fachkompetenz oder einem anderen Geschäftsmodell vollkommen
anders aussehen.
Abb. 7.8 Lasten- und Pflichtenheft
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
185
Für die Erstellung des Pflichtenheftes muss der Auftragnehmer die im Lastenheft
formulierten Kundenanforderungen besonders hinsichtlich folgender Kriterien prüfen:
• Insgesamt müssen die Kundenanforderungen auf Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit geprüft werden. Fehlende Anforderungen können sich aus Normen und
Gesetzen, aber auch aus technischen Zusammenhängen und Rahmenbedingungen
ergeben. Hier ist die Expertise des Auftragnehmers mit dem Produkt, dem Einsatzbereich sowie weiteren relevanten Rahmenbedingungen gefragt.
• Zentral ist außerdem die Prüfung ob oder in welchem Umfang jede Kundenanforderung technisch überhaupt umgesetzt werden kann. Möglicherweise enthält das
Lastenheft Forderungen, die entweder allgemein oder für den Auftragnehmer nicht
realisierbar sind.
• Darüber hinaus können Anforderungen im Widerspruch zu geltenden Normen, Richtlinien oder zu Schutzrechten Dritter (Patente) stehen, die dem Kunden nicht bekannt
sind. Hier besteht häufig kein technisches Verhandlungspotenzial, lediglich über
die Verteilung der Kosten zur Umsetzung der Anforderungen kann hier verhandelt
werden. Ein weiterer aus Sicht des Auftragnehmers häufig wichtiger Punkt ist die
Einhaltung eigener interner Werksnormen oder Standardisierungsstrategien. Diese
kann der Kunde nicht kennen, ist aber evtl. im Rahmen des Verhandlungsprozesses
bereit oder gezwungen, seine Anforderungen daran anzupassen.
• Schließlich kann es Anforderungen des Kunden geben, die zwar umsetzbar sind,
aber mit unverhältnismäßig hohem Aufwand für den Auftragnehmer einhergehen
und gleichzeitig nur einen geringen Kundennutzen erzeugen. Beispielsweise könnte
ein Kunde für die Einhausung einer Anlage unwissentlich eine Farbe aus dem RAL
Spektrum gewählt haben, die aufgrund hoher Umrüstaufwände oder erforderlicher
Vorbehandlungen hohe Kosten verursacht, ohne dass die Farbe ein für ihn wichtiges
Entscheidungsmerkmal darstellt. Es könnte also für das Produkt eine andere Farbe
gewählt werden, ohne dass davon wichtige Kundeninteressen beeinträchtigt wären.
Einen Anhaltspunkt zur Vorgehensweise sowie darüber, welche Inhalte im Lasten-/
Pflichtenheft abgedeckt werden sollten finden sich in der VDI 2591 (VDI 2519) am Beispiel von Förder- und Lagersystemen sowie in der VDI/VDE 3694 (Norm VDI 3694) am
Beispiel eines Automatisierungssystems sowie in Kap. 8 Arbeiten mit Anforderungen.
Am Ende des Lasten- und Pflichtenheftprozesses steht ein von beiden Seiten verbindlich festgelegter, überarbeiteter Entwicklungsauftrag, der im Einklang mit dem angepassten
Zielsystem steht (Abb. 7.2 und 7.6). Im Investitionsgüter-Bereich ist das Pflichtenheft Teil
des Vertrags zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Auch unternehmensinterne Entwicklungsaufträge benötigen ein für beide Seiten verbindliches Dokument über den Entwicklungsauftrag, wobei Art und Form je nach Unternehmen variieren. Häufig kommt
auch hier ein ggf. angepasster Lasten- Pflichtenheftprozess zum Einsatz. Da sowohl interne
und externe Auftraggeber als auch der Auftragnehmer ein Interesse an der erfolgreichen
186
B. Bender und K. Gericke
Entwicklung haben, sollte der Lasten-/Pflichtenheftprozess stets im Rahmen einer
gleichberechtigten Verhandlung stattfinden.
Die ablauflogische Zuordnung des Lasten- und Pflichtenheftprozesses erfolgt zur
ersten Entwicklungsphase, dem Klären der Aufgabenstellung, da hier die initiale
Anforderungsbasis erstellt wird. Gleichzeitig ist für die Erstellung eines Pflichtenhefts
die Existenz eines (vorläufigen) Lösungskonzepts im Sinne einer grundsätzlichen Idee
erforderlich, mithilfe welcher Lösungsansätze die Anforderungen des Kunden umgesetzt
werden könnten. Die methodische Entwicklung des endgültigen Lösungskonzepts
findet jedoch erst in den folgenden Entwicklungsphasen statt. Ein erster Vorschlag eines
Pflichtenhefts erfolgt auf der Basis einer oft noch vorläufigen Produktidee, die dann
iterativ mit dem Erkenntnisfortschritt konkretisiert wird. Die Koevolution von Problem
und Lösung ist in diesem Prozess gut erkennbar. Entwicklungsprojekte, für die ein
Pflichtenheft vertraglich abgesicherter Teil des Entwicklungsauftrags ist, basieren häufig
auf bekannten Vorgängerlösungen, sodass das Lösungskonzept bereits bekannt ist.
7.2.3Arten von Anforderungen
Anforderungen können in Abhängigkeit von den damit verbundenen Zielsetzungen anhand
unterschiedlicher Kriterien unterschieden werden. Diese Kriterien sind Zusatzinformationen,
die den Inhalt der Anforderungen klassifizieren und z. B. für ihre Analyse oder
Strukturierung genutzt werden können. Grundsätzlich können Anforderungen in funktionale
und nicht-funktionale Anforderungen unterschieden werden. Diese Unterscheidungsart
stammt aus der Software-Entwicklung. Funktionale Anforderungen beschreiben, wie sich
das Produkt verhalten soll. Nicht-funktionale Anforderungen sind häufig funktionsübergreifend und beschreiben genauer, wie und unter welchen Bedingungen die Funktionen
erfüllt werden sollen. Übertragen auf die Entwicklung von Produkten, die auch physikalisch
umgesetzte Komponenten enthalten, adressieren funktionale Anforderungen höhere
Abstraktionslevel des Lösungskonzepts als Anforderungen an die physikalische Gestalt.
Funktionale Anforderungen spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Produkten
mit integrierten Software-Funktionalitäten, die mit der physikalischen Gestalt und/oder ihrer
Umgebung interagieren.
Weitere Arten von Anforderungen können in Anlehnung an (Baumgart 2016) anhand
folgender Kriterien unterschieden werden:
• Gegenstand der Anforderung:
Unterscheidung von produktspezifischen und produktneutralen Anforderungen.
Produktneutrale Anforderungen müssen von jedem Produkt erfüllt werden wie beispielsweise allgemeine Anforderungen im Hinblick auf Montage, Fertigung oder
Zulassung. Produktspezifische Anforderungen gelten nur für das konkret zu entwickelnde Produkt. Diese Unterscheidung hilft bei der Erstellung von Vorlagen und
Checklisten für Anforderungslisten, die auch unternehmens- oder branchenspezifisch
gestaltet werden können.
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
187
• Verbindlichkeit der Anforderung:
Unterscheidung von Forderungen (Muss-Anforderungen) und Wünschen (SollAnforderungen), wobei die Wünsche zusätzlich in unterschiedlichen Stufen (z. B.
1, 2, 3) priorisiert, d. h. gewichtet werden können. Letzteres ermöglicht die vergleichende Bewertung unterschiedlicher Lösungsalternativen im Hinblick auf das
definierte Bewertungsprofil.
• Messbarkeit der Anforderung:
Unterscheidung von qualitativ und quantitativ beschriebenen Anforderungsausprägungen. Qualitative Anforderungen müssen für die weitere Nutzung im
Entwicklungsprozess in quantitativ formulierbare Anforderungen überführt werden. Die
Messbarkeit der Anforderung ist Voraussetzung für die Nachverfolgung und Beurteilung
ihrer Umsetzung und damit unabdingbar für die Eigenschaftsabsicherung des Produkts.
Abb. 7.13 zeigt exemplarisch, wie Anforderungen von qualitativ zu quantitativ weiterentwickelt werden können.
• Bewusstheit der Anforderung:
Unterscheidung explizit genannter und implizit erwarteter, d. h. dem Stakeholder
unbewusste Anforderungen (implizite Anforderungen). Ziel beim Klären der Aufgabe
ist insbesondere das Finden impliziter Anforderungen beim Kunden, da diese häufig
Ausschlusskriterien für Kauf oder Nutzung des Produkts darstellen oder Hinweise auf
Differenzierungsmöglichkeiten von Wettbewerbsprodukten liefern.
• Kritikalität der Anforderung:
Unterscheidung von aktiven und passiven Anforderungen je nach Anzahl der
Wechselwirkungen mit anderen Anforderungen (Eben und Lindemann 2010). Aktive
Anforderungen, die für eine gegebene Lösung viele Wechselwirkungen mit anderen
Anforderungen haben, führen im Falle der Anforderungsänderung aufgrund des Fortpflanzungseffekts zu umfangreichen weiteren Änderungen, die das gewählte Lösungskonzept stark beeinflussen können. In einem Lösungskonzept sollten Teillösungen, in
denen aktive Anforderungen umgesetzt werden, entweder flexibel gestaltbar sein oder
die Anforderung muss möglichst früh mit hoher Sicherheit stabil festgelegt werden.
• Einfluss auf Kundenzufriedenheit:
Unterscheidung von Basis-, Leistungs- und Begeisterungsanforderungen (Leistungsanforderungen) (vgl. Abb. 7.16). Nicht erfüllte Basisanforderungen stellen
Ausschlusskriterien für den Kauf oder die Nutzung des Produkts dar. Begeisterungsanforderungen dagegen stellen einen hohen Kauf- oder Nutzungsanreiz dar und
ermöglichen die Differenzierung von Wettbewerbsprodukten.
• Stakeholder der Anforderung:
Unterscheidung von internen und externen Anforderungen oder nach konkreten
Urhebern der Anforderungen, z. B. Kunde, Gesetzgeber, Fertigung, etc. Die Zuordnung
der Anforderungen zu Stakeholdern ist die Voraussetzung für ihre Interpretation,
Priorisierung und ggf. Anpassung oder Änderung im Rahmen des Aushandlungsprozesses
beim Abgleich konkurrierender Zielsetzungen während der Produktentwicklung.
188
B. Bender und K. Gericke
• Toleranzbereich der Anforderung:
Unterscheidung von Punkt-, Grenz- und Bereichsanforderungen (Baumgart 2016).
Diese Unterscheidung ermöglicht die Definition eines Spielraums bei der Interpretation, Priorisierung und Anpassung oder Änderung von Anforderungen. Punktanforderungen lassen keinen Spielraum, Grenzanforderungen ermöglichen eine
einseitige Abweichung von einem gegebenen Anforderungsparameter, Bereichsanforderungen geben eine erlaubte Bandbreite von Anforderungsparametern an.
• Lösungseingrenzung der Anforderung:
Unterscheidung von Anforderungen, die lösungsneutral (z. B. Beschreibung des
Problems oder einer Funktion) oder lösungsspezifisch (z. B. Beschreibung eines
Merkmals) sind. Diese Unterscheidung spiegelt sich in einigen Ansätzen zur
methodischen Entwicklung wider, in denen zwischen zu entwickelnden Eigenschaften
oder Funktionen im Vergleich zu physikalisch umgesetzten Merkmalen oder Designparametern unterschieden wird (Weber 2005; Suh 2001)
Die Anforderungsarten stellen jeweils unterschiedliche Sichten auf die Gesamtheit der
aus den Entwicklungszielen abgeleiteten Anforderungen dar, die für unterschiedliche
Stakeholder in verschiedenen Phasen des Entwicklungsprojekts relevant sind.
Für die Interpretation und Umsetzung von Anforderungen ist die Berücksichtigung der
äußeren Rahmenbedingungen von zentraler Bedeutung, unter denen diese Anforderungen
Gültigkeit haben. Beispielsweise die Aussage über die Tragfähigkeit oder die Lebensdauer
eines Produktes ist immer an bestimmte Betriebsbedingungen und Lastfälle gebunden.
Oder die Zusage über das Erreichen bestimmter Raumtemperaturen in einem Zug kann
nur vor dem Hintergrund äußerer klimatischer Bedingungen, der Anzahl der im Fahrgastraum befindlichen Fahrgäste sowie die durch die Streckenführung bedingte Öffnungszeit der Einstiegstüren gelten. Allgemein wird die Bestimmung bzw. Vorhersage jeder
Produkteigenschaft mittels geeigneter Modelle, Methoden und Werkzeuge immer unter
Annahme bestimmter äußerer Rahmenbedingungen durchgeführt (Vajna et al. 2018). Deshalb müssen diese Randbedingungen gemeinsam mit den zu erreichenden Zielen und den
daraus abgeleiteten Anforderungen dokumentiert oder ggf. ermittelt und festgelegt werden.
Die Vielfalt der Sichten – und damit Filtermöglichkeiten – auf die Anforderungen an
ein Produkt unter Berücksichtigung der jeweils gültigen Rahmenbedingungen macht deutlich, dass ihre Abbildung in Textverarbeitungs- oder Tabellenkalkulationsprogrammen
mit zunehmender Anzahl der Anforderungen sowie zunehmender Komplexität und
Dynamik des Zielsystems nicht mehr ausreichend ist. Stattdessen müssen DatenbankAnwendungen zum Einsatz kommen, die den gleichen Datensatz nach unterschiedlichen Kriterien strukturieren und analysieren können. Dies ist umso wichtiger, je größer
die Zahl der Anforderungen ist und je mehr Personen an der Entwicklung des Produkts
beteiligt sind. Im Extremfall arbeitet eine große Zahl interdisziplinärer Experten parallel
an unterschiedlichen Standorten in unterschiedlichen Zeitzonen an miteinander vernetzten Anforderungen. Unterstützende Methoden und Software-Tools für die Arbeit mit
Anforderungen werden im nachfolgenden Kap. 8 beschrieben.
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
189
7.3Methodisches Vorgehen beim Klären der Aufgabe
Das Klären der Aufgabe umfasst Aktivitäten zur Ermittlung von Anforderungen, zur fortlaufenden Aktualisierung und Verwaltung sowie zur Nachverfolgung der Umsetzung
dieser Anforderungen. Die Zuordnung zu den häufig auch im Deutschen verwendeten
Begriffen Requirements Engineering und Requirements Management wird aufgrund
unterschiedlicher Interpretationen der Übersetzung aus dem Englischen uneinheitlich
gehandhabt.
Bei der Anforderungsentwicklung – hier verstanden als die deutsche Entsprechung zum
Requirements Engineering – ist das Ziel, Anforderungen an das zu entwickelnde Produkt
möglichst umfassend zu ermitteln und zu strukturieren (Grande 2011). Voraussetzung dafür
ist eine Analyse der vorliegenden Entwicklungsziele sowie bereits benannter konkreter
Anforderungen im Hinblick auf Vollständigkeit und Konsistenz untereinander. Damit werden
die angestrebten Produkteigenschaften mithilfe der Expertise des Entwicklungsteams vervollständigt und Widersprüche im Zielsystem sichtbar gemacht. Die so konkretisierten
Anforderungen müssen zudem so eindeutig spezifiziert werden, dass ihre erfolgreiche
Umsetzung zu einem definierten Zeitpunkt zweifelsfrei festgestellt werden kann (siehe
Abschn. 7.1.3 am Beispiel der Konkretisierung qualitativer Anforderungen an eine Spülmaschine sowie Abb. 7.13 zur Präzisierung von Anforderungen). Nach Eigner bezeichnet
die Anforderungsentwicklung einen kooperativen, iterativen, inkrementellen Prozess zum
Ermitteln, Analysieren, Verstehen und Festlegen von Anforderungen (Eigner et al. 2014).
Darüber hinaus stellen die Nachverfolgung, das Korrigieren bzw. Abgleichen sowie das
Anpassen von Anforderungen laufende Aktivitäten der Anforderungsentwicklung dar.
Das Arbeiten mit Anforderungen dagegen – hier verstanden als die deutsche Entsprechung
zum Requirements Management (fälschlicherweise oft synonym verwandt für Anforderungsmanagement) – fokussiert auf die Datenerfassung und Pflege der Anforderungsbasis im
gesamten Verlauf des Entwicklungsprojekts (Pohl und Rupp 2015). Ziel ist, zu jedem Zeitpunkt im Projekt einen dokumentierten gültigen Stand der Anforderungen eindeutig erkennbar zu machen sowie Änderungen über die gesamte Projektlaufzeit zu kennzeichnen und
nachzuverfolgen. Dies erfordert die Zuordnung jeder Anforderung zu einer verantwortlichen
Person oder funktionalen Organisationseinheit. Das Arbeiten mit Anforderungen im Sinne
des Requirements Management wird im Kap. 8 vertieft.
Eine weitere zentrale Aufgabe beim Arbeiten mit Anforderungen besteht darin, im
Projektverlauf die einzelnen Anforderungen im Hinblick auf ihre Umsetzung (Nachweisführung und Testplanung), zu konkretisieren und nachzuverfolgen. Wichtig ist an dieser
Stelle die Unterscheidung zwischen Verifikation und Validierung (Abb. 7.9). Aufgabe der
Verifikation ist es, die Umsetzung jeder einzelnen Anforderung zu verfolgen und deren
Erfüllung nachzuweisen. Es muss zu jedem Zeitpunkt die Frage danach beantwortet
werden können, ob das aktuelle Produktmodell geeignet ist, die zu diesem Zeitpunkt
bekannten Anforderungen zu befriedigen. Die Validierung dagegen adressiert die Frage,
inwieweit das entwickelte Produkt den verfolgten Zielen und insbesondere den Kundenwünschen entspricht. Die Frage nach den initialen Zielen der Produktentwicklung wird
190
B. Bender und K. Gericke
Abb. 7.9 Validierung und Verifikation in der Produktentwicklung
in der Produktplanung, also vor Start des Entwicklungsprojekts geklärt. Im Rahmen
der Beseitigung von Zielkonflikten oder des Erkenntnisfortschritts im Verlaufe des Entwicklungsprojekts werden neue Erkenntnisse erzielt, die Einfluss auf das initiale Zielsystem
haben, das dann gemäß einer mit allen Stakeholdern vereinbarten Vorgehensweise weiterentwickelt und angepasst werden muss (vgl. Abb. 7.2 und Abb. 7.6). Damit muss unter
Umständen die Frage nach der Validierung der Entwicklungsziele erneut gestellt werden.
Die in Abb. 7.10 gezeigten Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderungen werden
im Unternehmen in der Regel von unterschiedlichen Organisationseinheiten verantwortet und betreut. Bei der Anforderungsentwicklung liegt der Schwerpunkt auf
der fachlichen – in der Regel technischen – Bearbeitung des Entwicklungsauftrags. Die
Kenntnis vorhandener (Vorgänger-)Produkte, relevanter Standards und Normen, grobe
Vorstellungen über mögliche Konzeptvarianten aber auch überschlägige erste Auslegungsabschätzungen bestimmen diese Aktivitäten. Bei der Anforderungsverwaltung
sind schwerpunktmäßig eher Fachkenntnisse im Prozessablauf, Datenmanagement und
der informationstechnischen Unterstützung durch Software Tools beim Arbeiten mit
Anforderungen erforderlich. Die Eigenschaftsabsicherung, d. h. die Nachverfolgung der
Umsetzung der Anforderungen, erfordert ein weiteres spezifisches Kompetenzprofil der
Mitarbeiter. Je nach Reifegrad der entwickelten Lösung müssen Konzepte für das virtuelle
oder physikalische Testen gefunden werden. Weitere wichtige Aktivitäten bestehen in
der Gestaltung und Durchführung von Design Reviews, in deren Rahmen Qualität und
Arbeitsfortschritt der entwickelten Lösung beurteilt und der Anforderungsbasis gegenübergestellt werden. Die Bandbreite der genannten Aktivitäten und sich daraus ergebenden
erforderlichen Kompetenzprofile zeigt, dass das für das Entwickeln und Arbeiten mit
Anforderungen funktionsübergreifend eng zwischen allen Organisationseinheiten
kooperiert werden muss, um das Erreichen der Entwicklungsziele zu ermöglichen. Den
Startpunkt bildet dabei die erste Entwicklungsphase, das Klären der Entwicklungsaufgabe. Aufgrund der Weiterentwicklung der Lösung und sich ändernden Erkenntnissen und
Rahmenbedingungen müssen diese Aktivitäten über den gesamten Projektverlauf weiterverfolgt werden. Die phasen- und funktionsübergreifende Zusammenarbeit minimiert das
Risiko, dass das entwickelte System nicht den Anforderungen der Stakeholder entspricht
(Pohl und Rupp 2015). Auch das Klären der Aufgabe ist deshalb untrennbar mit dem
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
191
Abb. 7.10 Aktivitäten beim Entwickeln von Anforderungen
Arbeiten mit Anforderungen verbunden. Eine Beschreibung der Aktivitäten beim Arbeiten
mit Anforderungen findet sich in Göhlich et al. (2020).
Unabhängig vom Begriffsverständnis und der funktionalen Zuordnung lassen sich
die folgenden grundlegenden Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderungen voneinander
unterscheiden (Baumgart 2016):
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Anforderungen ermitteln,
Anforderungen spezifizieren,
Anforderungen strukturieren,
Anforderungen analysieren,
Anforderungen dokumentieren,
Anforderungen ändern,
Anforderungen versionieren,
Anforderungen rückverfolgen,
Anforderungen prüfen und kommunizieren.
Der Schwerpunkt der Aktivitäten beim Entwickeln von Anforderungen besteht im
Ermitteln, dem Spezifizieren der einzelnen Anforderungen sowie dem Strukturieren
und Analysieren der Gesamtheit der Anforderungen. Das Ermitteln bezieht sich auf die
Vollständigkeit der Anforderungen im Hinblick auf die Erreichbarkeit und Umsetzbarkeit der Entwicklungsziele. Das Spezifizieren meint die verständliche und eindeutige
Formulierung der Anforderung, die darüber hinaus die objektive Beurteilung ihres
Erfüllungsgrads unzweifelhaft zulässt. Strukturieren bedeutet die fachliche Zuordnung
von Anforderungen zu Unternehmensfunktionen und damit zu Bearbeitern. Das Analysieren ermöglicht neben der Vervollständigung der Anforderungsbasis vor allem die
Konsistenzprüfung des Zielsystems und das Auflösen von Zielkonflikten. Die Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderung (Requirements Management) werden in Kap. 8
beschrieben.
192
B. Bender und K. Gericke
Alle Aktivitäten beim Entwickeln von und Arbeiten mit Anforderungen werden
begleitet von der fortlaufenden Prüfung getroffener Annahmen über Problem und
Lösung sowie der Gültigkeit der angenommenen Rahmenbedingungen. Aufgrund der
Vielzahl der Stakeholder, der fachlichen und organisatorischen Perspektiven sowie der
zunehmenden Komplexität zu entwickelnder Produkte stellt dies hohe Ansprüche an
die Gestaltung des Anforderungsmanagementprozesses sowie die Kommunikation aller
beteiligten Personen.
7.3.1Anforderungen ermitteln
Ausgehend von den Entwicklungszielen und vom Entwicklungsauftrag sowie den zu diesem
Zeitpunkt bekannten Rahmenbedingungen müssen die initialen Qualitäts-, Termin- und
Kostenanforderungen möglichst eindeutig und umfassend ermittelt werden (Abb. 7.2). Zur
Entwicklung einer initialen Anforderungsbasis sollten im ersten Ansatz immer vorhandene
Quellen und Dokumente im Hinblick auf die Vermittlung von Anforderungen geprüft werden.
Dies können neben dem Entwicklungsauftrag oder dem Lastenheft (vgl. Abschn. 7.2) auch
Vertragsdokumente wie Leistungs- und Lieferpläne oder Gesprächsprotokolle, etwa aus
internen Ideenworkshops, Kunden- oder Lieferantengesprächen, umfassen. Aus den vorliegenden Informationen ergeben sich erste Anforderungen, die mithilfe methodischer
Ansätze iterativ zur initialen Anforderungsbasis vervollständigt werden müssen.
Häufig gibt es im Unternehmen bereits ein vergleichbares Vorgängerprodukt, auf
dessen Anforderungen aufgebaut werden kann. Wichtig ist in diesem Fall nicht nur
neue Anforderungen zu ergänzen, sondern auch für das aktuelle Entwicklungsprojekt
irrelevante Anforderungen zu finden und zu hinterfragen. Das ungeprüfte Übertragen „alter
Anforderungen“ in neue Projekte führt zu hohen Kosten und Aufwänden und lässt sich
später aufgrund der komplexen Vernetzung von Anforderungen mit Lösungen praktisch nicht
mehr korrigieren. Deshalb ist die initiale Anforderungsermittlung nicht nur bei der Neusondern auch bei der Varianten- oder Generationenentwicklung von zentraler Bedeutung.
Bei der Ermittlung der Anforderungen müssen alle Stakeholder des Produkts berücksichtigt werden. Unter Stakeholdern sind in diesem Kontext alle Anspruchsgruppen
zu verstehen, die über den gesamten Produktlebenszyklus Anforderungen an das
Produkt haben können. Dies können außerhalb des eigenen Unternehmens neben dem
Kunden Zulieferer, Entwicklungspartner oder Zulassungsstellen sein. Stakeholder im
eigenen Unternehmen sind in vielen Unternehmensfunktionen zu finden. Beispiele sind
Marketing, Vertrieb, Produktion oder unterschiedliche Engineering-Bereiche.
Die wichtigste Quelle zur Identifikation von Anforderungen ist der Kunde (Kundenanforderungen). Erfüllt das Produkt seine grundlegenden Anforderungen nicht, nicht
ausreichend, nicht kostengerecht oder nicht termingerecht, ist die Bearbeitung des Entwicklungsauftrags nicht erfolgreich. Dabei muss bedacht werden, dass der Kunde
nicht notwendigerweise der Nutzer des Produkts ist. Kunden können auch Käufer sein,
die das Produkt selbst nicht nutzen, Geldgeber oder andere Auftragnehmer, die dem
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
193
Entwicklungsteam einen Unterauftrag erteilen. Der Kunde ist insbesondere im Industriegütergeschäft (B2B-Bereich) nicht immer auch gleichzeitig der Nutzer des Produkts.
Beispielsweise ist der Käufer eines Zuges nicht der Passagier, sondern die Betreibergesellschaft eines Verkehrsunternehmens. Der Zug muss zwar grundlegende Richtlinien
und sicherheitstechnische Anforderungen an die Beförderung von Passagieren erfüllen.
Dennoch bestimmt der Betreiber im Kontext seines Geschäftsmodells im Rahmen ergonomischer Normen und Richtlinien über den aus seiner Sicht anzustrebenden Fahrgastkomfort wie die Beinfreiheit der Passagiere oder den anzustrebenden Klimakomfort.
Es kann also vorkommen, dass die Anforderungen des Kunden (z. B. die DB AG als
Betreibergesellschaft) nicht mit den Anforderungen des Nutzers (Passagier) übereinstimmen. Die Erfüllung der Anforderungen des Nutzers liegen dennoch in der Regel im
hohen Interesse des Kunden, der diese in seine eigenen Anforderungen übersetzt und an
den Auftraggeber weitergibt. Das Vorgehen zur Ermittlung der Nutzerbedürfnisse wird in
Kap. 6 beschrieben.
Bei der Ermittlung der Kundenanforderungen ist es wichtig, auch implizite
Anforderungen zu finden. Dazu zählen selbstverständlich erwartete und deshalb nicht
explizit genannte oder dem Kunden bzw. Nutzer nicht bewusste Anforderungen (vgl.
Abb. 7.16). Methoden zur Ermittlung impliziter Anforderungen, die oftmals erst nach
Markteintritt als nicht oder schlecht erfüllt erkannt werden, sind z. B. Benchmarking,
Beschwerdesysteme, Gebrauchstests, Interviews mit „Lead Usern“ oder „Focus Groups“,
„Lost Customer“-Umfragen und Win/Loss Reports (Ahrens G. 2000).
Trotz ihrer großen Bedeutung kann allein mit den Kunden- und Nutzeranforderungen
kein erfolgreiches Produkt entwickelt werden. Es müssen viele weitere Anforderungen
und Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, die Kunde und Nutzer nicht kennen
oder die sie nicht betreffen. Etwa die Zulassungsanforderungen für ein zu entwickelndes
Fahrzeug wird ein Nutzer nicht vollumfänglich kennen, er erwartet beim Kauf aber
dennoch die Übergabe eines zugelassenen Fahrzeugs. Auch für die Einhaltung werksinterner Normen beim Auftragnehmer besteht aus Kundensicht kein unmittelbares
Interesse, für den Hersteller ist sie jedoch essentiell zur Kostendämpfung und Fehlervermeidung. Entsprechend ist die methodische Suche nach Anforderungen über die
Kunden- und Nutzeranforderungen hinaus unverzichtbar.
Bei der Suche nach relevanten Anforderungen für das zu entwickelnde Produkt hilft
die Einnahme unterschiedlicher Betrachtungsperspektiven im Ziel-, Handlungs- und
Objektsystem:
• Produkt: Welche Anforderungen können sich aus der Erfüllung der Funktion des
Produkts ergeben? Beispiele sind die Übertragung geforderter Antriebsleistungen, die
Einhaltung einer bestimmten Lebensdauer oder die Spezifikation einer Datenschnittstelle.
• Produktlebenszyklus: Welche Anforderungen können sich aus der Betrachtung
anderer Lebenszyklusphasen wie z. B. Fertigung, Montage, Produktnutzung, Wartung
oder Recycling ergeben? Hier sei auch auf die entsprechenden Gestaltungsrichtlinien
(Kap. 16) verwiesen.
194
B. Bender und K. Gericke
• Allgemeine Regeln der konstruktiven Gestaltung: Ergeben sich spezifische
Anforderungen für das vorliegende Problem aus den Grundregeln der Gestaltung
(Kap. 14) oder den Gestaltungsprinzipien (Kap. 15)?
• Stakeholder: Welche Anforderungen können sich aus den Interessen unterschiedlicher
Beteiligter und Betroffener wie Kunde, Nutzer, Qualitätsbeauftragte oder Spediteur
ergeben?
• Wettbewerb: Welche Anforderungen lassen sich aus der Analyse von Wettbewerbsprodukten ableiten? Verwendbar sind sowohl Positiv- als auch Negativbeispiele.
• Rahmenbedingungen: Welche Anforderungen technischer, organisatorischer oder
auch ethischer Natur können sich aus dem Umfeld ergeben? Beispiele können Einsatzbedingungen, Gesetze, Zulassungsanforderungen, gesellschaftspolitische Anliegen
oder maximale Transportabmessungen von Einzelteilen sein, aber auch aus Zielen
inklusiver oder nachhaltiger Produktgestaltung hervorgehen.
Diese Perspektiven sind nicht überschneidungsfrei, sondern sollen bei der gedanklichen
Strukturierung der Aufgabe in Sinne einer Checkliste unterstützen und können produkt-,
unternehmensspezifisch oder individuell ergänzt werden (Abb. 7.11).
Eine häufig angewandte Checkliste ist die Kriterienliste, die beim Ermitteln wesentlicher
und gestaltbestimmender Produktanforderungen unterstützt (Abb. 7.12). Die ursprünglich
auf die physikalischen und geometrischen Eigenschaften eines Produkts fokussierte Liste
(bekannt als „Hauptmerkmalliste“ vgl. Pahl et al. 2007) wurde weiterentwickelt und um
Beurteilungskriterien aus anderen Lebenszyklusphasen sowie organisatorische und marktrelevante Aspekte ergänzt (Nagarajah 2013). Das Durchgehen der aufgelisteten Punkte
hilft dabei, durch Assoziationen relevante Anforderungen an das Entwicklungsvorhaben
zu ermitteln. Auf die spezifischen Anforderungen der Nutzer wird in Kap. 6 eingegangen.
Weitere Hinweise auf Anforderungen, die sich aus einzelnen Gestaltungszielen herleiten lassen, sind in den Kap. 14 bis 16 dieses Buches zu finden. Die Art und Weise der
Dokumentation der Anforderungen in der Anforderungsliste wird in Abschn. 8.2 gezeigt.
Abb. 7.11 Betrachtungsperspektiven für die Identifikation von Anforderungen
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
Abb. 7.12 Checkliste zur Ermittlung von Anforderungen
195
196
B. Bender und K. Gericke
Nachfolgend werden weitere in der Praxis bewährte Methoden vorgestellt, die bei der
Analyse und Vervollständigung der Anforderungsbasis unterstützen können.
Fragebogen
Der Fragebogen ist eine Methode zur expliziten Befragung einer großen Anzahl an
Stakeholder, um deren bewusstes Wissen zu erfassen und vergleichend auszuwerten. Der
Fragebogen kann sowohl geschlossene Fragen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten
als auch offene Fragen, die individuelle Antworten ermöglichen, umfassen (Pohl und
Rupp 2015) Für die Gestaltung eines Fragebogens sind verschiedene Kriterien wie z. B.
Form (digital oder papiergebunden), Frageformate (z. B. Multiple-Choice), Antwortformate (z. B. Anzahl und Skalenniveaus der Antwortmöglichkeiten) oder Gütekriterien
(z. B. Verständlichkeit, Transparenz, Beantwortungsdauer, Auswertbarkeit) zu berücksichtigen (Porst 2014). Wird ein Fragebogen einmal nach diesen Kriterien entwickelt,
können in kurzer Zeit Anforderungen der befragten Stakeholder ermittelt werden. Fragebogen können auch als Grundlage bzw. Leitlinie für (standardisierte) Interviews, also
auch in mündlicher Form, genutzt werden.
Benchmarking
Benchmarking ist ein Instrument der Wettbewerbsanalyse und bezeichnet den
systematischen Vergleich der eigenen Produkte oder Dienstleistungen (oder auch Unternehmensprozesse) mit denen anderer Unternehmen. Das Ziel besteht darin sich an den
erfolgreichsten Wettbewerbslösungen gemäß eines „best practices“ zu orientieren, um
die eigene Lösung zu verbessern (Mertins und Kohl 2009). Die Merkmale und Eigenschaften der besten Wettbewerbsprodukte (oder auch Dienstleistungen) müssen in
Anforderungen für das eigene Entwicklungsvorhaben formuliert werden. Bei dieser
Methode besteht jedoch die Gefahr, dass durch die Orientierung an nur bestehenden
Lösungen kaum Innovationen gefördert werden.
Die Szenario-Technik
Die Szenario-Technik ist eine Methode aus der strategischen Produktplanung und unterstützt das Vorausdenken potenzieller zukünftiger Chancen und Gefahren der Produktentwicklung. Bei der Bildung möglicher Szenarien wird zwischen dem Szenariofeld und
dem Gestaltungsfeld unterschieden, wobei das Szenariofeld externe, nicht lenkbare Einflüsse enthält und das Gestaltungsfeld dagegen die vom Unternehmen direkt gestaltbaren
Möglichkeiten umfasst (Gausemeier et al. 1995). Die Szenario-Technik kann also auch
eingesetzt werden, um mögliche Anforderungen an das zu entwickelnde Produkt aus all
seinen Lebensphasen sowie dem Produktumfeld zu antizipieren (Gräßler et al. 2017).
Dafür müssen in den Szenarien die Wechselwirkungen des Produktes mit der Umgebung,
also insbesondere auch den Nutzern, in jeder Lebensphase durchdacht werden. Unter
Zuhilfenahme von Dokumenten (z. B. Lastenheft, Checklisten, Richtlinien und Normen)
und Expertenwissen können so Anforderungen bezüglich des Leistungsverhaltens, der
Interaktion, Toleranzen, Sicherheit, etc. ermittelt werden.
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
197
Die Prototypenbeobachtung
Anforderungen können auch durch Beobachtung und Analyse von Referenzprodukten
oder Prototypen (Prototypenbeobachtung) ermittelt werden. Insbesondere wenn
dem Kunden (oder anderen Stakeholdern) die fachliche Expertise zur eindeutigen,
technischen Formulierung seiner Wünsche fehlt, kann er bei dieser Methode seine
Anforderungen direkt am Prototypen präziser und detaillierter beschreiben. Außerdem
können durch den frühen direkten Kundeneinbezug Abweichungen zwischen Bedürfnis
und Umsetzung (z. B. „Over-Engineering“) vermieden werden. Prototypen haben den
besonderen Vorteil, dass sie ausprobiert werden können und damit für den Kunden erlebbar sind. Dadurch kann zusätzlich analysiert werden, wie bestimmte Personengruppen
(z. B. ältere Menschen) mit dem Produkt interagieren und welche Anforderungen sich
dabei ergeben. Auch die Erprobung von produktbegleitenden Dienstleistungen wird
durch die Verwendung von Prototypen bereits vor Fertigstellung des eigentlichen
Produkts ermöglicht. So kann diese Methode über die Anforderungsermittlung hinaus
auch zur validierenden Beurteilung des Lösungskonzeptes genutzt werden (Nagarajah
2013). Unter einem Prototyp werden alle Arten von Produktkonzepten und -modellen
verstanden, mit denen die Funktionalität und/oder Gestalt des zu entwickelnden Produkts
demonstriert werden kann. Dabei sind sowohl physische Modelle des Lösungskonzepts
oder bestehende Produkte, in der eine zu entwickelnde Teillösung bereits realisiert ist,
als auch virtuelle Modelle des Lösungskonzepts, aber auch integrierte Modellkonzepte
wie Hardware- oder Software-in-the-Loop denkbar. Mithilfe der Erweiterten Realität
(auch Augmented Reality oder Mixed Reality genannt) ist es möglich, virtuelle Prototypen mit mehreren Sinnen erlebbar zu machen.
7.3.2Anforderungen spezifizieren
Viele der vom Kunden kommunizierten Anforderungen sind vage und eher als Ziele
formuliert und müssen für die Entwicklung in präzise, technische Anforderungen übersetzt werden. Nur so kann überprüft werden, ob die Anforderungen durch das entwickelte
Produkt erfüllt werden (können). Beispielsweise die Formulierung „Das Fahrzeug muss
technisch auf dem neuesten Stand sein“ wäre eine Formulierung, deren Umsetzung sich
schwer überprüfen ließe. Weder ist spezifiziert, auf welche technischen Merkmale sich
diese Anforderung bezieht (z. B. Energieverbrauch, Sicherheit, Digitale Vernetzung),
noch welche konkreten Werte unter welchen Rahmenbedingungen erreicht werden
müssen. Umgekehrt kann es vorkommen, dass der Kunde bereits konkrete Anforderungen
mit sehr spezifischen Zielwerten angibt und damit die umsetzbaren Lösungsmöglichkeiten einschränkt. Ist ein Spielraum bei der Erreichung von Zielwerten zulässig, muss
die Anforderung entsprechend spezifiziert werden, z. B. durch Angabe eines Wertebereiches oder Grenzwertes statt eines festen Punktwertes (vgl. Abschn. 7.2.3 bzw.
Baumgart 2016).
198
B. Bender und K. Gericke
Generell müssen bei der Spezifikation von Anforderungen (Anforderungsspezifikation) Qualitätskriterien eingehalten werden, um eine zielgerichtete Entwicklung
zu ermöglichen und aufwendige Iterationen zu reduzieren. Folgende Qualitätskriterien
werden in der Literatur genannt (vgl. Pohl und Rupp 2015):
• eindeutig: ohne Interpretationsspielraum, mit Kennzeichnung (z. B. Identifikationsnummer),
• gültig und aktuell: Freigegeben, z. B. durch Review oder genehmigten Änderungsantrag,
• korrekt: inhaltlich richtig,
• priorisiert: mindestens nach Wunsch oder Forderung („muss/kann“) klassifiziert,
• realisierbar: technisch und wirtschaftlich machbar (entsprechend der zum
Betrachtungszeitpunkt vorliegenden Informationen),
• rückverfolgbar („traceable“): zum Stakeholder, zur Lösung, im Bezug auf die Nachweisführung,
• vereinbart: freigegeben durch alle Stakeholder,
• verifizierbar: testbare Merkmale durch Angabe messbarer Ausprägungen (z. B. Breite
von 3 m +/- 0,01 m),
• verständlich: einfache Formulierung,
• vollständig: mit allen relevanten Zusatzinformationen (Rahmenbedingungen).
Die Einhaltung von Qualitätskriterien ist insbesondere in der frühen Entwicklungsphase
schwierig, wenn ambitionierte Ziele der Stakeholder einem geringen Konkretisierungsgrad der Problemlösung und damit einem hohen Wissens- und Informationsdefizit des
Entwicklungsteams gegenüberstehen. Daraus entstehen grundsätzliche Widersprüche bei
der Spezifikation von Anforderungen, die Eiletz (1999) als Konflikt-Paare formuliert:
• Operational vs. lösungsneutral: Der kreative Lösungsfreiraum wird durch zu starkes
Beharren auf eindeutigen, detaillierten Anforderungen stark eingeschränkt.
• Vollständig, eindeutig vs. rechtzeitig: Die Festlegung eines vollständigen Zielsystems geht mit einem hohen Zeitaufwand einher bzw. ist in frühen Entwicklungsphasen noch nicht vollständig möglich, weil die dafür notwendigen Erkenntnisse erst
im Verlauf der Entwicklung gewonnen werden. Zu früh festgehaltene Annahmen zur
Vermeidung von Unsicherheiten bei der Entwicklung der Problemlösung können zu
später notwendigen Änderungen (Iterationen) führen.
• Widerspruchsfrei machbar vs. anspruchsvoll: Konfliktfreie Ziele widersprechen dem
Bestreben, durch anspruchsvolle Ziele innovative Lösungen zu erreichen. Zu hohe
Ziele hingegen können bei nicht erkennbarer Erreichbarkeit demotivierend oder gar
lähmend auf die involvierten Entwickler wirken.
Anforderungen müssen durch messbare Quantitätswerte präzisiert werden, um sie einer
eindeutigen und verifizierbaren Beschreibung zu erfüllen. Zunächst qualitativ formulierte
Ziele wie „Das Auto muss sportlich aussehen“ müssen soweit möglich in nachprüfbaren
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
199
Eigenschaften heruntergebrochen werden. Eine nachprüfbare Eigenschaft könnte die Neigung
der A-Säule oder die Form der Scheinwerfer beim PKW sein. Lassen sich keine derartigen
Eigenschaften finden, um die Anforderung ausreichend auf der Basis messbarer Eigenschaften zu quantifizieren, können Kundenbefragungen zur Beurteilung der Umsetzung
qualitativ formulierter Anforderungen eingesetzt werden. Auch hier ist im Rahmen der
Anforderungsspezifikation festzulegen, welche Produkteigenschaften bei welchen Kunden
in welchem Umfang abgefragt und wie beurteilt werden müssen, um die Erfüllung der
Anforderung zu überprüfen. Die Präszisierung quantitativer Anforderungen ist am Beispiel
„Einfache Wartung“ in Abb. 7.13 dargestellt. Falls eine Präzisierung der Anforderung durch
messbare Zielwerte nicht möglich ist, muss diese aus dem Zielsystem entfernt werden.
Abb. 7.13 Präzisierung von Anforderungen (Nagarajah 2013)
200
B. Bender und K. Gericke
Bei der Formulierung von Anforderungen kann die natürlichsprachliche Beschreibung
bei verschiedenen Personen häufig zu einer unterschiedlichen Interpretation führen.
Wörter wie „leicht“ oder „eher“ können nicht eindeutig ausgelegt werden. Eine große
Auswahl von zu vermeidenden Begriffen ist in VDA 2006 gegeben. Es wird außerdem
empfohlen, ein Glossar über die verwendeten Begriffe anzulegen, um zu verhindern,
dass Begriffe unterschiedlich interpretiert werden (Nagarajah 2013). Ein weiteres
Hilfsmittel ist eine Formalisierung zur Beschreibung von Anforderungen, wie das
syntaktische Satzbaumuster vom Verband der Automobilindustrie (VDA 2006). Danach
wird vorgeschlagen, festgelegte Satzbauglieder zu verwenden, deren Reihenfolge zur
Einhaltung einer korrekten Grammatik flexibel eingesetzt werden können:
• Bedingung: Bedingung ist ein optionales Satzbauglied und beschreibt u. a. zeitliche
Aspekte, Zustände des Systems oder der Außenwelt.
• Subjekt: Als Subjekt wird das ausführende Element, wie z. B. das System, das Teilsystem oder der Anwender beschrieben.
• Anforderungswort: Anforderungswort ist ein optionales Satzbauglied und beschreibt
die Bedeutung einer Anforderung.
• Objekt: Als Objekte werden passive Elemente beschrieben, die an einer Aktion
beteiligt sind.
• Aktion: Die Aktion wird durch ein Verb beschrieben.
Nagarajah (2013) veranschaulicht die Anwendung der Satzbauglieder an folgendem Beispiel:
Bei der Demontage der Motorhaubenschließsystem-Komponenten dürfen die Befestigungselemente die Karosserie nicht beschädigen.
Bedingung
Bei der Demontage der Motorhaubenschließsystem-Komponenten
Anforderungswort
dürfen
Subjekt
die Befestigungselemente
Objekt
die Karosserie
Aktion
nicht beschädigen
7.3.3Anforderungen strukturieren
Die Anforderungen an ein zu entwickelndes Produkt im Kontext eines Ziel-, Sachund Handlungssystems (Abb. 7.4) stellen ein komplexes System von miteinander in
Wechselwirkung stehender Einzelanforderungen dar. Sie werden von unterschiedlichen
Fachdisziplinen verantwortet und bearbeitet, betreffen oft unterschiedliche Lebenszyklusphasen des Produkts, und ihre Umsetzung ist darüber hinaus unterschiedlich priorisiert.
Viele Anforderungen ergeben sich erst aus der gewählten (technischen) Lösung und
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
201
ändern sich daher dynamisch mit neuen Erkenntnissen durch die Konkretisierung der
Lösung, bei Änderung der Rahmenbedingungen oder durch die Änderung anderer
Anforderungen. Das Zielsystem eines komplexen Produktes wird daher sehr schnell unübersichtlich. Die systematische Umsetzung und Nachverfolgung aller Anforderungen in der
Anforderungsbasis erfordert deshalb eine einheitliche Strukturierung der Anforderungen.
Damit können Doppelungen, fehlende Informationen, aber auch Widersprüche zwischen
Zielen oder Anforderungen gefunden werden. Dazu werden die Einzelanforderungen nach
fachlicher Verantwortung auf Personen verteilt, die dann für deren weitere Bearbeitung verantwortlich sind. Die Nachverfolgung der Umsetzung aller Anforderung ist nur dann möglich, wenn es im Entwicklungsteam für jede Anforderung eine verantwortliche Person gibt.
Diese kann ggf. an weitere Personen delegieren, trägt aber weiterhin die Verantwortung für
die Nachverfolgung. Die Nachverfolgung jeder Einzelanforderungen adressiert im Kontext
der Eigenschaftsabsicherung die Verifikation (vgl. Abb. 7.9).
Die Anzahl der Anforderungen, die für die Entwicklung eines Produkts zu berücksichtigen ist, kann von einigen wenigen bis zu mehreren zehntausend Einzelanforderungen reichen, je nach Komplexität des zu entwickelnden Produkts sowie der
Rahmenbedingungen, die dabei zu beachten sind. Zudem betreffen Anforderungen
unterschiedliche Fachdisziplinen und werden daher in der Regel in unterschiedlichen
Organisationseinheiten eines Unternehmens parallel bearbeitet. Auch dafür muss sichergestellt werden, dass jede Anforderung genau einen verantwortlichen Bearbeiter hat.
Anforderungen ohne Verantwortlichen werden bei der Bearbeitung nicht systematisch
nachverfolgt oder u. U. ganz vernachlässigt. Bei Anforderungen, die mehrere Verantwortliche haben, besteht im Falle von auftretenden Zielkonflikten die Gefahr unlösbarer Konflikte oder im Sinne der Problemlösung schlechter Kompromisse zwischen
den unterschiedlichen fachlichen Sichten der Bearbeiter. Es gibt Anforderungen, die eindeutig einem Teilsystem oder einer Funktion des Produkts und damit genau einem Verantwortlichen zur Bearbeitung zugeteilt werden können.
Die Struktur, nach der Anforderungen auf Verantwortungsbereichen verteilt werden,
muss eine eindeutige Zuordnung erlauben. Dafür müssen Anforderungen nicht nur dem
physikalischen Produkt selbst mit seinen Teilsystemen zugeordnet werden können,
sondern auch zu erfüllenden Produktfunktionen, durchzuführenden Prozessschritten
oder zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen. Für ein komplexes Entwicklungsprojekt führt dies zu einer umfangreichen Gliederungsstruktur, die Ähnlichkeit mit
einem Projektstrukturplan hat. In der Praxis orientieren sich viele Unternehmen an vorhandenen branchentypischen, in Normen oder Richtlinien festgelegten Gliederungsoder Strukturierungskriterien, die für den eigenen Anwendungszweck angepasst werden.
Dies hat den Vorteil, dass die inhaltliche Konsistenz der Struktur durchdacht und in der
Regel mit den beteiligten Stakeholdern mindestens auf allgemeiner Ebene abgestimmt
und erprobt ist. Darüber hinaus ermöglicht die Nutzung standardisierter Strukturierungskriterien eine unternehmensweit einheitliche Verwendung, die allen Beteiligten bekannt
und geläufig ist. Abb. 7.14 zeigt die sog. Requirements Breakdown Structure für Projekte
202
B. Bender und K. Gericke
Abb. 7.14 Anforderungsstrukturierung abgeleitet aus EN 15380 am Beispiel der Bahntechnik
in der Bahntechnik, die abgeleitet aus der (DIN EN DIN EN 15380-5)1 „Kennzeichnungssystem Schienenfahrzeuge“ für ein spezifisches Unternehmen angepasst wurde.
Anforderungen an einen Zug können beispielsweise zugeordnet werden zum
Traktionssystem (z. B. Oberleitungsspannung 15 kV), der mechanischen Tragstruktur
(z. B. Energieverzehr im Crashfall 650 kJ) oder dem Bremssystem (z. B. Bremsverzögerung mind. 1 m/s2). Demgegenüber gibt es Anforderungen, bei denen diese
Zuordnung nicht überschneidungsfrei möglich ist. Für das genannte Beispiel wäre dies
etwa die Anforderung nach einer möglichst geringen, aber maximal zulässigen Dienstmasse des Zuges von 120t. Diese kann nicht ausschließlich dem Traktionssystem, der
mechanischen Tragstruktur oder dem Bremssystem zugeordnet werden. Alle Funktionen
wirken zur Umsetzung dieser Anforderung in eine technische Lösung zur Erreichung
des Zielwertes zusammen. Für die Entwicklung des Traktionssystems sowie des
Bremssystems stellen die Dienstmasse eine für die Auslegung zu berücksichtigende
Eingangsgröße dar. Die mechanische Tragstruktur des Zuges muss alle Subsysteme
des Zuges sowie die im Crashfall zu verzehrende Energie aufnehmen können. Gleichzeitig tragen alle (Teil-)Systeme zur Dienstmasse des Zuges bei. Dennoch muss es einen
1Dieses
Dokument definiert die Systemstruktur für Schienenfahrzeuge und deren wesentlichen
Merkmale. Es gilt auch für Sonderfahrzeuge wie Baumaschinen und Schneepflüge. Die Systeme,
die häufig in Verbindung mit allgemeinen Schienenfahrzeugen eingesetzt werden, sind in diesem
Dokument enthalten, während die speziellen Systeme, die für deren Arbeitsabläufe charakteristisch
sind, nicht behandelt werden. Sie sind für diese individuellen Projekte hinzuzufügen.
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
203
Verantwortlichen geben, der die Umsetzung und Einhaltung der Anforderung nachverfolgt und zwischen den einzelnen Bearbeitern koordiniert. Im Beispiel würde
dies bedeuten, dass die Verantwortung für die Einhaltung der Dienstmasse des Zuges
einer Person als Hauptverantwortlicher zugeordnet wird. Die Nachverfolgung der
Anforderungen an die Masse der Teilsysteme wie Bremse oder Traktionssystem wird
dabei an die fachlich verantwortlichen Mitglieder des Entwicklungsteams delegiert.
Diese sind damit zwar verantwortlich für die Masse ihres Teilsystems, der „Massemanager“ trägt jedoch die Verantwortung dafür, dass die Summe aller Teilsysteme der
Gesamtmasse entsprechen. Auch systemübergreifende Anforderungen wie beispielsweise die Masseverteilung im Zug und Berechnung des Schwerpunkts müssen durch den
Massemanager nachverfolgt werden.
Eine weitere Zielsetzung bei der Strukturierung von Anforderungen besteht darin,
ihre Abhängigkeiten und Hierarchie untereinander darzustellen bzw. zu erkennen.
Damit wird eine wichtige Voraussetzung für die Analyse und Rückverfolgbarkeit der Anforderungen geschaffen. Die Rückverfolgbarkeit von Anforderungen ist
beim Arbeiten mit Anforderungen unabdingbar, um im Fall von Änderungen oder
Konflikten ermitteln zu können, woher die Anforderung stammt und welche weiteren
Anforderungen bei ihrer Änderung betroffen wären. Arten von Abhängigkeiten zwischen
Anforderungen lassen sich mithilfe der Netzwerk- oder Graphentheorie beschreiben.
Dabei ist zu beachten, dass die Abhängigkeiten zwischen den Anforderungen u. U. nur
für ihre konkrete Umsetzung in einem bestimmten Lösungskonzept gelten. Beispielsweise die Anforderung nach der Berücksichtigung der VDI 2230 zur Dimensionierung
von Schraubenverbindungen widerspricht der Anforderung nach der Verwendung
ausschließlich unlösbarer Bauteilverbindungen nur dann, wenn im gewählten Lösungskonzept überhaupt Schrauben als Verbindungselemente erforderlich sind (z. B. aus
Montagegründen). Auch die Anforderung nach einer mindestens erforderlichen Lebensdauer definierter Bauteile kann nur anhand konkreter Konstruktionslösungen mit
bekannten Lastverteilungen überprüft werden und sich für unterschiedliche gewählte
Lösungen im Verlaufe des Entwicklungsprozesses als widersprüchlich oder im Einklang
mit anderen Anforderungen herausstellen (Abb. 7.15).
Das Ergebnis der Strukturierung der Anforderungen besteht in einer nach festgelegten Kriterien strukturierten Anforderungsbasis. Diese Kriterien können die
fachliche Zuordnung der Anforderungen zu Personen oder Unternehmensbereichen
sein. Sofern die Anforderungen in einer Datenbank vorliegen, ermöglicht diese eine
Filterung der Anforderungen nach bestimmten Kriterien. Dies können Sichten unterschiedlicher Stakeholder, Relevanz für bestimmte Teilsysteme oder auch die Anzahl
der erfüllten/nicht erfüllten Anforderungen zu einem bestimmten Zeitpunkt sein. Das
Strukturieren der Anforderungen steht in engem Zusammenhang mit dem Analysieren,
da die Zuordnung der Anforderungen zu einer Struktur oft von einer Analyse der Inhalte
begleitet werden muss.
204
B. Bender und K. Gericke
Abb. 7.15 Anforderungshierarchien nach (Gebauer 2001)
7.3.4Anforderungen analysieren
Die Anforderungsbasis stellt die Arbeitsgrundlage des Entwicklungsteams dar und ist die
wichtigste Messgröße für den Projekterfolg. Deshalb muss die Anforderungsbasis vollständig, widerspruchsfrei und eindeutig hinsichtlich der zur erreichenden Anforderungsparameter sein. Ziele bei der Analyse von Anforderungen ist die Vervollständigung
der Anforderungsbasis sowie das Identifizieren und Auflösen von Zielkonflikten
durch Priorisierung der Anforderungen. Ergebnis der Analyse ist eine konsistente
Anforderungsbasis, die widerspruchsfrei gemäß dem aktuellen Erkenntnisstand über die
Lösung und die geltenden Rahmenbedingungen ist.
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
205
Voraussetzung für die Analyse ist die Strukturierung der Anforderungen und die
Zuordnung zu Verantwortlichen (siehe Abschn. 7.3.3 – Anforderungen strukturieren).
In einem ersten Schritt klären die jeweils verantwortlichen Fachdisziplinen ihre initialen
Anforderungen inhaltlich und prüfen die Einhaltung der Qualitätskriterien für die
jeweilige Anforderungsspezifikation (siehe Abschn. 7.3.2 Anforderungen spezifizieren).
Parallel müssen die Bearbeiter auf der Basis von Erfahrung, abgeleitet aus Vorgängerprodukten oder mit Hilfe von Checklisten ihren Teil der Anforderungsbasis vervollständigen (siehe Abschn. 7.3.1 Anforderungen ermitteln). Darüber hinaus muss geprüft
werden, ob systemübergreifende Anforderungen und Schnittstellen zwischen den Teilsystemen ausreichend definiert sind. Die Verantwortung hierfür liegt bei der Projektleitung oder den entsprechenden Querschnittsfunktionen, z. B. im Engineering.
Die Identifikation von Zielkonflikten ist bei der Analyse von Anforderungen unvermeidlich und stellt gleichzeitig einen zentralen Erfolgsfaktor beim Lösen komplexer
Probleme dar. Es muss beim Entwickeln regelmäßig die Entscheidung getroffen werden,
welche der konkurrierenden Anforderung in welchem Umfang erfüllt werden kann, soll
oder muss. Die Priorisierung von Anforderungen ermöglicht dabei das Abwägen zur
Selektion der Lösungsalternativen im Hinblick auf unterschiedliche Auswahlkriterien
und stellt damit eine wichtige Voraussetzung für die Auflösung der Zielkonflikte dar.
Dieser Vorgang kann Rückwirkungen auf das Zielsystem haben. Stellt sich während
der Analyse heraus, dass Ziele im Zielsystem beispielsweise aufgrund physikalischer
Zusammenhänge der gewählten Lösung nicht gleichzeitig (bestmöglich) erfüllbar sind,
muss in einem Iterationsschritt mit den jeweiligen Stakeholdern bzw. dem Auftraggeber
das weitere Vorgehen geklärt und dabei ggf. Ziele angepasst oder verworfen werden.
Aufgrund der Koevolution von Problem und Lösung werden solche Zielkonflikte nicht
nur in der frühen Phase des Klärens der Aufgabe identifiziert, sondern können im
gesamten Entwicklungsprozess auftreten. Die Klärung findet deshalb häufig gebündelt
im Rahmen von regelmäßigen Design Reviews mit dem Auftraggeber und ggf. anderen
betroffenen Stakeholdern statt.
Kriterien zur Analyse und Priorisierung von Anforderungen können sein:
• Verbindlichkeit der Anforderung: ist die Erfüllung der Anforderung eine Forderung
oder ein Wunsch, auch bezeichnet als Muss-, oder Kann-Anforderungen.
• Erfüllungsgrad der Anforderung (gilt nur bei Bereichsanforderungen): Unterscheiden
von Punkt-, Grenz- und Bereichsanforderungen (Baumgart 2016).
• Beitrag, den die Erfüllung der Anforderung zur Kundenzufriedenheit leistet: KanoModell, House of Quality.
• Wechselwirkungen mit anderen Anforderungen: Hat die Erfüllung einer Anforderung
für eine gewählte Lösung positive oder negative Auswirkungen auf die Erfüllbarkeit oder den Erfüllungsgrad anderer Anforderungen, so stehen diese in Wechselwirkung miteinander. Je höher das Ausmaß der Wechselwirkungen einer betrachteten
206
B. Bender und K. Gericke
Anforderung mit anderen Anforderungen ist, desto größer sind die Auswirkungen auf
das Gesamtsystem bei einer Änderung der betrachteten Anforderung. Diese Eigenschaft wird deshalb auch als „Kritikalität“ bezeichnet (siehe Abschn. 8.3.2 „Arten von
Anforderungen“). Die Kritikalität von Anforderungen kann sowohl zur Priorisierung
von Anforderungen untereinander als auch zur Gestaltung der Lösung herangezogen werden, z. B. für die Unterscheidung von Grund- und Anpassbausteinen in
Baukastensystemen.
KANO-Modell
Das KANO-Modell kategorisiert Anforderungen hinsichtlich ihrer Auswirkung auf
die Kundenzufriedenheit (Kano 1984). Basisanforderungen werden oft nicht explizit
genannt, weil sie als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Werden sie nicht erfüllt,
führt dies zu einer hohen Unzufriedenheit des Kunden. Leistungsanforderungen dagegen
werden meistens explizit genannt und dienen als maßgebliche Vergleichsgrößen mit
anderen Wettbewerbsprodukten. Ihr Erfüllungsgrad wirkt sich ungefähr proportional auf
die Kundenzufriedenheit aus. Begeisterungsanforderungen umfassen wieder implizite
Anforderungen, die vom Kunden nicht erwartet werden und bei deren Erfüllung ihre
Zufriedenheit überproportional steigt. Deshalb führen Begeisterungsanforderungen meist
zur Differenzierung vom Wettbewerb. Zu beachten ist jedoch der Einfluss der Zeit, d. h.
Anforderungen, die den Kunden zunächst begeistern, werden mit zunehmendem Fortschritt zu Leistungs- und schließlich zu Basisanforderungen (Abb. 7.16).
Abb. 7.16 KANO-Modell
7
Entwickeln der Anforderungsbasis: Requirements Engineering
207
Conjoint-Analyse
Die Conjoint-Analyse ist eine Methode, die mithilfe einer Bewertung durch den Kunden
ermittelt, welche Merkmale und Merkmalsausprägungen eines Produktes besonders
bedeutsam für die Kundenzufriedenheit sind (Baier und Brusch 2009) Dafür müssen
zunächst diejenigen Merkmale mit differenzierten Ausprägungen ausgewählt werden,
die abgefragt werden sollen. Diese werden so miteinander kombiniert, sodass unterschiedliche Produktkonzepte entstehen, bei denen mindestens eine Merkmalsausprägung
variiert. Insgesamt muss jede Ausprägung mindestens einmal vorkommen. Die Aufgabe
jedes befragten Kunden besteht nun darin, diese Produktkonzepte in eine Rangfolge zu
bringen, die seiner/ihrer persönlichen Präferenz entspricht. Die Merkmale und ihre Ausprägungen werden dadurch nicht isoliert, sondern im Wirkungskontext eines Gesamtkonzeptes bewertet. Mittels statistischer Verfahren können dennoch Rückschlüsse auf die
Bedeutung einzelner Merkmale und Ausprägungen gezogen werden.
Danksagung Die Autoren bedanken sich sehr herzlich bei Young-Woo Song, Lehrstuhl für
Produktentwicklung an der Ruhr-Universität Bochum, für seine kritische und konstruktive
Begleitung bei der Erstellung des Kapitels. Die Verantwortung für sämtliche Fehler verbleibt
selbstverständlich bei den Autoren.
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8
Arbeiten mit Anforderungen:
Requirements Management
Dietmar Göhlich und Tu-Anh Fay
Im vorstehenden Kapitel wurde beschrieben, wie eine initiale Anforderungsbasis
über das Ermitteln, Spezifizieren, Analysieren und Strukturieren von Anforderungen
entwickelt wird (Requirements Engineering). Diese Anforderungsbasis ist aber keineswegs statisch, sondern unterliegt im weiteren Verlauf des Produktentstehungsprozesses
einer ständigen Analyse, Priorisierung, Weiterentwicklung und Verifizierung. Das Entwickeln und das Arbeiten mit Anforderungen müssen, wie in Abb. 8.1 dargestellt, also
eng verzahnt und aufeinander abgestimmt erfolgen. Dabei muss auch die Rückverfolgbarkeit von Anforderungen gewährleistet sein und die Veränderung von Anforderungen
muss mit allen beteiligten Stakeholdern transparent abgestimmt und aktuell gehalten
werden. Das prozessbegleitende Arbeiten mit der Anforderungsbasis im Produktentwicklungsprozess, hier auch als Requirements Management (abgekürzt RM) bezeichnet,
soll im Folgenden beschrieben werden.
Requirements Management umfasst dabei sowohl die Prozessgestaltung als auch
die operative Anforderungsverwaltung über den gesamten Produktentstehungsprozess.
Das RM beinhaltet die Einbettung der Anforderungsverwaltung in den Entwicklungsprozess und das Zusammenspiel mit den anderen Teilprozessen, die bei einer Produktentwicklung mit zahlreichen Stakeholdern aus unterschiedlichen Bereichen und häufig
auch über die Grenzen eines Unternehmens hinweg gewährleistet werden müssen. Die
hierfür eingesetzten Dokumente – z. B. in der Form von Anforderungslisten, Steckbriefen, Lasten- und Pflichtenheften – werden im Folgenden beschrieben und es werden
D. Göhlich (*) · T.-A. Fay
Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_8
211
212
D. Göhlich und T.-A. Fay
Ansätze zur Standardisierung vorgestellt. Diese Dokumente können aufgrund des notwendigen Detaillierungsgrades sehr umfangreich werden. Schon das Lastenheft einer
einzelnen Komponente kann mehrere hundert Seiten umfassen. Unterschiedliche
Komponentenlastenhefte müssen konsistent mit Anforderungen an Module, Systeme und
Produkte erstellt und gepflegt werden. Hierfür werden in der Praxis spezifische Software
Tools eingesetzt. RM umfasst daher auch die Spezifikation, Einführung und Pflege von
geeigneten Software Lösungen.
8.1Requirements Management im
Produktentwicklungsprozess
Das Requirements Management ist ein fester Bestandteil des gesamten Produktlebenszyklus. Dementsprechend hat das Arbeiten mit Anforderungen in den Modellen zur
Produktentwicklung eine besondere Bedeutung. In Kap. 4 wird ein allgemeines Modell
der Produktentwicklung beschrieben, welches auf alle Arten technischer Produkte
und Systeme sowie die entsprechenden interdisziplinären Entwicklungs- und Entstehungsprozesse angewendet werden kann, siehe auch VDI-Richtlinie 2221 (2019a).
Die grafische Darstellung des Modells in Abb. 4.6. zeigt, wie bereits in der Produktplanung Anforderungen definiert und in der anschließenden Produktentwicklungsphase
verfeinert und ergänzt werden.
Die Vielfalt mechatronischer Produkte und die Komplexität moderner cyberphysischer Systeme machen ein verteiltes und gleichzeitiges Entwickeln auf unterschiedlichen Aggregationsstufen des zu entwickelnden Produktes unabdingbar. Eine
domänenübergreifende Methode zum Entwickeln mechatronischer Systeme wird in der
VDI-Richtlinie 2206 (2004) beschrieben, siehe hierzu Abb. 4.16. Die Kernelemente sind
hierbei ein allgemeiner Problemlösungszyklus auf der Mikroebene und das sogenannte
V-Modell auf der Makroebene. Ausgangspunkt des V-Modells sind die Anforderungen,
die auf unterschiedlichen Ebenen definiert werden (Bender 2005). Abb. 8.2 zeigt eine
Abb. 8.1 Aktivitäten beim Arbeiten mit Anforderungen
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
SystemAnforderungsanalyse
Eigenschaftsabsicherung
System
213
SystemAbnahmetest
System-Integration
und Test
System-Entwurf
Informationstechnik
-Integration und Test
IT AnforderungsAnalyse
Subsystem
SoftwareImplementierung
Komponente
Hardware-Prototypen
Mechanik-Prototypen
Abb. 8.2 Anforderungen im V-Modell der Produktentwicklung. (eigene Darstellung in Anlehnung an
Bender 2005)
exemplarische Unterteilung in drei Ebenen: Systemebene (z. B. Gesamtprodukt), erste
Subsystemebene (z. B. Modul), zweite Subsystemebene (z. B. Baugruppe oder Bauteil).
Typischerweise werden die Anforderungen für jede Ebene in unterschiedlichen
Dokumenten verwaltet, für das Gesamtprodukt in einem Produktlastenheft (PLH), für
die Subsysteme in Komponentenlastenheften (KLH).
Die im Verlauf der Lösungssuche über virtuelle und physikalische Prototypen
konkretisierten Lösungen werden einer Eigenschaftsabsicherung unterzogen. Hierzu
werden die vorhandenen oder prognostizierten Eigenschaften der einzelnen Teil- bzw.
Gesamtlösungsvarianten anhand der an sie gestellten Anforderungen evaluiert. Dies kann
z. B. durch Berechnung, Simulation, Versuch etc. erfolgen.
Die Gestaltung realer Entwicklungsprozesse erfolgt unter Berücksichtigung spezifischer Kontextfaktoren. Je nach Anwendungsfall im Unternehmen können die Ziele,
Aktivitäten und Ergebnisse von Produktentwicklungsprozessen unterschiedlich sein,
siehe VDI-Richtlinie 2221 (2019b). Requirements Engineering und Requirements
Management sind dabei immer wesentliche Teilprozesse der Produktentstehung. Insbesondere die Erstellung und Freigabe von Lasten- und Pflichtenheften werden als
wesentliche Meilensteine im Rahmenterminplan jeder Produktentwicklung vorgesehen.
Der Prozess zur Lastenhefterstellung soll im Folgenden genauer beschrieben werden.
Grundsätzlich ist dabei zu unterscheiden, ob der Entwicklungsauftrag intern vom
Hersteller definiert wird, wie es zum Beispiel in der Automobilindustrie bei der Entwicklung einer neuen Fahrzeugbaureihe aber auch in vielen anderen Branchen üblich
214
D. Göhlich und T.-A. Fay
ist, oder ob es sich um eine Auftragsentwicklung handelt, bei der der Hersteller
zunächst ein Angebot für die Entwicklung und Lieferung eines Produktes an den ausschreibenden Betreiber erstellt. Dies ist z. B. im Anlagenbau oder bei der Entwicklung
von Schienenfahrzeugen üblich, wo der Verkehrsbetreiber wie z. B. die Deutsche Bahn
Ausschreibungen erstellt und die Schienenfahrzeughersteller daraufhin entsprechende
Angebote abgeben.
Abb. 8.3a zeigt den Prozess der Erstellung des Produktlastenhefts (PLH) bei internem
Entwicklungsauftrag. Dabei werden hier exemplarisch nur zwei Produktebenen (Gesamtprodukt und Komponenten) und die Zusammenarbeit des Herstellers (häufig auch
als Original Equipment Manufacturer, kurz OEM, bezeichnet) mit seinen direkten
Lieferanten (häufig mit dem englischen Begriff Tier 1 bezeichnet) berücksichtigt. In
realen Entwicklungsprozessen arbeiten die direkten Lieferanten häufig mit weiteren Sublieferanten (Tier 2, 3…N) zusammen.
In der Planungsphase werden beim OEM die strategischen Entscheidungen gefällt
und die übergeordneten Ziele und Rahmenbedingungen für die Entwicklung eines
Produkts oder sogar für eine ganze Produktfamilie (z. B. eine Baureihe) festgelegt. Zum
Entwicklungsstart werden die grundlegenden Anforderungen und Rahmenbedingungen
vom Hersteller in einem Produktsteckbrief definiert. Auf dieser groben Ebene ist es
allerdings oft noch nicht möglich, die hierin enthaltenen Zielkonflikte vollständig
zu identifizieren. In der Produktkonzeptionsphase werden die Ziele detaillierter ausgearbeitet, dabei werden typischerweise Widersprüche transparent. Zur Auflösung der
Widersprüche sind Zielanpassungen oft unumgänglich.
Auf dieser Basis wird ein Konzeptheft erstellt, übergeordnete Ziele werden hier in
konkrete Anforderungen überführt. Das Konzeptheft beschreibt sowohl das Gesamtprodukt, bei einem Fahrzeug z. B. Gesamtabmessungen und Fahrleistungen, als auch
die wesentlichen Komponenten wie z. B. Antriebssystem oder Fahrwerk. Das Konzeptheft wird im weiteren Prozess zu einem Produktlastenheft weiterentwickelt. Dabei
treten wiederum Zielkonflikte auf, die erkannt und gelöst werden müssen. Dazu ist es
häufig sinnvoll, bereits in der frühen Phase Entwicklungspartnerschaften einzugehen
und potentielle Lieferanten auch ohne Liefervertrag in den Abstimmungsprozess einzubeziehen, wie in Abb. 8.3a dargestellt.
Bei einer Auftragsentwicklung kommt neben dem Hersteller und den Lieferanten
noch der Auftraggeber als ein dritter Stakeholder hinzu. Abb. 8.3b zeigt exemplarisch
wie der Auftraggeber auf Basis einer Ausschreibung ein Angebotslastenheft (ALH)
erstellt. Der Hersteller entwickelt auf dieser Basis ein Produktkonzept, welches, analog zum o. g. Konzeptheft, noch nicht frei von Widersprüchen ist. Im nächsten Schritt
werden diese Widersprüche, auch hier i. d. R. in Zusammenarbeit mit Lieferanten, aufgelöst und der Hersteller erstellt ein Angebot. Die zu erfüllenden Anforderungen werden
gegenüber dem Auftraggeber in einem Produktpflichtenheft des Herstellers (PPH)
dokumentiert. Kommt es daraufhin zu einem Auftrag an den Hersteller, erfolgt der
eigentliche Projektstart und das Produktpflichtenheft wird zu einem Produktlastenheft
(PLH) weiterentwickelt.
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
215
Abb. 8.3 Exemplarische Darstellung des Prozess zur Lastenhefterstellung auf der Gesamtproduktebene
mit der Unterscheidung a) interner Projektauftrag, b) externer Projektauftrag
Das freigegebene PLH ist die verbindliche Basis für die weitere Produktentwicklung
sowohl beim Hersteller als auch für die Zusammenarbeit des Herstellers mit den
Lieferanten. Dabei ist es unerheblich, ob der Entwicklungsauftrag intern vom Hersteller
definiert wird oder ob es sich um eine Auftragsentwicklung handelt. In Abb. 8.4 ist dargestellt, wie auf der Grundlage des PLH Komponentenlastenhefte (KLH) für Systeme,
Module und Bauteile erarbeitet werden. Diese KLH fassen alle Anforderungen des
Herstellers (Auftraggeber) an die Leistungen und Lieferumfänge der Komponenten
zusammen und sind ein wesentlicher Bestandteil der Anfrageunterlagen. Auf dieser
Basis erstellen die Lieferanten Angebote und Pflichtenhefte der Komponenten (KPH),
welche die Realisierung der Anforderungen beschreiben. Gegebenenfalls benennt der
Auftragnehmer in einer „Clause-by-Clause“ Kommentierung auch die Anforderungen,
die gar nicht oder in veränderter Form erfüllt werden.
Für die Einbettung des RM-Prozesses in die Gesamtheit des Produktentwicklungsprozesses sowie die Auswahl, Einführung und Pflege von RM Software Tools (siehe
Abschn. 8.3) sind spezifische Kenntnisse der Prozessabläufe, des Datenmanagements und
der informationstechnischen Umsetzung erforderlich. Daher wird die Verantwortlichkeit
im Unternehmen oft zentralen Bereichen übertragen. Bei der Anforderungsentwicklung
liegt der Schwerpunkt auf der fachlichen – in der Regel technischen – Kompetenz. Daher
wird die Verantwortung hierfür in der Regel der Produktentwicklung zugeordnet.
Anforderungen müssen mit allen relevanten Stakeholdern abgestimmt und auf Konsistenz
geprüft werden. Die verbindliche Festlegung und Abstimmung mit allen Stakeholdern
erfolgt über funktions- und bereichsübergreifende Entscheidungsinstanzen zu den durch
entsprechende Meilensteine festgelegten Zeitpunkten. Die Verantwortlichkeit für die Nachverfolgung der Umsetzung der Anforderungen wird in vielen Unternehmen ebenfalls der
216
D. Göhlich und T.-A. Fay
Produktentwicklung zugeteilt, kann aber auch im Sinne eines „vier Augen Prinzips“ als
gemeinsame Aufgabe von Produktentwicklung und Qualitätsmanagement (oder einer
anderen Querschnittsfunktion) definiert werden. In jedem Fall ist eine personenbezogene
Verantwortung erforderlich. So können zum Beispiel die Projektleiter die Gesamtverantwortung für das Produktlastenheft und die Entwicklungsingenieure für die Komponentenlastenhefte übernehmen. Übergreifende Anforderungen, z. B. für die Montage oder
Qualitätssicherung, werden dabei von den entsprechenden Querschnittsfunktionen definiert.
8.2Dokumente und Standards für das Arbeiten mit
Anforderungen
Bei der Sammlung, Zuordnung und Nachverfolgung von Anforderungen spielen
Dokumente eine zentrale Rolle. Diese technischen Dokumentationen sind auf das
jeweilige Produkt abzustimmen und entsprechend den Erfordernissen des Prozesses auszuarbeiten, siehe VDI-Richtlinie 4500 (2006). Die einfachste Form der Anforderungsdokumentation erfolgt tabellarisch in Form einer Anforderungsliste (siehe Abschn. 8.2.1),
die in der heutigen industriellen Praxis allerdings nur noch für Entwicklungsaufgaben mit
geringer Komplexität Anwendung findet.
Für komplexere Produkte mit verteilten Entwicklungsaufgaben, häufig über die
Grenzen eines Unternehmens hinweg, reichen derartig einfache Dokumentationsformen
nicht aus. Der notwendigen Weiterentwicklung der Anforderungen im Produktentwicklungsprozess und der Komplexität der Entwicklungsaufgabe wird durch unterschiedliche Dokumente Rechnung getragen. Die Anforderungen, die sich zu Beginn
Abb. 8.4 Exemplarische Darstellung von Meilensteinen, Abläufen und Dokumenten des Anforderungsmanagements im Produktentwicklungsprozess
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
217
des Produktentstehungsprozesses aus der Produktplanung ergeben, werden in der Regel
in der Form eines Steckbriefes zusammengefasst, der häufig auch als Rahmen- oder
Konzeptheft bezeichnet wird (siehe Abschn. 8.1). Im sogenannten Lastenheft wird die
Summe der Anforderungen an die Produktentwicklung festgehalten, wobei üblicherweise ein übergeordnetes Lastenheft für das Gesamt-Produkt und untergeordnete Lastenhefte für Systeme, Module und Bauteile erstellt werden. Die Lastenhefte sind eine
wesentliche Grundlage für die Zusammenarbeit von Auftraggebern und Auftragnehmern,
so zum Beispiel bei der Zusammenarbeit eines Produktherstellers mit Lieferanten von
Produktkomponenten und auch bei der Zusammenarbeit von Lieferanten untereinander.
Die Entwicklung der Anforderungsbasis und die Erstellung von Lasten- und
Pflichtenheften wurde bereits in Abschn. 7.2 diskutiert. Im Folgenden werden verschiedene Dokumente für das Arbeiten mit Anforderungen vorgestellt. Außerdem
werden Standards diskutiert, die eine vereinheitlichte Struktur, standardisierte Schnittstellen sowie standardisierte Prozesse vorschlagen.
8.2.1Anforderungsliste
Die Anforderungsliste dokumentiert alle Anforderungen in einer übersichtlichen
tabellarischen Form. Die Anforderungsliste sollte mindestens Informationen zur
Organisation, Identifikation, dem eigentlichen Inhalt der Anforderung und der Verfolgbarkeit (Erstellung und Änderungshistorie) enthalten. I. d. R. werden die Einzelanforderungen nach den Teilsystemen oder nach Hauptmerkmalen gegliedert (siehe
Bild 7.12) ebenso ist eine Klassifizierung in verbindliche Forderungen und fakultative
Wünsche üblich. Methoden zur Ermittlung von Anforderungen finden sich im
Abschn. 7.3.1. Kriterien und Methoden, die bei der Erstellung einer Anforderungsliste
helfen, werden dort bereitgestellt.
Abb. 8.5 zeigt den formalen Aufbau einer solchen Anforderungsliste. Gemäß
Abschn. 7.2.3 wird hier eine Strukturierung in Funktionalanforderungen, nicht-Funktionalanforderungen (z. B. Qualitätsanforderungen) und Rahmenbedingungen vorgeschlagen.
Allerdings gibt es für den formalen Aufbau von Anforderungslisten keinen einheitlichen Standard. Typischerweise entwickeln Organisationen eigene, jeweils auf ihren
Anwendungsfall zugeschnittene Tabellenformate.
Als konkretes Beispiel ist hier das Hubwerk eines Fassadenaufzugs zur Reinigung
von Hausfassaden aufgeführt, der in Abb. 8.6 schematisch dargestellt ist. Abb. 8.7 zeigt
einen Auszug aus der zugehörigen Anforderungsliste mit allen relevanten Informationen
inkl. einer Benennung der Quellen, aus denen die Anforderungen stammen, nämlich
einerseits aus einem Entwicklungsauftrag (zum Beispiel von der Geschäftsleitung oder
einem Kunden) aber auch aus einer einschlägigen Norm, in diesem Fall der DIN EN
1808 (Sicherheitsanforderungen an hängende Personenaufnahmemittel).
218
D. Göhlich und T.-A. Fay
Abb. 8.5 Formaler Aufbau einer Anforderungsliste
8.2.2Standards und Richtlinien für Lasten- und Pflichtenhefte
In der VDI-Richtlinie 2519 Blatt 1 (2001a) wird eine Vorgehensweise bei der Erstellung
eines Lasten- und Pflichtenheftes für Materialflusssysteme und zugehörige Automatisierungssysteme erläutert. Weiterhin werden Kriterien zur Qualitätsbeurteilung
von Lasten- und Pflichtenheften aufgestellt. In der VDI-Richtlinie 2519 Blatt 2
(2001b) und VDI/VDE Richtlinie 3694 (2014) werden – für Automatisierungs- und
Materialflusssysteme – Gliederungsvorschläge für Lasten- und Pflichtenhefte aufgestellt. Dabei werden neben allgemeinen Gesichtspunkten (z. B. die Beschreibung
der Ausgangssituation, übergreifende Eckdaten, Datenmanagement) insbesondere die
Systembeschreibung, die Schnittstellen, die systemtechnischen Anforderungen, die
Inbetriebnahme, die Qualität und die Projektorganisation behandelt.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) hat eine „Automotive Standardvorlage für Komponentenlastenhefte“ vorgeschlagen (VDA 2007), die auf der Zusammenstellung von „Best Practices“ beruht. Die VDA-Struktur besteht inhaltlich aus zwei
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
219
Teilen, in denen die übergreifenden Anforderungen, die für das Gesamtprodukt und alle
Komponenten gelten, von den spezifischen Anforderungen an die jeweilige Komponente
getrennt werden. Ferner wird in diesem Dokument eine Basis für standardisierte
IT-Unterstützung durch Requirements Engineering Tools geschaffen.
Ein branchenübergreifender Standard oder eine allgemeine Norm für Pflichten- und
Lastenhefte liegt bisher nicht vor. Die o. g. Richtlinien und Standards lassen sich aber
durchaus auf andere Anwendungsfelder der Mechatronik und des Maschinenbaus übertragen.
8.2.3Generische Lastenheftstruktur für mechatronische
Komponenten
Bei komplexen Produkten ist die Beschreibung aller Anforderungen in einem einzigen Produktlastenheft (PLH) weder sinnvoll noch möglich. Stattdessen werden neben
dem PLH zahlreiche Komponentenlastenhefte definiert. Entsprechend den jeweiligen
Anforderungsebenen gemäß Abb. 8.2 steht der Begriff Komponentenlastenheft dabei für
•
•
•
•
Systemlastenheft
Modullastenheft
Baugruppenlastenheft
Bauteillastenheft
Um die Konsistenz der Anforderungen in diesen unterschiedlichen Lastenheften zu
gewährleisten wird auch hier vorgeschlagen, die Anforderungen in übergreifende
Wippausleger
Seil
Systemgrenze
B/G
M
Arbeitsbühne
T
Hubwerk
B/G
T
M
Bremse-Getriebe Einheit
Seiltrommel
Motor
Rahmen
Fahrwerk
Abb. 8.6 Hubwerk eines Fassadenaufzugs, Systemdarstellung mit Systemgrenze
220
D. Göhlich und T.-A. Fay
Abb. 8.7 Auszug aus der Anforderungsliste für das Hubwerk eines Fassadenaufzugs
und spezifische Anforderungen aufzuteilen (siehe Abschn. 8.2.2). Die übergreifenden
Anforderungen gelten für das Gesamtprodukt und alle Komponenten und werden an
alle Komponentenlastenhefte „vererbt“. Spezifische Anforderungen müssen für jede
Komponente separat definiert werden.
Auf der Basis der o. g. Standards wird in Abb. 8.8 eine generische Lastenheftstruktur
vorgeschlagen, die als Ausgangspunkt und Checkliste für mechatronische Produkte des
Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbaus geeignet ist. Für die spezifische Entwicklungsaufgabe sind gegebenenfalls nicht alle Punkte relevant und abhängig vom spezifischen
Anwendungsfall müssen Anforderungskategorien ergänzt werden.
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
221
Abb. 8.8 Generische Lastenheftstruktur für Mechatronische Komponenten
links: übergreifende Anforderungen
rechts: spezifische Anforderungen
8.3Software für das Arbeiten mit Anforderungen
Die Dokumentation der Anforderungen und das Erstellen der vorgenannten Dokumente
werden mithilfe von Software Tools unterstützt. Einfache Office Anwendungen
erleichtern das digitale Erfassen der Anforderungen und bieten eine Möglichkeit
zur digitalen Sammlung und Bearbeitung in Form von Listen und Tabellen (vgl.
Abschn. 8.2.1). Allerdings stößt das Arbeiten mit Anforderungen auf diesem Weg schon
bei der Entwicklung von Systemen mit mittlerer Komplexität sehr schnell an praktische
222
D. Göhlich und T.-A. Fay
Grenzen. Ein prozessbegleitendes und konsistentes Bearbeiten der miteinander in
Wechselwirkung stehenden Einzelanforderungen ausschließlich mit Office-Funktionalitäten ist mit zunehmender Komplexität und Dynamik des Zielsystems daher nicht mehr
durchführbar.
Auf dem Markt existiert eine Vielzahl von spezifischen Software Tools, die
das Arbeiten mit Anforderungen unterstützen. Ihnen ist gemein, dass die Einzelanforderungen in einer Datenbank abgelegt werden und Dokumente wie das Lastenheft für ein bestimmtes Bauteil bzw. ein System mittels Export aus der Datenbank
erstellt werden können. Allerdings müssen die Software Tools in der Regel an die
unternehmensspezifischen Prozesse, an spezifische Schnittstellen, an Geschäfts- und
Sicherheitsanforderungen angepasst werden. Moderne Anforderungsmanagement Software Tools verfügen über ein Workflow Management, mit dem die Verwaltung der
Anforderungen in den Entwicklungsprozess und das Projektmanagement eingebunden
werden kann.
Im Folgenden wird beschrieben, wie die grundlegenden Aktivitäten beim Arbeiten mit
Anforderungen durch Software Tools unterstützt werden.
8.3.1Anforderungen definieren und dokumentieren
In Software Systemen werden Anforderungen in Form von sogenannten Objekten in
einer Datenbank erfasst und mit Attributen versehen. Attribute bestehen typischerweise aus drei Teilen: dem Attributtyp, der Attributdefinition und dem Attributwert. Der
Attributtyp definiert den Informationstyp, den das Attribut speichern kann. Die Attributdefinition kann weitere Parameter für das Attribut festlegen. Beispielsweise kann die
Attributdefinition Standardwerte bereitstellen oder den Bereich des eigentlichen Attributwerts einschränken. Für die in Abschn. 8.2.1 vorgestellte Anforderungsliste haben die
Einzelanforderungen die Attribute Identifikator ID, Verantwortliche Person, Priorität,
Änderungsdatum, Bemerkung und Quelle der Anforderung. In der Vorlage ist es möglich, die Attribute im Typ und in der Ausprägung zu spezifizieren und einen Default-Wert
vorzugeben. Z. B. ist das Attribut Bemerkung vom Typ Text und im Attributwert wird der
Inhalt der Bemerkung abgespeichert.
Um das Arbeiten mit Anforderungen durch Tools zu unterstützen, werden vordefinierte Vorlagen verwendet, die an die spezifischen Informationsstrukturen, Prozesse
und Kontextfaktoren der jeweiligen Entwicklungsorganisation angepasst sind. Diese
Vorlagen dienen auch der Strukturierung und Gliederung der Einzelanforderungen, z. B.
nach der in Abschn. 7.3.1 dargestellten erweiterten Hauptmerkmalsliste. In der Datenbank werden die Gliederungsebenen ebenfalls als Objekte hinterlegt. Dabei bestehen
mehrere Gliederungsmöglichkeiten, die parallel verwendet werden. Eine Gliederung
erfolgt nach System-, Subsystem- und Komponentenanforderungen, wie in Abb. 8.2 dargestellt. Außerdem können Einzelanforderungen in Rahmenbedingungen, Funktionalanforderungen und Qualitätsanforderungen gegliedert werden (siehe Abb. 8.5). Die
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
223
jeweilige Gliederung stellt eine hierarchische Struktur dar und Attribute der Gliederung
können als „Eltern-Kind-Beziehungen“ vererbt werden. Des Weiteren erleichtern Software Tools die Handhabung von Abhängigkeiten und unterstützen somit die Rückverfolgbarkeit. In einer klassischen Anforderungsliste wie in Abb. 8.7 gezeigt, wird eine
vorhandene Abhängigkeit als Text in der Spalte Bemerkung dokumentiert (Anforderung
F-2-1 ergibt sich aus F-1-1). Mithilfe eines Software Tools kann die Abhängigkeit mittels
Verlinkung dokumentiert werden und Änderungen in der einen würden in der von ihr
abhängigen Anforderung automatisch aufgezeigt.
Anforderungen auf Systemebene, die Auswirkungen auf mehrere, miteinander in
Wechselwirkung stehende Subsysteme haben, können mithilfe eines gemeinsamen
Systemmodells dargestellt werden. Modellbasiertes Systems Engineering (MBSE) ist die
formalisierte Anwendung der Modellierung zur Unterstützung von Systemanforderungen,
Entwurfsanalysen, Verifizierungen und Validierungen. Zur Beschreibung eines Systemmodells ist eine geeignete Kombination aus Modellierungssprache, Methode und Software Tool zu wählen (Zingel 2013). Ansätze zur interdisziplinären Systemmodellierung
wurden im Rahmen einer umfangreichen Studie von INCOSE (International Council
on Systems Engineering) untersucht. Dabei wurde SysML als geeignete softwareunabhängige, grafische Modellierungssprache identifiziert (Estefan 2007). SysML steht für
Systems Modeling Language und basiert auf UML in der Version 2.0. Nach Anpassungen
und Überarbeitungen wurde im April 2006 die SysML als Standard anerkannt und 2007
SysML 1.0 von der OMG (Object Management Group) offiziell veröffentlicht (OMG).
Die Anforderungen an das System und die Relationen zu anderen Anforderungen werden
in Anforderungsdiagrammen abgebildet. Einzelanforderungen an die Subsysteme und
Komponenten lassen sich mit diesem Modell aus Systemanforderungen ableiten.
Relationen werden in SysML in vier verschiedenen Beziehungsebenen definiert:
Systemstruktur, Systemverhalten, Anforderungen und Parametrik in Form von
mathematischen Beziehungen (Friedenthal et al. 2014). In Abb. 8.9 sind die Beziehungsebenen grafisch dargestellt. Anforderungen sind ein integraler Bestandteil des Systemmodells. Systemmodelle ermöglichen über die grafische Repräsentanz hinaus eine
automatisierte Korrelation der Systemartefakte (blaue Pfeile in Abb. 8.9) (Weilkiens 2008).
Die möglichen Beziehungsarten sind in Tab. 8.1 aufgelistet (Dick et al. 2017;
Weilkiens 2008). Diese werden in SysML und auch in RM-Software Tools verwendet.
Änderungen in der Systemstruktur oder im Systemverhalten haben direkte Auswirkungen auf die Anforderungen und werden, da sie im Systemmodell hinterlegt sind,
von der Software automatisch erkannt und transparent gemacht.
Als Beispiel ist hier das bereits in Abb. 8.7 diskutierte Hubwerk eines Fassadenaufzugs zur Reinigung von Hausfassaden aufgeführt. In Abb. 8.10 ist das Anforderungsdiagramm auf oberster Ebene für die Rahmenbedingungen gezeigt. Der Übersichtlichkeit
wegen wurden nur die Attribute Identifikation und der beschreibende Text dargestellt.
Die Informationen aus dem Anforderungsdiagramm lassen sich leicht in eine Tabellenform überführen, wie in Tab. 8.2 gezeigt. Die Tabellenansicht zeigt jedoch nicht die
Abhängigkeiten.
224
Abb. 8.9 Generische
Darstellung der vier
Beziehungsebenen mit
Verlinkung. (eigene Darstellung
in Anlehung an Weilkiens 2008)
D. Göhlich und T.-A. Fay
1. Systemstruktur
ibd
req
3. Anforderungen
2. Systemverhalten
act
par
4. Parametrik
Damit der Austausch von Informationen zwischen dem Systemmodell und der RM
Software störungsfrei funktioniert, muss die Schnittstelle zwischen beiden Werkzeugen
klar definiert sein und Regeln für die Synchronisation der Daten müssen vorab vereinbart sein. So werden die Attribute im Systemmodell den Attributen in der RM Software
zugeordnet. Eine Regel könnte beinhalten, dass nur Attribute mit mindestens dem Status
Ready for Review synchronisiert werden.
8.3.2Anforderungen ändern, versionieren und rückverfolgen
Im Laufe des Produktentwicklungsprozesses müssen Anforderungen angepasst oder
revidiert werden und das häufig mehrfach und in allen Phasen des Produktentwicklungsprozesses. RM Software Tools stellen Funktionen bereit, die sowohl die Historie einer
Anforderung über zahlreiche Versionen als auch die Rückverfolgbarkeit der Auswirkungen von veränderten Anforderungen ermöglichen. Wenn eine Anforderung verändert wird, sollten die Auswirkungen der Änderungen geklärt und geänderte Attribute
versioniert werden. Um die Transparenz zu erhöhen, werden Anforderung mit einem
Attribut „Status“ versehen, der beispielsweise folgende Stati vorsieht: Draft, Ready for
Review, To Be Revised, Released (VDA 2007). In einem Attribut „Kommentar“ können
Begründungen zur Änderung festgehalten werden. Der Verlauf der Änderungen wird in
einer Historie abgespeichert. Die notwendigen Entscheidungsprozesse im Unternehmen
können damit wirksam unterstützt werden.
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
225
Tab. 8.1  Beziehungsarten
Beziehungsart/Relation
Beschreibung
Derive Requirement Relationship
Lässt sich eine Anforderung von einer anderen Anforderung
ableiten, wird ihre Relation als „Derive Requirement
Relationship“ bezeichnet. Sie ist von der abgeleiteten
Anforderung auf die ursprüngliche Anforderung gerichtet
und wird mit „deriveReqt“ gekennzeichnet.
Namespace Containment
Ist eine Anforderung in einer anderen Anforderung enthalten, spricht man von „Namespace Containment“.
Satisfy Relationship
Wird eine Anforderung von einem Designelement erfüllt,
handelt es sich um eine „Satisfy Relationship“. Sie ist vom
Designelement zur Anforderung gerichtet und wird mit
„satisfy“ gekennzeichnet.
Copy Relationship
Ist eine Anforderung eine Kopie einer anderen Anforderung,
wird die Beziehung zwischen diesen als „Copy Relationship“ bezeichnet. Sie ist von der Kopie zum Original
gerichtet und wird mit „copy“ gekennzeichnet.
Verify Relationship
Kann eine Anforderung durch einen Test verifiziert werden,
spricht man von „Verify Relationship“. Sie ist vom Test auf
die zu verifizierende Anforderung gerichtet und wird mit
„verify“ gekennzeichnet.
Test Case
Ein Test Case definiert einen Fall, der überprüft, ob das
betrachtete System die Anforderung erfüllt.
Refine Relationship
Wird eine Anforderung durch weitere Anforderungen/
Modellelemente detaillierter beschrieben, so spricht man
von „Refine Relationship“. Sie ist von der verfeinerten/
detaillierteren Anforderung/Modellelement auf die zu verfeinernde/allgemeinere Anforderung gerichtet und wird mit
„refine“ gekennzeichnet.
Trace Relationship
Besteht eine Beziehung zwischen einer Anforderung und
einem beliebigen Modellelement, handelt es sich um
eine „Trace Relationship“, vorausgesetzt, ein Fall von
Traceability liegt vor. Sie wird mit „trace“gekennzeichnet.
Sie ist beispielsweise von einer funktionalen Anforderung
auf eine nicht-funktionale Anforderung gerichtet.
Abb. 8.11 zeigt die grafische Oberfläche einer RM Software. Rechts im Bild ist das
Eigenschaftsfenster (Properties) aufgeklappt. Im Reiter „Discussion“ kann der Entscheidungsprozess zur Änderungshistorie nachverfolgt werden. Im Reiter „Versions“
lassen sich alle Änderungen nachverfolgen. Bei Bedarf können auch ältere Versionen der
Anforderung angezeigt und Änderungen zur aktuellen Version kenntlich gemacht werden.
226
D. Göhlich und T.-A. Fay
req [Package] Fassadenaufzug- Hubwerk Anforderungen [Top Level Anforderungen]
<<requirement>>
Hubwerkanforderung
<<refine>>
ID = „R-0“
Text = „Das Hubwerk muss für ein Fassadenaufzug
zur Reinigung von Hausfassaden entworfen werden.“
<<refine>>
<<refine>>
<<requirement>>
Klima
ID = „R-1“
Text = „ Der Einsatz muss unter
mitteleurop. Klimabedingungen
möglich sein“
<<requirement>>
Umwelt
ID = „R-2“
Text = „Das Hubwerk muss
vor Umwelteinflüssen
geschützt werden“
<<refine>>
<<requirement>>
Umgebungstemperatur
ID = „R-1.1“
Text = „Das Hubwerk muss bei
Außentemperaturen zwischen -20°C
und 40°C betriebsbereit sein.“
<<refine>>
<<verify>>
<<testCase>>
Testfall 1
<<requirement>>
Hubgeschwindigkeit
<<requirement>>
Anwendung
ID = „R-7“
Text = „ Der Einsatz darf nur
bei Windverhältnissen
v_wind ≤ 20m/s erfolgen“
ID = „R-15“
Text = „Die
Hubgeschwindigkeit soll
10m/min +-5% betragen“
<<satisfy>>
<<block>>
Windsensor
Abb. 8.10 SysML Darstellung der Anforderungen für die Rahmenbedingungen des Fassadenaufzugs
Tab. 8.2  Tabellarische Form der Anforderungen aus der SysML Darstellung
ID
Titel
Text
R-0
Hubwerkanforderung
Das Hubwerk muss für ein Fassadenaufzug zur Reinigung
von Hausfassaden entworfen werden
R-1
Klima
Der Einsatz muss unter mittel-europ. Klimabedingungen
möglich sein
R-1.1
Umgebungstemperatur
Das Hubwerk muss bei Außentemperaturen zwischen −20 °C
und 40 °C betriebsbereit sein
R-2
Umwelt
Das Hubwerk muss vor Umwelteinflüssen geschützt werden
R-4
Anwendung
Der Einsatz darf nur bei ruhigen Windverhältnissen erfolgen
R-15
Hubgeschwindigkeit
Die Hubgeschwindigkeit soll 10 m/min + −5 % betragen
Im Kontext des Requirements Engineering wird die Rückverfolgbarkeit (Traceability)
über die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Objekten auf derselben Ebene ermöglicht oder über die verschiedenen Ebenen (System, Sub-System, Komponente) hinweg.
D. h., es handelt sich um Eltern-Kind-Beziehungen, bei der Eltern eine Vielzahl von
Kindern, aber Kinder auch eine Vielzahl von Eltern haben können (N-M-Beziehungen).
RM Software Tools unterstützen die Dokumentation dieser Beziehungen typischer Weise
durch einfache „Drag-and-Drop“ Funktionalitäten, wobei die Richtungsabhängigkeit zu
beachten ist. „Traces“ werden auf die Informationen zurückgeführt, auf die sie reagieren
(Dick et al. 2017).
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
227
Abb. 8.11 RM Software Visure Solutions, GUI mit Diskussionsfenster (rechts im Bild)
Die konsequente Umsetzung der Rückverfolgbarkeit in Entwicklungsprojekten ist
allerdings mit hohen Erfassungskosten verbunden. So sind zum Beispiel in der Automobilindustrie mehrere zehntausend Anforderungen und daraus resultierend große Mengen an
sich potenziell beeinflussenden Design-Artefakten, Quellcodes, und Testfällen durchaus
üblich (Houdek 2013). Verschiedene Entwicklungsartefakte wie Anforderungen, CADModelle, Quellcode oder Testprotokolle werden häufig mit individuellen Werkzeugen
erstellt und verwaltet. Viele dieser Werkzeuge sind nicht interoperabel und erlauben deshalb keine übergreifende Rückverfolgbarkeit. Daten aus heterogenen Werkzeugen müssen
zunächst aufwendig homogenisiert werden. Daher sollte die Tiefe der Rückverfolgbarkeit sorgfältig geplant werden und mittels geeigneter Traceability Software unterstützt
werden (Egyed et al. 2009). In diesem Zusammenhang ist es darüber hinaus wichtig, die
Veränderung von Anforderungen auch mit dem Änderungsprozess (siehe Kap. 20) zu verzahnen. Die RM Software und der RM Workflow sollten möglichst nahtlos in die Software
Tools zum Projekt- und Änderungsmanagement integriert sein.
8.3.3Anforderungen kommunizieren und über Schnittstellen
austauschen
Der Nutzen der heute am Markt erhältlichen Software Tools beschränkt sich nicht nur auf
die Unterstützung des unternehmensinternen Requirements Engineering und Management,
sondern fördert auch die Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Lieferanten durch eine
systemgestützte Abstimmung und Aktualisierung der Anforderungen.
228
D. Göhlich und T.-A. Fay
OEM 1
Lieferant 1
System A
System A
Email der
ReqIF-Datei
OEM 2
Lieferant 2
und/oder
System B
OEM 3
Ablage der
ReqIF-Datei auf
einem zentralen
Server
System C
System B
Lieferant 3
System C
Exportschnittstelle
Importschnittstelle
ReqIF Datei
Abb. 8.12 Austausch von Anforderungen mittels ReqIF-Standard (VDA 2007)
Damit die Kommunikation zwischen Hersteller (OEM) und Lieferant zu jeder Zeit
gewährleistet ist und nicht durch die Anwendung unterschiedlicher Software Tools eingeschränkt wird, ist eine standardisierte Schnittstelle erforderlich, welche die Attribute
über ein standardisiertes Format beschreibt. Ein solches Format bietet das Requirements
Interchange Format (ReqIF), welches ursprünglich im Rahmen eines Konsortiums
aus deutschen Automobilherstellern entwickelt wurde. Der ReqIF -Standard ist
ein toolunabhängiges, xml-basiertes und frei verfügbares Austauschformat für
Anforderungen und wurde mithilfe realer Austauschszenarien entwickelt (VDA 2007).
Das ReqIF Format wurde an das internationale Konsortium OMG übergeben und wird
dort stetig weiterentwickelt. Zum Austausch von Anforderungen müssen die Software
Tools beim OEM und Lieferanten über ReqIF Import und Exportschnittstellen verfügen.
Ein beispielhafter Austausch mittels ReqIF ist in Abb. 8.12 dargestellt.
Literatur
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Dick, J., Hull, E., & Jackson, K. (2017). Requirements engineering (4. Aufl.). Switzerland:
Springer.
Egyed, A., Grünbacher, P., Heindl, M., & Biffl, F. (2009). Value-based requirements traceability:
Lessons learned. Design requirements engineering: A ten-year perspective (= Lecture Notes
in Business Information Processing) (Nr. 14, S. 240–257). Berlin: Springer. https://doi.
org/10.1007/978-3-540-92966-6_14. (springer.com. Zugegriffen: 18. Dez. 2016). ISBN 978-3540-92965-9.
8
Arbeiten mit Anforderungen: Requirements Management
229
Estefan, J. A. (2008). Survey of model-based systems engineering (MBSE) methodologies. Incose
MBSE Focus Group, 25(8), 1–12.
Friedenthal, S., Moore, A., Steiner, R., & Steiner, R. (2014). A practical guide to SysML: The
systems modeling language (3. Aufl.). Amsterdam: Elsevier.
Houdek, F. (2013). Managing large scale specification projects. 19th Intl. Working Conference on
Requirements Engineering: Foundation for Software Quality. Essen, Germany.
OMG. https://www.omg.org/spec/SysML/About-SysML/. Zugegriffen: 17. Aug. 2019.
VDA. (2007). Automotive VDA-Standardvorlage Komponentenlastenheft (1. Aufl.). Frankfurt a. M:
Henrich Druck + Medien GmbH & Co. KG.
VDI-Richtlinie 2206. (2004). Entwicklungsmethodik für mechatronische Systeme. Berlin: Beuth.
VDI-Richtlinie 2221. (2019a). Entwicklung technischer Produkte und Systeme. Düsseldorf: VDI.
VDI-Richtlinie 2221. (2019b). Blatt 2 Entwicklung technischer Produkte und Systeme - Gestaltung
individueller Produktentwicklungsprozesse. Düsseldorf: VDI.
VDI-Richtlinie 2519. (2001a). Blatt 1 Vorgehensweise bei der Erstellung von Lasten-/Pflichtenheften. Düsseldorf: VDI.
VDI-Richtlinie 2519. (2001b). Blatt 2 Lastenheft/Pflichtenheft für den Einsatz von Förder- und
Lagersystemen. Düsseldorf: VDI.
VDI-Richtlinie 4500. (2006). Technische Dokumentation. Düsseldorf: VDI.
VDI/VDE-Richtlinie 3694. (2014). Lastenheft/Pflichtenheft für den Einsatz von Automatisierungssystemen. Düsseldorf: VDI.
Weilkiens, T. (2008). Systems Engineering mit SysML-UML: Modellierung, Analyse, Design.
Heidelberg: dpunkt.
Zingel, C. (2013). Basisdefinition einer gemeinsamen Sprache der Produktentwicklung im Kontext
der Modellbildung technischer Systeme und einer Modellierungstechnik für Zielsystem und
Objektsystem technischer Systeme in SysML auf Grundlage der ZHO Prinzips (Bd. 70)., IPEK
Forschungsberichte Karlsruhe: IPEK.
Teil III
Konzeptentwicklung
9
Funktionen und deren Strukturen
Kilian Gericke, Beate Bender, Gerhard Pahl,
Wolfgang Beitz, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
Das Konzept eines Produkts lässt die von einem Produkt zu erfüllenden Funktionen
erkennen und beschreibt mit welchen Hilfsmitteln, den Funktionsträgern, diese erfüllt
werden sollen. Es ist also ein Abbild der Produktarchitektur (vgl. Kap. 12). Es gibt den
prinzipiellen Aufbau und den prinzipiellen Zusammenhang der Haupt- und, wenn notwendig, auch der Nebenelemente des Produkts untereinander wieder. Gleichzeitig legt
es grundsätzliche gestalterische Aspekte fest. Wegen dieser grundsätzlichen Bestimmung
der wesentlichen Elemente des Produkts und ihres Zusammenhangs untereinander
kommt dem Konzept höchste Bedeutung zu. Fehler im Konzept können später gar nicht
oder nur mit größtem Aufwand korrigiert werden.
Neben dem funktionalen Aspekt besteht das Konzept aus zwei Teilkonzepten, dem
Wirkkonzept und dem Gestaltkonzept. Wirkflächen konkretisieren die Beschreibung eines
Wirkkonzepts und sind für die Erarbeitung des Gestaltkonzepts von zentraler Bedeutung.
K. Gericke (*)  
Universität Rostock, Rostock, Deutschland
B. Bender
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
J. Feldhusen
RWTH Aachen, Aachen, Deutschland
K.-H. Grote
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
G. Pahl
Darmstadt, Deutschland
W. Beitz
Berlin, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_9
233
234
K. Gericke et al.
• Wirkkonzept (WK): Es wird zuerst festgelegt und gibt die zur Funktionserfüllung
gewählten physikalischen Effekte und deren Verknüpfung untereinander, die prinzipiellen
Werkstoffarten (Effektträger) sowie die Gestaltung der Wirkflächen (WF) wieder.
• Wirkflächen (WF): An den Wirkflächen wird die Umsetzung der gewählten
physikalischen Effekte erzwungen. Dazu wird im Allgemeinen ein Wirkflächenpaar
(WFP), also zwei Wirkflächen, die miteinander korrespondieren, benötigt.
• Gestaltkonzept (GK): Es legt die Hauptabmessungen und -gestaltung sowie die
Zuordnung der Elemente eines Produkts untereinander unter Berücksichtigung des
Hauptflusses und evtl. Nebenflüsse fest.
Wegen der großen Bedeutung des Konzepts sind vor seiner Erstellung mögliche wesentliche Probleme zu erkennen.
9.1Abstrahieren zum Erkennen der wesentlichen Probleme
9.1.1Ziel der Abstraktion
Fast kein Lösungsprinzip ist auf Dauer als optimal anzusehen. Neue Technologien,
Werkstoffe und Arbeitsverfahren sowie naturwissenschaftliche Erkenntnisse eröffnen
möglicherweise in neuartiger Kombination andere und bessere Lösungen.
Der Erarbeitung neuer Lösungsprinzipien stehen dabei jedoch oft diverse Hindernisse
im Weg. So existieren in jedem Unternehmen Erfahrungen, aber auch Vorurteile und
Konventionen, die zusammen mit dem Streben nach geringstem Risiko den Durchbruch
zu ungewohnten Lösungen verhindern, die technisch besser und wirtschaftlicher sein
können. Des Weiteren kommt es häufig vor, dass vom Aufgabensteller beim Erarbeiten
der Anforderungsliste bereits Lösungsprinzipien oder Vorschläge für eine bestimmte
Lösung geäußert werden. Oft basieren einzelne Anforderungen bereits auf Ideen und
Vorstellungen zur konstruktiven Umsetzung. Solche bewussten und auch unbewussten
Vorfixierungen auf bestimmte Lösungen schränken den Lösungsraum ein und können für
die Entwicklung einer besseren Lösung hinderlich sein.
Beim Vorgehen zum Erreichen einer neuen, nachhaltigen Lösung darf man sich nicht
von Vorfixierungen oder konventionellen Vorstellungen allein leiten lassen oder sich mit
ihnen zufriedengeben. Vielmehr muss sorgfältig geprüft werden, ob nicht neuartige und
zweckmäßigere Lösungswege möglich sind.
Zum Auflösen von Vorfixierungen und zum Befreien von konventionellen Vorstellungen dient die hier angestrebte Abstraktion. Beim Abstrahieren sieht man vom
Individuellen und vom Zufälligen ab und versucht das Allgemeingültige und Wesentliche
zu erkennen. Eine solche Verallgemeinerung, die das Wesentliche hervortreten lässt, führt
dabei auf den Wesenskern der Aufgabe. Wird dieser treffend formuliert, so werden die
Gesamtfunktion und die die Problematik kennzeichnenden, wesentlichen Bedingungen
erkennbar, ohne dass damit schon eine bestimmte Art der Lösung festgelegt wird.
9
Funktionen und deren Strukturen
235
Betrachten wir als Beispiel die Aufgabe, eine Labyrinthdichtung einer
schnelllaufenden Strömungsmaschine unter bestimmten gegebenen Bedingungen zu entwickeln oder entscheidend zu verbessern. Die Aufgabe sei durch eine Anforderungsliste
umrissen, das zu erreichende Ziel ist also beschrieben. Im Sinne einer abstrahierenden
Betrachtung würde der Wesenskern nicht darin bestehen, eine Labyrinthdichtung zu
konstruieren, sondern eine Wellendurchführung berührungslos abzudichten, wobei
bestimmte Betriebseigenschaften zu garantieren sind und ein gewisser Raumbedarf nicht
überschritten werden soll. Ferner sind Kostengrenzen und Lieferzeiten zu beachten.
Im konkreten Fall wäre zu fragen, ob der Wesenskern der Aufgabe darin liegt:
• die technischen Funktionen, z. B. Dichtigkeit oder die Betriebssicherheit beim
Anstreifen zu erhöhen,
• das Gewicht oder den Raumbedarf zu verringern,
• die Kosten entscheidend zu senken,
• die Lieferzeit merklich zu kürzen oder
• die Abwicklung und den Fertigungsablauf zu verbessern.
Alle genannten Fragen können Teile der Gesamtaufgabe sein, aber ihre Bedeutung
ist unter Umständen stark unterschiedlich. Sicherlich müssen sie alle angemessen
berücksichtigt werden. Eine der genannten Teilaufgaben wird ein wichtiger Anlass
sein, weswegen ein neues und besseres Lösungsprinzip gefunden werden muss. Neuentwicklungen für Produkte nach einem bekannten und bewährten Lösungsprinzip
werden oft allein wegen der Kosten- und Lieferzeitsenkungen, verbunden mit einer
Umstrukturierung der Abwicklung und Fertigung, nötig.
Wenn im oben erwähnten Beispiel eine Verbesserung der Dichtigkeit den Wesenskern darstellt, werden neue Dichtsysteme zu suchen sein, folglich muss man sich mit der
Physik der Strömung in engen Spalten beschäftigen und aus der gewonnenen Erkenntnis
Anordnungen vorsehen, die bei erzielter höherer Dichtigkeit die anderen genannten Teilfragen ebenfalls lösen können. Wäre die Kostenminderung wesentlich, so wird man nach
einer Analyse der Kostenstruktur zu untersuchen haben, ob bei gleicher physikalischer
Wirkungsweise durch andere Wahl der Materialien, durch Verminderung der Zahl der
Teile oder durch eine andere Fertigungsart eine Kostensenkung möglich erscheint. Man
könnte aber auch neue Dichtsysteme suchen, allerdings mit dem Ziel, mit geringerem
Kostenaufwand eine größere oder wenigstens die gleiche bisherige Dichtigkeit zu
erreichen.
Das Identifizieren des Wesenskerns der Aufgabe mit den funktionalen Zusammenhängen und den aufgabenspezifischen, wesentlichen Bedingungen zeigt erst das Problem
auf, für das eine Lösung zu finden ist. Ist man sich über den Wesenskern der vorliegenden Aufgabe klarer geworden, kann man sehr viel zweckmäßiger die Gesamtaufgabe im Zusammenhang mit den sichtbar werdenden Teilaufgaben formulieren. Deshalb
ist es notwendig, durch Erfassen des Wesenskerns der Aufgabe die bestehenden wesentlichen Probleme zu erkennen (Hansen 1966; Lehmann 1985; Steuer 1968).
236
K. Gericke et al.
9.1.2Systematische Erweiterung der Problemformulierung
An dieser Stelle des Entwicklungsprozesses ist die beste Gelegenheit, verantwortliches Handeln des Entwicklers und Konstrukteurs frühzeitig ins Spiel zu bringen.
Vom Wesenskern der Aufgabe ausgehend sollte schrittweise geprüft werden, ob eine
Erweiterung oder sogar Abänderung der ursprünglichen Aufgabe zweckmäßig erscheint,
um zukunftssichere Lösungen zu finden.
Ein einleuchtendes Beispiel zu einem solchen Vorgehen lieferte Krick (1969). Die
Aufgabe war, das Abfüllen und Versenden von Futtermitteln von einem gegebenen
Zustand aus zu verbessern. Eine Analyse ergab die in Abb. 9.1 dargestellte Situation.
Ein schwerwiegender Fehler wäre es nun, von der vorgefundenen Lage ausgehend
die sich darstellenden Teilaufgaben als solche zu akzeptieren und zu verbessern. Mit
einem solchen Vorgehen würde man andere, zweckmäßigere und wirtschaftlichere
Abb. 9.1 Vorgefundener Zustand beim Futtermittelversand (Krick 1969)
9
Funktionen und deren Strukturen
237
Lösungsmöglichkeiten außer Acht lassen. Mithilfe einer Abstraktion und einer
systematischen Erweiterung des Erkannten sind folgende Problemformulierungen denkbar, wobei der Abstraktionsgrad jeweils schrittweise erhöht wird:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Füllen, Wiegen, Verschließen und Stapeln der mit Futtermittel gefüllten Säcke.
Übergabe des Futtermittels vom Mischsilo in Vorratssäcke im Lagerhaus.
Übergabe von Futtermittel aus dem Mischsilo in Säcken auf den Lieferwagen.
Übergabe von Futtermittel aus dem Mischsilo an den Lieferwagen.
Übergabe von Futtermittel aus dem Mischsilo an ein Transportmittel.
Übergabe von Futtermittel aus dem Mischsilo an den Vorratsbehälter des Verbrauchers.
7. Übergabe von Futtermittel aus den Vorratsbehältern der Futtermittelkomponenten an
den Vorratsbehälter des Verbrauchers.
8. Übergabe von Futtermittel vom Erzeuger zum Verbraucher.
Kennzeichnend für dieses Vorgehen ist:
Die Problemformulierung wird schrittweise so breit als möglich entwickelt. Man
bleibt also nicht bei der vorgefundenen oder naheliegenden Formulierung, sondern
bemüht sich um eine systematische Erweiterung, die eine Verfremdung darstellt, um sich
von der vorgegebenen Lösung zu befreien und damit andere Möglichkeiten zu öffnen. So
ist z. B. die 8. Formulierung in diesem Fall die denkbar breiteste, allgemeinste und an die
geringsten Voraussetzungen gebundene.
Der Wesenskern ist in der Tat der mengen- und qualitätsgerechte wirtschaftliche
Transport vom Erzeuger zum Konsumenten und nicht z. B. die beste Art und Weise des
Verschließens der Futtermittelsäcke oder des Stapelns und Förderns der Futtermittel im
Lagerhaus. Bei einer breiteren Formulierung können sich Lösungen anbieten, die das
Abfüllen in Säcke und Stapeln im Magazin überflüssig machen.
Wie weit man nun eine solche Problemformulierung treibt, hängt von den jeweiligen
Bedingungen der Aufgabe ab. Im vorliegenden Beispiel wird sich die Formulierung 8 aus
technischen, zeitlichen und witterungsbedingten Gründen überhaupt nicht durchführen
lassen: der Verbrauch des Futtermittels ist gerade nicht an die Zeit der Ernte gebunden,
der Konsument wird aus verschiedenen Gründen die Speicherung über ein Jahr nicht in
Kauf nehmen wollen, darüber hinaus müsste er die jeweils gewünschte Mischung der
einzelnen Futtermittelkomponenten selbst durchführen. Aber der Transport des Futtermittels auf Abruf, z. B. mit Silowagen unmittelbar vom Mischbehälter zum Vorratsbehälter des Verbrauchers (Formulierung 6), ist ein wirtschaftlicheres Verfahren als die
Zwischenlagerung und der Transport kleinerer Mengen in Säcken.
An diesem Beispiel wurde gezeigt, wie die umfassende und treffende Problemformulierung auf abstrakter Ebene durch eine systematische Erweiterung oder sinnvolle
Abänderung den Weg zu einer besseren Lösung öffnet. Ein solches Vorgehen schafft die
grundsätzliche Möglichkeit, die Einwirkung und Verantwortlichkeit des Entwicklers in
238
K. Gericke et al.
einer breiteren, übergeordneten Sicht zu Geltung zu bringen, z. B. auch in Fragen des
Umweltschutzes oder der Wiederwendung bzw. des Recyclings. Hilfreich ist es, die
Anforderungsliste in nachstehender Weise zu analysieren.
9.1.3Problem erkennen aus der Anforderungsliste
Das Klären der Aufgabenstellung durch Erarbeiten der Anforderungsliste hat bei den
Beteiligten bereits ein eingehendes Befassen mit der bestehenden Problematik und
einen hohen Informationsstand hervorgerufen. Insofern diente das Aufstellen der
Anforderungsliste auch zur Vorbereitung dieses Arbeitsschrittes.
Der erste Hauptarbeitsschritt zur Lösung besteht darin, die Anforderungsliste auf
die geforderte Funktion und auf wesentliche Bedingungen hin zu analysieren, damit
der Wesenskern klarer hervortritt. Roth (2000, 2001) hat darauf hingewiesen, die in
der Anforderungsliste enthaltenen funktionalen Zusammenhänge in Form von Sätzen
herauszuschreiben und nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen.
Das Allgemeingültige und Wesentliche einer Aufgabe kann durch eine Analyse
hinsichtlich funktionaler Zusammenhänge und wesentlicher aufgabenspezifischer
Bedingungen bei gleichzeitig schrittweiser Abstraktion aus der Anforderungsliste relativ
einfach gewonnen werden. Dazu ist folgendes Vorgehen zweckmäßig:
1. Schritt: Wünsche weglassen.
2. Schritt: Nur noch Forderungen berücksichtigen, die die Funktionen und wesentlichen
Bedingungen unmittelbar betreffen.
3. Schritt: Quantitative Angaben in qualitative umsetzen und dabei auf wesentliche Aussagen reduzieren.
4. Schritt: Erkanntes sinnvoll erweitern.
5. Schritt: Problem lösungsneutral formulieren.
Je nach Aufgabe und/oder Umfang der Anforderungsliste können entsprechende Schritte
weggelassen werden.
Am Beispiel einer Anforderungsliste für einen Geber eines Tankinhaltsmessgerätes
bei einem Kraftfahrzeug nach Abb. 9.2 wird der Vorgang der Abstraktion entsprechend
der genannten Anweisung in Tab. 9.1 gezeigt. Durch die allgemeine Formulierung wird
erkennbar, dass bezüglich des funktionalen Zusammenhangs Flüssigkeitsmengen zu
messen sind und dass diese Messaufgabe unter den wesentlichen Bedingungen steht, die
sich ändernden Mengen in beliebig geformten Behältern fortlaufend zu erfassen.
Damit ist das Ergebnis dieses Schrittes eine Definition der Zielsetzung auf abstrakter
Ebene, ohne eine bestimmte Art der Lösung festzulegen.
Grundsätzlich müssen bei einer Neuentwicklung alle Wege offenbleiben, bis klar
erkennbar ist, welches Lösungsprinzip für den vorliegenden Fall das geeignetste ist.
So muss der Konstrukteur die gegebenen Bedingungen infrage stellen und sich davon
9
Funktionen und deren Strukturen
Abb. 9.2 Anforderungsliste (Auszug): Geber für Tankinhaltsmessgerät in einem Kraftfahrzeug
239
240
K. Gericke et al.
Tab. 9.1  Vorgehen bei der Abstraktion: Geber für Tankinhaltsmessgerät in einem Kraftfahrzeug
Ergebnis des 1. und 2. Schrittes:
• Volumen: 20 dm3 bis 160 dm3
• Behälterform gegeben aber beliebig (formstabil)
• Anschluss oben oder seitlich
• Behälterhöhe: 150 mm bis 600 mm
• Entfernung Behälter–Anzeigeger.t: ≠ 0 m, 3 m bis 4 m
• Benzin und Diesel, Temperaturbereich: −25 °C bis +65 °C
• Ausgang des Gebers: beliebiges Messsignal
• Fremdenergie: (Gleichstrom 6 V, 12 V, 24 V, Toleranz −15 % bis +25 %)
• Messtoleranz: Ausgangssignal bezogen auf max. Wert ±3 %
(zusammen mit Anzeige ± 5 %)
• Ansprechempfindlichkeit: 1 % des max. Ausgangssignals
• Signal eichbar
• Minimal messbarer Inhalt: 3 % des max. Wertes
Ergebnis des 3. Schrittes:
• Unterschiedliche Volumen
• Unterschiedliche Behälterformen
• Verschiedene Anschlussrichtungen
• Unterschiedliche Behälterhöhen (Flüssigkeitshöhen)
• Entfernung Behälter–Anzeigegerät: ≠ 0 m
• Flüssigkeitsmenge zeitlich veränderlich
• Beliebiges Messsignal
• (Mit Fremdenergie)
Ergebnis des 4. Schrittes:
• Unterschiedliche Volumen
• Unterschiedliche Behälterformen
• Anzeige in unterschiedlicher Entfernung
• Flüssigkeitsmenge (zeitlich veränderlich) messen
• (Mit Fremdenergie)
Ergebnis des 5. Schrittes (Problemformulierung):
Unterschiedlich große, zeitlich sich ändernde Flüssigkeitsmengen in beliebig geformten
Behältern fortlaufend messen und anzeigen
überzeugen, inwieweit sie berechtigt sind, und mit dem Aufgabensteller klären, ob sie
als echte Einschränkungen bestehen bleiben müssen. Scheinbare Einschränkungen in
seinen eigenen Ideen und Vorstellungen muss der Konstrukteur durch kritisches Fragen
und Prüfen bei sich selbst überwinden lernen. Der Vorgang der Abstraktion hilft, scheinbare Einschränkungen zu erkennen und nur echte weiter gelten zu lassen sowie neue,
zweckmäßige Aspekte zu berücksichtigen.
9
Funktionen und deren Strukturen
241
Nachfolgende Beispiele zeigen noch einmal eine zweckmäßige Abstraktion und
Problemformulierung:
• Entwirf kein Garagentor, sondern suche einen Garagenabschluss, der es gestattet,
einen Wagen diebstahlsicher und witterungsgeschützt abzustellen.
• Konstruiere keine Passfederverbindung, sondern suche die zweckmäßigste Weise,
Rad und Welle zur Drehmomentübertragung bei definierter Lage zu verbinden.
• Projektiere keine Verpackungsmaschine, sondern suche die beste Art, das Produkt
geschützt zu versenden, oder bei eingeschränkter Betrachtung das Produkt schützend,
raumsparend und automatisch zu verpacken.
• Konstruiere keine Spannvorrichtung, sondern suche nach einer Möglichkeit, das
Werkstück für den Bearbeitungsgang schwingungsfrei zu fixieren.
Für den nächsten Hauptarbeitsschritt ist es sehr hilfreich, die endgültige Formulierung
lösungsneutral vorzunehmen. Die lösungsneutrale Problemformulierung beschreibt
zugleich die Gesamtfunktion des zu entwickelnden Systems:
• „Welle berührungslos abdichten“ und nicht „Labyrinthstopfbuchse konstruieren“.
• „Flüssigkeitsmenge fortlaufend messen“ und nicht „Flüssigkeitshöhe mit Schwimmer
abtasten“.
• „Futtermittel dosieren“ und nicht „Futtermittel in Säcken wiegen“.
9.2Aufstellen von Funktionsstrukturen
Die Beschreibung der Funktionen von Produkten, d. h. der Funktionszusammenhang,
wurde bereits in Kap. 2 vorgestellt. Insbesondere der Kunde hat diese Sichtweise, da
ihn im Normalfall die vom Produkt erfüllten Funktionen interessieren und nicht, durch
welche technische Lösung diese realisiert werden.
Das Aufstellen einer Funktionsstruktur für ein Produkt und ein erstes Aufteilen der
Gesamtfunktion in Teilfunktionen, zumindest bis zur ersten Ebene, erfordert eine
Fokussierung auf die wesentlichen Probleme. Da die Aufteilung der Gesamtfunktion in
Teilfunktionen zunächst willkürlich ist, wird der Entwickler angeregt, auch alternative
Gliederungen der Gesamtfunktionen vorzunehmen und zumindest grob zu bewerten.
Dieser „spielerische“ Umgang mit der Funktionsstruktur fördert das Verständnis für
die Aufgabe und für das Produkt. Die Funktionsstruktur ist also nicht Selbstzweck, und
es ist auch kein Ziel, sie in möglichst viele Teilfunktionen aufzuteilen. Die Funktionsstruktur ist lediglich ein Hilfsmittel, um
• wesentliche Probleme des Produkts zu erkennen,
• wesentliche Funktionen zu beschreiben,
• mögliche Gliederungen des Produkts aufzuzeigen,
242
K. Gericke et al.
• z. B. mit dem Vertrieb oder dem Produktmanagement mögliche Bausteineinteilungen
für ein Baukastenprodukt diskutieren zu können und
• die funktionale Beschreibung der Produktarchitektur abbilden zu können.
Vor diesem Hintergrund muss das Aufstellen einer Funktionsstruktur betrachtet werden.
9.2.1Gesamtfunktion
Nach Abschn. 2.1 bestimmen die Anforderungen an eine Anlage, Maschine oder Baugruppe die Funktion, die den allgemeinen, gewollten Zusammenhang zwischen Eingang und Ausgang eines Systems darstellt. In Abschn. 9.1 wurde erläutert, dass die
durch Abstraktion gewonnene Problemformulierung auch den funktionalen Zusammenhang, nämlich den gewollten Zweck enthält. Ist also die Gesamtaufgabe im Wesenskern formuliert, so kann die Gesamtfunktion angegeben werden, die unter Bezug auf
den Energie-, Stoff- und/oder Signalumsatz unter Verwendung einer Blockdarstellung
lösungsneutral den Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen angibt.
Dieser soll dabei so konkret wie möglich beschrieben werden (vgl. Abb. 9.3).
Beim Beispiel eines Tankinhaltsmessgeräts werden Flüssigkeitsmengen einem Behälter
zugeführt und aus ihm entnommen, wobei die im Behälter jeweils befindliche Menge zu
messen und anzuzeigen ist. Daraus ergeben sich zunächst im Flüssigkeitssystem ein Stofffluss mit der Funktion: „Flüssigkeit speichern“ und im Messsystem ein Signalfluss mit der
Funktion: „Flüssigkeitsmenge messen und anzeigen“. Letztere ist die Gesamtfunktion der
vorliegenden Aufgabe zur Entwicklung des Tankinhaltsmessgeräts, vgl. Abb. 9.3.
Die sich ergebende Gesamtfunktion wird je nach Komplexität der zu lösenden Aufgabe ebenfalls mehr oder weniger komplex sein. Unter Komplexität wird in diesem
Zusammenhang der Grad der Übersichtlichkeit des Zusammenhangs zwischen Eingang
und Ausgang, die Vielschichtigkeit der notwendigen physikalischen Vorgänge sowie die
sich ergebende Anzahl der zu erwartenden Baugruppen und Einzelteile verstanden. Entsprechend Abschn. 2.3 kann die Gesamtfunktion in Teilfunktionen niedrigerer Komplexität aufgegliedert werden.
Abb. 9.3 Gesamtfunktion der beteiligten Systeme einer Tankinhaltsmessung
9
Funktionen und deren Strukturen
243
9.2.2Aufgliedern in Teilfunktionen
Zum Erstellen einer Funktionsstruktur wird die Gesamtfunktion zunächst zweckmäßig
in Teilfunktionen untergliedert. Die Teilfunktionen sind untereinander durch den entsprechenden Fluss (Stoff-, Energie-, Signalfluss) verbunden und erfüllen so in ihrem
Zusammenspiel die Gesamtfunktion. Die Unterteilung und Verknüpfung basiert dabei
üblicherweise auf Annahmen über logische Zusammenhänge, die zur Realisierung der
notwendigen Flüsse erforderlich sind.
Die Funktionsstruktur soll grundsätzlich einfach und eindeutig sein. Der Auflösungsgrad einer Gesamtfunktion, d. h. die Anzahl der Teilfunktionsebenen sowie die Zahl der
Teilfunktionen je Ebene, wird durch den Neuheitsgrad der Aufgabenstellung, aber auch
von der anschließenden Lösungssuche bestimmt. Bei Neuentwicklungen sind im Allgemeinen sowohl die einzelnen Teilfunktionen als auch deren Verknüpfungen unbekannt.
Mit zunehmender Konkretisierung der Funktionsbeschreibung verliert die Funktionsstruktur ihren lösungsneutralen Charakter. Auch wenn die konkreten Funktionsträger
und die zugrundeliegenden Wirkprinzipien noch nicht detailliert sind so wird durch die
Beschreibung der Verknüpfungen und die Beschreibung der Transformationsprozesse
innerhalb der einzelnen Flüsse der Lösungsraum eingegrenzt. Dieser Umstand macht
es erforderlich, die Funktionsstruktur zu variieren und es empfiehlt sich die zugrundeliegenden Annahmen für die einzelnen Varianten zu dokumentieren (Gericke und Eisenbart 2017).
Es gibt verschiedene Sichten der Funktionsstruktur:
• die „transformatorische Sicht“. Hierbei werden der Fluss der Hauptfunktion sowie
alle Teilfunktionen als Transformationsprozesse betrachtet. Es besteht also jeweils ein
eineindeutiger Zusammenhang zwischen der Eingangsgröße und der Ausgangsgröße
einer Funktion, d. h. der jeweilige Operand (Stoff, Energie, Signal) wird vom Eingangszustand in den Ausgangszustand transformiert.
• die „hierarchische Sicht“. Hierbei wird die hierarchische Unterteilung von Funktionen
über mehrere Konkretisierungsstufen abgebildet.
In Abb. 9.4 ist eine Überlagerung beider Sichten dargestellt. In dieser Abbildung wird
auch ein Zweck der Funktionsstruktur deutlich, nämlich die Reduktion der Komplexität der Konstruktionsaufgabe. Entsprechend ist die Tiefe der Gliederung einer Funktionsstruktur in einzelne Ebenen, in Abb. 9.4 in zwei Ebenen, abhängig vom Wissens- und
Erfahrungsstand des Anwenders bezüglich der Aufgaben.
Die transformatorische Sicht ist insbesondere für Produkte geeignet, bei denen ein
Prozessablauf oder der Durchlauf eines Gutes durch das Produkt eine Rolle spielt.
In Abb. 9.5 ist beispielhaft eine Funktionsstruktur entsprechend der hierarchischen
Sicht wiedergegeben. Dieses Funktionsmodell ist gut geeignet, wenn nicht die Reihenfolge von Ereignissen eine Rolle spielt, sondern ihre Abhängigkeit untereinander.
244
K. Gericke et al.
Abb. 9.4 Funktionsstruktur entsprechend transformatorischer Sicht
Abb. 9.5 Funktionsstruktur entsprechend hierarchischer Sicht
Die Unterteilung der Gesamtfunktion in Teilfunktionen kann durch einen
„Top-down“-Ansatz, beispielsweise FAST-Methode (Function Analysis System
Technique) (Value Analysis Incorporated (VAI) 1993), oder mittels eines „Bottomup“-Ansatzes, z. B. die „Subtract-and-Operate-Method“ (Otto und Wood 2001), erstellt
werden. Verwenden kann man beide Ansätze sowohl für Neuentwicklungen als auch für
die Überarbeitung oder Analyse vorhandener Produkte.
Mithilfe der „Substract and Operate“-Methode werden dabei folgende Schritte zur
Aufstellung und Analyse der Funktionsstruktur ausgeführt:
1. Eine Baugruppe oder ein Bauteil wird negiert.
2. Das Produkt wird modellhaft betrieben.
9
Funktionen und deren Strukturen
245
3. Analyse der Auswirkungen der fehlenden Baugruppe oder des fehlenden Bauteils.
4. Ableiten der Teilfunktion der Komponente oder des Bauteils aus Punkt 1 unter
Berücksichtigung der Erkenntnisse aus Punkt 3.
5. Die Arbeitsschritte 1–5 für alle Baugruppen und/oder Bauteile wiederholt.
6. Aufstellen einer hierarchischen Funktionsstruktur entsprechend Abb. 9.5.
9.2.3Aufstellen einer Funktionsstruktur anhand eines Beispiels
Das in Abschn. 9.1 und 9.2 begonnene Beispiel eines Gebers für ein Tankinhaltsmessgerät wird weiterverfolgt. Ausgangspunkt ist die Problemformulierung für die Gesamtfunktion entsprechend Abb. 9.3.
Als Hauptfluss wird der Signalfluss zugrunde gelegt. Naheliegende Teilfunktionen
werden in mehreren Schritten entwickelt. Zunächst muss das den Tankinhalt erfassende
Signal gewonnen und abgenommen werden. Dieses Signal wäre weiterzuleiten und
schließlich dem Fahrer anzuzeigen. Damit ergeben sich zunächst drei wichtige,
unmittelbare Hauptfunktionen. Möglicherweise muss das Signal aber zur Weiterleitung
gewandelt werden. Abb. 9.6 lässt die Entwicklung und die Variation einer Funktionsstruktur entsprechend den in diesem Abschnitt gegebenen Hinweisen erkennen.
Nach der Anforderungsliste soll die Messung auch an unterschiedlich großen
Behältern, also für unterschiedlich große Mengen vorgesehen werden. So ist eine
Anpassung des Signals an die jeweilige Behältergröße zweckmäßig, was als Nebenfunktion eingeführt wird. Die Messung an beliebig geformten Behältern macht unter
Umständen eine Korrektur des Signals als weitere Nebenfunktion nötig. Die Lösung für
die Signalgewinnung der Messaufgabe wird möglicherweise Fremdenergie erfordern,
sodass dieser Energiefluss als weiterer Fluss eingeführt wird. Schließlich wird durch
die Variation der Systemgrenze deutlich, dass der Geber dieses Messgeräts angesichts
der vorliegenden Aufgabenstellung ein elektrisches Ausgangssignal abgeben muss,
wenn bereits vorhandene Anzeigegeräte verwendet werden sollen. Andernfalls müssen
auch die Teilfunktion „Signal leiten“ und „Signal anzeigen“ in die Lösungssuche einbezogen werden. Auf diese Weise wurde eine Funktionsstruktur mit entsprechenden Teilfunktionen gewonnen, wobei die einzelnen Teilfunktionen eine geringere Komplexität
aufweisen und deutlich wird, welche Teilfunktion zweckmäßig zuerst für die Lösungssuche betrachtet wird.
Diese wichtige, lösungsbestimmende Teilfunktion, für die zunächst eine Lösung
gesucht wird und von deren Wirkprinzip offensichtlich die anderen Teilfunktionen
abhängen, ist die Teilfunktion „Signal abnehmen“ (vgl. Abb. 9.6). Auf diese wird sich
die Lösungssuche zunächst konzentrieren. Von diesem Ergebnis wird es im Wesentlichen
abhängen, inwieweit eine Vertauschung einzelner Teilfunktionen sinnvoll oder sogar ihr
Wegfall möglich ist. Auch lässt sich dann besser beurteilen, ob die Lösung mit einem
elektrischen Ausgangssignal und der Nutzung vorhandener Leitungs- und Anzeigemittel
möglich ist oder ob eine Lösung für die Anzeige ebenfalls (erweiterte Systemgrenze) ins
Auge gefasst werden muss.
246
K. Gericke et al.
Abb. 9.6 Entwicklung einer Funktionsstruktur für den Geber eines Tankinhaltsmessgeräts
9
Funktionen und deren Strukturen
247
9.2.4Hinweise zum Erkennen und Bilden von Teilfunktionen
Es ist zweckmäßig, zunächst den Hauptfluss in einer Struktur, soweit eindeutig vorhanden, aufzustellen, um dann erst bei der weiteren Lösungssuche die Nebenflüsse zu berücksichtigen. Ist eine einfache Funktionsstruktur mit ihren wichtigsten
Verknüpfungen gefunden, fällt es in einem weiteren Schritt leichter, nun auch die
ergänzenden Flüsse mit ihren entsprechenden Teilfunktionen zu berücksichtigen
sowie eine weitere Aufgliederung komplexer Teilfunktionen zu erreichen. Dabei ist es
oft hilfreich, sich für die vereinfachte Funktionsstruktur bereits eine erste, vorläufige
Wirkstruktur oder eine bestimmte Lösung gedanklich vorzustellen, ohne jedoch damit
eine Vorfixierung einer Lösung vorzunehmen.
Der zweckmäßige Auflösungsgrad einer Gesamtfunktion, d. h. die Anzahl der
Teilfunktionsebenen sowie die Zahl der Teilfunktionen je Ebene, wird durch den Neuheitsgrad der Aufgabenstellung, aber auch von der anschließenden Lösungssuche
bestimmt. Bei ausgesprochenen Neukonstruktionen sind im Allgemeinen sowohl die
einzelnen Teilfunktionen als auch deren Verknüpfung unbekannt. Bei diesen gehört deshalb das Suchen und Aufstellen einer optimalen Funktionsstruktur zu den wichtigsten
Teilschritten der Konzeptphase.
Für Anpassungskonstruktionen ist dagegen die Baustruktur mit ihren Baugruppen und
Einzelelementen weitgehend bekannt. Eine Funktionsstruktur kann daher durch Analyse des weiterzuentwickelnden Produkts aufgestellt werden. Sie kann entsprechend
den speziellen Anforderungen der Anforderungsliste durch Variation, Hinzufügen oder
Weglassen einzelner Teilfunktionen und Veränderungen ihrer Zusammenschaltung modifiziert werden.
Große Bedeutung hat das Aufstellen von Funktionsstrukturen bei der Entwicklung
von Baukastensystemen. Für diese Möglichkeit einer Variantenkonstruktion muss sich
der stoffliche Aufbau, d. h. die als Bausteine einsetzbaren Baugruppen und Einzelteile, sowie deren Fügestellen, bereits in der Funktionsstruktur widerspiegeln (vgl. auch
Kap. 12).
Ein weiterer Aspekt beim Aufstellen einer Funktionsstruktur liegt darin, dass
man bekannte Teilsysteme eines Produkts oder neu zu entwickelnde Teilsysteme gut
abgrenzen und auch getrennt bearbeiten kann. So werden bekannte Baugruppen entsprechend komplexen Teilfunktionen unmittelbar zugeordnet. Die Aufgliederung
der Funktionsstruktur wird dann bereits auf hoher Komplexitätsebene unterbrochen,
während für die weiter oder neu zu entwickelnden Baugruppen eines Produkts das
Strukturieren in Teilfunktionen abnehmender Komplexität so weit getrieben wird, bis
eine Lösungssuche aussichtsreich erscheint. Durch diese dem Neuheitsgrad der Aufgabe
bzw. des Teilsystems angepasste Funktionsgliederung ist das Arbeiten mit Funktionsstrukturen auch zeit- und kostensparend.
Außer zur Lösungssuche werden Teilfunktionen und Funktionsstrukturen auch
zu Ordnungs- und Klassifizierungszwecken eingesetzt. Als Beispiel hierzu wären
„Ordnende Gesichtspunkte“ von Ordnungsschemata (vgl. Abschn. 10.2) und die
Gliederung von Katalogen zu nennen.
248
K. Gericke et al.
Neben der Möglichkeit, aufgabenspezifische Funktionen zu bilden, kann es
zweckmäßig sein, die Funktionsstruktur aus allgemein anwendbaren Teilfunktionen aufzubauen. Solche allgemeinen Funktionen können bei der Lösungssuche dann vorteilhaft
sein, wenn mit ihrer Hilfe aufgabenspezifische Teilfunktionen gefunden werden sollen
oder wenn für sie bereits erarbeitete Lösungen in Katalogen vorliegen. Auch kann die
Variation von Funktionsstrukturen, z. B. mit dem Ziel einer Optimierung des Energie-,
Stoff- und/oder Signalflusses, durch die Verwendung allgemeiner Funktionen einfacher
sein. Nachstehende Auflistung möge als Anregung dienen:
Energieumsatz
• Energie wandeln – z. B. elektrische in mechanische Energie wandeln,
• Energiekomponente ändern – z. B. Drehmoment vergrößern,
• Energie mit Signal verknüpfen – z. B. elektrische Energie einschalten,
• Energie leiten – z. B. Kraft übertragen,
• Energie speichern – z. B. kinetische Energie speichern.
Stoffumsatz
• Stoffumsatz wandeln – z. B. Luft verflüssigen,
• Stoffabmessungen ändern – z. B. Blech walzen,
• Stoff mit Energie verknüpfen – z. B. Teile bewegen,
• Stoff mit Signal verknüpfen – z. B. Dampf absperren,
• Stoffe miteinander verknüpfen – z. B. Stoffe mischen oder trennen,
• Stoff leiten – z. B. Kohle fördern,
• Stoff speichern – z. B. Stoffe lagern.
Signalumsatz
• Signal wandeln – z. B. mechanisches in elektrisches Signal wandeln oder stetiges in
unstetiges Signal umsetzen,
• Signalgröße ändern – z. B. Ausschlag vergrößern,
• Signal mit Energie verknüpfen – z. B. Messgröße verstärken,
• Signal mit Stoff verknüpfen – z. B. Kennzeichnung vornehmen,
• Signale verknüpfen – z. B. Soll-Ist-Vergleich durchführen,
• Signal leiten – z. B. Daten übertragen,
• Signal speichern – z. B. Daten bereithalten.
In zahlreichen Fällen der Praxis wird es dagegen nicht zweckmäßig sein, eine Funktionsstruktur beginnend aus allgemeinen Teilfunktionen aufzubauen, weil sie zu allgemein
formuliert sind und dadurch keine genügend konkrete Vorstellung des Zusammenhangs hinsichtlich der anschließenden Lösungssuche gegeben ist. Diese entsteht im Allgemeinen erst durch Ergänzen mit aufgabenspezifischen Begriffen.
9
Funktionen und deren Strukturen
249
9.2.5Weitere Beispiele
Abb. 9.7 und 9.8 zeigen als Beispiel die Funktionsstruktur einer Prüfmaschine zur
Untersuchung des Kraft-Verformungs-Zusammenhangs an Probestäben. Es liegt ein
komplexer Energie-, Stoff- und Signalfluss vor. Ausgehend von der Gesamtfunktion
wird die Funktionsstruktur aus Teilfunktionen schrittweise aufgebaut, wobei zunächst
nur wesentliche Hauptfunktionen betrachtet werden. So sind in einer ersten Funktionsebene nach Abb. 9.7 nur diejenigen Teilfunktionen erkannt worden, die unmittelbar
der Erfüllung der geforderten Gesamtfunktion dienen. Diese sind als komplexere Teilfunktionen, wie in vorliegendem Beispiel „Energie in Kraft und Weg wandeln“ und
„Prüfling belasten“ formuliert, um zunächst zu einer übersichtlicheren Funktionsstruktur
zu kommen.
Bei vorliegender Aufgabe sind Energiefluss und Signalfluss etwa gleichberechtigt für
die Lösungssuche anzusehen, während der Stofffluss, d. h. das Auswechseln des Prüflings, nur wesentlich für die Haltefunktion ist, die anschließend in Abb. 9.8 ergänzt
wurde. Bei der dann entstandenen Funktionsstruktur in Abb. 9.8 wurden schließlich
hinsichtlich des Energieflusses noch eine Einstellfunktion für die Lastgrößen und am
Ausgang des Systems die Verlustenergie bei der Energiewandlung eingetragen, weil
sie durchaus konstruktiv Konsequenzen haben kann. Die Verformungsenergie des Prüflings geht mit dem Stofffluss beim Auswechseln verloren. Weiterhin wurden die Nebenfunktionen „Messgrößen verstärken“ und „Soll-Ist vergleichen“ zum Einstellen der
Energiegröße für die Prüfkraft notwendig.
Abb. 9.7 Gesamtfunktion (a) und Teilfunktionen (b) einer Prüfmaschine
250
K. Gericke et al.
Abb. 9.8 Vervollständigte Funktionsstruktur für die Gesamtfunktion einer Prüfmaschine
Es gibt Aufgabenstellungen, bei denen die Betrachtung eines Hauptflusses allein
zur Lösungssuche nicht ausreichend ist, weil auch die anderen, begleitenden Flüsse
stark lösungsbestimmend sind. Als Beispiel hierfür diene die Funktionsstruktur einer
Kartoffel-Vollerntemaschine: Abb. 9.9 zeigt die Gesamtfunktion und die Funktionsstruktur bei Berücksichtigung des Stoffumsatzes als Hauptfluss und der begleitenden
Energie- und Signalflüsse.
Ein letztes Beispiel zeigt die Ableitung von Funktionsstrukturen durch die Analyse
bekannter Systeme. Diese Vorgehensweise ist insbesondere für Weiterentwicklungen
angebracht, bei denen ja mindestens eine Lösung bekannt ist, und es darum geht,
Abb. 9.9 Funktionsstruktur für eine Kartoffel-Vollernte-Maschine
9
Funktionen und deren Strukturen
251
Abb. 9.10 Analyse eines Durchgangshahns hinsichtlich seiner Funktionsstruktur
verbesserte Lösungen zu finden. Abb. 9.10 zeigt die Analyseschritte für einen
Durchgangshahn beginnend bei der Auflistung der enthaltenen Elemente, der einzelnen
Aufgaben je Element und der vom System erkannten und zu erfüllenden Teilfunktionen.
Aus letzteren lässt sich dann die vorhandene Funktionsstruktur zusammenstellen. Diese
kann dann zwecks einer Produktverbesserung variiert oder ergänzt werden.
9.3Praxis der Funktionsstruktur
Beim Aufstellen von Funktionsstrukturen muss zwischen Neukonstruktionen und
Anpassungskonstruktionen unterschieden werden. Bei Neukonstruktionen ist der Ausgangspunkt für Funktionsstrukturen die Anforderungsliste und die abstrakte Problemformulierung. Aus den Forderungen und Wünschen sind funktionale Zusammenhänge
erkennbar, zumindest ergeben sich aus diesen oft die Teilfunktionen am Eingang und
252
K. Gericke et al.
Ausgang einer Funktionsstruktur. Es ist hilfreich, die in der Anforderungsliste enthaltenen funktionalen Zusammenhänge in Form von Sätzen herauszuschreiben und diese
in der Reihenfolge ihrer voraussichtlichen Wichtigkeit oder logischen Zuordnung zu
ordnen (Roth 2000, 2001).
Bei Weiterentwicklungen in Form von Anpassungskonstruktionen ergibt sich als
erster Ansatz die Funktionsstruktur aus der bekannten Lösung durch Analyse der Bauelemente. Sie dient als Grundlage für Varianten der Funktionsstruktur, die zu anderen
Lösungsmöglichkeiten führen können. Sie kann ferner zu Optimierungszwecken
oder für Baukastenentwicklungen herangezogen werden. Das Erkennen funktionaler
Beziehungen kann durch Fragenstellen erleichtert werden.
Bei Baukastensystemen bestimmt die Funktionsstruktur entscheidend die Bausteine
und die Baugruppengliederung (vgl. Kap. 12). Hier beeinflussen neben funktionalen
Gesichtspunkten verstärkt auch fertigungstechnische Forderungen die Funktionsstruktur
und die von ihr abgeleitete Baustruktur.
Die Aufstellung einer Funktionsstruktur soll die Lösungsfindung erleichtern. Sie ist
also kein Selbstzweck, sondern wird nur soweit entwickelt, wie sie auch dieser Zielsetzung nutzt. Es hängt deshalb sehr vom Neuheitsgrad der Aufgabenstellung und dem
Erfahrungsschatz des Bearbeiters ab, wie vollständig und wie stark untergliedert sie aufgebaut wird.
Ferner muss festgestellt werden, dass die Aufstellung einer Funktionsstruktur selten
ganz frei von der Vorstellung bestimmter Wirkprinzipien bzw. Gestaltungsvorstellungen
ist. Aus dieser Tatsache kann man ableiten, dass es sehr nützlich sein kann, zunächst
für die Aufgabenstellung eine erste Lösung spontan zu konzipieren und dann in einer
Schleifenbildung durch abstraktere Betrachtung die Funktionsstruktur und ihre Varianten
zu komplettieren oder zu optimieren.
Zum Aufstellen von Funktionsstrukturen werden folgende Empfehlungen gegeben:
• Es ist zweckmäßig, aus den in der Anforderungsliste erkennbaren, funktionalen
Zusammenhängen zunächst eine grobe Struktur mit nur wenigen Teilfunktionen
zu bilden, um diese dann schrittweise durch Zerlegen komplexer Teilfunktionen
weiter aufzugliedern. Dieses ist einfacher, als sofort mit komplizierten Strukturen
zu beginnen. Unter Umständen ist es hilfreich, für die grobe Struktur zunächst eine
erste, vorläufige Wirkstruktur oder eine Lösungsidee zu entwickeln, um dann durch
deren Analyse weitere wichtige Teilfunktionen zu erkennen. Ein möglicher Weg
besteht auch darin, zunächst mit einer bekannten Teilfunktion am Eingang oder
Ausgang zu beginnen, deren Größen die gedachte Systemgrenze überschreiten. Von
den Nachbarfunktionen kennt man dazu dann schon zumindest die Eingangs- oder
Ausgangsgrößen.
• Können eindeutige Verknüpfungen zwischen Teilfunktionen noch nicht erkannt und
angegeben werden, ist zur Suche nach einem ersten Lösungsprinzip auch die bloße
Auflistung erkannter Teilfunktionen in der Reihenfolge scheinbarer Bedeutung für die
Lösungssuche ohne logische oder physikalische Verknüpfung sehr hilfreich.
9
Funktionen und deren Strukturen
253
• Logische Zusammenhänge können zu Funktionsstrukturen führen, anhand derer
unmittelbar Logikelemente verschiedener Wirkprinzipien (mechanisch, elektrisch
u. a.) wie in einem Schaltplan vorgesehen werden.
• Funktionsstrukturen sind grundsätzlich nur bei Angabe des vorliegenden bzw.
zu erwartenden Energie-, Stoff- und Signalflusses vollständig. Trotzdem ist
es zweckmäßig, zunächst nur den Hauptfluss zu verfolgen, da er in der Regel
lösungsbestimmend und aus dem beabsichtigten Zusammenhang leichter ableitbar ist. Die begleitenden Flüsse sind dann für die konstruktive Durcharbeitung, für
Störgrößenbetrachtungen, für Antriebs- und Regelungsfragen usw. maßgebend.
Die vollständige Funktionsstruktur unter Berücksichtigung aller Flüsse und deren
Verknüpfungen erhält man dann durch iteratives Vorgehen, indem man nach Vorliegen erster Lösungsansätze für den Hauptfluss zunächst eine Struktur sucht, diese
anschließend hinsichtlich der begleitenden Flüsse ergänzt und dann die Gesamtstruktur aufstellt.
• Beim Aufstellen von Funktionsstrukturen ist es hilfreich zu wissen, dass beim
Energie-, Stoff- und Signalumsatz einige Teilfunktionen in den meisten Strukturen
häufig wiederkehren. Es handelt sich im Wesentlichen um die allgemein anwendbaren
Funktionen nach Tab. 2.1, die zur Formulierung von aufgabenspezifischen Funktionen
anregen können.
• Im Hinblick auf den Einsatz von Mikroelektronik ist es zweckmäßig, Signalflüsse zu
betrachten. Dadurch entsteht eine Funktionsstruktur, die in sehr zweckmäßiger Weise
den modularen Einsatz von Elementen der Erfassung (Sensoren), der Betätigung
(Aktoren), der Bedienung (Stellteile), der Anzeige (Signale, Displays) und vor allem
der Verarbeitung durch Mikroprozessoren oder andere Rechner initiiert.
• Aus einer Grobstruktur oder einer durch Analyse bekannter Systeme ermittelten
Funktionsstruktur können weitere Varianten im Interesse einer Lösungsvariation und
damit Lösungsoptimierung gewonnen werden durch:
– Zerlegen oder Zusammenlegen einzelner Teilfunktionen,
– Ändern der Reihenfolge einzelner Teilfunktionen,
– Ändern der Schaltungsart (Reihenschaltung, Parallelschaltung, Brückenschaltung)
sowie durch
– Verlegen der Systemgrenze.
• Da durch Strukturvariation bereits unterschiedliche Lösungen initiiert werden können,
ist die Aufstellung von Funktionsstrukturen bereits ein Schritt der Lösungssuche.
• Funktionsstrukturen sollen so einfach wie möglich aufgebaut sein, weil sie dann in
der Regel auch zu einfachen und kostengünstigen Systemen führen. Hierzu ist auch
das Zusammenlegen von Funktionen anzustreben, die dann Grundlage für integrierte
Funktionsträger sind. Es gibt aber auch Aufgabenstellungen, bei denen man bewusst
Funktionen verschiedenen Funktionsträgern zuordnen muss, wenn z. B. erhöhte
Forderungen an die Eindeutigkeit einer Lösung sowie extreme Belastungs- und Qualitätsforderungen vorliegen. In diesem Zusammenhang sei auf das „Prinzip der Aufgabenteilung“ (vgl. Abschn. 15.2) hingewiesen.
254
K. Gericke et al.
• Es sollen zur Lösungssuche nur aussichtsreiche Funktionsstrukturen verwendet
werden, wozu in dieser Phase bereits Auswahlverfahren einsetzbar sind (vgl.
Kap. 11).
• Eine Analyse der Funktionsstruktur lässt erkennen, für welche Teilfunktionen neue
Wirkprinzipien gesucht werden müssen und für welche bereits bekannte Lösungen
genutzt werden können. Auf diese Weise wird ein arbeitssparendes Vorgehen
gefördert. Die Lösungssuche beginnt für die Teilfunktion(en), die offensichtlich
lösungsbestimmend und von denen dann Lösungen anderer Teilfunktionen abhängig
sind.
Literatur
Gericke, K., & Eisenbart, B. (2017). The integrated function modeling framework and its
relation to function structures. Artificial Intelligence for Engineering Design, Analysis and
Manufacturing: AIEDAM, 31(4), 436–457. https://doi.org/10.1017/S089006041700049X.
Hansen, F. (1966). Konstruktionssystematik. Berlin: VEB Verlag.
Krick, E. V. (1969). An introduction to engineering and engineering design (2. Aufl.). New York:
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Lehmann, M. (1985). Entwicklungsmethodik für die Anwendung der Mikroelektronik.
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product development. Upper Saddle River: Prentice Hall.
Roth, K. (2000). Konstruieren mit Konstruktionskatalogen (3. Aufl.). Berlin: Springer.
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Value Analysis Incorporated (VAI). (1993). Value analysis, value engineering, and value
management. New York: Clifton Park.
Entwickeln von Wirkstrukturen
10
Kilian Gericke, Beate Bender, Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote
Die Entwicklung der prinzipiellen Lösung ist eine anspruchsvolle Tätigkeit im Produktentwicklungsprozess und stellt einen sehr bedeutenden Arbeitsabschnitt dar. Ausgehend
vom Funktionsverständnis werden für einzelne Teilfunktionen alternative Teillösungen in
Form von Wirkprinzipien entwickelt. Die Integration einzelner Wirkprinzipien zu einer
Gesamtlösung wird als Wirkstruktur bezeichnet. Die Konkretisierung der Wirkstruktur
resultiert in der prinzipiellen Lösung, bzw. dem Wirkkonzept.
Die im Zuge dieser Arbeitsschritte getroffenen grundlegenden Festlegungen und Entscheidungen sind folgenreich für das Produkt. Deshalb muss ein Konzept sorgfältig entwickelt werden und die zuvor formulierten Anforderungen berücksichtigen.
In Abb. 10.1 ist ein Wirkkonzept für eine mechanische, einseitig wirkende Sperrvorrichtung dargestellt. Der verwendete physikalische Effekt ist „Reibung“ unter Nutzung
des Prinzips der Selbstverstärkung. Das Prinzip wurde Roth (2001) entnommen.
In Abb. 10.1 stellt die Komponente „b“ das Sperrelement dar, das zusammen mit
der Komponente „a“ die einseitig wirkende Sperrfunktion erfüllt. Gelagert ist „a“
in den Lagern „c“. Das Beispiel verdeutlicht den Unterschied zwischen der Skizze
des physikalischen Prinzips, wie es in Abb. 10.1 oben links zu sehen ist, und dem
Wirkkonzept. Im Wirkkonzept werden alle notwendigen Komponenten in ihrer
K. Gericke (*)
Universität Rostock, Rostock, Deutschland
B. Bender
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
J. Feldhusen
RWTH Aachen, Aachen, Deutschland
K.-H. Grote
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_10
255
256
K. Gericke et al.
Abb. 10.1 Beispiel für ein Wirkkonzept einer Sperrvorrichtung
technischen Ausprägung wiedergegeben, hier speziell die als Prinzip dargestellte
elastische Feder zur Erzeugung der Initialkraft. Das Symbol legt dabei nicht fest, dass
diese Feder im konkretisierten Entwurf als Schraubenfeder ausgeführt werden muss.
Mithilfe des Wirkkonzepts soll überprüft werden, ob das Produkt seine Funktionen
prinzipiell erfüllen kann. Der erforderliche Detaillierungsgrad eines Wirkkonzepts ist
deshalb nicht festgelegt. Vielmehr hängt er von der Möglichkeit ab, die oben gestellte
Frage beantworten zu können. Aus diesem Grund ist der Übergang vom Wirkkonzept
zum Gestaltkonzept in der Praxis häufig fließend. Typischerweise müssen einzelne Wirkflächen schon sehr detailliert gestaltet und z. B. auch bestimmte Beschichtungen für die
sichere Funktionserfüllung festgelegt werden, bevor der Rest des Produkts detailliert wird.
u Verwendete Begriffe
WirkungsweiseZusammenwirken von technischen Systemen, um Funktionen
nach bestimmten Wirkprinzipien zu erfüllen.
WirkbewegungBewegung, mit der eine Wirkung erzwungen oder ermöglicht
wird.
WirkflächeFläche an der oder über die eine Wirkung erzwungen oder ermöglicht wird.
WirkgeometrieAnordnung von Wirkflächen (bzw. -linien, -räumen), über die eine
Wirkung erzwungen oder ermöglicht wird.
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
257
WirkkörperKörper, durch den oder an dem eine Wirkung erzwungen oder
ermöglicht wird.
WirkortOrt, an dem durch Wirkflächen und Wirkbewegungen Wirkungen
erzwungen oder ermöglicht werden.
WirkprinzipLösungsprinzip zur Erfüllung einer Funktion auf erster konkreter
Stufe bestehend aus zugrundeliegendem physikalischen, biologischen oder chemischen Effekt sowie geometrischen und stofflichen
Merkmalen (Wirkgeometrie, Wirkbewegung und Werkstoff).
WirkstrukturKombination von Wirkprinzipien mehrerer Teilfunktionen zum
Erfüllen der Gesamtfunktion.
WirkkonzeptSiehe prinzipielle Lösung.
Prinzipielle LösungKombination von Wirkprinzipien zum Erfüllen der Gesamtfunktion (Wirkstruktur) mit erster Konkretisierungsvorstellung.
GestaltkonzeptFestlegung der Hauptabmessungen und Gestalt sowie Zuordnung
der Elemente eines Produkts untereinander unter Berücksichtigung des Hauptflusses und evtl. der Nebenflüsse.
LösungsprinzipGrundsatz, von dem die Lösung abgeleitet wird und welches das
Wirkprinzip umfasst.
LösungskonzeptFestgelegte prinzipielle Lösung nach Durchlaufen der Konzeptphase.
10.1Suche nach Wirkprinzipien
Die Suche nach Wirkprinzipien für Teilfunktionen umfasst die Festlegung des zu verwendenden physikalischen Prinzips, der einzusetzenden Werkstoffe, zumindest in Form
einer Werkstoffgruppe, und die qualitative Geometrie der Wirkflächen. Dabei können zur
Erfüllung einer Funktion mehrere physikalische Effekte zum Einsatz kommen.
Der erste Entwicklungsschritt besteht in der Festlegung des physikalischen Effekts. Er
bestimmt die verwendbaren Werkstoffe und die Geometrie. Die Suche nach möglichen
und möglichst zweckmäßigen Wirkprinzipien kann durch verschiedene Hilfsmittel und
Methoden unterstützt werden.
Zweckmäßig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Rahmenbedingungen zur
Realisierung der Lösung beachtet werden. Kritisch ist z. B. die Nutzung von Lösungsprinzipien, über die im Unternehmen keine Erfahrungen zur Realisierung vorhanden
sind. Die daraus resultierenden Risiken müssen gegenüber dem Nutzen einer innovativen
Lösung abgewogen werden.
258
K. Gericke et al.
Eine im Sinne der Zielerreichung optimale Lösung ist durch folgende Eigenschaften
gekennzeichnet:
• Sie erfüllt alle Forderungen der Anforderungsliste sowie möglichst viele Wünsche,
• Sie kann unter den gegebenen Randbedingungen des Unternehmens realisiert werden,
hierunter fallen z. B. vorgegebene Kosten, Liefertermine, Fertigungsmöglichkeiten usw.
Um eine solche Lösung zu erreichen, ist ein mehrstufiges Vorgehen erforderlich.
Ziel der Lösungssuche ist es, diverse alternative Lösungsvarianten für die gestellte
Aufgabe zu erzeugen, um diese dann im Hinblick auf ihr jeweiliges Eigenschaftsprofil zu
vergleichen. Basis hierfür ist die Funktionsstruktur, mit deren Hilfe die Gesamtfunktion
in Teilfunktionen aufgeteilt wird. Häufig erfordert die Realisierung einer Teilfunktion die
Kombination mehrerer physikalischer Effekte.
Ausgewählte Methoden zur Unterstützung der Lösungssuche werden im folgenden
Abschnitt vorgestellt. Es ist sinnvoll, mehrere verschiedene Methoden zur Lösungsfindung zu nutzen, um so zusätzliche Alternativen zu finden und den Lösungsraum möglichst breit abzudecken.
10.2Lösungsfindungsmethoden
Die Suche nach Wirkprinzipien kann durch verschiedene Methoden unterstützt werden.
Viele dieser Methoden können auch in anderen Phasen des Entwicklungsprozesses, z. B.
während der Produktplanung zur Entwicklung von Lösungen (Produktideen) oder auch
während der Entwurfsphase zur Lösung von Detailproblemen verwendet werden.
Die nachfolgend vorgestellten Methoden sind sowohl für die Entwicklung und
Konstruktion neuer Produkte geeignet. Sie sind aber auch hilfreich, wenn es darum
geht, vorhandene Produkte, evtl. nur in Teilbereichen, zu optimieren oder auch Patente
eines Wettbewerbers zu umgehen. Sie entstammen u. a. aus dem Gebiet der Kreativitätstechnik, beruhen auf Analogiebetrachtungen oder basieren auf allgemeinen anwendbaren
Methoden zur Problemlösung (vgl. Abschn. 3.3).
Methoden müssen der Problemsituation entsprechend ausgewählt, angepasst und
angewendet werden. Auswahlkriterien können bestimmt werden durch die zu lösende
Aufgabe, die Entwicklungssituation, die Vertrautheit mit dem Stand der Technik, die
Patentlage, den notwendigem Neuheitsgrad einer Lösung oder die Schwierigkeit der
Erfüllung von Produktanforderungen. Einige dieser Methoden eignen sich sowohl für
Teamarbeit als auch für Einzelarbeit. Andere Methoden hingegen können nur im Team
oder nur für Einzelarbeit verwendet werden.
Die folgend erläuterten Methoden lassen sich grob in die Kategorien konventionell,
intuitiv betont, assoziativ betont und diskursiv betont unterteilen (siehe auch intuitives
und diskursives Denken in Abschn. 3.1.1). Die meisten Methoden weisen jedoch
Merkmale mehrerer dieser Kategorien auf.
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
259
10.2.1Konventionelle Methoden und Hilfsmittel
10.2.1.1 Kollektionsverfahren
Wichtige Grundlage für Produktentwickler und Konstrukteure sind Informationen
über den Stand der Technik. In einem ersten Schritt, vgl. auch Abschn. 3.2, werden
typischerweise Erfahrungen aus der eigenen Arbeit genutzt. Insbesondere bei neuartigen Problemen reicht diese Betrachtungsweise aber nicht aus. Deshalb ist es sinnvoll
und zielführend zu klären, bei welchen technischen oder auch nicht technischen Fragestellungen ähnliche Lösungen zu erwarten sind, welche für die aktuelle Fragestellung
genutzt werden können.
Sofern Wettbewerbsprodukte vorhanden und zugänglich sind, ist es naheliegend,
zunächst diese zu analysieren. Unter Beachtung der Rechtslage, insbesondere möglicher
Patente, werden hierbei schon eine Reihe nutzbarer Lösungen entdeckt.
Darüber hinaus kann eine Recherche in den üblichen Quellen erfolgen. Hierzu
gehören z. B.:
•
•
•
•
•
Literaturrecherche,
Patentrecherche,
Auswertung von Verbandsberichten,
Auswertung von Messen und Ausstellungen,
Auswertung von Katalogen und Präsentationen der Konkurrenz, usw.
10.2.1.2 Messungen, Modellversuche
Messungen an ausgeführten Systemen, Modellversuche unter Ausnutzung der Ähnlichkeitsmechanik und sonstige experimentelle Untersuchungen gehören zu den wichtigsten
Informationsquellen des Konstrukteurs. Besonders Rodenacker (1991) betrachtet das
Experiment als wichtiges Hilfsmittel und zwar aus der Erkenntnis heraus, dass die
Konstruktion als Umkehrung des physikalischen Experiments aufgefasst werden kann.
Bei feinwerktechnischen, mikromechanischen und elektronischen Produkten und
Geräten der Massenfertigung sind experimentelle Untersuchungen wichtig und auch
üblich, um Lösungen zu finden. Die Bedeutung experimenteller Zwischenschritte drückt
sich auch in organisatorischer Hinsicht aus, da für solche Produktentwicklungen oft das
Labor und die Mustererstellung in den Konstruktionsprozess einbezogen sind.
In ähnlicher Weise gehört auch das Testen und daraus folgende Ändern von
Software-Lösungen zu dieser empirisch orientierten Methodengruppe, und es stellt ein
notwendiges Vorgehen bei der Lösungsentwicklung dar.
260
K. Gericke et al.
10.2.2Intuitiv betonte Methoden
Der Mensch ist ein kreatives Wesen. Diese Fähigkeit nicht zu nutzen, hieße mögliche
Lösungen nicht zu entdecken. Insbesondere die Schnelligkeit, mit der Lösungen durch
spontane Ideen gefunden werden, lässt die Anwendungen dieses Vorgehens als sinnvoll
erscheinen.
Der spontane Einfall ist fast immer im Unter- bzw. Vorbewusstsein aufgrund der
Fachkenntnis, der Erfahrung und angesichts der bekannten Aufgabenstellung schon
weitgehend auf Eignung untersucht und aus verschiedenen Möglichkeiten ausgesondert
worden, sodass oft dann nur ein Anstoß genügt, um ihn ins Bewusstsein treten zu lassen.
Dieser Anstoß kann auch eine scheinbar nicht im Zusammenhang stehende äußere
Erscheinung oder eine dem Thema fernliegende Diskussion sein. Häufig trifft der
Konstrukteur mit seinem Einfall ins Schwarze, und auf dieser Basis sind dann nur noch
Abwandlungen und Anpassungen nötig, die zur endgültigen Lösung führen.
Sehr viele gute Lösungen sind so entstanden und erfolgreich weiterentwickelt
worden. Dennoch ist es riskant sich allein auf die spontane Ideenfindung zu verlassen.
Dies würde bedeuten, die Lösungsfindung dem Zufall zu überlassen. Eine solche
Arbeitsweise hat folgende Nachteile:
• Der richtige Einfall kommt nicht zur rechten Zeit, denn er kann nicht erzwungen
werden,
• wegen bestehender Konventionen und eigener fixierter Vorstellungen werden neue
Wege nicht erkannt und
• aufgrund mangelnder Informationen dringen neue Technologien oder Verfahren nicht
in das Bewusstsein der Konstrukteure.
Diese Gefahren werden umso größer, je mehr die Spezialisierung fortschreitet, die
Tätigkeit der Mitarbeiter einer stärkeren Aufgabenteilung unterliegt und der Zeitdruck
zunimmt.
Diverse Methoden haben zum Ziel, die Intuition und Kreativität zu fördern und durch
Gedankenassoziationen neue Lösungswege anzuregen, um die genannten Nachteile einer
rein spontanen Lösungssuche zu vermeiden. Richtig eingesetzt kann die intuitive, kreativ
betonte Lösungssuche eine wertvolle Quelle für gute Lösungen sein.
Die einfachste und vielfach geübte Methode sind Gespräche und kritische Diskussionen mit Kollegen, aus denen Anregungen, Verbesserungen und neue Lösungen
entstehen. Führt man eine solche Diskussion sehr straff und beachtet man dabei die allgemein anwendbaren Methoden des gezielten Fragens, der Negation und Neukonzeption,
des Vorwärtsschreitens usw. (vgl. Abschn. 3.3), so kann sie sehr wirksam und fördernd
sein.
Intuitiv betonte Methoden wie Brainstorming, Galeriemethode und Methode 635
nutzen gruppendynamische Effekte, wie Anregungen durch unbefangene Äußerungen
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
261
anderer Gruppenmitglieder. Solche Gruppen setzten sich üblicherweise aus Mitarbeitern
des eigenen Unternehmens zusammen. Je nach Aufgabe kann es aber auch sinnvoll
sein, Vertreter von Kooperationspartnern, Kunden oder Nutzer vergleichbarer Produkte
oder des in der Entwicklung befindlichen Produktes einzubinden. Insbesondere bei
unternehmensfremden Personen ist auf die Belange des gewerblichen Rechtsschutzes
(Erfinderrecht) zu achten (siehe Kap. 24).
10.2.2.1 Brainstorming
Brainstorming lässt sich am besten mit Gedankenblitz, Gedankensturm oder Ideenfluss bezeichnen, wobei gemeint ist, dass Denken sich zu einem Sturm, zu einer Flut
von neuen Gedanken und Ideen freimachen soll. Die Vorschläge für dieses Vorgehen
stammen von Osborn (1957). Sie beabsichtigen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen,
dass eine Gruppe von aufgeschlossenen Menschen, die aus möglichst vielen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen stammen sollten, vorurteilslos Ideen produziert und
sich von den geäußerten Gedanken wiederum zu weiteren neuen Vorschlägen anregen
lässt (Withing 1958). Dieses Vorgehen macht vom unbefangenen Einfall Gebrauch und
spekuliert weitgehend auf Assoziation, d. h. auf Erinnerung und auf Verknüpfung von
Gedanken, die bisher noch nicht im vorliegenden besonderen Zusammenhang gesehen
wurden oder einfach noch nicht bewusst geworden sind. Ein zweckmäßiges Vorgehen ist:
Vorbereitung
• Die Vorbereitung der Brainstorming-Sitzung insbesondere die Auswahl der richtigen
Teilnehmer, Auswahl und Formulierung der Problemstellung sind von großer
Bedeutung für den Nutzen.
• Die Teilnehmer sollten mit ausreichend Vorlauf vor der eigentlichen BrainstormingSitzung die Problemstellung erhalten (ein oder zwei Tage). Dies ermöglicht eine
individuelle Ideenfindung vor der Sitzung. Während dieser Inkubationszeit reifen
Ideen auch wenn die Teilnehmer nicht bewusst über das Problem nachdenken. Die so
gewonnenen Ideen liefern erste Impulse für die Gruppensitzung.
• Die Aufgabe sollte eine offene positive Formulierung verwenden, d. h. nicht das
Problem adressieren („Wie kann das ungewollte Auslösen des Mechanismus verhindert werden?“), sondern auf eine Lösung fokussieren („Wie kann eine sichere
Arretierung des Mechanismus erzielt werden?“). Auf diese Weise wird weniger
auf das Problem mit der bekannten Lösung fokussiert und mehr nach alternativen
Lösungen gesucht (Gericke et al. 2009).
Zusammensetzung der Gruppe
• Die an der Sitzung teilnehmende Gruppe sollte mindestens fünf, jedoch höchstens
zehn Personen umfassen. Weniger als fünf Personen haben ein zu geringes
Anschauungs- und Erfahrungsspektrum und geben damit zu wenig Anregungen. Bei
mehr als zehn Personen ist es schwierig alle Teilnehmer aktiv in das Gespräch einzubinden. Dies kann zu Passivität und Absonderung von Teilnehmern führen.
262
K. Gericke et al.
• Die Gruppe muss nicht allein aus Fachleuten zusammengesetzt sein. Wichtig ist, dass
möglichst viele unterschiedliche Fach- und Tätigkeitsbereiche vertreten sind, wobei
durch Hinzuziehen von Nichttechnikern eine ausgezeichnete Bereicherung erzielt
werden kann.
• Die Gruppe sollte nicht hierarchisch, sondern möglichst aus Gleichgestellten
zusammengesetzt sein, damit Hemmungen in der Gedankenäußerung, die möglicherweise durch Rücksicht auf Vorgesetzte oder auf unterstellte Mitarbeiter entstehen
können, entfallen.
Leitung der Gruppe
• Der Leiter der Gruppe (Moderator) sollte nur im organisatorischen Teil (Einladung,
Zusammensetzung, Dauer und Auswertung) initiativ wirken. Vor Beginn des eigentlichen Brainstormings erläutert er die Aufgabe und klärt Fragen.
• Während der Sitzung sorgt er für das Einhalten der Regeln, vor allen Dingen für
eine aufgelockerte Atmosphäre. Dies kann erzielt werden, indem der Moderator am
Anfang einige absurd erscheinende Ideen vorbringt. Auch ein Beispiel aus anderen
Brainstorming-Sitzungen kann geeignet sein.
• Der Moderator darf keine Lenkungsrolle während der Ideenfindung übernehmen.
Dagegen kann er Anstoß zu neuen Ideen geben, wenn die Produktivität der Gruppe
nachlässt.
• Der Moderator stellt die Brainstorming-Regeln vor. Niemand darf am Vorgebrachten
Kritik üben. Killerphrasen wie „Ist alles schon dagewesen!“, „Haben wir noch nie
gemacht!“, „Geht niemals!“, „Gehört doch nicht hierher!“ sowie wertende Gestik
und Mimik sind verboten. Der Moderator achtet auf die Einhaltung dieser Regeln.
Die Auswertung von Ideen erfolgt gesondert. Kritik während der Sitzung führt leicht
dazu, dass die kritisierten Personen nicht mehr aktiv mitarbeiten und in ihrer Kreativität gestört werden.
• Der Moderator bestimmt ein oder zwei Protokollführer. Es ist wichtig die während
der Sitzung vorgetragenen Ideen zu dokumentieren. In der Flut der Ideen gehen sonst
leicht gute Ideen unter. Eine sorgfältige Dokumentation bewahrt wertvolle Ideen,
deren Potenzial während der Sitzung nicht erkannt wurde.
Durchführung
• Alle Beteiligten müssen in der Gedankenäußerung ihre Hemmungen überwinden,
d. h., nichts sollte bei einem selbst oder in der Gruppe als absurd, als falsch, als
blamabel, als dumm oder als schon bekannt angesehen werden. Eine einfache Aufgabe, die mit dem eigentlichen Problem nicht im Zusammenhang steht kann förderlich sein, um die Teilnehmer in die richtige Stimmung zu bringen.
• Die vorgebrachten Ideen dürfen und sollen von anderen Teilnehmern aufgegriffen,
abgewandelt und weiterentwickelt werden. Ferner können und sollen mehrere Ideen
kombiniert und als neuer Vorschlag vorgebracht werden.
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
263
• Alle Ideen oder Gedanken werden aufgeschrieben, skizziert oder als Tonaufnahme
aufgezeichnet.
• Die Vorschläge sollten soweit konkretisiert sein, dass eine Lösungsidee bezogen auf
das vorliegende Problem erkennbar wird.
• Zunächst wird die Realisationsmöglichkeit der Vorschläge nicht beachtet.
• Die Sitzung soll im Allgemeinen nicht viel länger als eine halbe bis dreiviertel
Stunde dauern. Längere Zeiten bringen erfahrungsgemäß nichts Neues und führen zu
unnötigen Wiederholungen. Es ist besser, später mit einem neuen Informationsstand
oder anderer personeller Zusammensetzung einen neuen Anlauf zu versuchen.
Auswertung
• Die Ergebnisse werden von den zuständigen Fachleuten gesichtet, auf lösungsträchtige Merkmale hin analysiert, wenn möglich in eine systematische Ordnung
gebracht und auf Brauchbarkeit hinsichtlich einer möglichen Realisierung untersucht.
Auch sollen aus den Vorschlägen neue mögliche Ideen entwickelt werden.
• Das gewonnene Ergebnis sollte zeitnah mit der Gruppe nochmals diskutiert werden,
damit etwaige Missverständnisse oder einseitige Auslegungen vermieden werden.
Auch könnten bei dieser Gelegenheit nochmals neue, weiterführende Gedanken entwickelt werden.
Vorteilhafterweise macht man vom Brainstorming Gebrauch (Pahl und Beelich 1981),
wenn
•
•
•
•
noch kein realisierbares Lösungsprinzip vorliegt,
das physikalische Geschehen einer möglichen Lösung noch nicht erkennbar ist,
das Gefühl vorherrscht, mit bekannten Vorschlägen nicht weiterzukommen oder
eine völlige Trennung vom Konventionellen angestrebt wird.
Dieses Vorgehen ist auch dann zweckmäßig, wenn es sich um die Bewältigung von Teilproblemen innerhalb bekannter oder bestehender Systeme handelt. Das Brainstorming
hat außerdem einen nützlichen Nebeneffekt. Alle Beteiligten erhalten indirekt neue
Informationen, wenigstens aber Anregungen über mögliche Verfahren, Anwendungen,
Werkstoffe, Kombinationen usw., weil der vielseitig zusammengesetzte Kreis über eine
sehr breite Wissensbasis verfügt (z. B. Konstrukteur, Montageingenieur, Fertigungsingenieur, Werkstofffachmann, Einkäufer usw.). Man ist überrascht, wie groß die Vielfalt
und Breite von Ideen ist, die ein solcher Kreis produzieren kann. Der Konstrukteur wird
sich aber auch bei anderer Gelegenheit an die in einer Sitzung geäußerten Ideen erinnern.
Sie gibt neue Impulse, weckt Interesse an Entwicklungen und stellt eine Abwechslung in
der Routine dar.
Generell sollte man von einer Brainstorming-Sitzung keine fertigen Lösungen
erwarten. Viele der so gewonnenen Vorschläge sind technisch oder wirtschaftlich nicht
realisierbar oder den Fachleuten bekannt. Dies ist jedoch unproblematisch, da das Brain-
264
K. Gericke et al.
storming in erster Linie Anstoß zu neuen Ideen geben soll. Das Ziel einer Brainstorming
Sitzung ist bereits erreicht, wenn aus der Vielzahl der Äußerungen einige wenige brauchbare neue Gedanken entspringen, die es wert sind, weiterverfolgt zu werden. Dies ist oft
der Fall.
Im Kontext methodischer Lösungssuche empfiehlt sich im Nachgang zum Brainstorming immer die Weiterverwendung der Ergebnisse in einer diskursiv betonten
Methode, z. B. die Erstellung eines Morphologischen Kastens oder eines Ordnungsschemas. Damit lassen sich die gefundenen Ideen systematisieren und strukturieren, was
eine methodische Erkundung des Lösungsraums ermöglicht.
10.2.2.2 Methode 635
Von Rohrbach (1969) wurde das Brainstorming zur Methode 635 weiterentwickelt:
Nach Bekanntgabe der Aufgabe und ihrer sorgfältigen Analyse werden die Teilnehmer
aufgefordert, jeweils drei Lösungsansätze zu Papier zu bringen und stichwortartig
zu erläutern. Nach einiger Zeit gibt man diese Unterlagen an seinen Nachbarn weiter,
der wiederum nach Durchlesen der vom Vorgänger gemachten Vorschläge drei weitere
Lösungen, ggf. in einer Weiterentwicklung, hinzufügt. Bei sechs Teilnehmern wird dies
solange fortgesetzt, bis alle drei Lösungsansätze von den jeweils fünf anderen Teilnehmern ergänzt oder assoziativ weiterentwickelt wurden. Daher auch die Bezeichnung
Methode 635.
Gegenüber dem zuvor beschriebenen Brainstorming ergeben sich folgende Vorteile:
• Eine tragende Idee wird systematischer ergänzt und weiterentwickelt,
• es ist möglich, den Entwicklungsvorgang zu verfolgen und den Urheber des zum
Erfolg führenden Lösungsprinzips annähernd zu ermitteln, was aus rechtlichen
Gründen von Bedeutung sein kann und
• die Problematik der Gruppenleitung entfällt weitgehend.
Als nachteilig kann sich eine geringere Kreativität des Einzelnen durch Isolierung und
mangelnde Stimulierung einstellen, weil die Aktivität der Gruppe nicht unmittelbaren
Ausdruck findet.
10.2.2.3 Galeriemethode
Die Galeriemethode nach Hellfritz (1978) verbindet Einzelarbeit mit Gruppenarbeit und
eignet sich besonders bei Gestaltungsproblemen, weil bei ihr die Lösungsvorschläge in
Form von Skizzen sehr gut präsentiert werden können. Voraussetzungen und Gruppenbildung entsprechen den Regeln des Brainstormings. Die Methode gliedert sich in
folgende Einzelphasen:
Einführungsphase, bei der das Problem durch den Gruppenleiter dargestellt und durch
Erläuterungen erklärt wird.
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
265
Ideenbildungsphase I. Es erfolgt zunächst durch jedes Gruppenmitglied für sich eine
intuitive und vorurteilslose Lösungssuche mit Hilfe von Skizzen und ggf. zweckmäßigen
verbalen Erläuterungen für eine Dauer von etwa 15 min.
Assoziationsphase. Die bisherigen Ergebnisse der Ideenbildungsphase I werden zunächst
in einer Art Galerie aufgehängt, damit alle Gruppenmitglieder diese visuell erfassen und
diskutieren können. Das Ziel dieser etwa 15-minütigen Assoziationsphase ist es, durch
Negation und Neukonzeption neue Ideen zu gewinnen und ergänzende oder verbessernde
Vorschläge zu erkennen.
Ideenbildungsphase II. Die aus der Assoziationsphase gewonnenen Einfälle oder
Erkenntnisse werden nun von den einzelnen Gruppenmitgliedern festgehalten und/oder
weiterentwickelt.
Selektionsphase. Alle entstandenen Ideen werden gesichtet, geordnet und auch ggf.
noch vervollständigt. Erfolgsversprechende Lösungsansätze werden sodann ausgewählt.
Auch können lösungsträchtige Merkmale für ein späteres diskursives Vorgehen (vgl.
Abschn. 3.1.1) durch Analyse gewonnen werden.
Die Galeriemethode zeichnet sich vor allem durch folgende Vorteile aus:
•
•
•
•
intuitives Arbeiten in der Gruppe ohne ausufernde Diskussionen,
wirksame Vermittlung mit Hilfe von Skizzen besonders bei Gestaltungsfragen,
individuelle Leistung bleibt erkennbar und
gut auswertbare, dokumentierbare Unterlagen.
10.2.2.4 Delphi-Methode
Bei dieser Methode werden Fachleute, von denen man eine besondere Kenntnis der
Zusammenhänge erwartet, schriftlich befragt und um eine entsprechende schriftliche
Äußerung gebeten (Dalkey und Helmer 1963). Die Befragung läuft nach folgendem
Schema ab:
1. Runde
Welche Lösungsansätze zur Bewältigung des angegebenen Problems sehen Sie? Geben
Sie spontan Lösungsansätze an!
2. Runde
Sie erhalten eine Liste von verschiedenen Lösungsansätzen zu dem angegebenen
Problem! Bitte gehen Sie diese Liste durch und nennen Sie dann weitere Vorschläge, die
Ihnen neu einfallen oder durch die Liste angeregt wurden.
266
K. Gericke et al.
3. Runde
Sie erhalten die Endauswertung der beiden Ideenerfragungsrunden. Bitte gehen Sie
diese Liste durch und schreiben Sie die Vorschläge nieder, die Sie im Hinblick auf eine
Realisierung für die besten halten.
Dieses aufwendige Vorgehen muss sorgfältig geplant werden und wird im Allgemeinen auf generelle Fragen, die mehr grundsätzliche und unternehmenspolitische
Aspekte haben, beschränkt bleiben. Im technisch-konstruktiven Bereich kann die DelphiMethode eigentlich nur bei sehr langfristigen Entwicklungen in der Grundsatzdiskussion
Bedeutung erlangen.
10.2.2.5 Kombinierte Anwendung
Ein strenges Vorgehen nur nach der einen oder anderen Methode ist oft nicht möglich
und auch nicht zwingend notwendig. Erfahrungen zeigen, dass
• beim Brainstorming der Gruppenleiter oder eine andere Person bei Nachlassen
der Produktivität der Ideen durch ein teilweise synektisches Vorgehen – Ableitung
von Analogien, systematisches Suchen nach dem Gegenteil oder nach der Vervollständigung – eine neue Ideenflut entfachen kann,
• eine neue Idee oder ein Impuls die Denkrichtung und Vorstellung der Gruppe stark
ändert,
• eine Zusammenfassung des bisher Erkannten auch wiederum zu neuen Ideen führt,
• die bewusste Anwendung der Methode der Negation und Neukonzeption und des
Vorwärtsschreitens (vgl. Abschn. 3.3) die Ideenvielfalt anzureichern und weiterzuführen vermag.
Die angeführten Methoden sind ggf. in Kombination so anzuwenden, wie sie sich nach
den jeweiligen Umständen zwanglos anbieten und sich am besten nutzen lassen. Eine
pragmatische Handhabung sichert den größten Nutzen.
10.2.3Assoziativ betonte Methoden
Die nachfolgend vorgestellten Methoden fördern die Kreativität durch assoziative Ideenfindung, z. B. durch die Analyse von Analogien oder das strukturierte Anregen von Wortassoziationen. Wenngleich diese Methoden ebenfalls einen großteils intuitiven Charakter
haben so sind sie durch die Art der gezielten Nutzung von Analogien und Stimuli bereits
strukturierter als rein intuitive Methoden.
Die Analyse von Analogien basiert auf der gezielten Suche nach Lösungsprinzipien
in analogen Systemen, d. h. Systemen die eine vergleichbare Funktion in einem anderen
Kontext erfüllen. Hierbei wird das analoge System als Modell des beabsichtigten
Systems zur weiteren Betrachtung verwendet. Analogien werden bei technischen
Systemen z. B. durch Änderung der Energieart gewonnen (Bengisu 1970; Schlösser und
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
267
Olderaan 1961). Wichtig sind auch Analogiebetrachtungen zwischen technischen und
nichttechnischen (natürlichen) Systemen.
Neben der Anregung für die Lösungssuche bieten Analogien die Möglichkeit, durch
Simulations- und Modelltechnik das Systemverhalten in einem frühen Entwicklungsstadium zu studieren, um daraus notwendige neue Teillösungen zu erkennen und/oder
ggf. schon eine Optimierung einzuleiten. Soll das analoge Modell auf Systeme mit
bedeutend anderen Abmessungen und Zuständen übertragen werden, müssen Ähnlichkeitsbetrachtungen unterstützend vorgenommen werden.
10.2.3.1 Analyse bekannter technischer Systeme
Die Analyse bekannter technischer Systeme gehört zu den wichtigsten Hilfsmitteln,
mit denen man schrittweise und nachvollziehbar zu neuen oder verbesserten Varianten
bekannter Lösungen kommt.
Eine solche Analyse besteht in einem gedanklichen oder sogar stofflichen Zerlegen ausgeführter Produkte. Sie kann als Strukturanalyse (vgl. Abschn. 3.3) aufgefasst
werden, die nach Zusammenhängen in logischer, physikalischer und gestalterischer Hinsicht sucht. Aus der Baustruktur können die Teilfunktionen ermittelt werden. Von diesen
ausgehend lassen sich bei weiterer Analyse auch die beteiligten physikalischen Effekte
erkennen, die ihrerseits Anregung zu neuen Lösungsprinzipien für entsprechende Teilfunktionen der zu lösenden Aufgabenstellung geben können. Ebenso ist es möglich, aus
der Analyse gefundene Lösungsprinzipien als solche zu übernehmen.
Bekannte Systeme zum Zwecke der Analyse können sein:
• Produkte oder Verfahren des Wettbewerbs,
• ältere Produkte und Verfahren des eigenen Unternehmens,
• ähnliche Produkte oder Baugruppen, bei denen einige Teilfunktionen bzw. Teile ihrer
Funktionsstrukturen mit denen übereinstimmen, für die Lösungen gesucht werden
sollen.
Da man sinnvollerweise nur solche Systeme analysiert, die zu der neuen Aufgabe einen
gewissen Bezug haben oder sie sogar bereits zum Teil erfüllen, kann man bei dieser Art
der Informationsgewinnung auch von einer systematischen Nutzung von Bewährtem
bzw. von Erfahrung sprechen. Sie dürfte vor allem nützlich sein, wenn es gilt, zunächst
einen ersten Lösungsansatz als Ausgangspunkt für weitere gezielte Variationen zu finden.
Zu diesem Vorgehen ist kritisch zu bemerken, dass man Gefahr läuft, bei bekannten
Lösungen zu bleiben und neue Wege nicht zu beschreiten.
10.2.3.2 Analyse natürlicher Systeme
Der Begriff „Bionik“ (auch Biomimikri oder Biomimese) setzt sich aus den Teilbegriffen
„Biologie“ und „Technik“ zusammen. Die Bionik möchte Lösungen und Prinzipien der
Biologie für technische Aufgabenstellungen nutzen (Nachtigall 2003). Insbesondere
chemische Prozesse werden in der Natur häufig sehr effektiv und effizient ausgeführt.
268
K. Gericke et al.
Abb. 10.2 Prototyp der Flussturbine (Sous 2011)
Aber auch für andere technische Fragestellungen gibt es in der Natur Lösungen, die mit
den Mitteln der industriellen Produktionstechnik genutzt werden können. Selbst wenn
Lösungen nicht direkt übernommen werden können, so gibt das Studium der natürlichen
Lösungen doch sehr viele Anregungen.
Im Folgenden soll ein Beispiel vorgestellt werden. Es stammt von Sous (2011).
Es geht dabei um die Fragestellung, wie der Auslaufdiffusor einer Flussturbine so
gestaltet werden kann, dass er sowohl die Festigkeitsanforderungen während des Transports als auch die auftretenden statischen und dynamischen Kräfte beim Betrieb im
Wasser ertragen kann. Eine Flussturbine dient der Stromerzeugung durch das strömende
Wasser eines Flusses. Dazu wird eine Turbinen-Generatorkombination in den Fluss
gebracht. Zur Wirkungsgraderhöhung befindet sich auf der Ausströmseite ein Diffusor
(siehe Abb. 10.2).
Das Problem besteht darin, dass durch die wirkenden Kräfte der Diffusor in Querrichtung zur Strömungsrichtung auf der breiten Seite zusammengedrückt wird.
Hier musste eine kostengünstige und fertigungstechnisch einfach zu realisierende
Lösung gefunden werden. Erste Analogiebetrachtungen zu Gewölbekonstruktion der
Renaissance führten zu den Skelettaufbauten von Fischen. Das Skelett des Wals ist für
große Drücke geeignet und von seiner Baugröße vergleichbar mit der Aufgabenstellung.
In Abb. 10.3 ist das Skelett eines Zwergwals mit gekennzeichneter Hauptstruktur wiedergegeben.
Das Prinzip des Skeletts als tragende Struktur wurde auf den Diffusor übertragen. Die
gesamte Konstruktion ist in einem Faserverbundwerkstoff ausgeführt. Die Fügestellen
sind geklebt. Das Konstruktionsprinzip ist in Abb. 10.4 wiedergegeben.
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
269
Abb. 10.3 Skelett eines Zwergwals mit gekennzeichneter Hauptstruktur (Übersee Museum Bremen
2012)
Abb. 10.4 Konstruktionsprinzip der Tragkonstruktion für den Diffusor (Sous 2011)
10.2.3.3 SCAMPER
SCAMPER ist eine Methode, die von Eberle (1972, 1977, 1996) basierend auf Brainstorming Checklisten (Osborn 1957, S. 286–287) entwickelt wurde. SCAMPER ist ein
Akronym für Themenbereiche (siehe Tab. 10.1), die jeweils mittels mehrerer Fragen ausgehend von einer existierenden Idee oder Lösung das Finden neuer Lösungen anregen
sollen (Moreno et al. 2014).
Die Methode ist sowohl für die Durchführung in Einzelarbeit als auch in kleinen
Gruppen geeignet und ist aufgrund ihrer Einfachheit ohne aufwendiges Training durchführbar.
SCAMPER basiert auf der Annahme, dass es für nahezu jedes Problem analoge
Probleme gibt (Pólya 1945), für die Lösungen existieren (Moreno et al. 2014). Die
Themenbereiche und Fragen sollen helfen Assoziationen hervorzurufen und Ideen für
270
K. Gericke et al.
Tab. 10.1  SCAMPER Checkliste
Themenbereiche
Beispiele für Fragen
Substitute
Ersetze – Funktionen, Bauteile,
Material, Energie, …
Welche Teile können ausgetauscht werden?
Welche Materialien können ersetzt werden?
Welches andere Produkt/welche Dienstleitung hat die
gleiche Funktion?
Kann eine andere Energiequelle verwendet werden?
Combine
Kombiniere – Funktionen, Bauteile,
Anwendungen, …
Können Funktionen kombiniert werden?
Können Materialien kombiniert werden?
Können Bauteile oder Teilsysteme kombiniert werden?
Kann die Idee (das System) mit einer anderen Idee (einem
anderen System) kombiniert werden?
Kann der Gebrauch des Systems mit einer anderen Verwendung kombiniert werden?
Adapt
Passe an – Funktion, Verwendung,
Bauteile, andere Lösungen, …
Kann das System (die Idee) für eine andere Verwendung
angepasst werden?
Welche andere Lösung ist ähnlich und kann angepasst
werden?
Welche bisherige Lösung kann an die neuen
Anforderungen angepasst werden?
Modify/Magnify/Minify
Modifiziere (Vergrößere, Verkleinere) – Funktionalität, Bauteile,
Gestalt, Ergonomie, Eigenschaften,
…
Was kann dem System hinzugefügt werden?
Welche Änderung würde den Nutzen/Wert des Systems
steigern?
Wie kann die Gestalt des Bauteils/Systems verändert
werden?
Was kann dem System hinzugefügt werden?
Wie kann der Gebrauch des Systems vereinfacht werden?
Wie können die Eigenschaften (Gewicht, Preis, Lebensdauer, …) des Systems verbessert werden?
Put to other uses
Übertrage es auf andere
Anwendungen – Zweck, Markt,
Nutzer, …
Kann das System für einen anderen Zweck verwendet
werden?
Können Teile des Systems einer anderen Verwendung
zugeführt werden?
Wer sonst könnte das System benutzen?
Eliminate
Entferne – Funktionen, Bauteile,
Materialien, …
Kann das System vereinfacht werden?
Welche Funktionen können entfernt werden?
Welche Komponenten können entfernt werden?
Wie kann das System leichter werden?
Was passiert, wenn ein Bauteil/Teilsystem entfernt wird?
Kann auf ein Material verzichtet werden?
Rearrange/Reverse
Ordne anders an – Bauteile, Gestalt,
Nutzungs- oder Herstellungsprozesse, …
Welche Bauteile/Teilsysteme können ausgetauscht
werden?
Was kann anders gestaltet werden?
Was kann gedreht/gespiegelt/anders angeordnet werden?
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
271
das aktuelle Problem zu generieren. Die Auswahl des Referenzsystems, von dem ausgehend alternative Lösungen gesucht werden, ist daher der erste Schritt für die Vorbereitung und Durchführung eines SCAMPER Workshops. Das Referenzsystem kann
eine existierende Lösung, eine Lösungsidee oder ein Teilsystem sein.
Zur Vorbereitung eines SCAMPER Workshops sollte ausgehend vom Referenzsystem
durch den Leiter der Gruppe anhand der SCAMPER Themenbereiche ein Fragenkatalog erarbeitet werden. Tab. 10.1 zeigt einige beispielhafte Fragen, die den einzelnen Themenbereichen zugeordnet sind. Durch geschickte Formulierung der Fragen kann
die Ideenfindung der Gruppe positiv beeinflusst werden. Die Fragen sollten dabei offen
formuliert sein und keine Lösung vorwegnehmen.
Während des SCAMPER Workshops werden ausgehend vom Referenzsystem
(mehrere) Antworten für die verschiedenen Fragen gesucht. Zur Dokumentation der
Ideen können diese auf Arbeitsblättern notiert werden, welche gemäß der Themenbereiche organisiert sind oder auch Klebenotizen verwendet werden.
Abschließend werden die Antworten hinsichtlich geeigneter Ideen ausgewertet.
Je nach Menge an Antworten und Ideen können für die Auswertung Methoden zur
Strukturierung (z. B. Affinitätsdiagramm) oder einfache Auswahl- und Bewertungsmethoden (siehe Kap. 11) verwendet werden.
Durchführung
1. Einführung
– Referenzsystem vorstellen (z. B. eine zuvor entwickelte Idee, ein bestehendes
Produkt, eine existierende Teillösung)
2. Fragen stellen
– Fragen allein oder im Team beantworten
3. Antworten auswerten
– Vorhandene Antworten hinsichtlich die gelieferten Lösungsvorschläge auswerten
– Lösungsvorschläge hinsichtlich ihrer Eignung das Problem zu lösen beurteilen und
in Gruppen unterteilen (z. B. geeignet, teilweise geeignet, nicht geeignet)
– Die vielversprechendsten Lösungsvorschläge weiterentwickeln
10.2.3.4 Synektik
Der Name Synektik ist ein aus dem Griechischen abgeleitetes Kunstwort und bedeutet
Zusammenfügen verschiedener und scheinbar voneinander unabhängiger Begriffe.
Synektik ist ein dem Brainstorming verwandtes Verfahren mit dem Unterschied, dass
die Absicht besteht, sich durch Analogien aus dem nichttechnischen oder dem halbtechnischen Bereich anregen und leiten zu lassen.
Vorgeschlagen wurde diese Methode von Gordon (1961). Sie ist im Vorgehen
systematischer als das willkürliche Sammeln von Ideen beim Brainstorming (siehe
Abschn. 10.2.2.1). Hinsichtlich der Unbefangenheit sowie Vermeidung von Hemmungen
und Kritik gilt dasselbe wie beim Brainstorming.
272
K. Gericke et al.
Der Leiter der Gruppe hat hier eine zusätzliche Aufgabe. Er versucht anhand der
geäußerten Analogien den Gedankenfluss entsprechend dem nachstehenden Schema
weiterzuführen. Die Gruppe sollte nur bis zu sieben Teilnehmer umfassen, damit ein
Zerfließen der Gedankengänge vermieden wird.
Man hält sich dabei an folgende Schritte:
•
•
•
•
•
•
•
•
Darlegen des Problems,
Vertraut machen mit dem Problem (Analyse),
Verstehen des Problems, es ist damit jedem vertraut,
Verfremden des Vertrauten, d. h. Analogien und Vergleiche aus anderen Lebensbereichen anstellen,
Analysieren der geäußerten Analogie,
Vergleichen zwischen Analogie und bestehendem Problem,
Entwickeln einer neuen Idee aus diesem Vergleich,
Entwickeln einer möglichen Lösung.
Unter Umständen beginnt man wieder mit einer anderen Analogie, wenn das Ergebnis
unbefriedigend ist.
Ein Beispiel soll das Finden von Lösungen mit Hilfe von Analogien und die schrittweise Weiterentwicklung zu einem Vorschlag zeigen. Das Beispiel zeigt die Entwicklung
einer Lösung zur Entfernung von Harnleitersteinen aus dem menschlichen Körper. Ausgangspunkt war die Idee einer mechanischen Vorrichtung, mittels derer der Harnleiterstein umfasst, festgespannt und herausgezogen werden kann. Die Vorrichtung hätte dazu
im Harnleiter aufgespannt und geöffnet werden müssen. Das Stichwort „Spannen“ bzw.
„Aufspannen“ führte dazu, nach Analogien zu suchen, wie etwas gespannt werden kann,
s. Abb. 10.5.
Assoziation. Regenschirm
Abb. 10.5 a–f Schrittweise Entwicklung eines Lösungsprinzips zur Entfernung von Harnleitersteinen
durch Bilden einer Analogie und schrittweiser Verbesserung (nach Handskizzen), Bezeichnungen vgl. Text
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
273
a)
b)
c)
d)
Frage: Wie kann man das Regenschirmprinzip nutzen?
Stein durchbohren, Schirm durchstecken, aufspannen - technisch schlecht realisierbar
Schlauch durchstecken und aufblasen am dünneren Ende - Loch bohren irreal
Schlauch vorbeischieben - Stein beim Rückzug vorn, ergibt Widerstand und möglicherweise Zerstören des Harnleiters
e) zweiten Ballon vorschalten als Wegbereiter
f) Stein zwischen beiden Ballons in ein Gel einbetten und herausziehen
Dieses Beispiel zeigt die Assoziation zu einer halbtechnischen Analogie (Regenschirm),
von der aus die Lösung angesichts der bestehenden speziellen Bedingungen weiterentwickelt wurde.
Kennzeichnend ist die unbefangene Vorgehensweise unter Benutzung einer Analogie.
Bei technischen Problemen ist diese zweckmäßigerweise aus dem nichttechnischen
oder halbtechnischen Bereich und bei nichttechnischen Problemen umgekehrt aus
dem technischen Bereich. Die Analogiebildung wird im ersten Anlauf meist spontan
geschehen. Bei Weiterverfolgung und Analyse von bestehenden Vorschlägen ergeben
sich diese dann meist stärker schrittweise und systematisch abgeleitet.
10.2.3.5 Wordtree
Die Suche nach Analogien ist teils eine schwierige Aufgabe. Wordtree zielt darauf ab,
den Anwender durch einen strukturierten Ansatz bei der Suche nach Analogien zu unterstützen (Linsey 2007; Linsey et al. 2012).
Wordtrees visualisieren die Beziehung zwischen einem Begriff und seinen
Synonymen (Ersatzwörter), Antonymen (Gegensatzwörtern), Hyperonym (Oberbegriffe)
und Troponymen (Unterbegriffe). Diese Relationen bilden hierarchische Strukturen mit
alternativen Begriffen auf untergeordneten Ebenen, sodass eine grafische Darstellung
dieser Begriffe eine Baumstruktur ergibt.
u Verwendete Begriffe
BegriffBeispiel „sprechen“
SynonymBeispiel „reden“
AntonymBeispiel „schweigen“
HyperonymOberbegriff; Beispiel „kommunizieren“
TroponymUnterbegriff; Beispiel „flüstern“
Ausgehend von der Suche nach Schlagwörtern, die das Problem bzw. die Problemdomäne beschreiben, können durch die Bildung von Wordtrees (hierarchisch organisierte
Beziehungen zwischen Wörtern) und deren nachfolgende Analyse Analogien bzw. analoge Domänen identifiziert werden. Die gefundenen Analogien können dann zur Ideenfindung anregen (siehe Abb. 10.6).
274
K. Gericke et al.
Vorgehen
1. Auflisten der Deskriptoren
Auflisten von Schlagwörtern (Deskriptoren) zur Beschreibung des Problems. Schlagwörter können z. B. der lösungsneutralen Problembeschreibung und der funktionalen
Beschreibung (Gesamtfunktion oder Teilfunktionen) entnommen werden. Gut geeignet
sind Verben (im Aktiv).
2. Erzeugen von Wordtrees
Ein Wordtree kann auf alternativen Wegen erstellt werden. Eine Möglichkeit besteht
darin, eine Gruppensitzung ähnlich dem Brainwriting bzw. Methode 6-3-5 abzuhalten,
um Synonyme, Antonyme, Hyperonyme und Troponyme zu sammeln und dann in einer
Baumstruktur zu organisieren. Alternativ dazu gibt es Software bzw. Web-basierte Werkzeuge, die dies automatisch erstellen. WordNet ist eine solche Plattform. Alternativ kann
die Gruppenarbeit mit einem rechnerunterstützen Verfahren kombiniert werden. Es kann
sinnvoll sein, Wordtrees für das gleiche Problem in verschiedenen Sprachen zu erstellen,
um so weitere Analogien zu generieren.
Abb. 10.6 Wordtree Ablauf. (Nach Linsey et al. 2012)
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
275
3. Identifikation potenzieller Analogien und analoger Domänen
Der geschaffene Wordtree wird nachfolgend auf passende Analogien untersucht und ggf.
analoge Problembeschreibungen formuliert. Die gefundenen Analogien werden separat
notiert.
4. Entwickeln von Ideen
Ausgehend von den identifizierten Analogien werden alternative Lösungen gesucht.
Dieser Schritt kann bei Bedarf durch andere Lösungsfindungsmethoden z. B. Brainstorming oder Methode 6-3-5 unterstützt werden.
Es ist hilfreich, wenn diese Phase von einem zweiten Team begleitet wird. Dieses
Team soll mit der ursprünglichen Problembeschreibung nicht vertraut sein und nicht in
die Erstellung des Wordtrees eingebunden sein. So wird die Aufmerksamkeit auf andere
Analogien gelenkt und andere Ideen generiert.
10.2.3.6 Produktentwicklung auf Basis von Analogiebetrachtungen
Jörg Thon
Eine Methode, welche in der Praxis häufig anzutreffen ist, ist die Analogiebetrachtung.
Hierbei wird versucht, Erkenntnisse und Lösungen für die eigene Aufgabenstellung
aus den Lösungen fremder Branchen abzuleiten. Beispielsweise stellen sich bei der
Förderung von Zucker in der Lebensmittelindustrie ähnliche Probleme bezüglich
Verschleiß und Staubbelastung der eingesetzten Maschinen wie in der Bauindustrie an
Stellen, wo Sand gefördert werden muss.
Bei dem hier vorgestellten Prozess geht es um die Entwicklung einer Knochenzementspritze. Die Verwendung von gezielt injizierbarem Knochenzement, um
Zwischenräume nach bestimmten Knochenbrüchen zu füllen, ist eine etablierte
Methode in der Medizin. Die dafür verfügbaren Produkte sind komplex in der Handhabung, aufwendig in der Vorbereitung, und das Resultat wird stark von menschlichen
Einflussfaktoren bestimmt. Der Medizinprodukthersteller Stryker bietet einen injizierbaren Knochenzement (HydroSet®) an, der eine zweistufige Vorbereitung erfordert:
a) Anmischen des Zementes, und b) Transfer des angemischten Zementes in den vorgesehenen Spritzenkörper, bevor die Applikation durch den Arzt beginnen kann.
Das vom Kunden gewünschte Produkt der nächsten Generation zielt auf die
Eliminierung der beschriebenen Vorbereitungsschritte ab. Dieses soll die menschlichen
Einflussfaktoren minimieren und die Anwendung für den Arzt erleichtern. Dazu muss
das angestrebte System zwei reagente, hochviskose Flüssigkeiten speichern, bei Bedarf
homogen mischen und durch einen möglichst kleinen Hautschnitt durch eine Kanüle in
den Knochenspalt applizieren können. In Abb. 10.7 ist die Applizierung von Knochenzement dargestellt.
Das Ziel der Entwicklung der Knochenzementspritze ist die Realisierung einer
sicheren und effektiven, aber auch wirtschaftlichen Lösung mit möglichst geringem Zeitund Ressourcenaufwand.
276
K. Gericke et al.
Eine iterative Herangehensweise während der Entwicklung und die damit verbundene
mehrmalige Überprüfung und Evaluierung der hergestellten Prototypen soll die stabile
Aufbewahrung der gespeicherten Flüssigkeiten und die Wiederholbarkeit des Resultates
sicherstellen, um den hohen Qualitätsanspruch an die Funktion zu erfüllen.
Die Suche nach analogen Lösungen zur Übertragung der ausgewählten Funktionsstrukturen in ein Konzept beschränkt sich zunächst auf die Recherche in verwandten
Themengebieten innerhalb der Medizintechnik. Die Analyse der Wettbewerber führt
jedoch nicht zu einer, nach Maßgabe der Anforderungen, zufriedenstellenden Lösung,
sodass die Suche auf die gesamte Medizintechnik, aber auch andere industrielle Zweige
erweitert werden muss. Das analoge System findet sich hier also nicht zwingend, oder
sogar sehr unwahrscheinlich in dem gleichen Anwendungsgebiet, sondern muss übertragen werden, da es sich um ein, für diese Anwendung, innovatives Produkt handelt.
Die Recherche nach Zweikomponenten-Mischsystemen ist hauptsächlich auf dem Gebiet
der Klebstoffindustrie, aber auch in fremden Gebieten der Medizintechnik erfolgreich.
Bei der Recherche in anderen Anwendungsgebieten muss eine genauere Prüfung
der gefundenen Lösungsoption auf Anwendbarkeit stattfinden, die das Lösungsfeld einschränkt. Dabei wird die Realisierbarkeit der ausgewählten Funktionsstruktur mit dem
vermeintlich analogen technischen System bewertet. Hierbei handelt es sich nicht um die
Suche nach einem analogen Komplettsystem, das als Lösung für die gesamte Funktionsstruktur dienen soll, sondern vielmehr um die Findung von Teillösungen, die auch eine
Abb. 10.7 Applikation von Knochenzement in einen Knochenspalt durch eine befüllte Spritze
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
277
Kombination ihrer selbst zulassen. So können nach funktionellen und wirtschaftlichen
Kriterien die existierenden Lösungen, wie z. B. das Mischer-Element und seine Einbettung in das Mixergehäuse, realisiert werden. Dabei ist eine Adaption der Teillösungen
notwendig, um die Schnittstellen aneinander anzupassen.
Eine weitere Auswahl der gefundenen Lösungsoptionen erfolgt anhand der Kriterien,
die später für das gesuchte System und dessen Einsatzbereich von Relevanz sind, wie
beispielsweise die Strahlen-Sterilisierbarkeit des Materials.
Der Zeitpunkt der Analogiebetrachtung im Entwicklungsprozess wird so gewählt,
dass die Problemstellung möglichst konkret vorliegt und eine Funktionsstruktur als
Lösungsansatz existiert. Damit kann die Analogiebetrachtung als effektives Werkzeug
für den Transfer hin zum Wirkprinzip bzw. Lösungskonzept genutzt werden und die
umfangreiche Lösungssuche anhand von Katalogen und „breiten“ diskursiven Methoden
durch eine heuristische Favorisierung bestehender Lösungen verschmälert werden.
Die vorangehende Erarbeitung der Funktionsstruktur und das Bewerten der
heuristisch gefundenen Lösungen werden als diskursive Rahmenelemente im Entwicklungsprozess verwendet und fügen sich damit adäquat in den verwendeten iterativen
Entwicklungsprozess ein.
Die Entwicklung des Konzeptes der Knochenzementspritze kann mithilfe der Analogiebetrachtung erfolgreich realisiert werden. Der Aufwand an Zeit und Ressourcen
kann durch die heuristische Methode verringert werden, und die Einbettung in die diskursiv betonten Entwicklungsschritte vorher und nachher wird als fördernd wahrgenommen, weil der Verlust der Struktur des Entwicklungsvorgangs gering ist.
Die Vereinigung existierender Teillösungen und teilweise auch Adaption auf das
Anwendungsgebiet ermöglicht eine wirtschaftliche Umsetzung und wird durch eine
hohe reproduzierbare Qualität der gefundenen technischen Lösung charakterisiert, indem
bekannte und etablierte Systeme zur Verwendung kommen.
Das Resultat der Entwicklung ist die in Abb. 10.8 wiedergegebene Prototypenversion
der Zementspritze, die die gesuchte Lösung für das geschilderte Problem darstellt.
Der zeitlich und qualitativ bedeutsamste Vorteil der Analogiebetrachtung ist, dass
die bestehenden Lösungen auf die Anwendbarkeit bei der vorhandenen Problemstellung
überprüft werden können, darüber hinaus jedoch auch als kreativer Anstoß und später
Abb. 10.8 Finale Prototypenversion der Entwicklung der Zementspritze in befülltem Zustand
278
K. Gericke et al.
auch je nach Ähnlichkeitsgrad als Bewertungsrichtlinie herangezogen werden kann.
Dabei kann das entwickelte Konzept an den vorhandenen Lösungen gemessen werden.
Die bereits realisierte technische Umsetzung des analogen Produktes und die
Erfahrungen des Marktes birgt zudem die entscheidenden Vorteile, dass die Machbarkeit des angestrebten Produktes zumindest in Teilaspekten schon bewiesen ist, aber zum
anderen auch, dass sich das Produkt auf die Sicherheit des vorhandenen Systems stützen
oder zumindest in Teilaspekten stützen kann.
Die Realisierung der Knochenzementspritze anhand von Analogiebetrachtungen hat
gezeigt, dass diese Methode als adäquates Mittel zur Umsetzung eines schnellen und
sicheren Entwicklungs-Zyklus herangezogen werden kann. Hierbei sind für den Erfolg
der Entwicklung die Anwendbarkeit der analogen Produkte auf die vorhandene Problemstellung und die Existenz analoger Lösungen ausschlaggebend.
Die Analogiebetrachtung muss im Entwicklungsprozess erfolgen, wenn bereits
konkrete Problemstellungen und eine oder mehrere Funktionsstrukturen oder
Wirkprinzipien vorliegen. Dies ermöglicht die heuristische Findung einer Lösung und
deren Prüfung auf Anwendbarkeit innerhalb des insgesamt diskursiv betonten Entwicklungsvorgehens.
10.2.4Diskursiv betonte Methoden
Die diskursiv betonten Methoden unterstützen die Entwicklung von Lösungen durch
bewusst schrittweises Vorgehen. Die Arbeitsschritte sind beeinflussbar und mitteilsam.
Diskursives Vorgehen schließt Intuition nicht aus. Diese soll stärker für die Einzelschritte
und Einzelprobleme benutzt werden, nicht aber sofort zur Lösung der Gesamtaufgabe.
10.2.4.1 Systematische Untersuchung des physikalischen
Zusammenhangs
Ist zur Lösung einer Aufgabe bereits der physikalische (chemische, biologische) Effekt
bzw. die ihn bestimmende physikalische Gleichung bekannt, so lassen sich insbesondere
bei Beteiligung von mehreren physikalischen Größen verschiedene Lösungen dadurch
ableiten, dass man die Beziehung zwischen ihnen, also den Zusammenhang zwischen
einer abhängigen und einer unabhängigen Veränderlichen analysiert, wobei alle übrigen
Einflussgrößen konstant gehalten werden. Liegt z. B. eine Gleichung der Form y = f(u, v,
w) vor, so werden nach dieser Methode Lösungsvarianten für die Beziehung y1 = f(u, v,
w), y2 = f(u, v, w) und y3 = f(u, v, w) untersucht, wobei jeweils die unterstrichenen Größen
konstant bleiben sollen.
Rodenacker (1991) gibt Beispiele für dieses Vorgehen, wovon eines die Entwicklung
eines Kapillarviskosimeters darstellt. Von dem bekannten physikalischen Gesetz
einer Kapillare η ~ Δp · r4/(Q · l) ausgehend, werden vier Lösungsvarianten abgeleitet.
Abb. 10.9 zeigt diese in prinzipieller Anordnung:
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
279
Abb. 10.9 Schematische Darstellung von vier Viskosimetern (Nach Rodenacker 1991). 1 Behälter. 2
Zahnradpumpe. 3 Stellgetriebe. 4 Manometer. 5 feste Kapillare. 6 Kapillare mit veränderbarem Durchmesser. 7 Kapillare mit veränderbarer Länge
1. Eine Lösung, bei der der Differenzdruck Δp als Maß der Viskosität, Δp ~ η, ausgenutzt wird (Q, r und l = const.).
2. Eine Lösung, bei der der Kapillardurchmesser, Δr ~ η, herangezogen wird (Q, Δp und
l = const.).
3. Eine Lösung unter Ausnutzung einer Längenveränderung der Kapillare, Δl ~ η(Δp, Q
und r = const.).
4. Eine Lösung, bei der die Durchflussmenge verändert wird, ΔQ ~ η(Δp, r und
l = const.).
Eine weitere Möglichkeit, durch die Analyse physikalischer Gleichungen zu neuen oder
verbesserten Lösungen zu kommen, liegt darin, bekannte physikalische Wirkungen
in Einzeleffekte zu zerlegen. So hat vor allem Rodenacker (1991) eine solche Aufgliederung komplexer physikalischer Beziehungen in Einzeleffekte dazu benutzt, völlig
neue Geräte zu bauen bzw. für bekannte Geräte neue Anwendungen zu entwickeln.
280
K. Gericke et al.
Zur Erläuterung eines solchen Verfahrens wird für die Entwicklung einer reibschlüssigen Schraubensicherung die bekannte physikalische Beziehung für das Lösen
einer Schraube analysiert:
DM
d2
tan (̺G − β) +
µM
TL = F V
(10.1)
2
2
In Gl. (Gl. 10.1) sind folgende Teildrehmomente enthalten: Reibmoment im Gewinde:
d2
d2
tan ̺G = FV
µG
TG ∼ F V
(10.2)
2
2
wobei
tan ̺G =
µ
= µG
cos α2
Reibmoment an der Kopf- bzw. Mutterauflage:
DM
DM
tan ̺G = FV
µM
TM = F V
2
2
(10.3)
Losdrehmoment der Schraube, herrührend von der Vorspannkraft und der Gewindesteigung:
P
FV d2
tan (−β) = −FV
TLo ∼
(10.4)
2
2π
(P Gewindesteigung, β Steigungswinkel, d2 Flankendurchmesser, FV Schraubenvorspannkraft, DM mittlerer Auflagedurchmesser, μG fiktiver Reibwert im Gewinde, μ tatsächlicher Reibwert der Gewinde-Werkstoffpaarung, μM Reibwert an der Kopf- bzw.
Mutterauflage, α Flankenwinkel).
Zum Erkennen von Wirkprinzipien zur Verbesserung der Sicherung gegen Lösen der
Schraube ist es nun sinnvoll, die aufgestellten physikalischen Beziehungen weiter nach
den vorkommenden physikalischen Effekten zu analysieren.
Als Einzeleffekte stecken in den Gl. (Gl. 10.2) und (Gl. 10.3):
• Reibungseffekt (Coulombsche Reibkraft)
FRG = µG · FV bzw. FRM = µM · FV
• Hebeleffekt
TG = FRG ·
DM
d2
bzw. TM = FRM ·
2
2
• Keileffekt
µG =
µ
cos(α/2)
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
281
Einzeleffekte der Gl. (Gl. 10.4):
• Keileffekt
FLo ∼ FV · tan (−β)
• Hebeleffekt
TLo = FLo ·
d2
2
Bei der Betrachtung der einzelnen physikalischen Effekte lassen sich z. B. folgende
Wirkprinzipien zur Verbesserung der Schraubensicherung angeben:
• Ausnutzung des Keileffekts zur Herabsetzung der Lösekraft durch Verkleinern des
Steigungswinkels β,
• Ausnutzung des Hebeleffekts zur Vergrößerung des Reibmoments an der Kopf- bzw.
Mutterauflage durch Vergrößerung des Auflagedurchmessers DM,
• Ausnutzung des Reibungseffekts zur Erhöhung der Reibkräfte durch Vergrößerung
des Reibungskoeffizienten μ,
• Ausnutzung des Keileffekts zur Vergrößerung der Reibkraft an der Auflage
durch kegelförmige Auflagefläche (FV · μ/sin γ mit 2 γ Kegelwinkel), Beispiel:
Kfz-Radnabenbefestigung, und
• Vergrößerung des Flankenwinkels α zur Erhöhung des fiktiven Gewindereibwertes.
10.2.4.2 Systematische Suche mithilfe von Ordnungsschemata
Bereits bei den allgemein anwendbaren Arbeitsmethoden (vgl. Abschn. 3.3) wurde festgestellt, dass eine Systematisierung und geordnete Darstellung von Informationen bzw.
Daten in zweierlei Hinsicht sehr hilfreich sind. Einerseits regt ein Ordnungsschema zum
Suchen nach weiteren Lösungen in bestimmten Richtungen an, andererseits wird das
Erkennen wesentlicher Lösungsmerkmale und entsprechender Verknüpfungsmöglichkeiten erleichtert. Aufgrund dieser Vorteile sind eine Reihe von Ordnungssystemen
bzw. Ordnungsschemata entstanden, die alle einen im Prinzip ähnlichen Aufbau haben.
In einer Zusammenstellung hat Dreibholz (1975) über die Möglichkeiten für solche
Ordnungsschemata ausführlich und umfassend berichtet.
Das allgemein übliche zweidimensionale Schema besteht aus Zeilen und Spalten,
denen Parameter zugeordnet werden, die unter „Ordnende Gesichtspunkte“ zusammengefasst sind. Abb. 10.10 zeigt den allgemeinen Aufbau von Ordnungsschemata, wenn
für Zeilen und Spalten jeweils Parameter vorgesehen sind a) und für den anderen Fall,
wenn Parameter nur für Zeilen zweckmäßig sind b), weil eine Ordnung für die Spalten
nicht sichtbar wurde. Ist es zur Informationsdarstellung oder zum Erkennen möglicher Merkmalsverknüpfungen zweckmäßig, können die „Ordnenden Gesichtspunkte“
durch eine weitergehende Parameter- bzw. Merkmalsaufgliederung nach Abb. 10.11
282
K. Gericke et al.
Abb. 10.10 Allgemeiner Aufbau von Ordnungsschemata. (Nach Dreibholz 1975)
erweitert werden, was aber schnell zu einer Unübersichtlichkeit führt. Durch Zuordnen
der Spaltenparameter zu den Zeilen lässt sich jedes Ordnungsschema mit Zeilen- und
Spaltenparametern in ein Schema überführen, bei dem nur noch Zeilenparameter vorhanden sind und die Spalten eine Nummerierung erhalten, s. Abb. 10.12.
Solche Ordnungsschemata sind beim Konstruktionsprozess recht vielfältig einsetzbar. So können sie als Lösungskataloge mit geordneter Speicherung von Lösungen je
nach Art und Komplexität in allen Phasen zur Lösungssuche dienen. Zum Erarbeiten von
Gesamtlösungen aus Teillösungen können sie als Kombinationshilfe eingesetzt werden
(siehe Abschn. 10.3). Zwicky (1971) hat ein solches Hilfsmittel als „Morphologischen
Kasten“ bezeichnet.
Entscheidende Bedeutung kommt der Wahl der „Ordnenden Gesichtspunkte“
bzw. ihrer Parameter zu. Beim Aufstellen eines Ordnungsschemas geht man
zweckmäßigerweise schrittweise vor:
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
283
Abb. 10.11 Ordnungsschemata mit erweiterter Parameteraufgliederung. (Nach Dreibholz 1975)
• Zunächst wird man in die Zeilen Lösungsvorstellungen in ungeordneter Reihenfolge
eintragen,
• diese dann im zweiten Schritt nach kennzeichnenden Merkmalen analysieren, z. B.
Energieart, Wirkgeometrie, Bewegungsart und dergleichen, und
• schließlich im dritten Schritt nach solchen Merkmalen ordnen.
Ist eine Analyse bekannter Lösungen oder eine Auswertung von Lösungsideen
nach intuitiv betonten Methoden vorangegangen, lassen sich daraus Merkmale bzw.
„Ordnende Gesichtspunkte“ für ein Ordnungsschema ebenfalls gewinnen.
Dieses Vorgehen ist nicht nur zum Erkennen der Verträglichkeiten bei einer
Kombination hilfreich, sondern regt vor allem an, ein möglichst reichhaltiges Lösungs-
284
K. Gericke et al.
Abb. 10.12 Modifiziertes
Ordnungsschema. (Nach
Dreibholz 1975)
feld zu erarbeiten. Dabei können die für technische Systeme in Abb. 10.13 und 10.14
zusammengestellten ordnenden Gesichtspunkte und Merkmale zur systematischen
Lösungssuche und zur Variation eines Lösungsansatzes zweckmäßig sein. Sie beziehen
sich auf Energiearten, physikalische Effekte und Erscheinungsformen, wie aber
auch auf Merkmale der Wirkgeometrie, der Wirkbewegung und der prinzipiellen
Stoffeigenschaften.
Als einfaches Beispiel einer Lösungssuche für eine Teilfunktion diene Abb. 10.15,
bei dem man durch Variation der Energieart zu unterschiedlichen Wirkprinzipien zur
Erfüllung einer Funktion gekommen ist.
In Abb. 10.16 ist ein Beispiel für die Variation nach den Wirkbewegungen dargestellt.
Abb. 10.17 zeigt eine Variation der Wirkgeometrie bei der Verbindung von Wellen
und Naben. Hierdurch kann die Lösungsvielfalt, die z. B. durch „Vorwärtsschreiten“
erreicht wird (vgl. Abschn. 3.3), geordnet und vervollständigt werden.
Zusammenfassend können folgende Empfehlungen ausgesprochen werden:
• Ordnungsschemata schrittweise aufbauen, korrigieren und weitgehend vervollständigen. Unverträglichkeiten beseitigen und nur lösungsträchtige Ansätze weiterverfolgen. Dabei analysieren, welche „Ordnenden Gesichtspunkte“ zur Lösungsfindung
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
285
Abb. 10.13 Ordnende Gesichtspunkte und Merkmale zur Variation auf physikalischer Suchebene
beitragen, diese durch Parameter näher variieren, evtl. aber auch verallgemeinern oder
einschränken,
• mit Hilfe von Auswahlverfahren günstig erscheinende Lösungen aussuchen und kennzeichnen und
• Ordnungsschemata möglichst allgemeingültig zur Wiederverwendung aufbauen, aber
nicht Systematik um der Systematik willen betreiben.
10.2.4.3 Verwendung von Konstruktionskatalogen
Konstruktionskataloge sind eine Sammlung bekannter und bewährter Lösungen für
bestimmte konstruktive Aufgaben oder Teilfunktionen. Vor allem Roth (1996, 2000,
2001, 2002) mit seinen Mitarbeitern hat sich mit Konstruktionskatalogen beschäftigt. Er
schlägt zum Erfüllen der genannten Forderungen einen grundsätzlichen Aufbau gemäß
Abb. 10.18 vor.
Der Gliederungsteil bestimmt den systematischen Aufbau des Katalogs. Entscheidende
Bedeutung kommt auch hier den ordnenden Gesichtspunkten zu. Sie beeinflussen die
Handhabbarkeit und den schnellen Zugriff. Sie richten sich nach dem Konkretisierungs-
286
K. Gericke et al.
Abb. 10.14 Ordnende Gesichtspunkte und Merkmale zur Variation auf geometrischer und stofflicher
Suchebene
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
287
Abb. 10.15 Unterschiedliche Wirkprinzipien zum Erfüllen der Funktion „Energie speichern“ bei
Variation der Energieart
grad und der Komplexität der gespeicherten Lösungen sowie nach der Konstruktionsphase,
für die der Katalog eingesetzt werden soll. Für die Konzeptphase ist es z. B. zweckmäßig,
als Gliederungsgesichtspunkte die von den Lösungen zu erfüllenden Funktionen zu
wählen, da die Konzepterarbeitung ja von den Teilfunktionen ausgeht. Diese Gliederungsmerkmale sollten die allgemein anwendbaren Funktionen sein, um die Lösungen möglichst produktunabhängig abrufen zu können. Weitere Gliederungsgesichtspunkte
können z. B. Art und Merkmale von Energie (mechanische, elektrische, optische usw.),
Stoff oder Signal, Wirkgeometrie, Wirkbewegung und prinzipielle Stoffeigenschaft
sein. Bei Katalogen zur Entwurfsphase sind entsprechende Gliederungsgesichtspunkte
zweckmäßig, z. B. Werkstoffeigenschaften, Schlussarten von Verbindungen, Schaltungsarten bei Kupplungen und Merkmale konkreter Maschinenelemente.
288
K. Gericke et al.
Abb. 10.16 Möglichkeiten zum Beschichten von Teppichbahnen durch Kombination von Bewegungen
der Teppichbahn (allg. Streifen) und der Auftragsvorrichtung
Abb. 10.17 Variation der Wirkgeometrie bei formschlüssigen Welle-Nabe-Verbindungen
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
289
Abb. 10.18 Grundsätzlicher Aufbau von Konstruktionskatalogen nach (Roth 2001)
Der Hauptteil enthält den eigentlichen Inhalt eines Konstruktionskatalogs. In ihm sind
die Objekte dargestellt. Je nach Konkretisierungsgrad werden die Objekte als Strichskizze, mit oder ohne physikalische Gleichung, oder als mehr oder weniger vollständige
Zeichnung bzw. Abbildung wiedergegeben. Die Art und Vollständigkeit der Darstellung
richtet sich nach der Anwendungsphase. Wichtig ist, dass alle Informationen auf der
gleichen Abstraktionsstufe stehen und von Nebensächlichkeiten befreit sind.
Im Zugriffsteil sind die Eigenschaften der jeweiligen Objekte zusammengetragen.
Nach ihnen kann im jeweiligen Einzelfall das geeignete Objekt ausgewählt werden.
Ein Anhang ermöglicht die Angabe über Herkunft und von ergänzenden
Anmerkungen.
Die Auswahlmerkmale können unterschiedlichste Eigenschaften beinhalten wie
z. B. charakteristische Abmessungen, Einfluss bzw. Auftreten bestimmter Störgrößen,
Federungsverhalten, Zahl der Elemente und dergleichen. Sie dienen dem Konstrukteur
zur Vorauswahl und Beurteilung von Lösungen und können bei IT-basierten
Konstruktionskatalogen Kenngrößen für den Auswahl- und Bewertungsvorgang sein.
Eine weitere wichtige Forderung zum Aufbau von Konstruktionskatalogen ist die
Verwendung einheitlicher und eindeutiger Definitionen und Symbole zur Informationsdarstellung.
Je konkreter und ins Einzelne gehend die gespeicherten Informationen sind,
umso unmittelbarer, aber auch begrenzter ist der Konstruktionskatalog einsetzbar.
Mit zunehmender Konkretisierung steigt die Vollständigkeit der Angaben über eine
bestimmte Lösungsmöglichkeit, aber die Möglichkeit für ein vollständiges Lösungsspektrum fällt, da die Vielfalt der Details, z. B. bei den Gestaltungsvarianten, enorm
wächst. So ist es möglich, die zur Erfüllung der Funktion „Leiten“ infrage kommenden
physikalischen Effekte vollständig zusammenzustellen, es dürfte aber kaum möglich
sein, eine Vollständigkeit aller Gestaltungsmöglichkeiten, z. B. von Lagerungen (Kraft
vom rotierenden zum ruhenden System leiten), zu erreichen.
290
K. Gericke et al.
Abb. 10.19 Katalog physikalischer Effekte unter Berücksichtigung von (Koller 1998; Krumhauer
1974) für die allgemein anwendbaren Funktionen „Energie wandeln“ und „Energiekomponente ändern“.
Auch auf Signalfluss übertragbar
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
291
Eine umfassende Übersicht existierender Konstruktionskataloge, die oben dargestelltem Aufbau und Anforderungen entsprechen, gibt Roth (2001).
Abb. 10.19 zeigt für die allgemein anwendbaren Funktionen „Energie wandeln“ und
„Energiekomponente ändern“ einen Katalog für physikalische Effekte unter Berücksichtigung von Koller (1998) und Krumhauer (1974). Für diese Funktionen können aus
ihm nach den Gliederungsgesichtspunkten „Eingangs- und Ausgangsgröße“ in Frage
kommende Effekte gefunden werden. Die zur Auswahl benötigten Merkmale müssen der
Fachliteratur entnommen werden.
Abb. 10.20 zeigt einen Ausschnitt aus einem Katalog für Welle-Nabe-Verbindungen
nach Roth (1996, 2001, 2000). Im Gegensatz zum vorhergehenden Katalog sind hier die
Lösungen bereits durch Angabe von Gestaltungsmerkmalen soweit konkretisiert, dass in
der Entwurfsphase unmittelbar mit der Bemessung begonnen werden kann.
10.2.4.4 Theorie des erfinderischen Problemlösens TRIZ
Die Theorie des erfinderischen Problemlösens (TRIZ, von russisch: Teorija Rezhenija
Jzobretatelskich Zadach) wurde seit 1945 von Genrich Altschuller entwickelt und befasst
sich mit der methodischen Entwicklung innovativer Ideen und Produkte (Klein 2002).
Der Schwerpunkt der TRIZ liegt in der frühen Produktentwicklungsphase, in der nach
einem neuen, innovativen Produkt gesucht wird. Hierbei wird sie für die Entwicklung
allgemeiner technischer Systeme angewendet, insbesondere für die Entwicklung von
Produkten und verfahrenstechnischen Prozessen.
Hauptmerkmal der Problemlösung mit der TRIZ ist das Formulieren, Verstärken und
Überwinden technischer und physikalischer Widersprüche in technischen Systemen.
Im Gegensatz zu den gebräuchlichen Varianten des „Versuch-und-Irrtum“-Lösungsverfahrens, wie z. B. Brainstorming, berücksichtigt die TRIZ empirisch ermittelte Entwicklungsgesetze technischer Systeme und ermöglicht daher eine gezielte Suche nach
Problemlösungen. Grundlage für diese Entwicklungsgesetzte bildete die Analyse von
Patenten.
Altschuller bearbeitete während seines Militärdienstes Patente und half bei der
Anfertigung der Patentschriften. Da er der Überzeugung war, dass sich der Erfindungsprozess strukturieren und systematisieren ließe, begann Altschuller mit der Untersuchung
von ca. 200.000 Patenten. Dabei kam er zu den folgenden Erkenntnissen, auf deren
Grundlage Altschuller die Methoden und Werkzeuge der TRIZ entwickelte:
• Abstrahierte Problemstellungen und deren Lösungen wiederholen sich in verschiedenen Wissenschaftszweigen und industriellen Anwendungsfällen,
• die Evolution technischer Systeme verläuft immer nach ähnlichen Mustern und
• jeder Erfindung liegt ein technischer oder physikalischer Widerspruch zugrunde, der
überwunden wurde.
Einordnung der TRIZ in die Allgemeine Konstruktionsmethodik Die Theorie des
erfinderischen Problemlösens TRIZ legt ihren Schwerpunkt auf die frühen Phasen der
292
K. Gericke et al.
Abb. 10.20 Ausschnitt aus einem Katalog für Welle-Nabe-Verbindungen nach Roth (2000, 2001, 1996)
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
293
Produktentwicklung, dem Planen und Klären der Aufgabe sowie dem Konzipieren. Hierfür stellt sie Methoden und Werkzeuge bereit, die es ermöglichen, aus konventionellen
Denkbahnen auszubrechen, um damit unkonventionelle, innovative Lösungen für
Probleme zu generieren. Die TRIZ findet sich somit in dem Rahmenkonzept der Allgemeinen Konstruktionsmethodik wieder und ergänzt diese besonders um die Aspekte
der widerspruchsorientierten Problemlösung und die Nutzung von Wissensspeichern, die
aus umfangreichen Patentanalysen gewonnen wurden.
Methoden und Werkzeuge der TRIZ Die Methoden und Werkzeuge der TRIZ
werden in die Kategorien Systematik, Wissen, Analogie und Vision unterteilt (Herb et al.
2000). Abb. 10.21 zeigt diese vier grundlegenden Bereiche und die ihnen zugeordneten
Methoden.
Der Bereich der Systematik enthält Methoden zur vollständigen Beschreibung der
Aufgabenstellung und Werkzeuge zur Analyse und Synthese von Problemen und deren
Lösungen. Der Wissensbereich betrachtet Effektkataloge und die Möglichkeiten der
Internet- und Patentrecherche. Im Bereich der Analogie sind sowohl der Konflikt als
auch der Widerspruch zwischen zwei physikalischen Parametern beheimatet. Die
Überwindung dieser Probleme mithilfe der sog. Widerspruchsmatrix führen zu einer
innovativen Lösung. Der Bereich der Vision betrachtet die Entwicklung einer Technologie und gibt anhand von Evolutionsgesetzen für technische Systeme Hinweise, wie
diese sich weiterentwickeln wird.
Abb. 10.21 Die vier Säulen der TRIZ (Herb et al. 2000)
294
K. Gericke et al.
Um die Anwendung der TRIZ zu erleichtern und zu strukturieren, wurde der sog.
Algorithmus des erfinderischen Problemlösens (ARIZ) geschaffen. Dieser Algorithmus ordnet die Methoden und Werkzeuge der TRIZ und bietet somit eine Handlungsanweisung zur erfinderischen Problemlösung. Aufgrund der Vielzahl an technischen
Problemen haben sich zahlreiche unterschiedliche Versionen des ARIZ herausgebildet,
auf deren Darstellung an dieser Stelle verzichtet werden soll. Für eine genauere
Betrachtung des ARIZ sei die einschlägige Literatur empfohlen (Altschuller 1998; Herb
et al. 2000; Klein 2002; Orloff 2002).
Systematik Die Innovationscheckliste dient der systematischen Analyse eines
Problems. Sie soll es ermöglichen, alle wesentlichen Informationen über eine Aufgabe
zu sammeln und durch gezielte Fragestellungen ein klares Verständnis für die Aufgabe zu gewinnen. Hierbei wird eine präzise Beschreibung des betreffenden Systems,
dessen Umfeld, der angestrebten Ziele und der hinter dem Problem steckenden Historie
angestrebt. Die Fragestellungen der Innovationscheckliste sind in Abb. 10.22 aufgeführt.
Die Ressourcencheckliste dient dazu, alle für die Lösungsfindung zur Verfügung
stehenden Ressourcen aufzudecken. Ressourcen können Stoffe, Felder, Zeit u. a. sein.
Ziel ist es, diese Ressourcen zur Lösungsfindung zu nutzen und nicht neue Objekte in
den Entwicklungsprozess einzubringen. Hiermit wird auch die Verwirklichung der
Idealität des Produkts angestrebt.
Abb. 10.22 Innovationscheckliste. (Nach Herb et al. 2000)
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
295
Die Idealität soll den Blick auf die ideale, perfekte Lösung des Problems lenken.
Nach Altschuller (1998) ist die ideale Maschine eine solche, die ohne zu existieren ihre
Funktion erfüllt. Als praktische Umsetzung der Idealität wird versucht, „schädliche“ und
Hilfsfunktionen zugunsten der Hauptfunktion zu beseitigen.
Als psychologische Hilfstechniken zur Überwindung von Denkbarrieren stellt die
TRIZ Methoden bereit, wie den Operator MZK (Maß-Zeit-Kosten, auch GZK: GrößeZeit-Kosten) oder das Modellieren mit „kleinen Männchen“, auch Zwergemodellierung
genannt. Beim Operator MZK werden die Parameter der Maße, der Zeit und der
Kosten bei einem absoluten Minimum und einem absoluten Maximum betrachtet. Ziel
ist es, herauszufinden, wie sich das technische System unter diesen Extremen verhält
und welche Schlüsse daraus für die Lösungsfindung gezogen werden können. Bei der
Zwergemodellierung wird das technische System aufgelöst und durch eine Vielzahl
„kleiner Männchen“ ersetzt, die die Aufgabe zu erfüllen haben. Auch hier geht es darum,
neue Lösungsansätze zu generieren.
Die Problemformulierung entspricht einer Funktionsstruktur, wobei diese nicht
flussorientiert ist, wie in der Konstruktionsmethodik. Aufbauend auf der Innovationscheckliste dient sie der weiteren Analyse und Präzisierung des Problems. Die Problemformulierung wird mit der Primär Nützlichen Funktion (PNF), vgl. Zweck bzw.
Hauptfunktion, und der Primär Schädlichen Funktion (PSF) begonnen. Die PNF
drückt den Zweck des technischen Systems aus, dem die PSF entgegensteht. Durch
die sukzessive Erweiterung zu einem Ursache-Wirkung-Diagramm wird versucht zu
klären, wie die PSF auf die PNF einwirkt. Daraus können dann Ansätze zur Lösung des
Problems abgeleitet werden, z. B. mithilfe der Widerspruchsmatrix.
Die Objektformulierung betrachtet die bestehenden Teile eines technischen Systems und
dient der Visualisierung aller Wirkungen eines Teils auf die anderen. Gehen von einem Teil
besonders viele negative Wirkungen aus, kann geprüft werden, ob dieses Teil nicht modifiziert oder entfernt werden kann. Diese Vorgehensweise, auch „Trimming“ genannt, soll
ein bestehendes System hinsichtlich seiner Funktionen und Kosten optimieren.
Wissen Neben den methodischen Werkzeugen des Bereichs Systematik beinhaltet
die TRIZ Effektkataloge für physikalische, chemische und geometrische Effekte. Aufgrund des Umfangs der Datenbanken sind diese meist in kommerzieller Software zur
Anwendung der TRIZ enthalten. Innerhalb der TRIZ werden insbesondere die Internetund Patentrecherche als Informationsquellen herausgestellt. Es wird davon ausgegangen,
dass für die meisten Probleme bereits Lösungen erarbeitet wurden. Statt mit hohem
Ressourcenaufwand eigene Lösungen zu entwickeln, können diese Lösungen genutzt
werden. In der Patentliteratur finden sich Herb zufolge über 90 % an ungeschützten
Patenten, weil sie nicht rechtbeständig sind, zurückgezogen wurden oder deren Schutz
abgelaufen ist (Herb et al. 2000).
Analogie Den Kern der TRIZ stellen die 40 Innovativen Grundprinzipien (IGP) zum
Überwinden technischer Widersprüche dar. Altschuller fand bei seinen Patentrecherchen
39 Parameter, die ein technisches System und somit dessen Widersprüche beschreiben
296
Abb. 10.23 Technische Parameter. (Nach Altschuller 1998)
Abb. 10.24 Innovative Grundprinzipien (IGP). (Nach Altschuller 1998)
K. Gericke et al.
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
297
können (s. Abb. 10.23). Ein technischer Widerspruch wird durch einen zu verbessernden
Parameter beschrieben und einen Parameter, der sich gleichzeitig verschlechtert.
Zur Überwindung von technischen Widersprüchen können die 40 Innovativen Grundprinzipien verwendet werden (s. Abb. 10.24). Aufgrund seiner empirischen Untersuchungen konnte Altschuller eine Matrix aufstellen, die den technischen Parametern,
die im Widerspruch zueinander stehen, bis zu vier Grundprinzipien zuordnet, mit denen
dieser Widerspruch in der Vergangenheit bereits erfolgreich gelöst wurde (s. Abb. 10.25).
Die vollständige Widerspruchsmatrix ist der Literatur zu entnehmen (Altschuller 1998; Herb et al. 2000; Klein 2002; Orloff 2002). Darüber hinaus sind im Internet
Datenbanken vorhanden, über die eine schnelle und komfortable Suche nach den entsprechenden Innovationsprinzipien möglich ist.
Neben den technischen Widersprüchen gibt es solche, die so grundsätzlich sind, dass
sie mit der Widerspruchsmatrix nicht gelöst werden können. Diese Widersprüche werden
auch als Konflikt oder physikalische Widersprüche bezeichnet. Hierbei geht es z. B. um
Situationen, in denen ein Körper gleichzeitig heiß und kalt sein soll, um seine Funktion
zu erfüllen. Um einen Konflikt zu lösen, gibt es die vier Separationsprinzipien:
• Separation im Raum: Die zu verwirklichenden Anforderungen oder Funktionen
werden auf verschiedene Orte oder Teile des technischen Systems verteilt, sodass sie
nicht am gleichen Ort, bzw. Raum, wirken.
• Separation in der Zeit: Die zu verwirklichenden Anforderungen oder Funktionen
werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten verwirklicht.
Abb. 10.25 Auszug aus der Widerspruchsmatrix. (Nach Altschuller 1998)
298
K. Gericke et al.
• Separation innerhalb eines Objekts und seiner Teile: Die zu verwirklichenden
Anforderungen oder Funktionen werden auf verschiedene Teile des technischen
Systems aufgeteilt.
• Separation durch Bedingungswechsel: Die Randbedingungen, unter denen die
Anforderungen oder Funktionen verwirklicht werden sollen, müssen so geändert
werden, dass die Realisierung möglich ist.
Dem Stoff-Feld-Modell liegt die Vorstellung zu Grunde, dass jedes technische
System aus mindestens zwei Stoffen (z. B. Werkstück und Werkzeug) und einem Feld
(z. B. Gravitation) besteht. Durch das Aufstellen der Stoff-Feld-Komponenten eines
technischen Systems und deren Analyse können Probleme aufgedeckt und Lösungsmöglichkeiten gefunden werden. Diese Lösungsmöglichkeiten bestehen aus insgesamt
76 sog. Standards, die immer wiederkehrende Lösungsstrategien für ähnliche Problemfälle darstellen.
Vision Um neue Marktpotenziale aufzudecken, bietet die TRIZ verschiedene Werkzeuge an, die unter den Evolutionsgesetzen technischer Systeme zusammengefasst sind.
Altschuller stellte hierfür acht Grundmuster der technischen Evolution auf, die dazu
dienen, die generelle technische Entwicklung und die Entwicklung bestimmter Produkte
abzuschätzen. Diese Grundmuster sind:
• Technische Systeme durchlaufen einen Lebenszyklus, der gemäß einer S-Kurve durch
die Phasen Kindheit, Wachstum, Reife und Sättigung abgebildet werden kann,
• technische Systeme entwickeln sich in Richtung zunehmender Idealität, d. h., nützliche Funktionen nehmen zu und schädliche Funktionen ab,
• die Teile eines technischen Systems entwickeln sich mit unterschiedlichen
Geschwindigkeiten, sodass jedes Teil eine eigene S-Kurve besitzt. Die potenzielle
Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems wird durch den Teil begrenzt, der als erstes die
Reifephase überschreitet,
• technische Systeme entwickeln sich in Richtung größerer Flexibilität und Regelbarkeit,
• technische Systeme werden zunächst komplexer, um dann genial einfach zu werden,
• Teile technischer Systeme entwickeln sich unter gezielter Übereinstimmung oder
gezielter Nichtübereinstimmung, um die Leistung des Gesamtsystems zu verbessern,
• technische Systeme entwickeln sich in Richtung zunehmender Miniaturisierung und
nutzen zunehmend Felder (z. B. elektrische oder magnetische) und
• technische Systeme benötigen immer weniger Interaktion mit dem Menschen und
agieren zunehmend autonom.
Ein sehr wichtiges Evolutionsprinzip ist der Lebenszyklus eines technischen Systems,
der in Form einer S-Kurve dargestellt werden kann. Der Lebenszyklus wird in die
Phasen der Kindheit, des Wachstums, der Reife und der Sättigung unterteilt. Durch
die Analyse charakteristischer Merkmale eines technischen Systems kann dessen entsprechende aktuelle Lebensphase identifiziert werden. Auf dieser Grundlage wird die
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
299
Abb. 10.26 Der Lebenszyklus eines technischen Systems (Herb et al. 2000)
Entscheidung getroffen, ob das System weiterentwickelt werden soll, oder ob die eingesetzte Technologie ausgereizt ist und durch eine neue ersetzt werden muss. Als
charakteristische Merkmale eines technischen Systems werden die Leistungsfähigkeit,
die Anzahl der Erfindungen, das Niveau der Erfindungen und der Profit betrachtet (s.
Abb. 10.26). Die Leistungsfähigkeit kann z. B. durch die Höchstgeschwindigkeit eines
Automobils definiert werden. Die Anzahl der Erfindungen gibt wieder, wie dynamisch
die Entwicklung einer Technologie während der Lebensphasen verläuft. Das Niveau
der Erfindungen gibt an, ob die angemeldeten Patente Meilensteine in der Technologieentwicklung darstellen oder ob es sich nur um kleine Veränderungen der Technologie handelt. Der Profit schließlich bildet den Gewinn ab, der über die Lebensdauer
des Produkts erzielt wurde. Diese vier Merkmale werden übereinander aufgetragen und
erlauben damit die Identifikation der entsprechenden Produktlebensphase.
10.3Kombinieren von Wirkprinzipien zu einer Wirkstruktur
Zum Erfüllen der in der Aufgabenstellung geforderten Gesamtfunktion müssen nun
aus dem Feld der Lösungen (Wirkprinzipien) Gesamtlösungen zu einer Wirkstruktur
kombiniert werden (Systemsynthese). Dieser Arbeitsschritt kann durch spezielle
Methoden zur Synthese unterstützt werden. Grundsätzlich sollen diese Methoden eine
300
K. Gericke et al.
anschauliche und eindeutige Kombination von Wirkprinzipien unter Berücksichtigung
der begleitenden physikalischen Größen und der betreffenden geometrischen und stofflichen Merkmale gestatten.
Grundlage für einen solchen Verknüpfungsprozess ist die aufgestellte Funktionsstruktur, die die in logischer und/oder physikalischer Hinsicht mögliche bzw.
zweckmäßige Reihenfolge und Schaltung der Teilfunktionen angibt.
Hauptproblem der Kombinationsschritte ist das Erkennen von physikalischen Verträglichkeiten zwischen den zu verbindenden Wirkprinzipien zum Erreichen eines
störungsfreien Energie-, Stoff- und/oder Signalflusses sowie von Kollisionsfreiheit in geometrischer Hinsicht. Ein weiteres Problem liegt bei der Auswahl technisch
und wirtschaftlich günstiger Kombinationen aus dem Feld theoretisch möglicher
Kombinationen.
Die Kombination mithilfe mathematischer Methoden ist nur bei Wirkprinzipien möglich, deren Eigenschaften mit quantitativen Kenngrößen beschreibbar sind, was aber in
der Konzeptphase selten der Fall ist. Beispiele hierfür sind Variantenkonstruktionen und
Schaltungen, z. B. mit elektronischen oder hydraulischen Komponenten.
10.3.1Systematische Kombination
Zur systematischen Kombination eignet sich in besonderem Maße das von Zwicky
(1971) als morphologischer Kasten bezeichnete Ordnungsschema entsprechend
Abb. 10.27, wo in den Zeilen Teilfunktionen, in der Regel nur die Hauptfunktionen, und
die dazugehörigen Lösungen (z. B. Wirkprinzipien) eingetragen sind.
Will man dieses Schema zum Erarbeiten von Gesamtlösungen heranziehen, so wird
für jede Teilfunktion eine Lösung aus dieser Zeile ausgewählt und alle Teillösungen zu
einer Gesamtlösung untereinander verknüpft. Stehen m1 Lösungen für die Teilfunktion
Abb. 10.27 Kombination von Teillösungen (Einzellösungen) zu Gesamtlösungen (Prinzipkombinationen)
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
301
F1, m2 für die Teilfunktion F2 usw. zur Verfügung, so erhält man nach einer vollständigen Kombination
N = m1 · m2 · m3 . . . mn =
n
mi
i=1
theoretisch mögliche Gesamtlösungsvarianten.
Hauptproblem dieser Kombinationsmethode ist die Entscheidung, welche Lösungen
miteinander verträglich und kollisionsfrei, d. h. wirklich kombinierbar sind. Das
theoretisch mögliche Lösungsfeld muss also auf ein realisierbares Lösungsfeld eingeschränkt werden.
Das Erkennen von Verträglichkeiten zwischen den zu verknüpfenden Teillösungen
wird erleichtert, wenn
• die Teilfunktionen der Kopfspalte in der Reihenfolge aufgeführt werden, in der sie
auch in der Funktionsstruktur bzw. Funktionskette stehen, gegebenenfalls getrennt
nach Energie-, Stoff- und Signalfluss,
• die Lösungen durch zusätzliche Spaltenparameter, z. B. die Energieart, zweckmäßig
geordnet werden,
• die Lösungen nicht nur verbal, sondern in Prinzipskizzen dargestellt werden und
• für die Lösungen die wichtigsten Merkmale und Eigenschaften mit eingetragen
werden.
Die Beurteilung von Verträglichkeiten wird durch Aufstellen von Ordnungsschemata
erleichtert. Ordnet man zwei zu verknüpfende Teilfunktionen, beispielsweise „Energie
wandeln“ und „mechanische Energiekomponente ändern“, in die Kopfspalte und Kopfzeile einer Matrix und schreibt die kennzeichnenden Merkmale in ihre Felder, so kann
man die Verträglichkeit der Teillösungen untereinander leichter überprüfen, als wenn
solche Überlegungen nur im Kopf des Konstrukteurs vorgenommen werden müssten.
Abb. 10.28 zeigt eine solche Verträglichkeitsmatrix.
Zusammenfassend ergeben sich folgende Hinweise:
• nur Verträgliches miteinander kombinieren,
• nur weiterverfolgen, was die Forderungen der Anforderungsliste erfüllt und
zulässigen Aufwand erwarten lässt (vgl. Auswahlverfahren in Kap. 11),
• günstig erscheinende Kombinationen herausheben und analysieren, warum diese im
Vergleich zu den anderen weiterverfolgt werden sollen.
Abschließend sei betont, dass es sich hier um eine allgemein anwendbare Methode
des Kombinierens von Teillösungen zu Gesamtlösungen handelt. Sie kann sowohl zur
Kombination von Wirkprinzipien in der Konzeptphase als auch von Teillösungen in
der Entwurfsphase oder bereits von stark konkretisierten Bauteilen oder Baugruppen
302
K. Gericke et al.
Abb. 10.28 Verträglichkeitsmatrix für Kombinationsmöglichkeiten der Teilfunktion „Energie wandeln“
und „mechanische Energiekomponente ändern“ nach (Dreibholz 1975)
angewendet werden. Da sie im Kern Informationen verarbeitet, ist sie nicht nur auf
technische Probleme beschränkt.
10.3.2Kombinieren mithlife mathematischer Methoden
Den Einsatz von mathematischen, software-basierten Methoden zur Kombination
von Lösungen wird man nur dann anstreben, wenn klare Vorteile aus diesem Vorgehen erkennbar sind. So sind Eigenschaften von Wirkprinzipien bei dem niedrigen
Konkretisierungsgrad der Konzeptphase oft nur so unvollständig und ungenau
bekannt, dass eine quantitative Bearbeitung, d. h. eine mathematische Kombination
mit gleichzeitiger Optimierung, nicht durchführbar ist oder sogar zu falschen Ergebnissen führt. Ausgenommen sind hier Kombinationen bekannter Elemente und Baugruppen, wie sie z. B. bei Variantenkonstruktionen oder in Schaltungen vorkommen.
Mathematische Elementverknüpfungen können bei Vorliegen rein logischer Funktionen
durch Anwenden der Booleschen Algebra durchgeführt werden (Föllinger und Weber
1967; Rodenacker 1991), z. B. für das Verhalten von Sicherheitsschaltungen und für
Schaltungsoptimierungen der Elektrotechnik oder Hydraulik.
Grundsätzlich müssen zur Kombination von Teillösungen zu Gesamtlösungen mithilfe mathematischer Methoden diejenigen Merkmale bzw. Eigenschaften der Teil-
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
303
lösungen bekannt sein, die mit entsprechenden Eigenschaften der zu verknüpfenden
Nachbarlösung korrespondieren sollen. Dabei ist es notwendig, dass die Eigenschaften
eindeutig und in Form von quantifizierbaren Größen vorliegen. Zur Bildung auch von
prinzipiellen Lösungen (z. B. Wirkstruktur) reichen Angaben über physikalische
Beziehungen oft nicht aus, da auch geometrische Verhältnisse einschränkend wirken
können und damit unter Umständen die Verträglichkeit ausschließen. Eine Zuordnung
zwischen physikalischer Gleichung und geometrischer Struktur wird dann notwendig.
Solche Zuordnungen lassen sich in der Regel nur für physikalische Vorgänge und geometrische Strukturen niedriger Komplexität modellieren und speichern.
Für physikalische Vorgänge höherer Komplexität werden solche Zuordnungen
dagegen oft mehrdeutig, sodass doch wieder der Konstrukteur zwischen Varianten entscheiden muss. Insofern bieten sich hier Dialogsysteme an, bei denen ein Kombinationsprozess aus mathematischen und kreativen Teilschritten besteht.
Hieraus wird einsichtig, dass es mit zunehmender stofflicher Verwirklichung einer
Lösung einerseits einfacher wird, quantitative Verknüpfungsregeln aufzustellen, andererseits steigt die Zahl der sich gegenseitig beeinflussenden Eigenschaften und mit ihnen
die Zahl der Verträglichkeitsbedingungen sowie oft auch die der Optimierungskriterien,
sodass der numerische Aufwand sehr hoch wird. Da bei einem Kombinieren mithilfe
mathematischer Methoden der Rechnereinsatz notwendig ist, wird auf entsprechende
Möglichkeiten in Kap. 25 hingewiesen.
10.4Praxis der Wirkstruktur
Das Entwickeln von Wirkstrukturen gilt bei Neukonstruktionen als einer der wichtigsten
Hauptarbeitsschritte, bei der die Kreativität des Konstrukteurs am meisten gefordert
wird. Diese Kreativität wird durch denkpsychologische Prozesse zum Problemlösen,
durch die Verfolgung einer allgemeinen Arbeitsmethodik sowie durch die allgemein
einsetzbaren Lösungs- und Beurteilungsmethoden in besonderer Weise geprägt und
beeinflusst. Entsprechend ist das Vorgehen gerade in diesem Abschnitt sehr unterschiedlich und abhängig vom Neuheitsgrad der Aufgabe bzw. dem Anteil von zu lösenden
Problemen, von der Mentalität und den Fähigkeiten bzw. Erfahrungen des Konstrukteurs
sowie von Vorfixierungen durch die Produktplanung oder durch den Kunden.
Das zuvor beschriebene Vorgehen kann deshalb nur eine Leitlinie für zweckmäßiges,
schrittweises Arbeiten sein, dessen tatsächliche Durchführung recht unterschiedlich sein
kann: Bei Neuentwicklungen ohne Vorbilder sollte immer mit der Lösungssuche für diejenige Hauptfunktion begonnen werden, die offenbar für die Gesamtfunktion lösungsbestimmend ist (siehe Kap. 9). Für die lösungsbestimmende Hauptfunktion wird man
dann erste grobe Vorstellungen über infrage kommende physikalische Effekte oder schon
Wirkprinzipien durch intuitiv betonte Methoden, durch Literatur- und Patentrecherchen
oder aus früheren Entwicklungen aufbauen. Diese Lösung oder Lösungen wird man
anschließend hinsichtlich ihres Funktionszusammenhangs analysieren, um auf weitere
304
K. Gericke et al.
wichtige Teilfunktionen zu kommen, für die dann auch Effekte oder Wirkprinzipien
zu suchen sind. Diese Wirkprinzipien sollten dann nur noch auf das für die lösungsbestimmende Hauptfunktion gefundene, aussichtsreiche Wirkprinzip angepasst gesucht
werden. Eine gleichzeitige, unabhängige Suche nach allen Wirkprinzipien für alle
Teilfunktionen ist dagegen im Allgemeinen zu aufwendig und umfasst oft
Wirkprinzipien, die dann doch nicht in ihrer Kombination infrage kommen.
Es empfiehlt sich, auf einer weniger konkreten Ebene zuerst die aussichtsreichsten
Lösungsprinzipien (etwa bis maximal 6) zu suchen und dann ausgehend von einer aussichtsreichen Variante auf einer konkreteren Ebene stärker zu konkretisieren und dort
wiederum aussichtsreichere Varianten zu erkennen. Eine zu große Variantenvielfalt in
einem Schritt zur Lösungssuche kostet zu viel Arbeitsaufwand für Varianten, die dann
doch nicht in Betracht kommen (siehe Abschn. 3.2).
Eine wichtige Strategie zum Aufstellen von Lösungsfeldern ist daher die
systematische Variation von als wesentlich erkannten physikalischen und geometrischstofflichen Merkmalen der gefundenen Erstlösungen. Die dazu hilfreichen Ordnungsschemata werden meistens nicht auf Anhieb optimal aufgestellt, sondern erst nach
mehreren Ansätzen unter Variation bzw. Korrektur (Einschränkung oder Ausweitung) der
„Ordnenden Gesichtspunkte“. Etwas Erfahrung ist hierbei unerlässlich.
Bei Vorliegen schon konkreter Produktideen mit ersten Lösungsansätzen aus einer
Produktplanung oder Ideensammlung wird man diese auf ihre wesentlichen, lösungsbestimmenden Merkmale hin untersuchen, um dann mit deren systematischer Variation
und Kombination schnell zu einem Lösungsfeld zu kommen.
Bei Weiterentwicklungen wird man die bereits bekannten Wirkprinzipien und
Wirkstrukturen überprüfen, ob sie noch dem technischen Erkenntnisstand oder sich verändernden Zielsetzungen genügen.
Bei stärker intuitiv betontem Vorgehen und bei Vorliegen großer Erfahrungen werden
häufiger gleich Wirkstrukturen zur Erfüllung der Gesamtfunktion gefunden, ohne erst
eine getrennte Lösungssuche für die Teilfunktionen (Wirkprinzipien) vorzunehmen.
Insbesondere das schrittweise Erarbeiten von Wirkprinzipien über das Suchen
physikalischer Effekte und anschließende Realisieren mit geometrisch stofflichen
Festlegungen wird oft gedanklich integriert mit Lösungsskizzen durchgeführt, da
der Konstrukteur mehr in Anordnungen und prinzipiellen Darstellungen denkt als in
physikalischen Gleichungen.
Über intuitiv betonte und diskursiv-systematische Methoden werden, in der Regel
schnell umfangreiche Lösungsfelder gefunden. Diese sollten bereits beim Entstehen
auf verfolgungswürdige Wirkprinzipien durch Beachten der Forderungen aus der
Anforderungsliste reduziert werden, um den weiteren Konkretisierungsaufwand in
Grenzen zu halten.
Oft können die Eigenschaften von prinzipiellen Lösungen, insbesondere deren
Fertigungskonsequenzen und Kosten, noch nicht mit quantitativen Kenngrößen beurteilt
werden. Daher sollte bei Vorliegen aussichtsreicher Wirkprinzipien die Auswahl durch
interdisziplinäre Diskussion erfolgen (z. B. in einem Team unterschiedlicher Fach-
10
Entwickeln von Wirkstrukturen
305
zusammensetzung), um die qualitativen Auswahlentscheidungen auf breiten Erfahrungen
abzustützen.
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Auswahl- und Bewertungsmethoden
11
Sandro Wartzack
Im Lösungsfindungsprozess wird eine große Anzahl möglicher Lösungen erarbeitet.
Damit wird der Lösungsraum erweitert. Bei der Bewertung hingegen wird eine
Fokussierung auf eine oder einige wenige Alternativen herbeigeführt. Entscheidungen
über die zu verfolgenden Alternativen, die eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf den
Fortschritt im Produktentwicklungsprozess einnehmen, müssen systematisch und nachvollziehbar getroffen werden.
Entscheidungsaufgaben weisen nach Bauer (2010); Sen und Yang (1998) folgende
Charakteristika auf:
• Es existiert eine Reihe möglicher Handlungsalternativen bzw. Lösungsalternativen,
• jede Handlungsalternative ist durch eine Reihe von Konsequenzen charakterisiert,
von denen einige vorteilhaft bzw. erwünscht sind, andere jedoch nachteilig bzw.
unerwünscht.
• Aufgabe des Entscheiders ist es, vor der Auswahl einer oder mehrerer Alternativen
deren vorteilhafte und nachteilige Konsequenzen abzuwägen. Dies erfolgt mittels
Anwendung bestimmter Vorgehensweisen zur Bestimmung bzw. Kommunikation von
Präferenzen.
Diese Charakteristika prägen den Prozess der Entscheidungsfindung: Es muss also
zunächst die Synthese einer Reihe konkurrierender Lösungskonzepte bzw. Lösungsentwürfe erfolgen, der sich eine Auswahl bevorzugter Varianten anschließt (Sen 2001).
Auswahl- und Bewertungsmethoden unterstützen diesen Prozess.
S. Wartzack (*)
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_11
307
308
S. Wartzack
Aufbauend auf einer allgemeingültigen Vorgehensweise zur Bewertung technischer
Systeme werden im Folgenden für die Entscheidungsfindung relevante Aspekte
beleuchtet: Bewertungsverfahren verschiedenster Komplexität und für unterschiedlichste
Entscheidungsaufgaben, Rechnerunterstützung sowie die Betrachtung von Bewertungsunsicherheiten. Dem Leser soll somit ein strukturierter Einstieg in die Entscheidungsfindung unter dem Einsatz von Bewertungsverfahren ermöglicht werden.
Zweck und Zielsetzung von Bewertungsverfahren Zweck und Zielsetzung von
Bewertungsverfahren ist es, eine Unterstützung für die Entscheidungsfindung bei einer
Auswahl aus mehreren potenziellen Varianten oder Lösungsmöglichkeiten zu geben.
Dazu müssen Bewertungsverfahren den Entscheider in die Lage versetzen, diejenigen
Risiken, die bestimmte Lösungsmöglichkeiten mit sich bringen, frühzeitig zu erkennen,
um ggf. geeignete Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Ein weiterer Grund für den
Einsatz von Bewertungsverfahren ist die Forderung nach einer späteren Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidung: Diese wird durch geeignete Bewertungsverfahren
gewährleistet, indem objektive Beurteilungen der Situation gemeinsam mit den zu
erwartenden Konsequenzen der einzelnen Handlungsalternativen festgehalten werden.
Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass eine Anwendung von Bewertungsverfahren in
den verschiedensten Phasen des Produktentwicklungsprozesses möglich und nötig ist: In
der Planungsphase stellen sich den Entwicklern z. B. Bewertungsaufgaben hinsichtlich
der grundsätzlichen Ausrichtung und Positionierung des zu entwickelnden Produktes,
während in der Konzeptfindung eher die vergleichende Bewertung mehrerer Konzepte
bzw. Entwürfe und eine anschließende Auswahl der besten Lösung im Fokus stehen.
Daher gibt es eine Vielzahl an Bewertungsverfahren, die auf bestimmte Anwendungen
maßgeschneidert sind und somit für den Einsatz zu bestimmten Zeitpunkten im Entwicklungsprozess prädestiniert sind. Unterschieden werden dabei – in Analogie zur
Auswahl von Berechnungsverfahren nach Mertens (1998); N. N. (2003) – einfache
(C-), aufwendige (B-) und komplexe (A-) Verfahren, die sich hinsichtlich ihrer Eignung
für die verschiedenen Entscheidungsaufgaben und des Zeitaufwands erheblich unterscheiden.
Der Einsatz bestimmter Bewertungsverfahren ist jedoch nicht immer auf einen
bestimmten Abschnitt des Entwicklungsprozesses begrenzt: Wird ein bestimmter
Indikator, der Aufschluss über die Ausprägung einer bestimmten Produkteigenschaft
gibt, über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder mit demselben Bewertungsverfahren gemessen, so kann dadurch ein Monitoring der zeitlichen Entwicklung dieses
Kennwertes über den Verlauf des Produktentwicklungsprozesses hinweg erreicht werden.
Auch wenn der Fokus im Folgenden mehr auf der Bewertung mehrerer Lösungsvarianten
zur anschließenden Auswahl der besten Variante liegen soll, erlauben Bewertungsverfahren damit auch die Überwachung des Produktreifegrads über die Projektlaufzeit
hinweg.
Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass im Folgenden der Fokus auf Bewertungsverfahren und dem zugehörigen Vorgehen und nicht auf Systemanalyseverfahren, wie
z. B. der Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA), liegt.
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
309
Allgemeine Vorgehensweise bei der Bewertung und Überblick Eine Bewertung
soll den Wert bzw. Nutzen oder die Stärken/Schwächen einer Lösung bzw. eines
Produktes in Bezug auf das vorher definierte Zielsystem ermitteln. Somit stellt
eine Bewertung nach DIN EN ISO 9000 ff. eine „Tätigkeit zur Ermittlung der
Eignung, Angemessenheit und Wirksamkeit der Betrachtungseinheit, festgelegte
Ziele zu erreichen“ dar (DIN EN ISO 9000 2005). Dieses Zielsystem repräsentiert
Anforderungen an das Produkt sowie allgemeine Rahmenbedingungen, unter denen das
Produkt entwickelt und eingesetzt werden soll. Um die Eignung einer Lösung bezüglich des erstellten Zielsystems zu bewerten, sind dabei „für eine endliche Menge von
Lösungen beliebiger Art aus beliebigen Fachgebieten und in beliebigen Reifegraden
jedoch gleichen Informationsgehaltes“ gemeinsame Bewertungskriterien aufzustellen,
diese mit einheitlich erfassbaren und vergleichbaren Werten zu versehen (Wertungszahlen) und deren Summen (Wertigkeiten) als Wertvergleich gegenüberzustellen
(Breiing und Knosala 1997). So kann durch den höchsten Wert die beste und durch den
niedrigsten Wert die schlechteste Lösung ermittelt werden.
Zur Durchführung dieser Tätigkeitsschritte sind Verfahren notwendig, die eine
umfassende Bewertung komplexer Produkte erlauben. Um in den unterschiedlichen Phasen
des Produktentwicklungsprozesses einsetzbar zu sein, müssen diese Verfahren nicht nur
quantitativ vorliegende Eigenschaften der Varianten (z. B. Verformung unter Last) verarbeiten können, sondern auch qualitative Eigenschaften (z. B. ästhetisches Erscheinungsbild), wie sie beispielsweise in der frühen Konzeptphase mit dem entsprechend geringen
Konkretisierungsgrad vorhanden sind. Dabei folgen diese Methoden nach Breiing und
Knosala alle einem prinzipiell ähnlichem Ablauf (s. Abb. 11.1: (Adunka 2003)).
Abb. 11.1 Generischer Ablauf einer Bewertung (Adunka 2003)
310
S. Wartzack
Vor allem bei Bewertungsverfahren, welche auf rein subjektiven Abschätzungen
beruhen, ist eine Bewertergruppe unerlässlich. Um die Subjektivität weitgehend zu
eliminieren, sollte die Gruppe aus mehreren Personen bestehen, die aus unterschiedlichen Konstruktions- und Betriebsbereichen kommen, um ein weitgefächertes und
interdisziplinäres Meinungs- und Expertenbild zu gewährleisten. Anschließend müssen
die Lösungsalternativen auf ein vergleichbares Niveau gebracht werden, um einer Fehlbewertung aufgrund eines unterschiedlichen Detaillierungsgrades entgegenzuwirken.
Als Umsetzung der Anforderungen bei einer Bewertung dienen Bewertungskriterien,
die quantitative oder qualitative Größen darstellen und objektiv oder subjektiv ermittelt
bzw. gemessen und beurteilt werden können. Bei dieser Spezifikation kann zwischen
einem Top-down- und einem Bottom-up-Vorgehen unterschieden werden. Während
bei der Top-down-Zielableitung Anforderungen auf Gesamtproduktebene im Laufe
der Entwicklung zu Bewertungskriterien detailliert werden, werden bei einem Bottomup-Vorgehen die Bewertungskriterien aus der Komponentensicht heraus definiert. Bei
der Definition der Bewertungskriterien gilt es außerdem, alle Anforderungen, die das
Produkt während seines Produktlebenszyklus erfüllen muss, zu berücksichtigen. Weiterhin sollten die Bewertungskriterien folgende Voraussetzungen weitgehend erfüllen
(Breiing und Knosala 1997; Maletz 2008; Bachmann 2007):
1. Bewertungskriterien müssen gleicher Natur sein, d. h. K.O.-Kriterien dürfen nicht mit
unkritischeren Aspekten gemischt werden.
2. Es dürfen nur Kriterien aufgestellt werden, die für alle Varianten gültig sind.
3. Kriterien müssen frei von Dopplungen und Gleichläufigkeit sein.
4. Kriterien müssen frei von Widersprüchen sein.
5. Kriterien müssen auf Gegenläufigkeit geprüft sein.
6. Mehrere Kriterien sind, wenn möglich, zu einem mehrdimensionalen Wert
zusammenzusetzen, um die Komplexität der Bewertung zu reduzieren.
7. Die aufgestellten Kriterien müssen die Anforderungen vollständig erfassen.
Sind die Kriterien gemäß obiger Arbeitsschritte aufgestellt, geprüft und zueinander
gewichtet, so muss für jedes Bewertungskriterium je Lösungsvariante ein entsprechender
Wert ermittelt werden (Beispiel Fahrzeugtüre: Kriterium: Türabsenkung – Wert: 7 mm).
Diese können nun in diskrete Maßzahlen mij umgewandelt werden. Dabei muss der
zunächst frei wählbare Maßzahlbereich während des Bewertungsprozesses durchgängig
beibehalten werden (Adunka 2003) (z. B. auf einer Skala von 0 bis 10).
Hilfreich bei der konsistenten Ermittlung/Verwendung einer Punkteskala können
Wertfunktionen sein. Für die Zuordnung von Punkten zu den Eigenschaftsgrößen der
Varianten ist es notwendig, dass der Beurteiler sich über die Beurteilungsspanne (Spanne
der Eigenschaftsgrößen) und über den qualitativen Verlauf der sog. „Wertfunktion“ im
Klaren wird. In Abb. 11.2 werden verschiedene Wertfunktionen aufgezeigt. Eine Wertfunktion bildet einen Zusammenhang zwischen Werten und Eigenschaftsgrößen. Beim
Aufstellen solcher Wertfunktionen ergibt sich der gesuchte Wertverlauf entweder aus
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
311
Abb. 11.2 Gebräuchliche Wertfunktionen (nach Zangemeister 2014)
einem bekannten mathematischen Zusammenhang zwischen Wert und Eigenschaftsgröße
oder als geschätzter Verlauf, der häufiger vorliegt (Herrmann 1970). Eine Hilfe für
Produktentwickler ist es, hierzu ein Urteilsschema aufzustellen, in dem die verbal oder
zahlenmäßig angegebenen Eigenschaftsgrößen für die Bewertungskriterien durch Punktvergabe stufenweise den Wertvorstellungen des Bewertenden zugeordnet werden.
Um die unterschiedliche Bedeutung einzelner Bewertungskriterien für eine Lösung zu
berücksichtigen, sehen die meisten Bewertungsverfahren eine Gewichtung der einzelnen
Bewertungskriterien vor. Diese Gewichtungsfaktoren gj bestimmen somit die Wertigkeit der Bewertungskriterien und ergeben zusammen mit den Bewertungskriterien das zu
untersuchende Zielsystem. Durch die Multiplikation von Maßzahl mij und Gewichtung
gj entsteht eine Wertungszahl wij für jede Variante i und jedes Bewertungskriterium
j. Durch eine Summation der Wertungszahlen einer Variante wird die Bewertung einer
Lösung (Gwi) erreicht. Somit errechnet sich dann der Gesamtwert einer Variante zu:
Gwi =
n;k
gj · mij
i=1;j=1
n Anzahl der zu bewertenden Lösungen; k Anzahl der Kriterien; i Alternative; j
Kriterium; gj Gewichtungsfaktor (zumeist in %); mij Maßzahl.
Nach der Bestimmung der Wertungszahlen können anschließend die Bewertungsergebnisse graphisch (Bedeutungsprofile, Eigenschaftsspinnen, usw.) oder numerisch
dargestellt werden. Dabei kann entweder anhand des Gesamtwertes ein relativer
312
S. Wartzack
Vergleich der Varianten untereinander und somit die „beste“ Lösung ermittelt oder eine
Abschätzung der Varianten gegen eine gedachte Ideallösung mit einem maximalen
Gesamtwert durchgeführt werden.
Im Zusammenhang mit dem generischen Bewertungsablauf sind folgende
Empfehlungen, die einen praxisnahen Einsatz der Verfahren erleichtern, festzuhalten:
8. Die Analyse bzw. Informationsbeschaffung muss korrekt und mit vertretbarem Aufwand erfolgen.
9. Spezifikation und Dokumentation der Bewertungskriterien und der eingesetzten
Bewertungsmethode dienen der besseren Nachvollziehbarkeit.
10. Haben alle Varianten denselben Wert, kann dieser gelöscht werden.
11. Eine Untergliederung der Kriterienliste nach Teilsystemen ist sinnvoll.
12. Kriterien sollten unabhängig sein bzw. bei der Bewertung der Lösung muss die
Abhängigkeit der Kriterien bekannt sein.
13. Es ist empfehlenswert, je Bewertungsrunde die maßgeblichen Kriterien zu kennzeichnen, um den Bewertungsverlauf zu dokumentieren.
Dieses allgemeine Vorgehen findet sich in einer Vielzahl von Bewertungsverfahren
wieder, die allerdings je nach Komplexität und Zielsetzung bestimmte Schritte betonen
bzw. straffen. Daher sollen im Folgenden die unterschiedlichen Bewertungsverfahren
auf Basis der Komplexität und des notwendigen Zeitaufwandes klassifiziert werden.
Diese Untergliederung soll einen Hinweis darauf geben, welches Verfahren für die
anstehende Bewertungsaufgabe am besten geeignet ist. Da es nicht sinnvoll ist, generell
komplexe und zeitaufwändige Verfahren zu verwenden, sollte sich die Komplexität eines
Bewertungsverfahrens unmittelbar an der Komplexität der vorliegenden Aufgabenstellung orientieren. Zusätzlich muss bei der Wahl des Bewertungsverfahrens berücksichtigt werden, wie dringlich eine Entscheidung ist und wie schnell eine Bewertung
mit Hilfe des Verfahrens herbeigeführt werden kann. Als Maßstab für die Komplexität als auch für den Zeitaufwand können die Methoden zur Kriteriengruppierung und
-bereinigung, Ermittlung der Kriteriengewichtung, der Maßzahlumsetzung sowie der
Schärfe bzw. Unschärfe der Zahlen herangezogen werden (s. Abb. 11.3).
Die Vorgehensweise bei der Durchführung der Bewertungsmethoden der Kategorien C (einfach) und B (umfassend) wird einheitlich am Beispiel der Evaluierung verschiedener PKW-Türrohbaukonzepte erläutert. Das Beispiel findet hierbei Anlehnung an
eine Benchmarkstudie von Hilfrich et al. (2007). Im Rahmen der Studie wurden dabei
eingesetzte Türen verschiedenster Hersteller beschafft, analysiert und im Sinne einer
Bewertung gegenübergestellt. Dadurch liegen belastbare Daten über die Türkonzepte
vor, die einer Bewertung zugrunde gelegt werden können. Im Folgenden werden jeweils
vier unterschiedliche Konzepte herangezogen, um die Anwendung der Bewertungsverfahren beispielhaft zu demonstrieren.
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
313
Abb. 11.3 Überblick und Klassifizierung etablierter Bewertungsverfahren (in Anlehnung an Adunka
2003)
Die grundlegenden Schritte sind bei den meisten Bewertungsverfahren ähnlich und orientieren sich am generischen Vorgehen, wie in Abb. 3.1 beschrieben. Im
Folgenden wird demnach bei der Vorgehensbeschreibung nur auf Besonderheiten bzw.
Abweichungen vom generischen Vorgehen detailliert eingegangen.
11.1Einfache Bewertungsverfahren zur Vorauswahl von
Lösungsvarianten
Im Folgenden werden beispielhaft einfache Bewertungsverfahren (Kategorie C) zur Vorauswahl von Lösungsvarianten beschrieben.
Argumentenbilanz Ein sehr einfaches qualitatives Entscheidungsinstrument stellt die
Argumentenbilanz dar: Hierbei werden Vor- und Nachteile einzelner Lösungsalternativen
tabellarisch aufgelistet und gegenübergestellt (s. Abb. 11.4). Die Stärken und Schwächen
der einzelnen Varianten werden nicht näher beschrieben, wobei die Argumente nicht bei
allen Lösungsalternativen verwendet werden müssen (Haberfellner et al. 1994).
Vorteil dieser universell einsetzbaren Methode ist ihre einfache Durchführbarkeit, die
nur geringen Aufwand nach sich zieht (Wartzack et al. 2000). Die Argumentenbilanz ist
auf Grund ihrer fehlenden linguistischen Präzision und der gegenseitigen Gewichtung
der Argumente nur für einfache Fragestellungen einsetzbar. Durch diese Methode kann
keine eindeutig schlechteste und beste Lösung identifiziert werden. Sie ist geeignet,
sich schnell Klarheit über eine Entscheidungsaufgabe zu schaffen oder für Teilaspekte zu sensibilisieren. Für Entscheidungen mit hohem Risiko und weitreichenden
Konsequenzen sind A- oder B-Methoden zu empfehlen.
314
S. Wartzack
Abb. 11.4 Argumentenbilanz für verschiedene Türkonzepte (in Anlehnung an Herrmann 1970; Fiedler
2010)
Punktbewertung Ziel der Methode ist die Ermittlung einer Rangfolge für Lösungsalternativen (Adunka und Wartzack 1999). Von dieser Methode sind zwei Varianten
zu unterscheiden, die gewichtete und die ungewichtete Punktbewertung (Ehrlenspiel
und Meerkamm 2017). Bei der gewichteten Punktbewertung werden die identifizierten
Kriterien entsprechend ihrer Bedeutung für den Erfolg des neuen Produktes gewichtet
(Lindemann 2007). Das Vorgehen bei einer gewichteten Punktbewertung lässt sich in
sechs Schritte gliedern:
1. Bewertungskriterien festlegen
Die Bewertungskriterien werden aus Anforderungen abgeleitet, die in der Anforderungsliste aufgeführt sind, wobei diese auf die aktuelle Entscheidungsaufgabe zugeschnitten
sein müssen.
2. Gewichtung der Bewertungskriterien bestimmen
Die Gewichtung der Kriterien zueinander wird üblicherweise mit Zahlen zwischen 0
und 1 festgelegt, wobei die Summe aller Kriteriengewichte 1 ergeben muss.
3. Eigenschaften der Varianten beschreiben
In diesem Schritt werden die qualitativen und quantitativen Eigenschaften der zu
bewertenden Varianten in Bezug auf die Kriterien beschrieben.
4. Eigenschaften mit Punkten bewerten
Die zuvor festgelegten Eigenschaften der Lösungsalternativen werden nach einer festgelegten Punkteskala (z. B. 1–4) bewertet.
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
315
5. Punkte mit Gewichtung multiplizieren
Durch die Multiplikation der vergebenen Punkte der Varianten mit den Kriteriengewichten werden die gewichteten Punktzahlen berechnet.
6. Aufsummieren der Resultate aus der Multiplikation von Kriteriengewichten mit
den Punktzahlen für jede Variante
Durch die Summation der Punkte für jede Lösungsalternative entsteht eine Rangfolge
der einzelnen Varianten. Die Lösung mit der höchsten Punktzahl ist die am besten
bewertete Alternative für die vorliegende Aufgabe.
Bei einer ungewichteten Punktbewertung entfallen die Schritte 2 und 5. Wie aus
Abb. 11.5 ersichtlich, ist das Verfahren der ungewichteten Punktbewertung nicht so aussagekräftig wie das Verfahren mit gewichteten Kriterien, mit dem die besseren Lösungen
eindeutiger gefunden werden können. Das Verfahren der gewichteten Punktbewertung
wird beispielsweise bei der Präferenzmatrix und Nutzwertanalyse zum Bewerten von
Produktideen bzw. -konzepten eingesetzt (Adunka 2003).
Vorteil dieses Verfahrens ist seine universell einsetzbare und einfache Nutzung, die
innerhalb kurzer Zeit durchführbar ist. Zur erfolgreichen Durchführung der Punktbewertung muss ein ausreichender Kenntnisstand der Eigenschaften einer Lösungsvariante vorhanden sein (Adunka und Wartzack 1999). Die Bewertung sollte in einem
Team durchgeführt werden.
Paarweiser Vergleich Der paarweise Vergleich ist eine universell einsetzbare und
einfach durchzuführende Methode, bei der jeweils zwei Lösungsvarianten paarweise mit-
Abb. 11.5 Punktbewertung für Türkonzepte
316
S. Wartzack
einander verglichen werden. Hierzu müssen zunächst die Lösungsalternativen, die verglichen werden sollen, zusammengetragen werden.
Zur übersichtlichen Darstellung werden die Lösungsvarianten in die Spalten und
Zeilen einer Matrix eingetragen (s. Abb. 11.6). Bei der paarweisen Gegenüberstellung
wird geprüft, welche Lösung als besser eingestuft wird (direkter Vergleich). Bei einem
Unentschieden wird das Feld freigelassen. Die Entscheidungen werden oberhalb der
Diagonalen in der symmetrischen Matrix festgehalten. Über Abzählen der Einträge
z. B. von A in Zeilenrichtung der Spalte A wird eine Punktesumme gebildet, d. h., es
wird die Anzahl der Buchstaben des jeweiligen Kriteriums in der entsprechenden Zeile
und in der dazugehörigen Spalte ermittelt. Die Zahlen aus Zeilen und Spalten werden
lösungsspezifisch addiert und aus den Zahlenwerten eine Rangfolge gebildet. Abb. 11.6
zeigt den paarweisen Vergleich für das Kriterium Crash-Performanz des FahrzeugTürenbenchmarks.
Dieser systematische Bewertungsprozess lässt sich gut im Team bewerkstelligen.
Jedoch besteht die Gefahr, dass dominierende Gruppenmitglieder einen starken Einfluss auf andere Mitglieder ausüben. Die Identifikation der zu präferierenden Lösung
kann je nach zu bewertender Situation schwierig sein. Deswegen sollte im Bewertungsteam genügend Know-how über den jeweiligen Sachverhalt vorhanden sein. Der
Entscheidungsprozess wird dokumentiert und ist somit im Nachhinein transparent nachvollziehbar; insbesondere dann, wenn die Einträge der Matrix aij kommentiert abgelegt
werden. Wenn eine große Anzahl an Lösungen vorliegt, ist diese Methode allerdings
zeitaufwendig und komplex in der Durchführung, da der Aufwand, jede Lösung mit
jeder anderen zu vergleichen, quadratisch zunimmt.
Abb. 11.6 Paarweiser Vergleich für Kriterien
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
317
11.2Aufwendige Bewertungsverfahren zur Lösung von
Entscheidungsaufgaben
Zur Bearbeitung komplexerer Problemstellungen, bei denen die o. g. Verfahren schnell
an ihre Grenzen stoßen, wurden universelle Bewertungsmethoden entwickelt. Während
die einfachen Bewertungsverfahren (C-Verfahren) nur für wenig weitreichende Entscheidungen eingesetzt werden sollen, eignen sich die Verfahren Nutzwertanalyse und
technisch-wirtschaftliche Bewertung in Verbindung mit der Präferenzmatrix hervorragend für komplexere Entscheidungsaufgaben.
Nutzwertanalyse Die Nutzwertanalyse (NWA) geht auf Zangemeister (2014) zurück
und wurde 1970 erstmals vorgestellt. Sie stellt eine Vorgehensweise zur Analyse einer
Menge komplexer Handlungsalternativen dar. Einsatz findet die Nutzwertanalyse vor
allem bei komplexen Produkten mit einer großen Anzahl relevanter Bewertungskriterien.
Voraussetzung für den Einsatz ist ein ausreichender Kenntnisstand der Merkmalsausprägungen der zu bewertenden Lösungsalternativen (Lindemann 2007). Die Nutzwertanalyse dient auch der Projektauswahl im Rahmen des strategischen Projektcontrollings,
da mit ihr alle wesentlichen Einflussfaktoren auf den Projekterfolg untersucht werden
können (Fiedler 2010).
Charakteristisch für die Nutzwertanalyse ist das strukturierte Aufstellen der
Bewertungskriterien. Dieser Arbeitsschritt wird systematisiert durch Aufstellen
eines Zielsystems, das die einzelnen Ziele als Teilziele Zi vertikal in mehrere Zielstufen abnehmender Komplexität und horizontal in unterschiedliche Zielbereiche,
z. B. in technische und wirtschaftliche oder in solche unterschiedlicher Bedeutung
(Haupt- und Nebenziele), hierarchisch gliedert: Wegen der gewollten Unabhängigkeit sollten Teilziele einer höheren Zielstufe nur mit einem Ziel der nächst niedrigeren
Zielstufe verbunden sein. Diese hierarchische Ordnung vereinfacht die Abschätzung
der Bedeutung der Teilziele für den Gesamtwert. Als Bewertungskriterien werden die
Knoten herangezogen, die nicht weiter unterteilt werden (Blätter des hierarchischen
Zielsystem-Baumes, s. Abb. 11.7). Diese werden bei der Nutzwertanalyse auch Zielkriterien genannt. In Abb. 11.7 ist ein möglicher Ausschnitt eines Zielsystems für den
Demonstrator PKW-Türe dargestellt. Das Hauptziel „Strukturperformanz“, d. h. das
statische und dynamische Verhalten der Tragstruktur, kann um weitere Ziele auf der
obersten Hierarchiestufe ergänzt werden. Soll jede Lösungsvariante mit genau einem
Nutzwert beschrieben werden, so ist die höchste Zielstufe nur durch ein Ziel (Hauptziel) zu besetzen. Die Kriterien für die eigentliche Bewertung befinden sich im gezeigten
Beispiel auf der dritten sowie der vierten Zielstufe (Z1111, Z1112, Z112, Z1211, Z1212, Z1213,
Z122).
Die Gewichtung der Bewertungskriterien erfolgt anhand des aufgestellten Zielsystems. Bei der Nutzwertanalyse wird mit Faktoren zwischen 0 und 1 gewichtet.
Dabei soll die Summe der Faktoren aller Bewertungskriterien (Teilziele der niedrigsten
Komplexitätsstufe) gleich 1 sein, um eine prozentuale Gewichtung der Teilziele
318
S. Wartzack
Abb. 11.7 Struktur eines Zielsystems inklusive Gewichtung
u­ ntereinander zu erreichen. Die Aufstellung eines Zielsystems erleichtert eine solche
Gewichtung. Eine exemplarische Gewichtung ist ebenfalls Abb. 11.7 zu entnehmen.
Bei der Nutzwertanalyse wird je Teilziel Zi in eine Knotengewichtung gK sowie in
eine Stufengewichtung gS unterschieden. Dabei geben die Knotengewichte gK den
Bedeutungsgrad hinsichtlich des direkt übergeordneten Teilziels an, wodurch die
Knotengewichte zu einem Überziel zugehöriger Unterziele (z. B. Z111 und Z112) stets in
Summe den Wert 1 ergeben. Die Stufengewichte errechnen sich aus dem Produkt der
Ketten an Knotengewichten vom betrachteten Teilziel bis hin zum Hauptziel. Im Beispiel
aus Abb. 11.7 ergibt sich das Stufengewicht des Teilziels „Betriebsfestigkeit“gK(Z1111)
aus dem Produkt von gK(Z1111) selbst und gK(Z111), gK(Z11) sowie gK(Z1). Beim Aufstellen der Gewichtung sind deshalb im ersten Schritt die Knotengewichte zu ermitteln
und anschließend die Stufengewichte abzuleiten.
Nach Aufstellen der Bewertungskriterien und Festlegen ihrer Bedeutung werden im
nächsten Arbeitsschritt für die zu bewertenden Lösungsvarianten die bekannten bzw.
durch Analyse ermittelten Eigenschaftsgrößen den jeweiligen Bewertungskriterien
zugeordnet. Die Eigenschaftsgrößen können zahlenmäßige Kennwerte sein oder – wo
dies nicht möglich ist – verbale, möglichst konkrete Aussagen. Anschließend wird durch
Vergeben von Wertungszahlen mi für die jeweiligen Bewertungskriterien Zi die eigentliche Bewertung durchgeführt. Die Wertungszahlen erstrecken sich im Rahmen der
Nutzwertanalyse von 0 bis 10, wobei 0 für eine unbrauchbare Funktionserfüllung und
10 für eine ideale Lösung steht. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, im Vorfeld ein Urteilsschema aufzustellen, in dem die verbal oder zahlenmäßig angegebenen
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
319
Eigenschaftsgrößen für die Bewertungskriterien durch Punktvergabe stufenweise
den Wertvorstellungen zugeordnet werden. Den Nutzwert Gwi (Gesamtwert) der
jeweiligen Lösungen erhält man durch Multiplizieren der Maßzahlen mit der jeweiligen
Gewichtung und anschließende Summation über alle Bewertungskriterien. Der
Bewertungsverlauf wird übersichtlich in der Nutzwertmatrix dargestellt (vgl. Tab. 11.1).
Die Stärke der Nutzwertanalyse liegt in der systematischen Strukturierung der
Bewertungskriterien, welche die stufenweise Ableitung der Gewichtung ermöglicht.
Dieses Gewichtungsverfahren erlaubt in der Regel eine realitätsgetreue Einstufung, da es
leichter ist, zwei oder drei Teilziele gegenüber einem höher geordneten Ziel abzuwägen,
als alle Kriterien gleichzeitig gegeneinander abzuwägen.
Technisch-wirtschaftliche Bewertung Das Verfahren der technisch-wirtschaftlichen
Bewertung geht maßgeblich auf Kesselring (1951) zurück und wird in der VDI Richtlinie 2225 detailliert beschrieben. Die technisch-wirtschaftliche Bewertung wird vornehmlich am Ende der Konzeptphase zur Eingrenzung des Lösungsraums verwendet
(N. N. 1977).
Zu Beginn der technisch-wirtschaftlichen Bewertung sind anhand der Anforderungsliste die Bewertungskriterien abzuleiten, wobei eine gezielte Aufteilung in technische
sowie wirtschaftliche Aspekte erfolgt. Im Gegensatz zur Nutzwertanalyse bildet die
VDI Richtlinie 2225 keine hierarchische Ordnung der Bewertungskriterien. Es wird
versucht, in erster Linie ohne Gewichtung auszukommen, indem annähernd gleichbedeutende Bewertungskriterien aufgestellt werden. Den Einfluss von Gewichtungsfaktoren auf den Gesamtwert einer Lösung haben Kesselring (1951), Lowka (1975),
und Stahl (1976) näher untersucht. Sie kamen zum Ergebnis, dass dann ein merklicher
Einfluss besteht, wenn die zu bewertenden Varianten stark unterschiedliche Eigenschaften und die betreffenden Bewertungskriterien hohe Bedeutung haben. In vielen
praktischen Anwendungen erweist sich die Vergabe von Gewichtungsfaktoren jedoch
Tab. 11.1  Auszug einer Nutzwertmatrix
Bewertungskriterium
ID
Benennung
Eigenschaftsgrößen Variante V1
Gew Benennung
Z1111 Betriebsfestig- 0,1
keit
Einheit
Ertragbare –
Lastspiele
… Vn
Eigenschafts- Maß- Wertungsgröße
zahl zahl
900.000
9
0,9
Z1112 Schwingungs- 0,23 Erste
verhalten
Eigenfrequenz
Hz
88
8
1,84
…
…
…
…
…
e
1n
m1n
W1n
Zn
…
…
gKn
…
Nutzwert
GW1 = Ʃw1i
320
S. Wartzack
als zweckmäßig. Der eigentliche Bewertungsvorgang erfolgt analog dem generischen
Vorgehen durch Vergabe von Maßzahlen für die jeweiligen Bewertungskriterien. Im
Rahmen der technisch-wirtschaftlichen Bewertung wird eine Punkteskala von 0 bis 4
vorgeschlagen, wobei 0 unbefriedigende bzw. 4 eine ideale Erfüllung des Bewertungskriteriums darstellt. Das Vorgehen der Maßzahlverteilung kann weiter systematisiert
werden, indem jedes Bewertungskriterium durch sog. Treiber beschrieben wird. Darunter
werden diejenigen Indikatoren verstanden, die in Summe ein Bewertungskriterium
beschreiben (s. Abb. 11.8). Bei der Maßzahlvergabe sind sequenziell die Treiber der
einzelnen Kriterien zu bewerten und auf Basis der Teilergebnisse die entsprechende
Maßzahl für das jeweilige Kriterium zu vergeben. Ein Beispiel für eine mögliche Lösung
der wirtschaftlichen Bewertung des Beispiels Rohbau einer Fahrzeugtüre ist Abb. 11.8
zu entnehmen.
Über Aufsummieren der vergebenen Maßzahlen für die verschiedenen Bewertungskriterien ergeben sich abschließend die Wertungszahlen der Varianten für die wirtschaftliche Betrachtung. Die explizite wirtschaftliche Wertigkeit y ergibt sich durch Normieren
der Wertungszahlen, wobei die maximal erreichbare Punktzahl dem Wert 1 entspricht.
Die in Abb. 11.8 dargestellte Wirtschaftlichkeitsbetrachtung ist in gleicher Weise auch
Abb. 11.8 Wirtschaftliche Bewertung anhand des Beispiels Tür-Rohbau
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
321
für die technische Wertigkeit x durchzuführen. Um die zu bewertenden Lösungsvarianten
gegenüberzustellen, ist abschließend aus technischer und wirtschaftlicher Wertigkeit
eine Gesamtwertigkeit – die sog. Stärke S – zu ermitteln. Hierzu werden die zu vergleichenden Konstruktionen abhängig von ihren Werten für technische Wertigkeit x und
wirtschaftliche Wertigkeit y in ein Auswertungsdiagramm eingetragen. Die Verteilung
der Stärke innerhalb des Auswertungsdiagramms lässt sich nach Baatz (1971) über die
zwei Verfahren Geraden- und Hyperbelverfahren bestimmen. Abb. 11.9 zeigt beide Verfahren im Vergleich.
• Geradenverfahren: arithmetisches Mittel aus technischer Wertigkeit x und wirtschaftlicher Wertigkeit y:
S=
x+y
2
• Hyperbelverfahren: geometrisches Mittel aus technischer Wertigkeit x und wirtschaftlicher Wertigkeit y:
√
S = x·y
Das Geradenverfahren kann bei großen Unterschieden zwischen technischer und
wirtschaftlicher Wertigkeit eine höhere Gesamtwertigkeit errechnen als bei niedrigeren,
aber ausgewogeneren Einzelwertigkeiten. Da aber in der Regel ausgeglichenen
Lösungen der Vorzug gegeben werden soll, ist das Hyperbelverfahren geeigneter, da
Abb. 11.9 Auswertungsdiagramm zur Ermittlung der Stärke
322
S. Wartzack
es große Wertigkeitsunterschiede durch seinen progressiv wirkenden Reduzierungscharakter ausgleicht. Je größer die Unausgeglichenheit, umso größer ist der
Reduzierungseffekt auf den Gesamtwert.
Die technisch-wirtschaftliche Analyse stellt eine Methode dar, welche den Entwickler
beim gezielten Auffinden technischer sowie wirtschaftlicher Schwachstellen unterstützt.
Als Nachteil ist, wie bei der Nutzwertanalyse, ebenfalls der erhöhte Durchführungsaufwand zu nennen.
Rangfolgeverfahren und Präferenzmatrix Beim Rangfolgeverfahren (Gutsch 1972;
Wenzel und Müller 1971) sowie bei der Bewertung mittels Präferenzmatrix handelt
es sich um sehr ähnliche Verfahren, welche bevorzugt bei der Evaluierung einfacher
Systeme eingesetzt werden (Adunka 2003). Sie entsprechen dem paarweisen Vergleich
(s. Abschn. 11.1), können aber insbesondere herangezogen werden, um eine Gewichtung
der Kriterien herbeizuführen. Sie eignen sich daher insbesondere im Kontext der Verfahren aus Kategorie B.
Hierzu werden die aus der Anforderungsliste abgeleiteten Bewertungskriterien
in einer Matrix gesammelt. Über den paarweisen Vergleich (s. Abschn. 11.1) der
Bewertungskriterien wird geprüft, ob ein Kriterium wichtiger („+“), gleich wichtig
(„0“) oder weniger wichtig („−“) ist, und dies in der Matrix festgehalten. Über
Abzählen der „+“-Zeichen wird eine Rangfolge der Bewertungskriterien aufgestellt,
welche als Anhaltspunkt für die Gewichtungsfaktoren dienen. Abb. 11.10 zeigt die
Präferenzmatrix für Bewertungskriterien zur Evaluierung der Strukturperformanz
des Fahrzeugtürenbenchmarks. Basierend auf der ermittelten Rangfolge wird so die
Gewichtung der Bewertungskriterien abgeleitet.
Abb. 11.10 Gewichtung nach
dem Rangfolgeverfahren
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
323
Der wesentliche Unterschied zwischen den Verfahren Präferenzmatrix und Rangfolgeverfahren liegt darin, dass im Rahmen der Bewertung mittels Präferenzmatrix
beim paarweisen Vergleichen die Möglichkeit „gleich wichtiger Kriterien“ explizit ausgeschlossen wird (Siemens 1974). Somit ergibt sich eine geringere Anzahl an möglichen
Gewichtungskonstellationen.
11.3Komplexe Bewertungsverfahren zur
Entscheidungsfindung
Gewichtete Bewertung mittels scharfen, unscharfen und frei abgeschätzten
Bewertungsgrößen nach Breiing und Knosala
Zwei engverwandte, komplexe Bewertungsverfahren stellen die „anforderungsorientierte gewichtete Bewertung mittels scharfer Zahlen“ nach Breiing sowie die
„objektivierte gewichtete Bewertung mittels unscharfer Zahlen und Mengen“ nach
Knosala dar. Breiing betrachtet in seinem Vorgehen nur scharfe Zahlen für die
Maßzahlumsetzung und Gewichtung und generiert somit absolut konsistente Entscheidungsmatrizen. Daher ist dieses Bewertungsverfahren sowohl für einfache als auch
komplexe Konstruktionen zu empfehlen. Knosala hingegen berücksichtigt zusätzlich
die Streuung der Einschätzungen der Bewerter und erzeugt dadurch inkonsistente Entscheidungsmatrizen, deren Formulierung mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden
und somit nur für komplexe Konstruktionen zu empfehlen ist (Breiing und Knosala 1997).
Nach der Aufstellung der Bewertergruppe sowie der Ableitung, Bereinigung und
Gruppierung der Bewertungskriterien aus expliziten und impliziten Anforderungen
werden die Werte dieser Kriterien bestimmt und eingetragen. Auf Basis dieser
Werte wird anschließend die Rangfolge der Lösungen bestimmt (s. Abb. 11.11). Die
Abb. 11.11 Vorgehen bei der Berechnung einer konsistenten Entscheidungsmatrix (Adunka 2003)
324
S. Wartzack
Maßzahlumsetzung erfolgt nun auf Basis der Rangfolge sowie der vorher definierten
Wertfunktionen oder eines paarweisen Vergleiches. Bei der Ermittlung der Gewichtungsfaktoren werden die jeweiligen Kriterien in die jeweils erste Zeile und Spalte der Tafelmatrix eingetragen. Daraufhin wird die Wichtigkeit eines Kriteriums gegenüber den
anderen eingetragen und anschließend die Wichtigkeiten der übrigen Kriterien analog
Abb. 11.11 berechnet.
Anschließend werden die Gewichtungen pro Kriteriengruppe berechnet, normiert
und zusammen mit den Maßzahlen in die Bewertungstabellen der jeweiligen Kriteriengruppe übertragen. In einem weiteren Schritt werden Gruppenwertigkeiten ebenfalls
in einer konsistenten Entscheidungsmatrix ermittelt. Dabei schlägt Breiing eine Untergliederung der Gewichtungsfaktoren in technische, wirtschaftliche und psychologische
Kriterien vor. Diese werden mit den Bewertungsergebnissen zu einer Gesamtbewertung
verrechnet. Eine Normierung der Gesamtwertigkeit wird vor der abschließenden Darstellung der Bewertungsergebnisse empfohlen.
Um die Meinung der beteiligten Bewerter zu berücksichtigen, fordert Knosala frei
abgeschätzte Entscheidungsmatrizen sowohl für die Maßzahlermittlung als auch für die
Ermittlung der Gewichtungsfaktoren (Zadeh et al. 1975).
Dabei beschreibt er zunächst ein äquivalentes Vorgehen zu Breiing, berechnet jedoch
bei den Maßzahlen der Kriterien als auch bei den Gewichtungsfaktoren jeweils den
Minimal-, Mittel- und Maximalwert. Somit entsteht eine trianguläre Zugehörigkeitsfunktion in Form eines Dreiecks, dessen Spreizung (α + β) die Streuung und dessen
Spitze den Mittelwert der Meinungen der Bewerter widerspiegelt, s. Abb. 11.12. Daher
entspricht ein Dreieck mit einer geringen Spreizung einem sehr sicheren Meinungsbild, während die horizontale Lage der Spitze des Dreiecks (Mittelwert) ein Maß für die
Erfüllung einer Variante bzw. die Wichtigkeit eines Kriteriums beschreibt.
Zusätzlich kann der Erfüllungsgrad einer Lösung durch eine unscharfe Menge oder
eine Verteilung beschrieben werden. Dabei wird für jedes Kriterium der Erfüllungsgrad
zweier Varianten verglichen und durch eine Menge beschrieben. Erfüllt beispielsweise
die Variante A nach Meinung eines Bewerters ein Kriterium mehr als die Variante B, so
Abb. 11.12 Unscharfe
Erfassung des Erfüllungsgrades
anhand triangulärer
Zugehörigkeitsfunktion (Adunka
2003)
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
325
Abb. 11.13 Mengentheoretische Erfassung des Erfüllungsgrades (Adunka 2003; Zadeh et al. 1975;
Bothe 1995)
ordnet er dieser die Menge rx zu. Ist ein anderer Bewerter der Meinung, dass die Variante
A das Kriterium weniger erfüllt als eine Variante B, so ordnet er dieser beispielsweise die Menge 1  − rx zu. (Eine Übersicht dieser mengentheoretischen Erfassung des
Erfüllungsgrades ist in Abb. 11.13 dargestellt.).
Durch mengentheoretische Operationen wird anschließend eine Überlagerung der
Einschätzungen (Mengen) der einzelnen Bewerter erreicht und so der Erfüllungsgrad als unscharfe Menge modelliert und die Maßzahlen ermittelt. Falls Werte scharf
erfasst werden können, werden sie dennoch als unscharfe Zahl mit einer Streuung von
Null betrachtet, wodurch nach Adunka eine Überhöhung der Objektivität erreicht wird
(Adunka 2003). Die nachfolgenden Schritte erfolgen wieder analog zu dem Vorgehen
nach Breiing und Knosala (1997).
11.4Rechnerunterstützung
Im methodischen Entwicklungsprozess ist der Entwickler mit einer Vielzahl von Entscheidungsaufgaben, deren Komplexität infolge eines gestiegenen Individualisierungsbedarfs zunimmt, konfrontiert. Dabei besteht das Bedürfnis, die Ergebnisse transparent
zu dokumentieren und die erstellten Daten wieder zu verwenden, um sie in späteren
Phasen erneut zu bewerten und so detailliertere Resultate zu erhalten. Die Rechnerunterstützung leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, den Bewertungsprozess (vgl.
Abb. 11.1) strukturiert und effektiv zu gestalten, konsistente Bewertungsergebnisse zu
erzeugen und die Informationen in weiterverarbeitbarer Form bereitzustellen.
Die oben gezeigten Verfahren können sehr einfach über Tabellenkalkulationsprogramme abgebildet werden. Ebenso ist in verschiedenen kommerziellen Tools eine
Umsetzung der Vorgehensweisen (vgl. Abb. 11.3) erfolgt. Auf eine Darstellung der Vielzahl verfügbarer Werkzeuge, die unterschiedliche Bewertungsschritte (z. B. Zusammenstellen einer Bewertergruppe in der WeDecide App (Luft et al. 2017)) in den Fokus
326
S. Wartzack
stellen, wird hier verzichtet. Stellvertretend für die rechnerunterstützte Bewertung
technischer Systeme werden hier zwei Applikationen vorgestellt: das Konzept des Software-Werkzeugs „Evaluator“ (Adunka 2003) und das Werkzeug Balance3D (Bauer
2010).
Evaluator Intention des Bewertungsframeworks „Evaluator“ ist es, das nach Breiing
und Knosala (1997) entwickelte allgemeine Vorgehen, das modular auf methodische
Komponenten von Bewertungsverfahren zurückgreift, in eine Software umzusetzen.
Der Einsatz modularer Bewertungsprozessbausteine erlaubt es dabei – zugeschnitten
auf den Anwendungsfall – rechnergestützt Bewertungen durchzuführen. Wesentliche
Merkmale der Software sind die Workflow-Gebundenheit, die verfahrensübergreifende
Implementierung, ein Berechnungskern für die Ergebnisberechnung aller unterstützter
Verfahren, Funktionen zur Sensitivitätsanalyse und die automatische Reportfunktion.
Die Workflow-Gebundenheit des Systems orientiert sich dabei an einem generischen
Phasenkonzept, das die Schritte Initialisierungsphase, Definitionsphase, Bereinigungsphase (optional), Definitionsphase II und Auswertungsphase unterstützt (s. Abb. 11.14).
Abb. 11.14 (a) Phasenorientiertes Workflowkonzept des Softwarewerkzeugs nach Adunka (2003) und
(b) Bedienoberfläche am Beispiel der Maßzahlumsetzung für eine technisch-wirtschaftliche Bewertung
(Stockinger 2007; Stockinger und Wittmann 2007)
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
327
Der Bewerter wird dabei aktiv durch den Bewertungsprozess geleitet, womit ein
strukturiertes Vorgehen begünstigt wird.
Wird dabei von einer Phase in eine vorherige zurückgesprungen, so werden die
Daten nachfolgender, bereits durchgeführter Prozessschritte verworfen. Dies ist zur
Sicherstellung eines konsistenten, verfälschungsfreien Bewertungsresultats wichtig.
Weiterhin liegt der Software ein Rollenkonzept zugrunde: Während der Hauptbewerter
das Projekt anlegen, das Bewertungsverfahren, die zur Auswahl stehenden Varianten
sowie die Kriterien und zugehörige Maßzahlumsetzung bestimmen kann, können
ab dem Start der eigentlichen Bewertung – auch in Form der verteilten Bewertung –
mehrere Bewerter die Evaluierung der Aufgabenstellung vornehmen. Abschließend
kann nach optionaler Durchführung einer Sensitivitätsanalyse ein Bericht generiert
werden, der organisatorische (Projektdaten, Teilnehmer, …) und inhaltliche (Kriterien,
Maßzahlumsetzungen, …) Informationen enthält. Wichtig festzuhalten ist, dass im
Berechnungskern die verfahrensabhängigen Rechenvorschriften enthalten sind, die damit
zu verlässlichen Ergebnissen führen und gleichzeitig für die Sensitivitätsanalyse herangezogen werden.
Balance3D Zumeist deckt eine ganzheitlich und detailliert bearbeitete Bewertungsaufgabe Zielkonflikte auf. Am Beispiel der Fahrzeugtüren lässt sich etwa erkennen,
dass die Leichtbaukenngrößen Masse, Kosten und Qualität ein Spannungsfeld bilden:
Die Masse kann oftmals nur zu Lasten der Kosten reduziert werden. An dieser Stelle
setzt das Verfahren Balance3D an. Es bietet Produktentwicklern eine umfassende
Unterstützung für Entscheidungsaufgaben mit deutlichen Abhängigkeiten zwischen
den Entscheidungsvariablen (Produktanforderungen). Im Fokus stehen dabei die
frühen Entwicklungsphasen, insbesondere die Aufgaben der strategischen Analyse
incl. Gewichtung von Anforderungen sowie die Bewertung und Auswahl von Produktkonzepten. Eine ausführliche Beschreibung von Balance3D incl. eines Praxisbeispiels ist
in Bauer (2010) zu finden.
Zentraler Ansatz von Balance3D ist es dabei, komplexe Entscheidungsaufgaben mit
abhängigen Entscheidungsvariablen durch eine intuitive, rechnergestützte Visualisierung
transparent darzustellen. Diese Darstellung erlaubt dem Anwender zudem, interaktiv
und visuell zwischen den dargestellten abhängigen Entscheidungsvariablen strategisch
abzuwägen und somit auf einfache Art und Weise unter korrekter Berücksichtigung der
Abhängigkeiten Gewichtungsfaktoren festzulegen.
Balance3D unterscheidet grundlegend zwischen Produkteigenschaften und Produktmerkmalen. Merkmale kann der Entwickler dabei beeinflussen, sind also somit Festlegungen hinsichtlich Geometrie und Werkstoff, während hingegen Eigenschaften aus
der Merkmals-Festlegung resultieren und somit nicht direkt beeinflusst werden können.
328
S. Wartzack
Eine Produktanforderung wird in diesem Sinne als erwünschte Produkteigenschaft (wie
z. B. die Steifigkeit) verstanden und entspricht damit einem Bewertungskriterium. In der
Praxis besteht nun zwischen einem Paar erwünschter Produkteigenschaften E1 und E2
sehr häufig eine Abhängigkeit. Konkurrenz (Komplementarität) zwischen E1 und E2 entsteht dabei genau dann, wenn die zum Erreichen von E1 notwendige Ausprägung eines
Merkmals gleichzeitig dem Erreichen von E2 abträglich (zuträglich) ist.
Für die angestrebte Visualisierung der Abhängigkeiten erwünschter Eigenschaften
zueinander und zu den zugrunde liegenden Produktmerkmalen nimmt Balance3D
Anleihen aus dem strukturentdeckenden Verfahren „Multidimensionale Skalierung“
(beschrieben beispielsweise in Backhaus et al. (2000)).
Als Eingangsdaten sind paarweise Bewertungen erwünschter Produkteigenschaften
hinsichtlich ihrer Abhängigkeiten erforderlich. Diese können direkt vom Nutzer durchgeführt oder durch Balance3D auf Basis einer qualitativen Bewertung der Auswirkungen
von Merkmalsausprägungen auf das Erreichen oder Nichterreichen erwünschter Produkteigenschaften generiert werden.
Der Algorithmus des strukturentdeckenden Verfahrens (beschrieben in Bauer 2010)
stellt nun die erwünschten Eigenschaften als Punkte in einem dreidimensionalen
Raum derart dar, mit der Folge, dass die repräsentierenden Punkte komplementärer
(konkurrierender) Eigenschaften eine geringe (große) Distanz zueinander aufweisen. Die
zugrunde liegenden Produktmerkmale können als Dimensionen in diesem Raum identifiziert werden.
Die große Stärke dieser Darstellung liegt darin, dass komplexe Entscheidungsaufgaben mit einer Vielzahl abhängiger Entscheidungsvariablen transparent und intuitiv
verständlich gemacht werden. Das Abwägen zwischen den einzelnen erwünschten
Eigenschaften, also das Gewichten, erfolgt interaktiv durch die Festlegung eines Punktes
(Strategiepunkt) in der Visualisierung. Dieser ist vom Entscheider derart zu wählen,
dass die repräsentierenden Punkte eher wichtiger (eher unwichtiger) Eigenschaften eine
geringe (große) Distanz zum Strategiepunkt aufweisen. Balance3D ist schließlich in
der Lage, mittels einer in Bauer (2010) dargestellten Logik aus der Positionierung des
Strategiepunktes korrespondierende Gewichtungsfaktoren der erwünschten Produkteigenschaften abzuleiten. Das Verfahren stellt damit ein Hilfsmittel bei der Bewertung
dar, welches das Finden einer konsistenten Kriteriengewichtung erlaubt.
Die Vorgehensweise mit Balance3D und die Aussagekraft des Ergebnisses ist anhand
eines einfachen Beispiels (Fahrrad) in Abb. 11.15 gezeigt.
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
329
Abb. 11.15 Aufbereitung einer Entscheidungsaufgabe mit Balance3D am Beispiel eines Fahrrades
(Bauer 2010)
330
S. Wartzack
11.5Überprüfung der Bewertungsergebnisse
Bei der Anwendung von Bewertungsverfahren kann es zu einer Vielzahl an Fehlern
kommen, deren Auswirkungen sich in Art, Schwere und Umfang stark unterscheiden
können. Daher ist das Ergebnis einer jeden Bewertung im Anschluss kritisch zu prüfen
und Möglichkeiten zu suchen, wie der Bewertungsprozess verbessert werden kann.
Hierzu ist die Bewertung vor allem bezüglich Objektivität, Plausibilität und Sensitivität
zu hinterfragen:
Objektivität: Bei jeder Durchführung einer Bewertung ist darauf zu achten, dass
subjektive Einflüsse auf den Ausgang der Bewertung minimiert werden. Dies kann durch
Berücksichtigung einiger Aspekte unterstützt werden, welche im Folgenden aufgezählt
werden.
So ist die Bewertung eines jeden Kriteriums mit gleichen Maßstäben für die
Erreichung eines objektiven Ergebnisses unerlässlich. Um Voreingenommenheit zu vermeiden, ist eine neutrale Bezeichnung und Beschreibung der Bewertungsgegenstände
förderlich. Zudem hilft dies, eine Beeinflussung durch starke Emotionen zu vermeiden.
Eine Bewertung in Gruppen verhindert eine Überbewertung des eigenen Lösungsvorschlags und vermeidet so zusätzlich Verzerrungen innerhalb der Teilbewertungen.
Soweit möglich sollten zur Bewertung nur quantifizierbare Indikatoren herangezogen
werden. Um dabei die gebotene Objektivität sicherzustellen, sind Messfehler bei
solchen quantitativen Bewertungskriterien soweit wie möglich auszuschließen. Sind
die gewählten Indikatoren gar nicht oder zumindest nicht mit hinreichender Genauigkeit messbar, ist zu prüfen, ob eine qualitative Bewertung ausreicht. Hier kann eine Verwendung von verbalen Schätzangaben in der Form „hoch“, „mittel“, „tief“ hilfreich sein.
Kommen dennoch und trotz Berücksichtigung der bisher genannten Aspekte Zweifel an
der Objektivität einer Bewertung auf, so sind besonders aus Kundenanforderungen übersetzte Bewertungskriterien auf fehlerhafte Annahmen bei deren Ableitung hin zu überprüfen.
Plausibilität: Nach der Durchführung der Bewertung ist das Ergebnis stets auf
Plausibilität zu überprüfen. Zudem ist eine Analyse hinsichtlich der erreichbaren Aussagesicherheit durchzuführen. Die Plausibilität der Bewertung kann u. U. durch die
Beachtung folgender Gesichtspunkte sichergestellt bzw. erhöht werden:
Um eine plausible Bewertung zu erreichen, muss sichergestellt sein, dass alle
relevanten Kriterien berücksichtigt worden sind. Dies kann dadurch erreicht werden,
dass die Bewertung unter Berücksichtigung verschiedener Blickwinkel vorgenommen
und eine Entscheidung nicht einseitig getroffen wird.
Häufig kann eine Bewertung nur auf Basis unsicherer Eingangsdaten durchgeführt
werden. Vor allem in frühen Phasen der Produktentwicklung existiert nicht genug oder
nicht hinreichend abgesichertes Wissen über das Produkt. Daher ist darauf zu achten,
dass Bewertungen möglichst robust gegenüber solchen Unsicherheiten in den Eingangsinformationen gestaltet werden, indem z. B. vergleichende Bewertungen zur Vor-
11
Auswahl- und Bewertungsmethoden
331
bereitung einer späteren Lösungsauswahl vorgenommen werden. Insgesamt ist bei
unplausiblen Bewertungsergebnissen zu beachten, dass eine Bewertung zu festen Zeitpunkten nur Momentaufnahmen erlaubt und keine gesicherte Aussage zum Verlauf eines
Indikators gibt.
Sensitivität: Sensitivitätsanalysen sind bei komplexen, schwer überschaubaren
Zusammenhängen zwischen den Bewertungskriterien anzuwenden. Ihr Ziel ist es, zu
ermitteln, wie sensitiv das Bewertungsergebnis auf Variation der Randbedingungen (z. B.
Gewichtung, Maßzahl, usw.) reagiert.
Im Falle von unerwarteten/unplausiblen Bewertungsergebnissen sind gezielt diejenigen Randbedingungen zu untersuchen, welche im Rahmen des Bewertungsvorgangs
zu Unstimmigkeiten führten. Eine Möglichkeit hierzu stellt die Ermittlung der jeweiligen
Sensitivität der Kriterien dar. Dadurch kann ein detaillierter Überblick über den Einfluss und die Auswirkungen bestimmter Indikatoren gewonnen werden. Zudem kann es
helfen, eine Abschätzung der Streuung der Werte vorzunehmen. Eine genauere Analyse
der Bewertung hinsichtlich der erreichbaren Aussagesicherheit sowie einen Vergleich der
Verfahren führen Feldmann und Stabe durch (Feldmann 1974; Stabe und Gerhard 1974).
Schwachstellenanalyse: Ein wichtiges Hilfsmittel, um die Plausibilität und
Sensitivität von Bewertungsergebnissen zu untersuchen, ist eine Schwachstellenanalyse. Schwachstellen werden durch unterdurchschnittliche Werte bezüglich einzelner
Bewertungskriterien erkennbar. Sie sind besonders bei günstigen Varianten mit guten
Gesamtwerten sorgfältig zu beachten und möglichst bei der Weiterentwicklung des
Produktes zu beseitigen. Zum Erkennen von Schwachstellen bei den Lösungsvarianten
können graphische Darstellungen der Teilwerte herangezogen werden. Man benutzt
hier sog. Wertprofile gemäß Abb. 11.16. Während die Balkenlängen der Werthöhe mij
Abb. 11.16 Werteprofil zum Vergleich von Varianten
332
S. Wartzack
entsprechen, sind die Balkendicken ein Maß für die Gewichtung gi. Die Flächeninhalte
der Balken geben die gewichteten Teilwerte und die graue Fläche den Gesamtwert
einer Lösungsvariante an. Es ist einsichtig, dass es für die Verbesserung einer Lösung
vor allem wichtig ist, denjenigen Teilwert zu verbessern, der einen größeren Beitrag
zum Gesamtwert liefert. Das trifft bei vorliegender Darstellung für solche Bewertungskriterien zu, die eine große Balkendicke (große Bedeutung) besitzen. Neben einem
hohen Gesamtwert ist es darüber hinaus wichtig, ein ausgeglichenes Wertprofil zu
erreichen, bei dem keine gravierenden Schwachstellen auftreten. So ist in Abb. 11.16
Variante 2 günstiger als Variante 1, obwohl beide denselben Gesamtwert aufweisen. Die
Kriterien g4 und g5 bei Variante 1 schneiden stark unterdurchschnittlich ab und können
somit als Schwachstellen angesehen werden.
Das Wesen eines Bewertungsvorgangs ist auf der Grundlage einer generischen Vorgehensweise dargestellt worden. Insbesondere wird die Auswahl der Methoden durch die
eingeführte Kategorisierung in A-, B- und C-Bewertungsverfahren erleichtert. Dadurch
wird eine dem Umfang der Bewertungsaufgabe angepasste Anwendung der Methoden
ermöglicht. Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass für einen effektiven Einsatz der vorgestellten Methoden der Anwender über ausreichend Erfahrung verfügen
sollte.
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Produktarchitektur
12
Dieter Krause, Thomas Vietor, David Inkermann, Michael Hanna,
Timo Richter und Nadine Wortmann
Die Gestaltung der Produktarchitektur fokussiert die Analyse und Synthese der
Zusammenhänge funktionaler und physischer Produktbeschreibungen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Ziel ist es dabei, Produkteigenschaften, wie Gewicht,
Anpassbarkeit oder Montageaufwand, gezielt zu beeinflussen. Darüber hinaus ist die
Gestaltung der Produktarchitektur die Grundlage für die Beherrschung von Variantenvielfalt, indem modulare Produktstrukturen realisiert werden.
Dieses Kapitels vermittelt, ein grundlegendes Verständnis für die Relevanz der
Produktarchitektur und gibt einen Überblick über etablierte Bauweisen, Strategien
und Methoden zur Gestaltung der Produktarchitektur. Dazu werden in Abschn. 12.1
relevante Grundlagen und Begriffe im Kontext der Produktarchitektur eingeführt. In
Abschn. 12.2 werden typische Bauweisen technischer Systeme vorgestellt, die aus einer
Gestaltung der Produktarchitektur hervorgehen. Einen Überblick über mögliche Zielstellungen, für die Gestaltung der Produktarchitektur, gibt Abschn. 12.3. In Abschn. 12.4
wird die Variantenvielfalt im Unternehmen als ein zentrales Anwendungsfeld betrachtet
und Strategien zur modularen Produktstrukturierung und Realisierung von Baureihen
beschrieben, um die externe Vielfalt zu bedienen und zeitgleich die produkt- und
D. Krause (*) · M. Hanna · N. Wortmann
Technische Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
T. Vietor · T. Richter
Technische Universität Braunschweig, Braunschweig, Deutschland
D. Inkermann (*)
Technische Universität Clausthal, Clausthal, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_12
335
336
D. Krause et al.
prozessbasierte interne Komplexität im Unternehmen zu verringern. In Abschn. 12.5
werden ausgewählte Methoden und ihre unterschiedlichen Zielsetzungen und Schwerpunkte bei der Gestaltung der Produktarchitektur vorgestellt. Abschließend werden in
Abschn. 12.6 zwei Beispiele für die Gestaltung der Produktarchitektur beschrieben.
12.1Definition der Produktarchitektur
Für die Analyse- und Synthesetätigkeiten während der Produktentwicklung werden
unterschiedliche Beschreibungen des Produkts zugrunde gelegt. Einerseits wird häufig
eine lösungsneutrale, zweckangebende funktionale Beschreibung des Produkts – die
Funktionsstruktur – für die Produktkonzipierung erarbeitet. Andererseits erfolgt eine
physische Definition des Produkts in Form der Produktstruktur. Durch die Produktarchitektur werden die funktionale und physische Beschreibung des Produkts verknüpft und
damit der Übergang zwischen beiden Sichtweisen bei der Entwicklung unterstützt.
u Definition
Die Produktarchitektur fasst die Produktstruktur als physischen Aufbau und die
Funktionsstruktur als funktionale Beschreibung eines Produkts zusammen und stellt
deren Elemente miteinander in Beziehung.
Definition in Anlehnung an (Ulrich 1995; Krause and Gebhardt 2018).
In Abb. 12.1 ist das Konzept der Produktarchitektur als Zuordnung von Teilfunktionen zu
Komponenten eines Produkts und deren Strukturierung vereinfacht dargestellt.
Je nach Zweck der Analyse- oder Syntheseaktivität wird die Produktarchitektur auf
Gesamtproduktebene oder Ebene einzelner Teilsysteme und -funktionen betrachtet.
Hierfür wird die Funktions- beziehungsweise Produktstruktur in unterschiedlichen
Detaillierungen abgebildet. Die Funktionsstruktur des Produkts kann hierarchisch
gegliedert werden und beispielsweise auf den Aggregationsebenen Gesamtfunktion,
Teilfunktionen (vgl. TFA, Abb. 12.1) sowie untergeordneten Teilfunktionen (vgl. TFA1)
beschrieben werden. Ziel ist es hierbei, die geforderten Funktionen und ihre Verknüpfungen abzubilden. Die Produktstruktur beschreibt die physischen Bestandteile
und ihre hierarchische Gliederung in Produkt, Baugruppen (vgl. BGA) und Bauteilen
(vgl. BTA1) und bildet deren physischen Beziehungen zueinander ab. Häufig erfolgt
auch eine Dekomposition der Produktstruktur in Komponenten, die spezifisch für den
vorliegenden Anwendungsfall definiert werden. Je nach Betrachtungsebene können
Komponenten einzelne Bauteile (vgl. K3) oder mehrere Bauteile (vgl. K2) umfassen,
die für diesen Anwendungsfall die kleinsten zu betrachtenden Einheiten der Produkt-
12
Produktarchitektur
337
Abb. 12.1 Schematische Darstellung der Produktarchitektur als Verknüpfung der Funktions- und der
Produktstruktur
struktur bilden. Zudem kann auch eine gesamte Baugruppe (vgl. BGA) als Komponente
(vgl. K1) definiert werden. In den folgenden Abschnitten wird vereinfachend nur von
Komponenten gesprochen, die entsprechend dieser Definition Bauteile oder Baugruppen
umfassen können.
12.2Bauweisen technischer Systeme
Ergebnis der gezielten Gestaltung der Produktarchitektur ist eine Bauweise, die technische
und/oder wirtschaftliche Anforderungen der vorliegenden Entwicklungsaufgabe bestmöglich erfüllt. Mit der Integral-, Differential-, Verbund- und Modulbauweise sowie der
integrierenden und Multifunktionalbauweise werden in diesem Abschnitt typische Bauweisen beschrieben. In der praktischen Anwendung zeigt sich, dass diese Bauweisen
häufig miteinander kombiniert werden. Die Kombination erfolgt durch Anwendung der
Bauweisen auf unterschiedlichen Aggregationsebenen. Beispielsweise kann ein Produkt in
Modulbauweise ausgeführt werden, während einzelne Module des Produkts in Integralbauweise gestaltet werden, um die Vorteile beider Bauweisen zu nutzen.
338
D. Krause et al.
Im Folgenden werden die einzelnen Bauweisen als häufig vorzufindende Realisierungen
von Produktarchitekturen beschrieben. Für die einzelnen Bauweisen werden die zugrunde
liegenden Konstruktionsprinzipien erläutert, um damit Gestaltungshinweise für die
Realisierung der Produktarchitektur gegeben.
12.2.1Integral- und Differentialbauweise
Integral- und Differentialbauweise basieren auf unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien,
die als Idealformen jeweils einen Gestaltungsbereich zur Festlegung der gewünschten Bauweise definieren. Die Integralbauweise zielt primär darauf ab, die Anzahl der Komponenten
zu reduzieren, um Vorteile bei der Komponentenbeanspruchung, -fertigung, -beschaffung
und -handhabung zu realisieren, vgl. (Pahl und Beitz 1997). Aus Sicht der Produktarchitektur steht damit die Zusammenfassung mehrerer gleicher oder verschiedener Teilfunktionen in einer Komponente im Vordergrund. Die Differentialbauweise entspricht
der Umkehrung dieses Konstruktionsprinzips und zielt darauf ab, eine Komponente oder
ein Produkt in mehrere Komponenten zu zergliedern. Im Fokus steht die Zerlegung von
Komponenten in mehrere Komponenten und die Zuordnung verschiedener Funktionen
zu unterschiedlichen Komponenten. In Abb. 12.2 sind die Konstruktionsprinzipien der
Integral- und Differentialbauweise schematisch dargestellt. Hierbei entsprechen die
Komponenten den einzelnen Bauteilen.
Ausgangssituation für die Anwendung der Integralbauweise ist in der Regel eine initial
erarbeitete oder bestehende Produktstruktur, welche für die Realisierung eines bestimmten
Funktionsumfangs eine höhere Anzahl unterschiedlicher Komponenten vorgibt. Durch das
Konstruktionsprinzip der Integralbauweise werden einzelne Komponenten zusammengefasst beziehungsweise integriert, um diese als eine Komponente zu realisieren.
Abb. 12.2 Gegenüberstellung der Konstruktionsprinzipien und exemplarische Treiber für Integral- und
Differentialbauweisen. Abbildung in Anlehnung an (Krause and Gebhardt 2018)
12
Produktarchitektur
339
u Definition
Die Integralbauweise beschreibt das Konstruktionsprinzip, mehrere Komponenten mit
gleichen oder unterschiedlichen Funktionen zu einer neuen Komponente mit gleichbleibendem Funktionsumfang zu vereinen.
Definition in Anlehnung an (Pahl und Beitz 1997; Ziebart 2012).
Ziele bei der Anwendung der Integralbauweise können Verbesserungen einzelner
Produkteigenschaften, wie Gewicht, Steifigkeit oder Robustheit, durch den Entfall
von Schnittstellen sein. Weiterhin können Kosten reduziert werden, indem beispielsweise Montageaufwände verringert oder Fertigungsmittel eingespart werden. Zusätzlich kann die Anzahl der Bauteile reduziert werden, wenn mehrere Funktionen in einer
Komponente zusammengefasst werden. Die Anwendung der Integralbauweise erfolgt
daher oftmals bei Serienprodukten oder bei restriktiven Leichtbau-Anforderungen.
Bei Anwendung einer Differentialbauweise wird die Anzahl der Komponenten
einer Produktstruktur erhöht, indem die bestehenden Komponenten weiter zergliedert
werden.
u Definition
Die Differentialbauweise beschreibt das Konstruktionsprinzip, ein Produkt oder eine
Komponente bei gleichbleibendem Funktionsumfang in mehrere neue Komponenten zu
zergliedern.
Definition in Anlehnung an (Pahl und Beitz 1997).
Durch die Zergliederung können Produkteigenschaften verbessert werden, indem
Materialauswahl und Bauteilgestaltung der einzelnen Komponenten an die vorliegenden
Anforderungen angepasst werden. Prozessvorteile können sich dadurch ergeben, dass
kleine Bauteile in der Fertigung oder während des Transports einfacher gehandhabt
werden können. Zudem kann die Differentialbauweise dazu beitragen, die Anzahl von
Gleichteilen oder Wiederholteilen innerhalb eines Produkts zu erhöhen. Die höheren
Stückzahlen führen in der Regel zu reduzierten Fertigungskosten. Weitere Vorteile
können sich bei der Beschaffung ergeben, da Normteile oder beschaffungsgünstige Halbzeuge häufiger verwendet werden können.
Die beschriebenen Vorteile und Ziele der Integral- und Differentialbauweisen sind in
der Regel stark stückzahlabhängig. Vereinfachend kann daher angenommen werden, dass
die Vorteile der Differentialbauweise, insbesondere bei Produkten in Einzelfertigung
oder Kleinserien, erzielt werden. Bei großen Stückzahlen hingegen ist die Integralbauweise häufig besonders geeignet, da die Komponenten in Integralbauweise durch
geeignete Fertigungsverfahren, wie Druckguss oder Spritzguss, kostengünstig hergestellt
werden können. Die grundsätzliche Stückzahleignung beider Bauweisen ist schematisch
in Abb. 12.3 dargestellt. Die Verläufe zeigen qualitativ die Eignung integraler und
differentialer Bauweisen auf.
340
D. Krause et al.
Abb. 12.3 Grundsätzliche Stückzahleignung von Integral- und Differentialbauweise. Abbildung in
Anlehnung an (Franke 2002)
12.2.2Modulbauweise
Integral- und Differentialbauweise verfolgen vorrangig das Ziel, wirtschaftliche und
technische Eigenschaften einzelner Komponenten zu verbessern. Die Modulbauweise
zielt darauf ab, Module zu definieren die eine effiziente Entwicklung und Herstellung
mehrerer Produktvarianten einer Produktfamilie unter Berücksichtigung technischfunktionaler und produktstrategischer Kriterien ermöglichen. Die einzelnen Module
bestehen dabei aus einzelnen oder mehreren Komponenten, siehe Abschn. 12.1.
u Definition
Die Modulbauweise beschreibt das Konstruktionsprinzip, Produkte in Module zu
gliedern, die untereinander möglichst stark entkoppelt sind, während die Komponenten
innerhalb der einzelnen Module starke Beziehungen aufweisen. Durch die Kombination
der Module wird eine effiziente Bildung von Produktvarianten ermöglicht.
Definition in Anlehnung an (Krause und Gebhardt 2018).
Die Entkopplung der einzelnen Module spiegelt sich im Maschinenbau in einer
physischen Trennung wider (physische Modularität). Diese physische Trennung ist
Grundlage dafür, dass die Module beispielsweise weitgehend unabhängig voneinander
entwickelt und hergestellt, in unterschiedlichen Produktfamilien (wieder-)verwendet
oder ausgetauscht werden können, siehe Abschn. 12.4.2. Ergänzend werden bei der
Modulbildung funktionale Kriterien für die Entkopplung (funktionale Modularität)
zugrunde gelegt. Eine funktionale Entkopplung kann beispielsweise bei mechatronischen
Systemen angewendet werden, um Module unabhängig voneinander abzusichern oder
zu testen. Die funktionale Modularität, auch als Funktionsbindung bezeichnet, ist dabei
12
Produktarchitektur
341
eine von fünf wesentlichen Eigenschaften der Modularität nach Salvador (Salvador
2007), siehe Abb. 12.4. Diese Eigenschaften können genutzt werden, um grundlegende
Ziele und Prinzipien zur Entwicklung modularer Produktarchitekturen aufzuzeigen und
zu erkennen. Die Eigenschaft Entkopplung definiert die Interaktion der Komponenten
innerhalb eines Moduls sowie zwischen Modulen. Die Analyse der Entkopplung trägt
beispielsweise dazu bei, Komponenten mit starken Interaktionen innerhalb eines Moduls
zusammenzufassen (vgl. Komponenten K1 bis K4 in Modul M1) und die Interaktionen
mit Komponenten weiterer Module zu reduzieren (vgl. K5 in M2 und K4 in M1). Eine
kommunale Verwendung der Module hingegen bedeutet, dass innerhalb einer Produktfamilie einzelne Module (vgl. M1) gemeinsam von Produktvarianten (vgl. P1, P2)
verwendet werden können. Durch die Kombinierbarkeit der Module können Produktvarianten (vgl. P1, P2) durch Kombination von Komponenten beziehungsweise Modulen
(vgl. M1–M4) konfiguriert werden. Eine Schnittstellenstandardisierung sorgt dafür, dass
die Verbindungen zwischen den Modulen einheitlich gestaltet sind, sodass die Module
(vgl. M3, M4) mit geringem Aufwand kombiniert werden können. Mit der Funktionsbindung wird eine feste Zuordnung zwischen den Funktionen (vgl. F1–F3) und Modulen
(vgl. M1, M2) erzielt.
Die genannten Eigenschaften der Modularität sind je nach Entwicklungsaufgabe
unterschiedlich stark gewichtet. Die Modularität einer Produktarchitektur ist damit als
graduelle Eigenschaft anzusehen, die sehr grob bis sehr fein ausgeprägt sein kann. Zielsetzung der Modularisierung ist nicht zwingend, eine möglichst hohe Modularität zu
erreichen. Vielmehr wird die Entwicklung einer strategisch, unternehmensspezifisch
und produktspezifisch ausgerichteten modularen Produktarchitektur beabsichtigt, durch
die möglichst viele Vorteile in allen Produktlebensphasen erzielt werden können, siehe
Abschn. 12.4. Dies führt zu einer vergleichsweise offenen Definition und einer breiten
Verwendung der Begriffe des modularen Produkts oder der modularen Produktfamilie
(Ulrich und Tung 1991). Die genannten Eigenschaften sind Stellhebel bei der Definition
Abb. 12.4 Fünf grundlegende Eigenschaften der Modularität. Abbildung in Anlehnung an (Salvador
2007; Krause and Gebhardt 2018)
342
D. Krause et al.
von Modulen und der Entwicklung von Modulbauweisen, um die übergeordneten Ziele
Kosten, Qualität und Zeit zu erreichen.
Beispielsweise können Module so festgelegt werden, dass sie weitgehend unabhängig
voneinander und parallel entwickelt werden können, um zeitliche Vorteile zu erzielen.
Zudem können sich in anderen Produktlebensphasen Vorteile ergeben, da Module beispielsweise separat voneinander abgesichert und getestet oder an unterschiedlichen
Standorten produziert werden können. In der Nutzungsphase können sich Vorteile
dadurch ergeben, dass eine Produkterweiterung oder der Austausch defekter Module
vereinfacht wird, siehe Abschn. 12.4. Ein Beispiel für die Modulbauweise stellt der in
Abschn. 12.6.1 beschriebene modularisierte Aufzug dar.
Neben den grundlegenden Konstruktionsprinzipien der Integral- und Differentialbauweise sowie der Modulbauweise sind weitere Bauweisen für die Realisierung der
Produktarchitektur etabliert. Mit der Verbundbauweise, der integrierenden und multifunktionalen Bauweise werden in den folgenden Abschnitten weitere häufig verwendete
Konstruktionsprinzipien aufgezeigt.
12.2.3Verbundbauweise
Bei der Verbundbauweise werden durch unterschiedliche Fertigungsverfahren
erzeugte Komponenten oder Komponenten unterschiedlicher Werkstoffe unlösbar miteinander verbunden (Pahl und Beitz 1997). Beispiele für Verbundbauweisen sind das
Anschweißen von Komponenten an eine gegossene Komponente aus gleichem Material
oder die unlösbare Verbindung einer Stahlbuchse mit einem Kunststoffteil. Die Verbundbauweise zielt somit darauf ab, Eigenschaften unterschiedlicher Materialien
in einer Komponente zu vereinen. Zielstellungen können beispielsweise Gewichtsminimierung, Erhöhung des Funktionsumfangs von Komponenten oder eine wirtschaftlichere Produktion durch höhere Stückzahlen sein. Bei Faser-Kunststoffverbünden
werden Fasern in spezifischer Ausrichtung zur Erhöhung der Bauteilsteifigkeit mit Harz
umgossen und fixiert. Weitere Anwendungen zielen auf die irreversible Verbindung
unterschiedlicher Werkstoffe ab, wie beispielsweise Stahl und Kunststoffe durch urund umformende Verfahren. In diesen Fällen wird die Verbundbauweise auch als MultiMaterial-Bauweise bezeichnet (Nestler 2014; Kleemann et al. 2017). Abb. 12.5 zeigt
als Beispiel einer Verbundbauweise, hier als Multi-Material-Bauweise bezeichnet, den
Trägerquerschnitt eines PKW-Karosseriebauteils. Die Stahlblechschale wird in diesem
Fall durch eine faserverstärkte Kunststoffeinlage und faserverstärkte Kunststoffrippen
verstärkt, um eine höhere Torsions- und Biegesteifigkeit sowie Knicksicherheit bei
minimalem Bauteilgewicht zu realisieren.
12
Produktarchitektur
343
Abb. 12.5 Aufbau einer anwendungsnahen Profilgeometrie in Multi-Material-Bauweise
12.2.4Integrierende Bauweise
Die integrierende Bauweise stellt eine Kombination der Konstruktionsprinzipien der
Integral- und Differentialbauweise dar (Klein 2013). Die Vorteile der Integral- und
Differentialbauweise werden verknüpft, indem gezielt Schnittstellen zwischen den
Komponenten eingefügt werden, um beispielsweise Rissausbreitung, Korrosion oder
Kerbprobleme zu vermeiden. Hierbei wird die Anzahl der Trennungen je Komponente
auf ein sinnvolles Maß begrenzt, um eine gute Austauschbarkeit zu gewährleisten.
Zudem werden häufig (leichtbau-)optimale Werkstoffe eingesetzt. Abb. 12.6 verdeutlicht
die Unterscheidung zwischen Integral- und Differential- sowie intergierender Bauweise.
Das Konstruktionsprinzip der integrierenden Bauweise fokussiert somit das gezielte
Einbringen von Trennungen in Komponenten unter besonderer Berücksichtigung von
Leichtbauanforderungen.
12.2.5Multifunktionalbauweise
Das Konstruktionsprinzip der Multifunktionalbauweise verfolgt das Ziel, zusätzliche Funktionen durch eine Komponente oder ein Bauteil zu realisieren, indem
bestehende geometrische oder stoffliche Eigenschaften einer Komponente genutzt
werden (Koller 1994). Dabei wird eine Funktionsintegration realisiert, indem entweder der Gesamtfunktionsumfang des Produkts durch zusätzliche Funktionen,
sogenannte Gratisfunktionen, erhöht wird oder der Gesamtfunktionsumfang bei verringerter Anzahl an Komponenten erhalten bleibt. Im Vergleich zur Integralbauweise
fokussiert das Konstruktionsprinzip der Multifunktionalbauweise die Erhöhung der
344
D. Krause et al.
Abb. 12.6 Charakterisierung und Unterscheidung von Differential-, Integralbauweise und integrierender
Bauweise. Abbildung in Anlehnung an (Klein 2013)
genutzten Funktionen der Komponente, während die Integralbauweise vorrangig auf
die Reduzierung der Anzahl der Komponenten abzielt. Beispiele für die Realisierung
einer Multifunktionalbauweise sind die Nutzung eines Lampenkabels zur Energieleitung
und zur Aufnahme der Gewichtskraft der Lampe (Nutzung vorhandener Eigenschaften
des eingesetzten Werkstoffs) oder die Verwendung eines Hohlprofils als Lastträger und
Luftleiter (Erfüllung weiterer Funktionen durch geeignete Gestaltung). Darüber hinaus
kann eine Multifunktionalbauweise durch eine zeitlich gestaffelte Mehrfachnutzung
von Funktionen bei geeigneter Baugruppengestaltung realisiert werden. Abb. 12.7
zeigt die Umsetzung der Multifunktionalbauweise am Beispiel einer Linearführung
mit zusätzlicher Klemmfunktion (Lommatzsch et al. 2011). Hierbei wird die elastische
Deformation einzelner Segmente des Grundkörpers genutzt, um durch pneumatischen
Innen druck den Grundkörper gezielt zu verformen und den Führungsschlitten zu
fixieren. Der Grundkörper realisiert somit Stütz- und Führungsfunktionen für die Wälzkörper und dient gleichzeitig als Aktor für die Klemmung. Obwohl die Funktionen
jeweils durch unterschiedliche Wirkflächen realisiert werden, handelt es sich hierbei
um eine Multifunktionalbauweise, bei der die unterschiedlichen Werkstoffeigenschaften
durch geeignete Formgebung genutzt werden.
Aufgrund der unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien tragen die beschriebenen
Bauweisen zur Erreichung verschiedener Zielstellungen bei. Die Auswahl und
Anwendung der Bauweisen erfolgt in der Regel ausgehend von bestehenden Produktstrukturen oder vorhandenen Produkten.
12
Produktarchitektur
345
Abb. 12.7 Linearführung mit zusätzlicher Klemmfunktion als Beispiel für eine Multifunktionalbauweise. Abbildung in Anlehnung an (Lommatzsch et al. 2011)
12.3Zielstellungen für die Gestaltung der Produktarchitektur
Die Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur kann unterschiedliche Zielstellungen
verfolgen. Die verfolgten Zielstellungen haben in der Regel Auswirkungen auf die
gewünschten Eigenschaften des Produkts während der Nutzungsphase und weiterer
Produktlebensphasen, wie der Produktabsicherung oder Produktion. Es ist daher
zweckmäßig, die Zielstellungen im Rahmen der vorliegenden Entwicklungsaufgabe
explizit zu klären. Da sich durch die zugrunde gelegte Bauweise in der Regel Abhängigkeiten zwischen einzelnen Zielstellungen ergeben, sind neben den unmittelbar verfolgten Zielen auch gegebenenfalls negative Auswirkungen der gewählten Bauweise zu
beurteilen. Dieser Abschnitt gibt einen Überblick über mögliche Zielstellungen für die
Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur. Dabei beschränkt sich die Beschreibung
auf eine Auswahl in der Literatur genannter Zielstellungen, die in der dargestellten Form
keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, vgl. beispielsweise (Ulrich 1995; Yassine und
Wissmann 2007; Bonvoisin et al. 2016).
Zur Gliederung wird nachfolgend zwischen Zielstellungen aus Sichtweise des Unternehmens und des Kunden sowie zwischen der Produkt- und Prozessperspektive unterschieden. Hieraus ergibt sich der in Abb. 12.8 dargestellte Orientierungsrahmen. Durch
die Quadranten werden Zielfelder aufgezeigt, in die Beispiele für Zielstellungen für die
Gestaltung der Produktarchitektur eingeordnet sind. In realen Entwicklungssituationen
tritt in der Regel eine Kombination mehrerer Zielstellungen auf, die untereinander
priorisiert werden müssen. Als übergeordnete Ziele sind hierbei immer Zeit, Qualität,
Kosten und Flexibilität zu berücksichtigen (Business Advisory 2018). Beispielsweise
sind Maßnahmen zur Gleichteileverwendung immer hinsichtlich initialer Kostenaufwände sowie langfristig erzielbarer Kostenreduzierungen, Qualitätssteigerungen
346
D. Krause et al.
Abb. 12.8 Exemplarische Zielstellungen bei der Gestaltung der Produktarchitektur
und gegebenenfalls Zeitersparnissen während der Produktentwicklung und Fertigung zu
bewerten. Auch bei Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung müssen Kosten und beispielsweise die erzielbare Fertigungsflexibilität überprüft werden.
Die dargestellten Quadranten legen jeweils exemplarische Schwerpunkte für die
Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur fest, indem sie einzelne Sichten hervorheben. Die folgende Beschreibung möglicher Zielstellungen zeigt deren Vielfalt auf
und verdeutlicht damit, dass eine Klärung der Zielstellungen zu Beginn der Gestaltung
der Produktarchitektur erforderlich ist. Gleichzeitig können die Zielstellungen genutzt
werden, um die Auswahl der in den Abschn. 12.4 und 12.5 beschriebenen Strategien und
Methoden zu erleichtern.
12.3.1Planung und Entwicklung des Produktprogramms
Unternehmen müssen ihr Produktprogramm stetig weiterentwickeln, um wettbewerbsfähig am Markt zu agieren. Neben technologischen Neuerungen müssen Produkte
beispielsweise durch funktionale, ästhetische oder wirtschaftliche Eigenschaften
differenziert werden, um Kundenwünsche bestmöglich zu erfüllen. Der Quadrant
Planung und Entwicklung des Produktprogramms zeigt produktbezogene Zielstellungen
12
Produktarchitektur
347
der Produktarchitektur aus Sicht des Unternehmens auf, siehe Abb. 12.8. Die Weiterentwicklung und Differenzierung der Produkte spiegeln sich dabei im Produktprogramm
eines Unternehmens wider.
Zentrale Herausforderung der Realisierung einer großen externen Produktvielfalt ist
die Vermeidung und Reduzierung interner Vielfalt von Komponenten. Eine Gestaltung
der Produktarchitektur, die zu einer Reduzierung der internen Vielfalt führt, kann dazu
beitragen, höhere Kosten zu vermeiden, vgl. Abschn. 12.4. Ein Beispiel hierfür ist die
Modulbauweise, bei der Produktvarianten durch zweckmäßige Kombination einer möglichst geringen Anzahl an Modulen realisiert werden (Franke und Schill 1987). Des
Weiteren kann die Gestaltung der Produktarchitektur einen Beitrag zur Ermöglichung
von Flexibilität und Zukunftsrobustheit von Produkten leisten (Greve und Krause 2018).
Ziel der Anpassung der Produktarchitektur ist es in diesem Fall, zukünftige Änderungen
der Marktanforderungen und eingesetzter Technologien vorherzusehen, um diese
effizient in den angebotenen Produkten umsetzen zu können. Hierzu können beispielsweise technologisch schnelllebige Komponenten austauschbar oder nachrüstbar als
Module in die Produktstruktur integriert werden (Bauer 2016).
12.3.2Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen
Während der Produktentwicklung sind sämtliche Produktlebensphasen von der Produktplanung über die Entwicklung und Fertigung bis hin zur Nutzung und Rückführung
des Produkts zu berücksichtigen. Die Gestaltung der Produktarchitektur wirkt sich auf
alle Lebensphasen aus, da durch Anwendung verschiedener Bauweisen beispielsweise
Fertigungs-, Montage- und Testeigenschaften bestimmt werden (Erixon 1998; Krause
und Gebhardt 2018).
Der Quadrant Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen stellt die Zielstellungen
im Hinblick auf unternehmensinterne und -übergreifende Prozesse dar, um die Entwicklung, Herstellung und Montage des Produkts kosten- und zeiteffizient zu gestalten.
Insbesondere bei der Entwicklung von Produkten mit Lösungselementen verschiedener
Entwicklungsdomänen, wie mechatronischen Produkten, oder bei standortübergreifenden
Entwicklungsprojekten ist es zweckmäßig, Entwicklungs-, Produktions- und Testaufgaben durch eine geeignete Produktstruktur zu gliedern. Durch eine Parallelisierung von
Prozessen können diese einzelnen Lösungselemente unabhängig voneinander entwickelt,
hergestellt und getestet werden, bevor sie zu einem Gesamtsystem integriert werden.
Durch eine modulare Bauweise können hierbei Zeitersparnisse im Produktentstehungsprozess erreicht werden (Vietor et al. 2015).
Ein weiteres Beispiel für eine Zielstellung in diesem Quadranten ist die Reduzierung
von Fertigungs- und Montageaufwand. Eine Gestaltung von Komponenten in Integralbauweisen kann dazu beitragen, dass die Anzahl der Fertigungs- und Montageschritte
reduziert wird. Vorteile können dadurch insbesondere bei Komponenten in hohen Stückzahlen erreicht werden (Franke 2002).
348
D. Krause et al.
12.3.3Produktnutzen für den Kunden
Die Erfüllung kundenspezifischer Anforderungen steht im Mittelpunkt der Produktentwicklung und -realisierung und ist zwingende Voraussetzung für erfolgreiche
Produkte. Der Quadrant Produktnutzen für den Kunden hebt die kundenspezifische
Sicht auf das Produkt hervor. Im Fokus stehen dabei häufig die Erfüllung kundenindividueller Anforderungen oder das Angebot zusätzlicher Produktfunktionen während
der Nutzungsphase. Beispielsweise können durch die Gestaltung der Produktarchitektur und die Anwendung einer geeigneten Bauweise einzelne Beschaffenheits- und
Gebrauchseigenschaften, die für den Nutzer maßgebend sein können, wie Gewicht,
Robustheit oder Anpassbarkeit, wesentlich beeinflusst werden. Eine Integral- oder Verbundbauweise kann beispielsweise maßgeblich zur Reduzierung des Gesamtgewichts
des Produkts beitragen (Kleemann et al. 2017). Weiterhin kann die geeignete Gestaltung
der Produktarchitektur Grundlage für die Ermöglichung von Nachrüstung und Produktaufwertung und somit zu einer erhöhten Kundenorientierung und -bindung beitragen.
Hierzu können beispielsweise gezielt Funktionen und Komponenten vorgesehen werden,
die während der Nutzung ergänzt oder ausgetauscht werden. Grundlage hierfür sind
Produktarchitekturen, die eine gezielte Ergänzung oder Änderung von Modulen während
der Nutzungsphase zulassen (Schuh 2005; Inkermann et al. 2018, Krause und Gebhardt
2018). Für die Anpassung der Produktarchitektur und Erreichung der exemplarisch
genannten Ziele ist dabei immer eine Betrachtung von Baugruppen oder des Gesamtsystems erforderlich, um grundlegende Veränderungen vornehmen zu können.
12.3.4Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen
Neben unternehmensinternen Prozessen und Produkteigenschaften werden durch die
Produktarchitektur die Einflussmöglichkeiten des Kunden auf das Produkt sowie die
Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen während der Angebots-, Entwicklungsund Produktnutzungsphase bestimmt. Der Quadrant Interaktion zwischen Kunden
und Unternehmen zeigt mögliche Zielstellungen bei der Anpassung der Produktarchitektur mit Auswirkungen auf die Prozessgestaltung aus Sicht des Kunden auf. Eine
exemplarische Zielstellung ist die Unterstützung von Produktkonfiguration und -angebot.
Durch die Produktarchitektur kann dabei einerseits der Umfang der für den Kunden
möglichen Individualisierung des Produkts definiert werden, indem beispielsweise
individualisierbare Komponenten vorgegeben werden. Andererseits wird die Produktkonfiguration beeinflusst, indem beispielsweise Konfigurations- und Kalkulationsmöglichkeiten vorgegeben werden, die potentielle Kunden als Entscheidungsgrundlage
heranziehen können (Franke 2002). Weiterhin können Art und Umfang der Interaktion
zwischen Kunden und Unternehmen durch die Produktarchitektur beeinflusst werden,
indem eine Reduzierung des Service -und Instandhaltungsaufwandes durch austausch-
12
Produktarchitektur
349
bare Komponenten angestrebt wird. Neben den erforderlichen Maßnahmen bei der
Produktarchitektur gestaltung wirken sich diese Zielstellungen auf begleitende Prozesse
der Informationsbereitstellung durch und für den Kunden aus, die für das erfolgreiche
Anbieten der Produkte oder ergänzender Serviceleistungen erforderlich sind (Aurich und
Clement 2010). Die Erreichung der genannten Zielstellungen beeinflusst dabei immer
die Produktarchitektur, da beispielsweise eine geeignete Modularisierung erfolgen muss,
um eine effiziente Produktkonfiguration zu ermöglichen.
Die beschriebenen Zielstellungen und deren Zuordnung zu den einzelnen Quadranten
stellen Beispiele dar, die verdeutlichen, welche Ausgangspunkte bei der Gestaltung der
Produktarchitektur fokussiert werden können. Hervorzuheben ist, dass die aufgezeigten
Zielstellungen in der Regel nicht unabhängig voneinander sind. Beispielsweise kann
sich eine gute Anpassbarkeit und Nachrüstbarkeit zur Steigerung des Kundennutzens
negativ auf die Kommunalität zur Reduzierung der internen Variantenvielfalt auswirken. Diese Zielkonflikte treten bei der Auswahl geeigneter Strategien und Bauweisen für die Realisierung der Produktarchitekturen auf und können teilweise durch
Kombinationen der Bauweisen oder Priorisierung der Zielstellungen entschärft werden.
Die beschriebenen Quadranten in Abb. 12.8 sollen die verschiedenen Blickwinkel bei der
Analyse und Gestaltung der Produktarchitektur verdeutlichen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Zielstellungen zu erheben. Im folgenden Abschnitt des Kapitels werden
verschiedene Strategien zur Produktstrukturierung unter besonderer Berücksichtigung
der Variantenvielfalt eingeführt.
12.4Produktstrukturierung unter Berücksichtigung der
Variantenvielfalt
Eine der wesentlichen Zielstellungen der Gestaltung der Produktarchitektur ist die Handhabung und Realisierung der Produktvielfalt. Dafür werden in Unternehmen Strategien
definiert, die Vorgaben für die Produktstrukturierung festlegen. Der Fokus liegt damit auf
der Gestaltung der Produktstruktur (physische Sicht). Die Auswahl einer Strategie zur
Produktstrukturierung kann sich auf eine Vielzahl von Zielstellungen des Unternehmens
auswirken, siehe Abschn. 12.3, da unterschiedliche Produktlebensphasen der Produktentstehung und -nutzung eng mit der Produktstruktur verknüpft sind. Produktstrukturstrategien haben damit auch einen Einfluss auf die Ausgestaltung der Bauweise.
u Definition
Produktstrukturstrategien sind Vorgaben in einem Unternehmen bezüglich der Ausführung der Produktstrukturen zur Erreichung der Unternehmensziele. Sie sind produktübergreifend bis hin zum gesamten Produktprogramm gültig und haben eine mittel- bis
langfristige Ausrichtung, die eine oder mehrere Produktgenerationen umfasst.
Definition in Anlehnung an (Krause und Gebhardt 2018).
350
D. Krause et al.
Produktstrukturstrategien können sich entlang der unterschiedlichen Ebenen von dem
Produktprogramm über die Produktlinie bis hin zur Produktfamilie auswirken. Der
Zusammenhang von Produktprogramm, Produktionsprogramm, Produktlinie, Produktfamilie und Produktvarianten ist in Abb. 12.9 dargestellt. Das Produktprogramm des
Unternehmens umfasst die Gesamtheit der von einem Unternehmen angebotenen
Produkte und bildet somit das Produktionsprogramm einschließlich zugekaufter
Produkte und Dienstleistungen ab, die ohne substanzielle Änderungen als Handelswaren
am Markt angeboten werden (Rupp 1988). Das Produktionsprogramm umfasst alle
Produkte, die das Unternehmen selbst herstellt. Dem Produktionsprogramm untergliedert
sind die Produktlinien, welche sich aus Produktfamilien zusammensetzen, die wiederrum
aus verschiedenen Produktvarianten bestehen (Krause und Gebhardt 2018).
Die Beherrschung der durch die Produktvarianz verursachten Komplexität – auch
als varianzinduzierte Komplexität bezeichnet – stellt Unternehmen vor eine besondere
Herausforderung, der durch die Wahl einer geeigneten Produktstrukturstrategie
begegnet werden kann. In Abschn. 12.4.1 werden die grundlegenden Herausforderungen
der Variantenvielfalt erläutert. In Abschn. 12.4.2 wird das besondere Potenzial der
modularen Produktstrukturierung zur Bewältigung der Variantenvielfalt aufgezeigt und
mit der Gleichmodul-, Modulbaukasten- und Plattformstrategie drei konkrete Möglichkeiten vorgestellt. Ergänzend wird in Abschn. 12.4.3 die Baureihenstrategie erläutert,
in der Produktvarianten durch die Realisierung unterschiedlicher Größenstufen erzeugt
werden.
12.4.1Herausforderungen der Variantenvielfalt
Megatrends, wie Globalisierung, neue Konsummuster, neue Technologien sowie die
zunehmende Individualisierung, zwingen Unternehmen zu einer stärkeren Diversifizierung ihres Produktangebots, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese
Diversifizierung äußert sich in einer dem Kunden angebotenen, großen externen
Abb. 12.9 Schematische Einteilung eines Produktprogramms mit Produktlinien, -familien und –
varianten. Abbildung in Anlehnung an (Rupp 1988)
12
Produktarchitektur
351
Produktvielfalt. Zur Beschreibung der externen Vielfalt eignen sich insbesondere die
Kundenanforderungen eines Produkts.
Die externe Vielfalt geht häufig mit einem Anstieg der internen Vielfalt an
Komponenten und Prozessen im Unternehmen einher. Die dafür benötigten zusätzlichen Anstrengungen, zusätzlichen Ressourcen und der erhöhte Informationsbedarf wird
durch die produktvarianzinduzierte Komplexität beschrieben (Abdelkafi 2008; Brosch
2014). Sie ist dann besonders ausgeprägt, wenn die Unterschiede in der Auftragsabwicklung durch die Verschiedenheit der Produktvarianten ausgelöst werden, und kann zu
einem Verlust der Transparenz im Unternehmen, zusätzlichen Ausnahmen und Sonderprozessen, Mehraufwänden sowie höheren Kosten führen. Ziel eines produzierenden
Unternehmens muss es daher sein, die vom Markt geforderte externe Vielfalt mit einer
möglichst geringen internen Vielfalt abzubilden, siehe Abb. 12.10. Aber nicht nur die
genannten externen Ursachen, die durch Unternehmen nur bedingt beeinflussbar sind,
sondern auch interne Ursachen können die interne Vielfalt erhöhen. Produzierende
Unternehmen stehen somit vor der Herausforderung, geeignete Produktstrukturstrategien
sowie der Methoden zur Produktstrukturierung auszuwählen und anzuwenden.
Durch die beschriebene Variantenvielfalt steht das Unternehmen bei der Gestaltung
der Produktstruktur in der Regel vor einem Zielkonflikt zwischen Standardisierung und
Differenzierung. Abb. 12.11 zeigt aus produktstrategischer Sicht wesentliche Gründe aus
unterschiedlichen Lebensphasen auf, die für eine Standardisierung oder Differenzierung
sprechen. Den aufgezeigten Konflikt gilt es, für alle Komponenten zu lösen. Während
durch Standardisierung von Komponenten die varianzinduzierte Komplexität im Unternehmen beispielsweise durch eine verringerte Anzahl an Komponenten (weniger Sachnummern) reduziert werden kann, wird durch eine zunehmende Differenzierung eine
bessere Erfüllung spezifischer Kundenwünsche möglich. Durch Standardisierung von
Komponenten und der damit einhergehenden verstärkten kommunalen Verwendung
von Modulen in unterschiedlichen Produktvarianten ergeben sich in der Regel Stückzahleffekte, die sich positiv auf Entwicklungszeit und -kosten auswirken. Bei einer zu
geringen Differenzierung durch Verwendung standardisierter Module kann es hingegen
bei einigen Produktvarianten zu einer Überdimensionierung kommen, was sich negativ
Abb. 12.10 Abbildung einer hohen externen auf eine geringe unternehmensinterne Produktvielfalt.
Abbildung in Anlehnung an (Kortmann et al. 2009) und (Krause und Gebhardt 2018)
352
D. Krause et al.
Abb. 12.11 Zielkonflikt zwischen Standardisierung und Differenzierung bei der Festlegung einer
geeigneten Produktstrukturstrategie (Krause und Gebhardt 2018)
auf die Herstellkosten auswirkt. Aus diesen Gründen ist eine auf alle wichtigen Lebensphasen abgestimmte Produktstrukturierung zu erarbeiten.
Nachfolgend werden unterschiedliche Strategien für die modulare Produktstrukturierung beschrieben.
12.4.2Strategien zur modularen Produktstrukturierung
Modulare Produktstrukturstrategien sind geeignet, um der Herausforderung der
Variantenvielfalt bei der Gestaltung der Produktstruktur gerecht zu werden. Die Begriffe
modulare Produktstrukturierung und Modularisierung, siehe Abschn. 12.2.2, können
dabei synonym verwendet werden, da durch eine Modularisierung der grundlegende
Aufbau der modularen Produktstruktur festgelegt wird.
Wie bei der Vorstellung der Modulbauweise bereits erläutert, beruht die modulare
Produktstrukturierung auf der Bildung von Modulen und somit auf dem Zusammenfassen von Komponenten des Produkts und deren Entkopplung zum Rest des Produkts.
Durch eine abgestimmte Entwicklung von Produktstrukturen mehrerer Produktfamilien
und -linien können große Potenziale aufgrund von Synergien erzielt werden. Hierdurch
wird eine gemeinsame Verwendung von Modulen über Produktvarianten bzw. Produktfamilien hinweg möglich, wodurch große Einsparpotenziale und Wettbewerbsvorteile
resultieren können. Weitere Vorteile der Modularisierung sind in (Krause und Gebhardt
2018) unter Berücksichtigung unterschiedlicher Produktlebensphasen beschrieben.
Es gibt keine einheitliche Sichtweise auf die Unterteilung der modularen Produktstrukturstrategien. Meist werden dazu die Begriffe Plattform, Baukasten, Module
und leichte Abwandlungen davon zur Beschreibung ähnlicher Inhalte verwendet. Im
Folgenden wird die Einteilung nach (Krause und Gebhardt 2018) vorgestellt, da sie
12
Produktarchitektur
353
die Bandbreite der Strategien produktfamilienübergreifend erläutern und die wichtigen
Effekte der Mehrfachverwendung deutlich aufzeigt. Hierbei wird zwischen Gleichmodul-, Modulbaukasten- und Plattformstrategie unterschieden. Diese spannen den
Lösungsraum modularer Produktstrukturen idealisiert auf und stellen gleichzeitig
grundlegende Aufbauprinzipien der Produktstruktur dar. Sie sind nicht als sich gegenseitig ausschließende Alternativen zu verstehen, sondern können unternehmensspezifisch skaliert und miteinander kombiniert werden. Während die Modulbaukastenstrategie
und die Plattformstrategie sich auf einzelne Produktfamilien beziehen, richtet sich die
Gleichmodulstrategie auf mehrere Produktfamilien hinweg aus und kann sich auch auf
das gesamte Produktprogramm beziehen.
Alle Strategien zielen auf die Reduzierung der internen Vielfalt durch die Vermeidung
von Neuentwicklungen sowie die Nutzung von Skaleneffekten ab. In Abb. 12.12 sind die
drei Strategien einander gegenübergestellt.
Die drei dargestellten Strategien haben gemein, dass sie mit vordefinierten Modulen
arbeiten, die sich je nach Strategie in ihrem Umfang unterscheiden. Innerhalb der
Strategien wird in der Abbildung durch die Pfeile veranschaulicht, ob eine Wiederverwendung der vordefinierten Module nur innerhalb einer Produktfamilie oder produktfamilienübergreifend möglich wird. Dabei können sowohl Standardmodule als auch
Variantenmodule produktfamilienintern oder produktfamilienübergreifend eingeplant
werden. Auf Ebene der Produktfamilien sind Standardmodule innerhalb einzelner Produktvarianten einer Produktfamilie vereinheitlichte Module, wohingegen Variantenmodule
innerhalb einzelner Produktvarianten einer Produktfamilie variieren. Die Gleichmodulstrategie, siehe Abb. 12.12 (links), weist kleine Module (Standard- und Variantenmodule)
auf, deren kommunale Verwendung produktfamilienübergreifend angestrebt wird. Bei
der Plattformstrategie dagegen, siehe Abb. 12.12 (rechts), bilden große Standardmodule
– die Plattform – die Basis für die Erzeugung von Produktvarianten zusammen mit
Abb. 12.12 Gegenüberstellung der drei etablierten Strategien für die Aufbauprinzipien der Produktstruktur: Gleichmodulstrategie, Modulbaukastenstrategie und Plattformstrategie. Abbildung in
Anlehnung an (Krause et al. 2018) (Krause und Gebhardt 2018)
354
D. Krause et al.
kleineren Variantenmodulen. Die Modulbaukastenstrategie, siehe Abb. 12.12 (Mitte), ist
zwischen den beiden beschriebenen Strategien angeordnet, da sie das Ziel hat, die externe
Vielfalt innerhalb einer Produktfamilie mit möglichst wenigen Modulen umzusetzen. Dies
führt zu Modulen mit mittlerem Umfang im Vergleich zur Gleichmodul- und Plattformstrategie, sodass eine hohe Wiederverwendung der Module innerhalb der Produktfamilie
zur Konfiguration von Produktfamilien angestrebt wird. Es können dabei auch Module entstehen, die produktfamilienübergreifend einsetzbar sind. Dies ist aber nicht das vorrangige
Ziel der Modulbaukastenstrategie.
Nachfolgend werden die einzelnen modularen Produktstrukturstrategien ausführlicher
beschrieben.
Gleichmodulstrategie
Unter Gleichmodulstrategie (auch Mehrfachverwendung) von Modulen wird die
systematische Verwendung identischer Module über mehrere Teile des Produktprogramms beziehungsweise im gesamten Produktprogramm übergreifend in verschiedenen Produkten verstanden, siehe Abb. 12.12 (links). Der Begriff Gleichmodul
ist hierbei von dem in der Literatur oft verwendeten Begriff Gleichteile abzugrenzen,
der aufgrund des naheliegenden Bezugs zu Einzelteilen eher die Strategie einer Teilestandardisierung vermittelt. Ein Gleichmodul enthält hingegen mehrere Einzelteile.
Daher wird hier der Begriff Gleichmodul bevorzugt.
Bei zukünftigen Entwicklungsprojekten kann mithilfe der Gleichmodulstrategie auf
bereits vorhandene Module zurückgegriffen und dadurch Entwicklungsaufwand und
-risiko reduziert werden. Zur Anwendung und Umsetzung der Gleichmodulstrategie
sind zunächst mögliche Module zur Übernahme zu identifizieren. Hierzu werden die
Produktstrukturen hinsichtlich Komponenten analysiert, die über Bereiche des Produktprogramms übergreifend bzw. mittels Anpassung und Neuentwicklung zukünftig übergreifend verwendet werden können. Die Module sind zu entkoppeln sowie hinsichtlich
ihrer Schnittstellen und Leistungsmerkmale so zu entwickeln, dass eine übergreifende
Verwendung ermöglicht werden kann. Um die Wahrscheinlichkeit einer Übernahme zu
erhöhen, sind in der Gleichmodulstrategie im Gegensatz zu den anderen Produktstrukturstrategien kleinere Modulumfänge mit einer größeren Anzahl an Modulen zu wählen, da
diese eher übergreifend über die Produktlinien wiederzuverwenden sind.
Modulbaukastenstrategie
Ziel der Modulbaukastenstrategie ist es, mit möglichst wenigen Modulen innerhalb einer
Produktfamilie sowie produktfamilienübergreifend die durch den Kunden geforderten
Produktvarianten abzubilden. Hierzu wird ein Satz unterschiedlicher Module genutzt,
um Produktvarianten durch Kombination der Module zu erzeugen. Einzelne austauschbare Module werden als eigenständige Einheiten gebildet, die sich stark an den
Kundenbedürfnissen und deren Variationen ausrichten. Mit einer minimalen Anzahl an
Modulen wird die Konfiguration verschiedener Produktvarianten ermöglicht. Module
können dabei innerhalb einer Produktfamilie oder produktfamilienübergreifend ver-
12
Produktarchitektur
355
wendet werden, siehe Abb. 12.12 (Mitte). Durch die Reduktion der Anzahl verwendeter
Module werden Stückzahleneffekte innerhalb einer Produktfamilie erzielt (kommunale
Verwendung der Module). In neuen Produktgenerationen kann durch die Übernahme
bestehender Module bereits erbrachte Entwicklungsleistung wiederverwendet werden.
Die Strategie eines Modulbaukastens kann statt auf die gesamte Produktstruktur auch
nur auf ausgewählte Bereiche angewendet werden, ohne dass eine vollständige Baukastensystematik für ein Gesamtsystem entwickelt werden muss.
Die für einen Modulbaukasten erforderliche Kombinierbarkeit der einzelnen Module
stellt besondere Anforderungen an die Schnittstellengestaltung. Um die Kombinierbarkeit zu gewährleisten, werden häufig mehr Schnittstellen vorgesehen als bei einer Einzelkonstruktion der Varianten. Dies kann zusätzliche Herstellkosten und Herausforderungen
in Bezug auf Qualitäts- und Bauraumanforderungen bedingen. Um gleichzeitig an einer
Schnittstelle verschiedene Module montieren zu können, müssen diese Schnittstellen
unter Umständen überdimensioniert werden.
Plattformstrategie
Eine Plattform ist die übergreifende, gemeinsame Basis innerhalb einer Produktfamilie,
mithilfe derer Produktvarianten abgeleitet und effizient produziert werden können.
Hierzu werden Module, die über alle Produktvarianten einer Produktfamilie vereinheitlicht werden können und robust gegenüber erwarteten Änderungen der Kundenanforderungen angesehen werden, zu einem großen für alle Varianten der Produktfamilie
standardisierten Modul, der sogenannten Plattform, zusammengefasst, siehe Abb. 12.12
(rechts). Dadurch soll sichergestellt werden, dass mit der standardisierten Plattform ein
planbarer Stückzahleneffekt entsteht.
Die Plattform umfasst den gemeinsamen Anteil aller Produktvarianten einer Produktfamilie. Aufgrund dieses hohen Umfanges, der übergreifenden Verwendung innerhalb einer
Produktfamilie und der mittel- bis langfristigen Ausrichtung einer Plattform werden meist
die Kerntechnologien und -kompetenzen des Unternehmens in der Plattform gebündelt.
Der vergleichsweise hohe Anteil einer Plattform am Gesamtprodukt führt dazu, dass sie
sich in der Regel für eine einzelne Produktfamilie eignet. Durch die Wiederverwendung der
Plattform können insbesondere in der Fertigung Einsparungen erzielt werden. Die Vorteile
der Strategie kommen besonders zum Tragen, wenn die Plattform oder zumindest große
Teile daraus über mehrere Produktgenerationen verwendet werden können. Damit wird der
Lebenszyklus der Plattform von denen der abgeleiteten Produktvarianten entkoppelt.
Aufgrund des hohen Anteils einer Plattform am Produkt, ihrer breiten Verwendung
und langfristigen Ausrichtung werden häufig andere Produktstrukturstrategien mit der
Plattformstrategie kombiniert. Beispielsweise werden skalierbare Plattformen eingesetzt,
bei denen nach dem Prinzip der Baureihe verschiedene Größenstufungen der Plattform
vorgehalten werden, um verschiedene Leistungseigenschaften des Produkts erzeugen zu
können (Simpson et al. 2006; Pirmoradi und Wang 2011). Zudem ist die Kombination
einer Plattform mit einem Modulbaukasten möglich. Hierbei werden durch Kombination
der Plattform mit weiteren Modulen verschiedene Produktvarianten erzeugt.
356
D. Krause et al.
12.4.3Baureihenstrategie
Während Strategien zur modularen Produktstrukturierung darauf abzielen, Produktvarianten durch die Kombination von Modulen zu erzeugen, werden bei der Baureihenstrategie Produktvarianten durch Realisierung unterschiedlicher Größenstufen realisiert.
In Abgrenzung zu den Strategien modularer Produktstrukturierung, siehe
Abschn. 12.4.2, werden Produkte und Komponenten als Baureihen bezeichnet, wenn
•
•
•
•
die Varianten dieselbe Funktion erfüllen und
mit der gleichen prinzipiellen Lösung,
in mehreren Größenstufen und
bei möglichst gleicher Fertigung realisiert werden (Jeschke 1997, Pahl und Beitz
1997).
Durch die Realisierung der Lösung in verschiedenen Größenstufen können unterschiedliche Wertebereiche von Eigenschaften des Produkts realisiert und damit eine
hohe externe Produktvielfalt angeboten werden. Dabei können einerseits vollständige
Produkte als Baureihen realisiert werden, wodurch sich eine Produktfamilie aus den
Größenstufen der Baureihe ergibt. Andererseits können einzelne Komponenten eines
Produkts als Baureihe ausgeführt werden, um innerhalb eines Baukastens einzelne
Module in unterschiedlichen Größenstufen einzusetzen. Beispielsweise werden unterschiedliche Leistungsstufen eines Motors innerhalb eines Baukastens für Fahrzeuge eingesetzt. Ein Produktbaukasten kann demnach ebenfalls Baureihen umfassen (Jeschke
1997). Um insbesondere gleiche Fertigungstechnologien und -prozesse anwenden zu
können, wird bei Baureihen oftmals auf die gleichen Werkstoffe bzw. Fertigungsverfahren zurückgegriffen (Ehrlenspiel 1985). Die wesentlichen Merkmale von Varianten
einer Baureihe verdeutlichen Strahlenfiguren, die die Verhältnisse von Größenstufen
aufzeigen. Abb. 12.13 zeigt die schematische Darstellung einer Baureihe eines Getriebegehäuses als Strahlenfigur.
Baureihen weisen Vor- und Nachteile sowohl aus Sicht des anbietenden Unternehmens als auch des Kundens auf (Pahl und Beitz 1997), siehe Tab. 12.1.
Als wesentliche Einschränkung und Nachteil gilt, dass durch eine Baureihe die
Größenstufen von Produktvarianten bei der Planung der Baureihe festgelegt werden und
somit eine optimale Erfüllung spezifischer Kundenforderungen nicht immer möglich ist.
Die Aufgabe des Produktentwicklers besteht somit darin, die Kundenanforderungen vor
der Entwicklung einer Baureihe möglichst genau zu verstehen und zukünftige Trends
12
Produktarchitektur
357
Abb. 12.13 Strahlenfigur der Baureihe eines Getriebegehäuses. (Quelle: Flender 1972)
Tab. 12.1  Wesentliche Vorteile der Baureihenstrategie aus Unternehmens- und Kundensicht. In
Anlehnung an (Pahl und Beitz 1997)
Vorteile für Unternehmen
Vorteile für Kunden
• konstruktive Arbeit wird für viele
Anwendungsfälle lediglich einmal unter
Ordnungsprinzipien geleistet
• durch Wiederholung bestimmter Losgrößen
wird die Wirtschaftlichkeit gesteigert
• Steigerung der Qualität
• Produkt oder Komponente ist qualitativ
hochwertig
• Produkt oder Komponente ist vergleichsweise
günstig
• Produkt oder Komponente ist schnell lieferbar
• Produkt oder Komponente ist aufgrund
schneller Ersatzteilbeschaffung gut reparierbar
voraus zusehen (Naefe, 2012). Aufgrund der genannten Vorteile eignen sich Baureihen
insbesondere für Produkte gleicher Funktion, die in Planung und Entwicklung sehr aufwändig sind, wie beispielsweise Motoren, Turbinen und Aggregate (Schuh und Schwenk
2001). Wesentlich bei der Planung einer Baureihe ist die Festlegung einer optimalen
Größenstufung, die nur bei integrierter Betrachtung von Markt, Konstruktion, Fertigung
und Vertrieb möglich ist. Voraussetzungen hierfür sind aussagefähige Informationen über
• Bedarfserwartungen des Marktes (Vertriebs), bezogen auf die einzelnen Baugrößen,
• Marktverhalten bei Typbereinigung und den damit verbundenen Lücken,
• Fertigungskosten und Fertigungszeiten bei unterschiedlichen Größenstufungen sowie
eine genaue Erfassung der sich verändernden Fertigungsgemeinkosten und
• gleichbleibende Eigenschaften der Baureihenglieder bei unterschiedlichen
Größenstufungen (Pahl und Beitz 1997).
358
D. Krause et al.
Bei der Entwicklung von Baureihen wird häufig von bestehenden (Einzel-)Produkten
ausgegangen, um beispielsweise aufgrund von Kundenanforderungen weitere
Größenvarianten des Produkts anzubieten. Bei der Neuplanung einer Baureihe wird
ein Grundentwurf als initiale Größenstufe definiert. Basierend auf festgelegten
Gesetzmäßigkeiten werden weitere Folgeentwürfe abgeleitet. Die Gesetzmäßigkeiten
werden aus Ähnlichkeitsgesetzen abgeleitet, die beispielsweise auf geometrischen,
mechanischen und/oder physikalischen Ähnlichkeiten basieren (Jeschke 1997). Weiterhin ist die Verwendung von dezimalgeometrischen Normreihen zweckmäßig, um die
Stufensprünge (Maßstäbe) zwischen Größen festzulegen. Im Folgenden werden Ähnlichkeitsgesetze und die Verwendung von Normreihen als Grundlage für die Entwicklung
von Baureihen erläutert (Pahl und Beitz 1997).
Von Ähnlichkeit wird gesprochen, wenn das Verhältnis mindestens einer
physikalischen Größe bei einem festgelegten Grundentwurf und den Folgeentwürfen
konstant bleibt. Grundgrößen für die Definition von Ähnlichkeiten sind beispielsweise
Länge, Zeit, Kraft, Stromstärke, Temperatur oder Lichtstärke.
Eine geometrische Ähnlichkeit ist gegeben, wenn das Verhältnis aller jeweiligen Längen
bei den Folgeentwürfen der Baureihe zum Grundentwurf konstant bleibt. Die Invariante
ist der Stufensprung (Längenmaßstab) und ergibt sich nach: ϕL = L1 /L0. Hierbei sind: L1
Abmessung des 1. Glieds in der Baureihe (Folgeentwurf) und L0 Abmessung des Grundentwurfs. Für den k-ten Folgeentwurf gilt demnach: ϕLk = ϕLk. Analog kann die Zeitliche,
Kraft-, Elektrische-, Temperatur- und Photometrische Ähnlichkeit angegeben werden, indem
jeweils die Größen des Folge- und Grundentwurfs ins Verhältnis gesetzt werden.
Spezielle Ähnlichkeiten ergeben sich, wenn mehrere Grundgrößenverhältnisse konstant
sind. Beispielsweise wird bei zeitgleicher Invarianz der Länge und Zeit von kinematischer
Ähnlichkeit gesprochen. Sind die Verhältnisse von Länge und Kraft jeweils konstant,
wird eine statische Ähnlichkeit erzielt. Bei konstantem Verhältnis von Kräften bei zeitgleicher geometrischer und zeitlicher Ähnlichkeit wird von einer dynamischen Ähnlichkeit
gesprochen. Je nachdem, welche Kräfte betrachtet werden, werden verschiedene Kennzahlen, wie beispielsweise nach Hooke, Reynolds oder Froude, genutzt. Daneben ist beispielsweise die thermische Ähnlichkeit wichtig, weil thermische Vorgänge oft begleitend
auftreten und ihre Ähnlichkeit mit der dynamischen Ähnlichkeit bei geometrisch ähnlichen
Baureihen mit gleich hoher Werkstoffausnutzung nicht in Einklang zu bringen ist.
Zur Festlegung der Stufung von Ähnlichkeitsgrößen (beispielsweise Leistung bei
einem Getriebe) orientiert sich die Entwicklung von Baureihen häufig an Normzahlreihen. Ausgehend von einem Grundentwurf beispielsweise für ein Getriebe werden
unterschiedliche Wertebereiche der Leistung festgelegt, indem die Getriebeparameter
anhand von Ähnlichkeitskennzahlen für die neue Leistungsklasse bestimmt werden. Der
Stufensprung kann dabei beispielsweise durch dezimalgeometrischen Reihen festgelegt
werden (beispielsweise nach DIN 323). Die absolute Sprungweite solcher Abstufungen
ist bei niedrigen Wertebereichen in der Regel klein und wächst mit dem Fortschreiten
der Größenabstufung. Die Orientierung an solchen Normzahlreihen erleichtert die Festlegung der Größenstufen und verhindert, dass Größenstufen willkürlich gewählt und
nicht nachgefragte Varianten erzeugt werden.
12
Produktarchitektur
359
Neben Normzahlreihen werden zunehmend Optimierungsverfahren wie beispielsweise Clusteranalysen und genetische Algorithmen genutzt (Kipp und Krause 2009).
Diese legen die Größenstufung unter Auswertung akzeptabler Überdimensionierungen,
bestehender Verkaufszahlen oder Marktstudien so fest, dass die Kundenanforderungen
mit möglichst wenigen zweckmäßigen Stufensprüngen realisiert werden. Gerade bei der
Berücksichtigung von mehr als zwei Parametern bei einer Baureihenentwicklung ist eine
Lösungssuche ohne derartige Algorithmen kaum sinnvoll manuell lösbar.
12.5Ausgewählte Methoden für die Gestaltung der
Produktarchitektur
Es existiert eine Vielzahl an Methoden zur Unterstützung der Gestaltung der Produktarchitektur. Nicht immer wird der Bezug zur Produktarchitektur in der Beschreibung
der Methoden explizit herausgestellt, was auch auf unterschiedliche Definitionen des
Begriffs Produktarchitektur zurückzuführen ist. In diesem Abschnitt werden ausgewählte Methoden für die Gestaltung der Produktarchitektur vorgestellt. Die Auswahl
der Methoden zeigt die Vielfalt möglicher Zielstellungen auf, siehe Abschn. 12.3, und
gibt jeweils Hinweise für das operative Vorgehen zur Realisierung der vorgestellten Bauweisen und Strategien zur Gestaltung der Produktarchitektur. Tab. 12.2 gibt einen Überblick über die in diesem Abschnitt beschriebenen Methoden.
Für spezielle Entwicklungsprojekte stellt sich oftmals die Frage der Eignung
einzelner Methoden sowie nach dem Anwendungszeitpunkt im Produktentwicklungsprozess (Bonvoisin et al. 2016; Otto et al. 2016). Hilfestellungen können dafür die
adressierten Zielstellungen der Methoden geben, wie beispielsweise Reduzierung
der Bauteileanzahl, Erhöhung der Änderbarkeit der Produkte oder Beherrschung
von Variantenvielfalt. Weitere Kriterien für die Auswahl einer Methode sind die
erforderlichenInformationen über das Produkt, wie beispielsweise Funktionsstrukturen, prinzipielle Lösungen oder Gesamtentwürfe. Beispielsweise kann eine
Methode zur Modularisierung eines Produkts auf Basis der Funktionsstruktur, vgl.
Abschn. 12.5.4, bereits in frühen Phasen einer Neuentwicklung eingsetzt werden. Eine
Methode zur Modularisierung auf Basis der Beschreibung der technischen Lösung
in Komponenten, vgl. Abschn. 12.5.7, erfordert eine ausgearbeitete Produktstruktur
und kann damit erst in späteren Entwicklungsphasen oder bei der nächsten Produktgenerationsentwicklung angewendet werden. Diese Beispiele verdeutlichen, dass eine
eindeutige Einordnung der Aktivitäten zur Gestaltung der Produktarchitektur in den
Entwicklungsprozess nicht möglich ist. Die Gestaltung der Produktarchitektur kann
vielmehr durch unterschiedliche Methoden unterstützt werden, die in unterschiedlichen Entwicklungsphasen eingesetzt werden. Für eine zweckmäßige Auswahl von
Methoden können die nachfolgenden Beschreibungen erste Hilfestellungen bieten.Eine
detailliertere Auseinandersetzung mit der angeführten Literatur ist für die praktische
Anwendung der Methoden jedoch unerlässlich.
360
D. Krause et al.
Tab. 12.2  Übersicht ausgewählter Methoden für die Gestaltung der Produktarchitektur
Methodenname
Quelle
Kurzbeschreibung der Methode
Systematisches Vorgehen
(Roth 2000)
bei der Funktionsintegration
Identifizierung von Potenzialen zur
Funktionsintegration innerhalb von Baugruppen durch Zusammenfassung von
Wirkkörpern und Wirkflächen
Strategie der einteiligen
Maschine
(Ehrlenspiel 1985)
Identifizierung von Potenzialen zur
Reduktion der Bauteilanzahl zur Einsparung von Herstellkosten durch
Zusammenfassung von Bauteilen
Change Model & Effect
Analysis
(Palani Rajan et al.
2003)
Beurteilung der Änderungsaufwände
einzelner Module und Komponenten
unter Berücksichtigung der Änderungsursachen und -auswirkungen
Theory of Modular Design
(Stone 1997)
Modularisierung des Produkts durch
Heuristiken auf Basis der Funktionsstruktur
Integration Analysis
Methodology
(Steward 1981; Pimmler Modularisierung des Produkts zur
und Eppinger 1994)
Reduzierung der Produktkomplexität
auf Basis funktionaler und physischer
Beziehungen zwischen Komponenten
Vorgehen beim Entwickeln
von Baukästen
(Pahl und Beitz 1997)
Entwicklung einer Baukastensystematik
für Produktfamilien auf Basis von
Varianzen von Teilfunktionen
Modular Function
Deployment
(Erixon 1998)
Modularisierung des Produkts durch
Analyse der Auswirkungen strategischer
Modultreiber auf Komponenten des
Produkts
Product Family Master Plan (Mortensen 1999;
Harlou 2006)
Modellierung und Handhabung der
Variantenvielfalt innerhalb von Produktfamilien
Integrierter PKT-Ansatz
zur Entwicklung modularer
Produktfamilien
Entwicklung modularer Produktfamilien
unter Berücksichtigung technischfunktionaler und produktstrategischer
Aspekte zur Reduzierung der internen
Varianz
(Krause und Gebhardt
2018)
12.5.1Systematisches Vorgehen bei der Funktionsintegration
Das systematische Vorgehen zur Funktionsintegration nach Roth (Roth 2000)
zielt darauf ab, die unterschiedlichen Eigenschaften von Bauteilen zur Erfüllung
zusätzlicher Funktionen zu überprüfen. Ziel ist es, die Gesamtzahl von Bauteilen innerhalb einer Baugruppe bei gleichbleibendem Funktionsumfang zu
12
Produktarchitektur
361
reduzieren (Integralbauweise), oder zusätzliche Funktionen zu erfüllen (Multifunktionalbauweise). Vorteile können sich hierbei durch eine höhere wirtschaftliche Wertigkeit der Lösungen ergeben, da der Umfang realisierbarer Funktionen
einzelner Bauteile erhöht wird. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass
gleichzeitig die technische Wirtschaftlichkeit verschlechtert wird, da durch eine
Funktionsintegration einzelne Bauteileigenschaften verschlechtert werden und
einzelne Funktionen weniger gut erfüllt werden. Beispielsweise kann durch eine
Variation des Bauteilwerkstoffes zusätzliches Gewicht entstehen oder die Steifigkeit verringert werden. Bei einer Funktionsintegration muss somit in der Regel
ein Kompromiss zwischen technischer und wirtschaftlicher Wertigkeit gefunden
werden, vgl. Abschn. 12.2.1.
Für die Untersuchung der Funktionsintegration schlägt Roth die Ableitung eines
geometrischen Strukturbildes für eine bestehende Produktstruktur vor. Hierin werden
funktionsrelevante Wirkkörper und Wirkflächen definiert und damit die Erfüllung
bestehender Funktionen auf einzelne Körper, Flächen und Flächenpaare zurückgeführt,
vgl. Kap. 10. Eine Funktionsintegration kann ausgehend von dieser Abstraktion grundsätzlich durch die Vereinigung von Wirkkörpern oder durch die Vereinigung von Wirkflächen erfolgen.
Zur systematischen Analyse der Funktionsintegration werden sieben Arten der
Funktionsintegration definiert, siehe Abb. 12.14. Die Arten 1 bis 5 stellen Möglichkeiten
zur Wirkkörperintegration dar, die Arten 6 und 7 dienen der Wirkflächenintegration.
Für die Identifizierung geeigneter Prinzipien ist es zweckmäßig, je nach vorgesehener
Fertigungsart die verschiedenen Arten der Funktionsintegration mit unterschiedlicher
Gewichtung auf ihre Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Für spritzgegossene Kunststoffteile sind so insbesondere die Funktionsintegrationsarten 1 bis 5 relevant, wobei insbesondere die vierte Art durch die Nutzung beispielsweise von Film- und Federgelenken
in Betracht gezogen werden sollte.
12.5.2Strategie der einteiligen Maschine
Die Strategie der einteiligen Maschine nach Ehrlenspiel (Ehrlenspiel 1985; Ehrlenspiel
et al. 2014) hat zum Ziel, die Anzahl von Bauteilen eines Produkts oder einer Baugruppe
zu reduzieren, um vorrangig Herstellkosten einzusparen. Grundannahme der Methode
ist, dass bei Bauteilen, die in hoher Stückzahl gefertigt werden, eine Integralbauweise
anzustreben ist, vgl. Abschn. 12.2.1. Die Methode ist insbesondere für die Entwicklung
von Baugruppen als Guss- oder Blechbiegekonstruktionen anwendbar lässt sich jedoch
auch auf andere Fertigungsweisen, wie Schweißbaugruppen, übertragen. Es wird davon
ausgegangen, dass bei der Gestaltfindung oftmals unbewusst an bekannten Lösungen
festgehalten wird. Aus diesen gewohnten Denkmustern werden die Entwickler gelöst,
indem die Baugruppe oder das Produkt gedanklich und zeichnerisch als ein monolithisches Gussteil angenommen wird. Dabei werden bisherige Bauteiltrennungen
362
D. Krause et al.
Abb. 12.14 Arten zur Funktionsintegration auf der Basis geometrischer Strukturbilder., Abbildung in
Anlehnung an (Roth 2000)
12
Produktarchitektur
363
zunächst bewusst missachtet, um vermeidlich erforderliche Trennungen, beispielsweise
bei bewegten Teilen, aufzuheben. Diese sich aus dieser Integration ergebende einteilige
Maschine wird anschließend schrittweise in einzelne Bauteile zerlegt. Hierzu werden
erforderliche Trennungen für die Funktionserfüllung oder Sicherstellung der Montierbarkeit eingefügt. Bei der schrittweisen Auftrennung sind insbesondere folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen (Ehrlenspiel et al. 2014):
•
•
•
•
•
•
Wo sind unterschiedliche Werkstoffe nötig?
Wo liegt eine Relativbewegung vor?
Wie muss montiert/demontiert werden?
Wo müssen Ersatzteile ausgetauscht werden?
Wo sind Teilungen aufgrund von Transport nötig?
Wo ist die Zugänglichkeit beim späteren Gebrauch notwendig?
In Abb. 12.15 ist das Vorgehen am Beispiel eines Kalibriergerüstes für die Herstellung von
Rollprofile dargestellt. Im ersten Schritt werden die Baugruppen Gestell und Tischträger der
prototypischen Lösung zu einer einteiligen Maschine als monolithisches Bauteil zusammengeführt. Mithilfe der Sammlung von Trennkriterien (Ziebart 2012) wird diese einteilige
Maschine schrittweise wieder aufgetrennt. Wichtige Trennkriterien sind in diesem Fall
beispielswiese Kostenreduktion, halbzeugnahe Gestaltung, Verwendung von Zukaufteilen,
Ermöglichung der Zugänglichkeit und die Kapselung von Verschleißteilen. Ergebnis der
Anwendung der Methode ist im skizzierten Beispiel eine deutliche Reduktion der Bauteile
von ursprünglich 150 auf 105.
Je nach Baugruppe oder Produkt können bei der Anwendung der Methode unterschiedliche Trennkriterien ausschlaggebend sein. Ziebart (Ziebart 2012) stellt eine
erweiterte Übersicht von Trennkriterien bereit, die unterschiedliche Lebensphasen des
Produkts, wie Entwicklung, Fertigung, Montage, Gebrauch, Transport und Demontage/
Recycling, berücksichtigen.
Abb. 12.15 Anwendung der Strategie der einteiligen Maschine am Beispiel des Seitenteils eines
Kalibiergerüstes, basierend auf (Ziebart 2012)
364
D. Krause et al.
12.5.3Change Mode & Effects Analysis (CMEA)
Die von Palani Rajan et al. (Palani Rajan et al.2003) vorgeschlagene Change Mode &
Effects Analysis (CMEA) dient in Anlehnung an die etablierte Fehlermöglichkeits- und
Einflussanalyse (FMEA) (Tietjen und Decker 2020) zur Ermittlung und Beurteilung
potenzieller zukünftiger Änderungen eines Produkts. Ziel ist es, die Produktarchitektur
flexibler zu gestalten, um mit geringem Aufwand auf veränderte Kundenanforderungen
reagieren zu können oder Produktaufwertungen zu realisieren. Die Beurteilung der hierfür
erforderlichen Flexibilität erfolgt mithilfe der Change Potential Number (CPN). Diese gibt
an, wie einfach eine Änderung des Produkts bezogen auf eine Funktion, eine Komponente
oder ein Modul umgesetzt werden kann. Analog zur Durchführung der FMEA gliedert
sich das Vorgehen der CMEA in zwei Hauptschritte:
Dekomposition des Produkts
Hierzu wird das Produkt in geeignete Einheiten zerlegt, um diese hinsichtlich möglicher Änderungen zu beurteilen. Je nach Entwicklungskontext kann die Zerlegung
des Produkts in Teilfunktionen, Komponenten oder Module zweckmäßig sein. Eine
funktionale Dekomposition bietet sich beispielsweise während der Konzeptentwicklung
an.
Erstellung des CMEA-Formblattes
Im zweiten Schritt erfolgt die Beurteilung der Change Potential Number (CPN). Um
die CPN zu ermitteln, werden die inhärente Flexibilität der Produktarchitektur für eine
gegebene Änderung, die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der Änderung und die
Bereitschaft des Unternehmens, auf diese Veränderung zu reagieren, als Faktoren herangezogen.
Die Durchführung der CMEA umfasst nach Palani Rajan et al. insgesamt sieben
Schritte: (1) Ermittlung möglicher Ursachen für Änderungen, (2) Identifikation möglicher Änderungen, (3) Beurteilung möglicher Auswirkungen von Änderungen, (4)
Beurteilung der Flexibilität der (bestehenden) Produktarchitektur, (5) Beurteilung der
Auftretenswahrscheinlichkeit möglicher Änderungen, (6) Beurteilung der Bereitschaft
des Unternehmens zur Umsetzung der Änderungen und (7) Ermittlung der Change
Potential Number (CPN). Die strukturierte Durchführung wird durch ein Formblatt
unterstützt, siehe Tab. 12.3. Hierin sind die Flexibilität, das Auftreten und die Bereitschaft als Bewertungskriterien für die Change Potential Number (CNP) hervorgehoben.
Die übrigen Spalten dienen zur Definition der betrachteten Funktionen, Komponenten
oder Module, zur Beschreibung der potentiellen Änderungen, ihrer Auswirkungen und
der Ursachen für Änderungen. Das Formblatt zeigt zwei exemplarische potentielle
Änderungen am Beispiel einer Stichsäge auf. Anhand der im CMEA-Formblatt
angegebenen Kriterien und Beschreibungen werden dabei folgende drei Kriterien für die
Berechnung der CPN herangezogen:
Änderung erfordern
Modifikationen am
Gehäuse der Stichsäge
Änderung des Druckbereichs der Grundplatte
Änderung von Geometrie und Material
der Stützrolle
Grundbau-gruppe
Sägeblatt- Stützrolle
Kein Einfluss auf
weitere Komponenten
Mögliche Auswirkungen der
Änderung
Funktion, Komponente Mögliche Änderung
oder Modul
7
4
Flexibilität
Sägeblatt wird
während des Betriebs
nicht ausreichend
geführt: Verbesserung
der Sägeblattführung
Säge springt insbesondere bei
Schnitten in Sperrholz: Verbesserung
der Standfestigkeit der
Säge; Verbesserung
der Ergonomie der
Stichsäge
10
10
5
Bereitschaft
10
Mögliche Ursachen für Auftreten
Änderung
0,74
0,44
CPN
Tab. 12.3  Formblatt für die Change Mode & Effects Analysis in der Produktentwicklung und exemplarische Beschreibung einer Änderung für eine
Stichsäge in Anlehnung an (Palani Rajan et al. 2003)
12
Produktarchitektur
365
366
D. Krause et al.
1. Flexibilität der Produktarchitektur
Auf Grundlage der möglichen Auswirkungen der Änderung (abgeleitet aus
bestehender Funktions- oder Produktstruktur) wird der Umfang, mit dem diese
Änderung das gesamte Produkt betrifft, beurteilt und auf einer Skala von 1 bis
10 bewertet. Hierbei bedeutet 1 minimal flexibel und 10 völlig flexibel. Eine hohe
Flexibilität sagt dabei aus, dass die Kosten, z. B. für das Redesign, für zukünftige
Änderungen gering sind.
2. Auftreten der Änderung
Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Veränderung wird ebenfalls auf einer
Skala 1 bis 10 beurteilt, wobei 1 keinem oder einem relativ seltenen Auftreten entspricht und 10 mit einem unvermeidbaren Auftreten gleichzusetzen ist. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens kann basierend auf der Häufigkeit des Auftretens der
Änderung beurteilt werden.
3. Bereitschaft zur Umsetzung der Änderungen
Hierbei wird die Bereitschaft eines Unternehmens zur Umsetzung einer bestimmten
Änderung auf einer Skala zwischen 1 und 10 beurteilt. Eine Punktzahl von 10
bedeutet, dass die Änderung umgesetzt wird, während 1 bedeutet, dass die Änderung
nicht umgesetzt werden soll. Dies impliziert, dass ein Produkt mit hoher Beurteilung
geringe Änderungsaufwände mit geringen Kosten für das Redesign verursachen wird.
Für die einzelnen Beurteilungen werden jeweils detaillierte Skalen (Flexibilität: 1 (neues
Produkt aufgrund sehr geringer Flexibilität) bis 10 (kein Effekt aufgrund ausreichender
Flexibilität); Auftreten: 1 (unwahrscheinliches Auftreten) bis 10 (sehr hohe Auftretenswahrscheinlichkeit); Bereitschaft: 1 (vollständig unvorbereitet) bis 10 (vollständig vorbereitet) und Abstufungen vorgeschlagen (Palani Rajan et al. 2003). Ausgehend von den
Beurteilungen der Flexibilität (Fi), des Auftretens (Oi) und der Bereitschaft (Ri) wird die
Change Potential Number (CPN) nach folgendem Zusammenhang ermittelt:
CPN =
1 [(Ri + Fi) − Oi + 8]
N
27
Demnach kann die CPN im Gegensatz zur Risikoprioritätszahl der FMEA einen Wert
zwischen 0 und 1 annehmen. Wobei 0 bedeutet, dass das Produkt vollständig unflexibel
für jegliche Änderung ist und 1 bedeutet, dass das Produkt vollständig flexibel auf
zukünftige Veränderungen angepasst werden kann. Ein völlig flexibles Produkt ist damit
als ein Produkt anzusehen, bei dem die Kosten für Neugestaltung oder Anpassungen der
Produktarchitektur sehr gering sind.
In Tab. 12.3 sind zwei exemplarische Zeilen des CMEA Formblattes für zwei
Komponenten (Grundbaugruppe und Sägeblatt-Stützrolle) einer Stichsäge aufgeführt.
Ausgehend von der ermittelten CPN können konkrete Maßnahmen zur Anpassung der
Produktarchitektur, beispielsweise durch Änderung der Schnittstellen zwischen Modulen
oder Veränderung der Zuordnung von Komponenten zu Modulen, abgeleitet werden.
Gleichzeitig kann die CPN genutzt werden, um einzelne Maßnahmen zur Anpassung der
12
Produktarchitektur
367
Produktarchitektur zu priorisieren. Ausgehend von den Einzelbewertungen von Flexibilität, Auftreten und Bereitschaft kann zudem die Art der Maßnahme (beispielsweise
Änderung der Produktarchitektur oder Anpassung der Organisation) spezifiziert werden.
12.5.4Theory of Modular Design
Die von Stone (Stone 1997) entwickelte Theory of Modular Design verfolgt das Ziel,
zu frühen Zeitpunkten im Entwicklungsprozess unter Berücksichtigung technischfunktionaler Aspekte eine modulare Produktstruktur festzulegen. Durch die Methode
wird ein funktionsorientiertes Vorgehen beschrieben, für das eine funktionale
Beschreibung des Produkts die Grundlage bildet. Somit kann es angewendet werden,
bevor eine Produktstruktur zur Realisierung der Funktionen erarbeitet wurde. Grundlage für die Anwendung der Methode ist die Unterscheidung von den drei Heuristiken
Dominanter Fluss (Dominant Flow), Verzweigender Fluss (Branching Flow) und
Wandlung und Übertragung (Conversion Transmission). Diese werden sequentiell
auf das zu entwickelnde Produkt angewendet. Im ersten Schritt werden Kundenanforderungen ermittelt und auf einer Skala von 1 bis 5 gewichtet. Aufbauend darauf
wird eine umsatzorientierte Funktionsstruktur erstellt, indem die Gesamtfunktion in
Teilfunktionen zerlegt wird. Hierbei stellen Stone und Wood eine Übersicht (functional
basis) bereit, die die Festlegung eines geeigneten Detaillierungsgrads für die Definition
der Teilfunktionen unterstützt (Stone und Wood 2000). Eine geeignete Detaillierung
ist gefunden, wenn die Gesamtfunktion durch die im Katalog definierten Funktionen
beschrieben werden kann. Eine Priorisierung der einzelnen Umsätze der Struktur wird
entsprechend derer Bedeutung zur Erfüllung der Kundenanforderungen gebildet. Im
nächsten Schritt werden die genannten Heuristiken angewendet.
Die erste anzuwendende Heuristik ist der Dominate Fluss. Dazu werden diejenigen
Funktionen zu einem Modul zusammengefasst, die von dem am höchsten priorisierten
Fluss (dominanter Fluss) durchflossen werden. Abb. 12.16 stellt die Schritte ausgehend
von den gewichteten Kundenanforderungen bis zur Modulbildung anhand der Heuristik
des Dominanten Flusses dar.
Darauf aufbauend wird die Heuristik Verzweigender Fluss angewendet. Hierbei werden sämtliche Funktionen in ein Modul zusammengefasst, die ausgehend von
einer Verzweigung parallele Funktionsketten darstellen, siehe Abb. 12.17 (links). Nach
Anwendung der dritten Heuristik Umwandlung und Übertragung bilden jene Funktionen
ein Modul, die einen Fluss umwandeln, wie beispielsweise die Wandlung elektrischer in
mechanische Energie, siehe Abb. 12.17 (rechts).
Die nach der Anwendung der drei Heuristiken ermittelten Module weisen in der
Regel Überschneidungen auf, sodass die zu realisierenden Alternativen für Module
ausgewählt werden müssen. Es erfolgt eine quantitative Modulbewertung, in der die
ermittelten Module in Bezug auf die Erfüllung der Kundenanforderungen bewertet
werden und Widersprüche in der Modulbildung gelöst werden. Module mit hoher
Wertung werden für die weitere Konkretisierung des Produktkonzepts übernommen.
368
D. Krause et al.
Abb. 12.16 Modulbildung durch die Heuristik Dominanter Fluss. Abbildung in Anlehnung an (Stone
1997)
Abb. 12.17 Modulbildung durch die Heuristiken Verzweigender Fluss (links) und Umwandlung und
Übertragung (rechts). Abbildung in Anlehnung an (Stone 1997)
12.5.5Integration Analysis Methodology auf Grundlage der Design
Structure Matrix
Eine Modularisierung ausgehend von technisch-funktionalen Aspekten wird durch die
Integration Analysis Methodology nach Pimmler und Eppinger (Pimmler und Eppinger
1994) unterstützt. Hierbei werden die Abhängigkeiten zwischen den Komponenten
eines existierenden Produkts oder die Funktionen eines zu entwickelnden Produkts
mithilfe einer Design Structure Matrix (DSM) nach (Steward 1981) analysiert und
strukturiert. Zuerst wird dabei das System in funktionale oder physische Elemente zerlegt. Anschließend werden die Abhängigkeiten zwischen diesen Elementen in der DSM
dokumentiert.
Bei der Analyse der Abhängigkeiten wird zwischen räumlichen Abhängigkeiten,
Energieaustausch, Materialaustausch und Informationsaustausch unterschieden. Eine
räumliche Abhängigkeit bedeutet, dass es nötig ist, dass zwei Elemente aneinandergrenzen oder eine spezielle Orientierung zueinander haben. Die Abhängigkeit Energietransfer beschreibt die Notwendigkeit eines Energieaustauschs zwischen den Elementen.
Die Notwendigkeit eines Signal- oder Informationsaustausches zwischen zwei
Elementen wird durch die Informationsabhängigkeit beschrieben.
12
Produktarchitektur
369
Die Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Elementen (Funktionen oder
Komponenten) werden innerhalb der DSM paarweise beurteilt und dokumentiert, siehe
Abb. 12.18. Hierin werden die Komponente oder Funktionen gegenübergestellt und die
Wechselwirkungen auf einer Skala von −2 (schädliche Abhängigkeit) bis +2 (unbedingt
erforderliche Abhängigkeit) beurteilt. Die dadurch entstandene Matrix besitzt somit vier
Einträge pro Zelle und ist symmetrisch.
Ausgehend hiervon erfolgt eine Gruppierung der Elemente zu Modulen, die untereinander möglichst wenige Abhängigkeiten aufweisen und deren Elemente intern starke
Abhängigkeiten besitzen. Dazu werden die Zellen in der Matrix so sortiert, dass die
Kopplungen der Elemente in der Nähe der Diagonalen der Matrix angeordnet sind. Häufig
sind dabei einige Wechselwirkungen wichtiger als andere. Oftmals ist die räumliche
Abhängigkeit ein entscheidendes Kriterium und wird deswegen oft als primäre Kopplung
verwendet. Die Bedeutung der einzelnen Kopplungen ist aber immer abhängig vom realen
Anwendungsfall. Auf dieser Grundlage können die Elemente, welche Kopplungen aufweisen, zu Modulen gruppiert werden. In Abb. 12.19 wird beispielhaft die räumliche
Kopplung verwendet, welche in der vereinfachten DSM dargestellt ist. Durch das Vertauschen von dritter und vierter Zeile können die Eintragungen näher an die Diagonale
gebracht werden und die Gruppierung unterstützt werden. Im Letzten Schritt erfolgt ein
Abgleich der übrigen Abhängigkeiten, um eventuelle schädliche Abhängigkeiten in einem
Modul zu erkennen und gegebenenfalls Änderungen der Module vorzunehmen. Die
modulare Produktstruktur besteht anschließend aus Modulen, die sich aus den gruppierten
Komponenten innerhalb der Matrix zusammensetzen. Diese Gruppierungen sind als Vorschläge für die weitere Ausarbeitung von Modulen zu verstehen.
Abb. 12.18 Beispiel einer Design Structure Matrix (DSM). Abbildung in Anlehnung an (Pimmler und
Eppinger 1994; Krause und Gebhardt 2018)
370
D. Krause et al.
Abb. 12.19 Vorgehen der Integration Analysis Methodology (IAM). Abbildung in Anlehnung an
(Lanner und Malmqvist 1996 und Pimmler und Eppinger 1994)
Ein Beispiel für die Modulbildung der DSM für ein Herbizid-Sprühgerät ist in
Abb. 12.20 dargestellt. Aufbauend auf den räumlichen Kopplungen sind sechs Module
entwickelt worden, in denen die Komponenten starke räumliche Beziehungen zueinander
aufweisen. Das Radmodul enthält die Komponenten Welle, Achse, Rad, Ständer, Pumpe
und Radrahmen, da diese miteinander gekoppelt und mit den restlichen Komponenten
größtenteils entkoppelt sind.
12.5.6Vorgehen beim Entwickeln von Baukästen
Die Entwicklung von Baukästen wird von Pahl & Beitz (Pahl und Beitz 1997) als
eine Rationalisierungsmöglichkeit beschrieben, mit der Produktvarianten mit unterschiedlichen Funktionen effizient entwickelt und hergestellt werden können. Um
dies zu erreichen, werden Komponenten als Bausteine definiert, durch deren gezielte
Kombination Varianten gebildet werden können. Der Vorteil eines Baukastens liegt somit
in der großen Anzahl generierbarer Varianten, die auf einer begrenzten Anzahl von Bausteinen basiert. Bezogen auf die in Abschn. 12.4.2 eingeführten Strategien kann diese
Methode dazu beitragen, sowohl Gleichmodule, Modulbaukästen oder Plattformen zu
realisieren.
Zentrales Element der Methode ist die Definition einer Baukastensystematik,
siehe Abb. 12.21. Demnach orientiert sich die Klassifizierung von Bausteinen,
siehe Abschn. 12.1 an der Klassifizierung von Teilfunktionen des Produkts, siehe
Abschn. 12.1. Dafür wird die Gesamtfunktion des Produkts zerlegt und in die Klassen
Grundfunktionen, Hilfsfunktionen, Sonderfunktionen, Anpassfunktionen und auftragsspezifische Funktionen eingeteilt. Die Grundfunktionen werden dabei in mehreren
Produktvarianten verwendet. Hilfsfunktionen dienen dazu, Grundfunktionen zu verbinden. Sonder- und Anpassfunktionen können je nach Produktvariante optional oder
in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen. Auftragsspezifische Funktionen sind
nicht vorhersehbar und werden in Einzelfällen ergänzt. Basierend auf der Einteilung der
Funktionen werden entsprechende Bausteinarten definiert, wobei auch hier zwischen
Grund-, Hilfs-, Sonder- und Anpassbausteinen des Baukastensystems unterschieden
wird. Nicht-Bausteine (für auftragsspezifische Funktionen) stellen Ergänzungen dar, die
12
Produktarchitektur
371
Abb. 12.20 Ausschnitt der Modulbildung für ein Herbizid-Sprühgerät basierend auf den räumlichen
Kopplungen in einer DSM
zu einem Mischsystem führen, siehe Abb. 12.21. Bei einer Erweiterung zu einem Mischsystem ist die Möglichkeit gegeben, nicht vorhersehbare auftragsspezifische Funktionen
als Nicht-Baustein mit dem Baukastenprodukt zu kombinieren.
Das Vorgehen der Methode zur Entwicklung von Baukästen orientiert sich an dem
allgemeinen Vorgehen zum Planen und Konstruieren von Produkten, siehe Kap. 4. Hierbei wird von Neukonstruktionen oder bereits bestehenden Produkten ausgegangen, die
bisher nicht durch einen Baukasten systematisiert sind. Ein zentraler Schritt des Vorgehens ist die Festlegung der zu realisierenden Gesamtfunktionsvarianten (Analyse und
Strukturierung der Funktionsstrukturen). Dabei werden einzelne Varianten entsprechend
ihrer marktseitig erwarteten Häufigkeit klassifiziert, um eine wirtschaftliche Optimierung
des Baukastensystems zu ermöglichen. Basierend darauf werden Funktionsstrukturen
372
D. Krause et al.
Abb. 12.21 Unterscheidung von Funktions- und Bausteinarten bei Baukasten und Mischsystemen.
(Pahl und Beitz 1997)
aufgestellt und die darin gegliederten Teilfunktionen entsprechend der oben dargestellten Baukastensystematik klassifiziert. Dabei wird angestrebt, die geforderten
Gesamtfunktionsvarianten durch die Kombination möglichst weniger und einfach zu
realisierender Grundfunktionen zu ermöglichen und diese durch Hilfs-, Sonder- und
Anpassfunktionen zu erweitern. Für sehr selten geforderte Funktionsvarianten sollen auftragsspezifische Funktionen definiert werden. In den darauffolgenden Schritten wird die
Lösung weiter detailliert und ausgearbeitet.
12.5.7Modular Function Deployment
Das auf dem Quality Function Deployment (QFD) nach Akao (2004) aufbauende
Modular Function Deployment (MFD) nach Erixon (1998) zielt darauf ab, Produkte
auf Grundlage produktstrategischer Gesichtspunkte zu modularisieren. Hierdurch sollen
Module identifiziert und definiert werden, die aus unternehmensspezifischen Gründen
in unterschiedlichen Lebensphasen zu Vorteilen führen können, wie beispielsweise der
12
Produktarchitektur
373
Ermöglichung eines schnellen Austauschs von defekten Modulen. Das Vorgehen der
Methode gliedert sich in folgende fünf Phasen: Klärung der Kundenanforderungen, Auswahl technischer Lösungen, Konzeptentwicklung, Konzeptbewertung und Verbesserung
der Module.
Im ersten Schritt, der Klärung der Kundenanforderungen, werden analog zum QFD
Kundenanforderungen in technische Merkmale übersetzt. Ausgehend davon wird
bewertet, inwieweit Modularität zur Erfüllung der Kundenanforderungen beiträgt.
Im zweiten Schritt wird das Produkt in Funktionen und Teilfunktionen zerlegt, denen
jeweils technische Lösungen zugeordnet werden. Die eigentliche Modularisierung
wird im dritten Schritt auf Grundlage sogenannter Modultreiber durchgeführt. Hierbei
handelt es sich um produktstrategische Aspekte, die mögliche Gründe für die Bildung
von Modulen definieren. Die Relevanz der Modultreiber ist dabei in Abhängigkeit des
jeweiligen Produkts und des Unternehmens festzulegen. Eine Auflistung der von Erixon
definierten Modultreiber ist in Tab. 12.4 mit ihrer Zuordnung zu Produktlebensphasen zu
entnehmen.
Die Modultreiber und die technischen Lösungen werden in einer sogenannten
Modular Indication Matrix (MIM) gegenübergestellt, siehe Abb. 12.22. Hierin wird
die Bedeutung der Modultreiber für die einzelnen Komponenten auf einer progressiven
Skala von 1, 3 bis 9 beurteilt, wobei 1 für einen schwachen Treiber und 9 für einen
starken Treiber steht. Potentielle Kandidaten zur Bildung von Modulen ergeben sich
bei hohen Modultreibersummen durch die Addition der Bewertungen je Komponente.
Komponenten mit einer hohen Modultreibersumme sollten als eigenständige Module
realisiert werden, während Komponenten mit niedriger Modultreibersumme und ähnlichem Bewertungsprofil zu einem Modul zusammengefasst werden sollen.
Die Bewertung der entwickelten Modulkonzepte erfolgt im vierten Schritt. Hierbei
sind insbesondere die Schnittstellen zwischen den Modulen zu analysieren und mithilfe von Kennzahlen und Regeln zu bewerten. Beispielsweise kann die Schnittstellenkomplexität als Kennzahl für die Entwicklungsdauer und der Anteil von Zukaufmodulen
für Kosten in der Montage herangezogen werden. Im letzten Schritt der Methode erfolgt
die Ausarbeitung der Module und Schnittstellen mithilfe gängiger Entwicklungsmethoden und Richtlinien.
12.5.8Product Family Master Plan
Der Product Family Master Plan (PFMP) nach Mortensen (1999) und Harlou (2006)
verfolgt das Ziel, die Variantenvielfalt innerhalb von Produktfamilien abzubilden, um
die Handhabbarkeit und Entwicklung beispielsweise von Plattformen, Modulbaukästen oder Baureihen zu unterstützen. Dabei soll einerseits die interne Variantenvielfalt reduziert werden, die keinen wesentlichen Beitrag zur marktseitig angebotenen
Variantenvielfalt leistet. Andererseits soll die Komplexität bei der Entwicklung varianter
Produkte abgebildet werden, um die Kommunikation zwischen Vertrieb, Entwicklung
374
D. Krause et al.
Tab. 12.4  Generische Modultreiber zur Bildung von Modulen nach dem Modular Function
Deployment. In Anlehnung an (Erixon 1998)
Produktlebensphase Modultreiber
Erläuterung
Produktentwicklung Übernahmeteil
und -gestaltung
Verwendung eines Moduls über mehrere
Produktgenerationen und/oder Produktfamilien hinweg (langfristiger Effekt)
Vertrieb/
Konfiguration
Produktion
Technologische Entwicklung/
Technology Push
Wahrscheinliche Technologieänderung
aufgrund neuer Entwicklungen oder
stark veränderter Kundenanforderungen
Geplante Gestaltungsänderungen/Produktplanung
Wahrscheinliche oder geplante
Produktpflegemaßnahmen im Laufe des
Produktlebens
Technische Spezifikation
Erzeugung von Produktvarianten durch
wenig entkoppelte Module
Styling
Sichtbare Styling-Module für spätere
Änderungen des Produktdesigns
Gemeinsame Einheit
Mehrfach- oder Wiederverwendung
von Modulen im Produktprogramm zur
Erhöhung von Stückzahlen (kurzfristiger
Effekt) (idealerweise in Kombination
mit Modultreiber Übernahmeteil)
Prozess- und/oder Organisations- Ähnliche oder gleiche Prozessschritte in
mehrfachnutzung
der Produktion; passende Definition von
Arbeitsumfängen für eine Organisationseinheit
Qualität
Separates Testen
Frühere und einfachere Funktionstests
von Modulen im Produktionsprozess vor
der Montage
Beschaffung
Zulieferer-Black-Box
Zukauf eines Modules, Reduktion
der Anzahl an Zulieferern und
Beschaffungsvorgänge
After Sales
Service/Wartung
Austausch defekter Module statt
Reparatur mit größerer Betriebsstörung
Aufrüstung
Module für die Änderung oder
Erweiterung der Funktionen des
Produkts in der Nutzungsphase
Recycling
Vereinfachtes Recycling durch
Zusammenfassen von gleichen oder
ähnlichen Materialien sowie schädlichen
Stoffen in einzelnen Modulen
12
Produktarchitektur
375
Abb. 12.22 Exemplarisch ausgefüllte Module Indication Matrix (MIM) des Modular Function
Deployments für einen Staubsauger. Abbildung in Anlehnung an (Erixon 1998)
und Produktion zu strukturieren und zu erleichtern. Zentraler Ansatz des PFMP ist es,
dass das Produktprogramm eines Unternehmens aus drei unterschiedlichen Sichtweisen
abgebildet wird. Hierzu wird zwischen folgenden Sichten unterschieden:
1. Die Kunden-Sicht (customer view) umfasst die Beschreibung aller Aspekte des
Produktprogramms, die für Kunden relevant sind. Beispiele dafür sind die durch die
Produkte adressierten Kundengruppen, verkaufsrelevante Unterscheidungsmerkmale
der Produkte und Verkaufszahlen der Produkte.
2. Die Engineering-Sicht (engineering view) umfasst die Beschreibung der Funktionen
der Produkte innerhalb der Produktfamilie als Funktionseinheiten.
3. Die Bauteil-Sicht (part view) umfasst die Beschreibung der Baustruktur und bildet
damit ab, wie die Produkte durch Zusammensetzung von Komponenten aus der
Perspektive der Produktion realisiert werden.
Abb. 12.23 zeigt exemplarisch, dass für jede der drei Sichtweisen separate Modelle
erzeugt werden, die jeweils eine hierarchische Gliederung der Elemente (part-of
structure) sowie eine Übersicht über die Varianten (kind-of structure) enthält. Ein
Element in der Kunden-Sicht kann so beispielsweise eine Kundenanforderung an das
Produkt sein, die in unterschiedlichen Ausprägungen gefordert wird. In der Engineering-
376
D. Krause et al.
Abb. 12.23 Drei Sichtweisen auf ein Produkt im Product Family Master Plan (PFMP). Abbildung in
Anlehnung an (Harlou 2006)
Sicht sind entsprechend Funktionen sowie deren Funktionsvarianten und in der BauteilSicht die Bauteile und deren Varianten abgebildet.
Die drei Sichtweisen sind kausal miteinander verknüpft, um eine Nachverfolgbarkeit
zu ermöglichen. So ist die Kunden-Sicht mit der Engineering-Sicht verknüpft, um darzustellen, wie Funktionseinheiten des Produkts zur Erfüllung von Kundenanforderungen
beitragen. Die Verknüpfung zwischen der Engineering-Sicht und der Bauteil-Sicht
erzeugt Transparenz darüber, wie Bauteile oder Baugruppen zur Realisierung von
Funktionen beitragen. Aufgrund dieser Verknüpfungen ergeben sich zwei Leserichtungen
für den PFMP. Zum einen kann aus Perspektive der Kunden überprüft werden, durch
welche Funktionseinheiten der Produkte Kundenanforderungen erfüllt werden und
welche Bauteile zur Realisierung dieser Funktionseinheiten beitragen. Damit wird die
Frage beantwortet, wie Kundenanforderungen realisiert werden. Zum anderen kann aus
Perspektive der Bauteile nachvollzogen werden, zur Erfüllung welcher Funktionen diese
beitragen und inwiefern sie einen Mehrwert für den Kunden bieten.
In Entwicklungsprojekten kann der PFMP unterschiedliche Unterstützungen bieten.
Beispielsweise können bestehende Produktprogramme dahingehend analysiert werden,
welche bestehenden Produktvarianten und Bauteile einen besonderen Kundennutzen
darstellen. Da Produktprogramme oftmals historisch gewachsen sind, kann diese Analyse dazu beitragen, fehlende Verknüpfungen der Bauteil- und Engineering-Sicht
mit der Kunden-Sicht zu identifizieren und eine stärkere Orientierung an die Kundenanforderungen sicherzustellen. Ein weiteres Anwendungsszenario ist es, ausgehend von
der Kunden-Sicht zu bewerten, welche Komplexität in der Entwicklung und Produktion
bei der Erfüllung neuer oder geänderter Kundenanforderungen resultiert. Hierbei hat
eine Vielzahl von Verknüpfungen von Kundenanforderungen mit Funktionseinheiten und
Bauteilen zur Folge, dass in der Entwicklung und Produktion in der Regel ebenfalls eine
Vielzahl von Prozessen neu geschaffen oder angepasst werden muss.
12
Produktarchitektur
377
12.5.9Integrierter PKT-Ansatz zur Entwicklung modularer
Produktfamilien
Ein Vorgehen, das sowohl technisch-funktionale als auch produktionsstrategische
Aspekte bei der Modularisierung berücksichtigt, ist der Integrierte PKT-Ansatz zur
Entwicklung modularer Produktfamilien nach Krause (Krause und Gebhardt 2018).
Dieser Ansatz stellt einen Methodenbaukasten dar, der sich bedarfsgerecht aus unterschiedlichen, ineinandergreifenden Methoden zusammenfügen lässt, die als Methodenbausteine bereitgestellt werden. Dabei wird auf die vorhandenen Methoden, wie die
Theory of Modular Design (siehe Abschn. 12.5.4), Design Structure Matrix (siehe
Abschn. 12.5.5) und Modular Function Deployment (siehe Abschn. 12.5.7) zurückgegriffen. Alle Bausteine sind auf das übergeordnete Ziel ausgerichtet, bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung der vom Kunden am Markt geforderten externen Varianz, die unternehmensinterne Varianz zu minimieren, siehe Abb. 12.24. Dies schließt neben der
Reduzierung der internen Varianz auf Produktebene (in Abb. 12.24 dargestellt als Vorderseite) ebenfalls die Reduzierung der prozessseitigen varianzinduzierten Komplexität (in
Abb. 12.24 dargestellt als Oberseite) mit ein (Krause und Gebhardt 2018).
Das methodische Vorgehen beim PKT-Ansatz berücksichtigt produktspezifische
Fachkenntnisse, die mittels unterschiedlicher Workshops aufgenommen werden. Hierbei unterstützen die nachfolgend dargestellten Werkzeuge innerhalb der einzelnen
Methodenbausteine zur Visualisierung die Lösungs- und Entscheidungsfindung.
Abb. 12.24 Zielsetzung des Integrierten PKT-Ansatzes zur Entwicklung modularer Produktfamilien.
Abbildung in Anlehnung an (Krause und Gebhardt 2018)
378
D. Krause et al.
Die zentralen Methodenbausteine des PKT-Ansatzes sind die variantengerechte
Produktgestaltung und die Lebensphasenmodularisierung (Kipp et al. 2010). Mit der
variantengerechten Produktgestaltung wird das Ziel verfolgt, Komponenten so zu
gestalten, dass möglichst wenige dieser abhängig von varianten Produkteigenschaften
sind. Das Zielbild stellt das Idealbild einer variantengerechten Produktstruktur dar. Die
sich anschließende Lebensphasenmodularisierung verfolgt das Ziel, eine konsistente
modulare Produktstruktur zu entwickeln, welche die Anforderungen aller Produktlebensphasen berücksichtigt (Kipp et al. 2010). Das methodische Vorgehen ist in Abb. 12.25
dargestellt.
Aufbauend auf der Definition der Ziele (Schritt 1) werden in der variantengerechten
Produktgestaltung zuerst die externe Vielfalt (Schritt 2) und daraufhin die interne Vielfalt
(Schritt 3) erfasst. Darauf basierend werden Konzepte für die variantengerechte Produktgestaltung entwickelt (Schritt 4) und ein Konzept ausgewählt (Schritt 5). In der darauf
folgenden Lebensphasenmodularisierung werden separate Modularisierungen für die
Produktlebensphasen entwickelt (Schritt 6) und abgestimmt (Schritt 7). Abschließend
wird das finale Konzept vorgestellt und diskutiert (Schritt 8).
Nachfolgend wird dieses Vorgehen beispielhaft anhand einer Produktfamilie von
Herbizidsprühgeräten vorgestellt. Nach der Definition des Problem und der Zielsetzung
erfolgt die Aufnahme der externen Vielfalt (Schritt 2) mithilfe des Vielfaltsbaums
(Tree of external Variety, TeV), indem für die am Markt angebotenen Produkte die
Abb. 12.25 Vorgehen der Methodenbausteine Variantengerechte Produktgestaltung und Lebensphasenmodularisierung im integrierten PKT-Ansatz (Jonas 2013)
12
Produktarchitektur
379
differenzierenden, kundenrelevanten Eigenschaften und ihre Ausprägungen aufgenommen
werden, vgl. Abb. 12.26. Die Anordnung in den Spalten erfolgt dabei in Abhängigkeit der
Relevanz dieser Eigenschaften. Ein Ast im Vielfaltsbaum beschreibt somit eine Produktvariante mit den ihr zugeordneten kundenrelevanten Eigenschaftsausprägungen. In
Abb. 12.26 ist ein Vielfaltsbaum für eine Produktfamilien von Herbizidsprühgeräten dargestellt, in der beispielsweise die kundenrelevante Eigenschaft Sprühbreite unter anderem
durch die Ausprägungen 20–45 cm, 30–50 cm und 50 cm abgebildet werden.
Für die Aufnahme der internen Vielfalt (Schritt 3) werden die Funktionen mit der
Produktfamilienfunktionsstruktur (Product Family Function Structure, PFS) modelliert,
siehe Abb. 12.27. Diese basiert auf einer umsatzorientierten Funktionsstruktur, in der
unterschiedliche Umsätze von Material, Energie und Information sichtbar sind. Die
Funktionen werden im PFS in Standard- und Variantenfunktionen eingeteilt, die darüber
hinaus optional und/oder in ihrer Anzahl variant innerhalb der Produktfamilie sein können.
Beispielsweise führt die standardisierte Funktion Spray zerstäuben, die in varianter Anzahl
vorliegt, zu dem Zustand Sprühnebel, der wiederum durch die variante Funktion Spray
richten, die in varianter Anzahl vorliegt, zu unterschiedlichen Zuständen führt.
Über die Eigenschafts- und Funktionsebene hinaus wird die Varianz auch auf Ebene
der Wirkprinzipien und -geometrien sowie auf Komponentenebene analysiert. Letzteres
unterstützt der Module Interface Graph (MIG), der am Beispiel des Herbizidsprühgeräts
in Abb. 12.28 dargestellt ist. Der MIG veranschaulicht die grobe Form und Anordnung der
Komponenten zueinander sowie, ob diese in der Produktfamilie standardmäßig, variant,
variant in der Anzahl oder optional ausgeführt sind. Darüber hinaus werden die Schnittstellen und Flüsse zwischen den Komponenten visualisiert. Im Beispiel für das HerbizidSprühgerät sind die Flussarten Struktur, Elektrik und Präparat vorhanden und im MIG
dargestellt (Abb. 12.28). Die Komponente Laufrad (LR) ist beispielsweise grau eingefärbt,
da es sich hierbei um eine variante Komponente handelt. (Gebhardt et al. 2014). Es gibt
ein Laufrad für ebene Flächen und ein geländegängiges Laufrad als Variante.
Abb. 12.26 Ausschnitt aus der Aufnahme der externen Vielfalt im Vielfaltsbaum (Tree of external
Variety, TeV) am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten, nach (Kipp 2012)
380
D. Krause et al.
Abb. 12.27 Auszug aus der umsatzorientierten Produktfamilienfunktionsstruktur (Product Family
Function Structure, PFS) am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten, nach (Blees 2011)
Abb. 12.28 Module Interface Graph (MIG) am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten, nach (Blees 2011)
Die auf den Ebenen der Produkteigenschaften, Funktionen, Wirkprinzipien und -geometrien sowie Komponenten gesammelten varianzbezogenen Informationen werden im
Variety Allocation Model (VAM) verknüpft (Schritt 4) (siehe Abb. 12.29, links). Daraus
ergeben sich die vier Ebenen kundenrelevante Eigenschaften, variante Funktionen,
variante Wirkprinzipien und -geometrien und variante Komponenten. Der VAM dient
12
Produktarchitektur
381
Abb. 12.29 Ausschnitt aus dem Variety Allocation Model (VAM) am Beispiel einer Produktfamilie von
Herbizidsprühgeräten vor (links) und nach (rechts) der variantengerechten Produktfamilienstruktur im
VAM (in Anlehnung an Krause und Gebhardt 2018)
somit als Grundlage für die Konzeptfindung der variantengerechten Produktgestaltung.
Mit dieser Visualisierung wird der Zusammenhang zwischen interner und externer Vielfalt verdeutlicht. Die interne Vielfalt, die nicht zur Bereitstellung der externen Vielfalt
notwendig ist, wird identifiziert und reduziert, indem Abweichungen zum Idealbild
einer variantengerechten Produktstruktur (Abb. 12.29, rechts) im VAM deutlich werden.
Das Idealbild wird dabei charakterisiert durch vier Eigenschaften (Differenzierung
in Standard- und Variantenkomponenten, Reduzierung der Variantenkomponenten
zum Träger einer kundenrelevanten Eigenschaft, Eins-zu-eins-Zuordnung zwischen
Variantenkomponenten und kundenrelevanten Eigenschaften sowie Entkopplung der
Variantenkomponenten) (Kipp 2012).
Im Beispiel des Herbizidsprühgerätes ist die kundenrelevante Eigenschaft Sprühbreite
von den varianten Komponenten Magnetventil und Kabelbaum abhängig, die wiederum
durch die kundenrelevante Eigenschaft selektives Sprühen beeinflusst wird (siehe
Abb. 12.29, links).
Der finale Schritt der variantengerechten Produktgestaltung stellt die Bewertung dar
(Schritt 5), in der die alternativen Lösungskonzepte evaluiert und ausgewählt werden
(Kipp et al. 2010; Krause und Gebhardt 2018). In dem Beispiel des Herbizidsprühgerätes
wurde ein Konzept ausgewählt, dessen Produktstruktur dadurch gekennzeichnet ist, dass
die Komponenten Magnetventil und Kabelbaum nur von der kundenrelevanten Eigenschaft selektives Sprühen beeinflusst wird (Abb. 12.29, rechts). Die Abhängigkeiten
zur Eigenschaft Sprühbreite konnten durch das neue Konzept eliminiert werden, was zu
einer Ersparnis an varianten Komponenten führt.
Aufbauend auf der variantengerechten Produktgestaltung wird im Integrierten PKTAnsatz die Lebensphasenmodularisierung durchgeführt. Hierzu wird im sechsten
382
D. Krause et al.
Schritt des methodischen Vorgehens die Ausgangssituation mithilfe eines variantengerechten MIG aufgenommen. Auf dessen Grundlage wird eine technisch-funktionale
Modularisierung beispielsweise entsprechend den Heuristiken nach Stone (vgl.
Abschn. 12.5.4) angewendet. Es entstehen technisch-funktionale Module, die die Ausgangsbasis für die Modularisierung in der Lebensphase Produktentwicklung bilden.
Darüber hinaus werden für alle Lebensphasen produktstrategische Gründe zur
Modulbildung, die sogenannten Modultreiber nach Erixon (1998), herangezogen (vgl.
Abschn. 12.5.7). Zusätzlich zu den Modultreibern werden die sogenannten ModultreiberAusprägungen ergänzt, die produktspezifisch festgelegt werden. Abb. 12.30 zeigt Modultreiber entlang der Produktlebensphasen sowie deren produktspezifische Ausprägungen am
Beispiel des Herbizidsprühgerätes. Beispielsweise gibt es für die Lebensphase Produktion
einen Modultreiber separates Testen mit den Modultreiberausprägungen Druck-/Saugtest
und Polungstest (siehe Abb. 12.30).
Die jeweiligen lebensphasenspezifischen Modularisierungskonzepte werden in Netzplänen dargestellt. Diese unterstützen die Modulbildung, indem die Komponenten über
die Modultreiberausprägungen den Modultreibern zugeteilt werden. Anhand ihrer Zugehörigkeit zu den spezifischen Modultreiberausprägungen werden die Komponenten zu
Modulen zusammengefasst. In Abb. 12.31 ist ein solcher Netzplan für die Lebensphase
Produktion mit dem Modultreiber Separates Testen anhand des Herbizidsprühgeräts beispielhaft dargestellt. Dabei sind vier Komponenten der Modultreiberausprägung Druck-/
Saugtest zugeordnet und werden somit zu dem Modul Druck-/Saugtest zusammengefasst
(Abb. 12.31).
Die Ergebnisse aus den Netzplänen der jeweiligen Lebensphasen fließen in das
Module Process Chart (MPC) (siehe Abb. 12.32) ein (Schritt 7). Ziel des MPC ist die
Aufdeckung von Widersprüchen zwischen den unterschiedlichen Modularisierungskonzepten der einzelnen Lebensphasen sowie eine Harmonisierung dieser. Hierzu gilt
Abb. 12.30 Modultreiber und deren Ausprägungen entlang der Produktlebensphasen am Beispiel einer
Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten (nach Blees 2011, Erixon 1998)
12
Produktarchitektur
383
Abb. 12.31 Netzplan der Produktlebensphase Produktion anhand des Modultreibers Separates Testen
am Beispiel einer Produktfamilie von Herbizidsprühgeräten (Blees 2011)
es, Vertreter jeder Lebensphase zusammenzubringen, um die Widersprüche aufzuzeigen,
Kompromisse einzugehen und einen über alle Lebensphasen harmonisierten MPC
hervorzubringen.
In Abb. 12.32 (oben) ist ein Ausschnitt des MPC der Produktfamilie des Herbizidsprühgeräts vor der Harmonisierung dargestellt, anhand dessen die Widersprüche
zwischen den lebensphasenspezifischen Modularisierungskonzepten deutlich werden.
In der Lebensphase Einkauf soll die Komponente Schirmhalter zusammen mit weiteren
Komponenten in einem Modul zugekauft werden, wobei in der späteren Lebensphase
Vertrieb der Schirmhalter als variante Komponente als eigenes Modul betrachtet wird,
da sie eine kundenrelevante Eigenschaft erfüllt. Um diese Inkonsistenz zu beseitigen,
wurde mit den Vertretern der betroffenen Lebensphasen eine Harmonisierung vorgenommen, bei der der Schirmhalter in allen Lebensphasen als eigenständiges Modul
angesehen wird. Diese Widersprüche werden in dem in Abb. 12.32 (unten) dargestellten
harmonisierten MPC gelöst. Das daraus resultierende Konzept (Schritt 9) stellt die
Grundlage der abschließenden Diskussion dar, vgl. (Krause und Gebhardt 2018).
Weitere Methodenbausteine des integrierten PKT-Ansatzes, die sich beispielsweise auf die Planung des Produktprogramms oder einer montagegerechten Produktstrukturierung beziehen, lassen sich ergänzend zum beschriebenen Vorgehen anwenden,
vgl. (Krause und Gebhardt 2018). Beispielsweise kann eine Kostenbewertung modularer
Produktstrukturen durch Berücksichtigung der Komplexitätskosten erzielt werden
384
D. Krause et al.
Abb. 12.32 Ausschnitt eines Module Process Charts (MPC) zur Abstimmung der lebensphasenspezifischen Modularisierungskonzepte, vor der Harmonisierung (oben) und nach der Harmonisierung (unten)
(Ripperda und Krause 2017). Weiterhin kann eine Softwareunterstützung mittels Tools
des Model-Based Systems Engineerings (MBSE) angewandt werden, um eine Durchgängigkeit des methodischen Vorgehens zu ermöglichen (Hanna und Krause 2017).
12.6Beispiele
Im folgenden Abschnitt werden zwei Beispiele für die Gestaltung der Produktarchitektur
beschrieben. Hierbei werden jeweils unterschiedliche Produkte zugrunde gelegt und verschiedene Zielstellungen fokussiert. Die Anwendung zuvor beschriebener Methoden und
Bauweisen wird dabei aufgezeigt und die angepasste Produktarchitektur sowie deren
wesentliche Vorteile beschrieben. Fokus des ersten Beispiels ist die Entwicklung eines
Modulbaukastens für Aufzuganlagen. Das zweite Beispiel beschreibt die Entwicklung
eines funktionsintegrierten Bodenmoduls für leichte Nutzfahrzeuge.
12
Produktarchitektur
385
12.6.1Anwendung des PKT-Ansatzes zur Modularisierung von
Aufzügen
Das betrachtete mittelständige Unternehmen entwickelt und fertigt individuell auf
den Kunden zugeschnittene Aufzuganlagen für Gebäude und Schiffe. Die durch die
hohe Nachfrage nach individualisierten Produkten entstehende interne Vielfalt an
Komponenten und Prozessen bedingt kritische Durchlaufzeiten und Fehlerraten. In
diesem Projekt wurde die Zielsetzung verfolgt, die Durchlaufzeiten und Fehlerraten in
der Konstruktion und Fertigung um bis zu 50 % zu senken, wobei die Flexibilität für das
obere Preissegment beibehalten werden sollte.
Hierzu sollte die auftragsbezogene Konstruktion durch eine Konfiguration ersetzt
werden, die mittels eines Modulbaukastens realisiert wird. Hierdurch lassen sich mit
einer minimalen internen Vielfalt variante Kundenwünsche bedienen.
Das Vorgehen im Projekt ist in Abb. 12.33 dargestellt. Methodisch wurde das Vorgehen durch den Integrierten PKT-Ansatz zur Entwicklung modularer Produktfamilien,
im Speziellen der variantengerechten Produktgestaltung und der Lebensphasenmodularisierung unterstützt (siehe Abschn. 12.5.9). Zunächst wurden Hauptmodule
identifiziert, die in den darauffolgenden Schritten ausgehend von den Kundenbedürfnissen variantengerecht gestaltet und anschließend modularisiert wurden. Dazu wurden
die Anforderungen der Modulbildung aller Produktlebensphasen im Unternehmen
mit in die Modulstruktur des neuen Baukastens einbezogen. Mittels einer Gegenüberstellung und Harmonisierung der jeweiligen Wunsch-Modularisierung aus den jeweiligen
Lebensphasen kann ein effizienterer Durchlauf der Produktentstehung erreicht werden.
Zunächst wurde dazu die interne Vielfalt der gesamten Aufzugsanlage im Modul
Interface Graph (MIG) (vgl. Abb. 12.28) visualisiert.
Zusätzlich wurden Hauptmodule auf der Grundlage technisch-funktionaler
Aspekte definiert, auf die die variantengerechte Produktgestaltung und Lebensphasenmodularisierung einzeln angewendet wurden. Das Hauptmodul Gegengewicht zeichnet
sich durch eine nicht-ideal variantengerechte Produktstruktur aus, wie in dem Ausschnitt des VAMs in Abb. 12.34 dargestellt. Um im Workshop mit den Unternehmensvertretern eine vereinfachte Darstellung zu nutzen, wurde in diesem Projekt anstelle der wie
oben beschriebenen mittleren zwei Ebenen (Funktionen und Wirkprinzipien) die Ebene
variante technische Merkmale im VAM verwendet.
Abb. 12.33 Übersicht des Vorgehens (Gebhardt et al. 2016)
386
D. Krause et al.
Abb. 12.34 Ausschnitt aus dem Variety Allocation Model (VAM) des Gegengewichtsmoduls
Abb. 12.35 Ausschnitt aus dem Module Interface Graph (MIG) des Gegengewichtsmoduls, links vor,
rechts nach der variantengerechten Produktgestaltung
Mit Hilfe des VAM wurden die nicht variantengerechten Komponenten identifiziert
und dem Idealbild einer variantengerechten Produktstruktur angenähert. In Abb. 12.35
links ist das Gegengewichtsmodul vor und rechts nach der variantengerechten Produktgestaltung dargestellt. Beispielsweise ist die Gegengewichtsverkleidung eine variante
Komponente, die von mehreren kundenrelevanten Eigenschaften abhängig ist. Daher
wurde sie konstruktiv dahingehend geändert, dass diese standardisiert in varianter
Anzahl vorliegt.
12
Produktarchitektur
387
Durch konstruktive Maßnahmen konnte der Anteil an standardisierten Komponenten
erhöht werden. Deutlich wird dieses in dem MIG in Abb. 12.35 dadurch, dass einige
variante Komponenten (grau) zu standardisierten Komponenten (weiß) umgestaltet
wurden.
Das variantengerecht gestaltete Gegengewichtsmodul wurde anschließend mit
der Lebensphasenmodularisierung zusätzlich zu technisch-funktionalen aus produktstrategischen Aspekten modularisiert.
Die Modularisierung der einzelnen Lebensphasen wurde mit dem Werkzeug Module
Process Chart (MPC) durchgeführt, um die verschiedenen Modulwünsche einander
gegenüberzustellen. Ein Ausschnitt des MPC ist in Abb. 12.36 dargestellt.
Für die acht neuen Module (z. B. Gegengewichtsmodul) gilt, dass diese die kundenrelevanten Produkteigenschaften möglichst direkt bereitstellen. Dazu wurden entkoppelte
und kostengünstige Konfigurationsmodule gestaltet und in Form von Konfigurationskatalogen für den Vertrieb, Moduldatenblättern, parametrisierten CAD-Modellen und
Produktionsunterlagen dokumentiert.
Zu Projektende betrug der Anteil der Module bereits 60 % der ausgelieferten Baugruppen, die zu einem Bruchteil der bisherigen Durchlaufzeit durch eine reduzierte
Bearbeitungszeit in der Konstruktion (70–80 % reduzierte Konfigurationszeit, 40–50 %
reduzierte Zeit für die Anpassungskonstruktion) und in Fertigung (30–40 % reduzierte
Konfigurationszeit, 20–30 % reduzierte Zeit für die Anpassungskonstruktion) bereitgestellt werden konnten. Zudem ist die Fehlerrate bei der Modulverwendung um 80 %
reduziert. Der im Projekt entwickelte und kontinuierlich durch das Unternehmen weiterentwickelte Modulbaukasten bildet die Grundlage für die neue Unternehmensstrategie
(Gebhardt et al. 2016).
Abb. 12.36 Ausschnitt aus dem Module Process Chart (MPC) für das Beispiel Aufzugsanlagen
(Gebhardt et al. 2016)
388
D. Krause et al.
12.6.2Integrales Bodenmodul für leichte Nutzfahrzeuge
Leichte Nutzfahrzeuge sind durch eine hohe Variantenvielfalt im Karosseriebau gekennzeichnet. Diese ergibt sich durch die unterschiedlichen Einsatzzwecke (Personen- und/
oder Nutzlasttransport) und wirkt sich auf Karosseriebauteile sowie die Ausführungen
der Einbauten im Vorder- und Hinterwagen aus. Beispielsweise existieren Fahrzeuge
in Lang- und Kurzvarianten, die im Hinterwagen mit oder ohne Sitze und unterschiedlichen Böden ausgestattet werden. Eine wesentliche Herausforderung der Entwicklung
und Produktion leichter Nutzfahrzeuge ist es daher, vertretbare Einzelkosten für Fahrzeugausführungen mit geringer Stückzahl zu gewährleisten (Waltl und Wildemann
2014). Zentrale Hindernisse sind hierbei hohe Werkzeugkosten bei häufig eingesetzten
Tiefziehprozessen sowie die Erfüllung teilweise restriktiver Anforderungen an die
mechanischen und akustischen Eigenschaften der Bauteile und Karosserie, beispielsweise bei hochwertigen Fahrzeugen für den Personentransport. Diese Ziele gelten
zunächst allgemein für die Entwicklung leichter Nutzfahrzeuge. Hieraus wurden
wesentliche Ziele für die Entwicklung einer angepassten Produktarchitektur für ein
Bodenmodul, siehe Abb. 12.37, eines leichten Nutzfahrzeugs abgeleitet. Der Fokus lag
hierbei auf der Reduzierung der Prozesskomplexität innerhalb der Fertigung, der Vereinfachung der Montage, der Reduzierung des Gesamtgewichts und der Verbesserung
der akustischen Eigenschaften im Innenraum. Grundlage für die Entwicklung war eine
bestehende Produktstruktur einschließlich existierender Fertigungs- und Montageprozessen eines aktuellen Nutzfahrzeugs. Die aufgeführten Ziele wurden aus der Analyse der bestehenden Produktstruktur, nachgelagerten Fertigungs- und Montageschritten
sowie Vergleichsfahrzeugen abgeleitet.
Wie aus der Abb. 12.37 hervorgeht, werden in der erarbeiteten Lösung des Bodenmoduls viele einzelne Komponenten (differentiale Bauweise) verwendet. Die einzelnen
Komponenten werden teilweise in unterschiedlichen Ausführungen, beispielsweise verschiedener Sitzschienen oder Bodenabdeckung, verwendet und jeweils einzeln mit dem
Bodenblech verschraubt (Sitzschienen). Aufgrund dieses Aufbaus ergeben sich bei der
Montage ergonomisch ungünstige und zeitaufwendige Arbeitsschritte. Ausgehend von
der bestehenden Produktstruktur, den mechanischen und geometrischen Schnittstellen,
beispielsweise für ein Einleitung von Belastungen der Sitzbefestigungen im Crashfall
sowie den geforderten Varianten, wurden bei der Entwicklung folgende Arbeitsschritte
(teilweise iterativ) durchgeführt und Methoden für die Analyse und Gestaltung der
Produktarchitektur angewendet:
• Im ersten Schritt erfolgten eine Analyse der bestehenden Produktstruktur und
Eigenschaften des Bodenmoduls sowie die Präzisierung der Zielstellungen für die
Anpassung der Produktstruktur. Hierzu wurden Anforderungen und Variantentreiber
aus Kunden-, Entwicklung und Bauteilsicht mithilfe des Product Family Master
Plan, vgl. Abschn. 12.5.8, identifiziert. Die abgeleiteten Unterscheidungsmerkmale,
Funktionen und Randbedingungen der Fertigung und Montage wurden mit den
12
Produktarchitektur
389
Abb. 12.37 Vereinfachte Darstellung der bestehenden Produktstruktur eines Bodenmoduls für ein
leichtes Nutzfahrzeug am Beispiel eines Volkswagen Transporters
bestehenden Komponenten verknüpft und auf diese Weise Entwicklungsschwerpunkte für die Anpassung der Produktarchitektur abgeleitet. Ergänzend wurden die
wesentlichen Wirkflächen und Wirkkörper der bestehenden Lösung identifiziert, vgl.
Funktionsintegration, Abschn. 12.5.1, um Ansatzpunkte für die Integration von Bauteilen zu ermitteln.
• Im zweiten Schritt erfolgte die Erarbeitung unterschiedlicher Architekturkonzepte
und Bauweisen für das Bodenmodul unter besonderer Berücksichtigung von Ansätzen
der Funktionsintegration, vgl. Abschn. 12.5.1, und Ausnutzung der Potenziale von
Verbundbauweisen, vgl. Abschn. 12.2.3. Die einzelnen Konzepte wurden in Form von
CAD-Modellen ausgearbeitet und hinsichtlich der wesentlichen Eigenschaften (beispielsweise Gewicht, Montierbarkeit) analysiert.
• Im dritten Schritt erfolgten der Vergleich und die Absicherung der Konzepte im Hinblick auf die definierten Zielsetzungen und unter Berücksichtigung der Fertigbarkeit
und des Montageaufwandes.
In Abb. 12.38 ist exemplarisch eines der erarbeiteten Konzepte für die Produktstrukturen
des Bodenmoduls dargestellt. Hierbei wurde die Verbindungstechnik zum Bodenblech
des Fahrzeugs als Verklebung ausgeführt, um den Montageaufwand zu reduzieren. Eine
Funktionsintegration wurde dadurch realisiert, dass die Sitzschienen sowohl die Verbindung mit dem Bodenblech realisieren als auch die Bodenabdeckung formschlüssig
390
D. Krause et al.
Abb. 12.38 Schematische Darstellung des integralen Bodenmoduls in Verbundbauweise als Ausschnitt
aufnehmen und fixieren. Das gesamte Bodenmodul ist somit als eine Komponente in
Verbundbauweise ausgeführt und kann durch zwei Hauptfertigungsschritte hergestellt
werden. Im ersten Schritt werden Sitzschienen und Querstreben (jeweils Halbzeuge) als
Schweißbaugruppe gefertigt und im zweiten Schritt durch Fließpressen faserverstärkte
Polypropylen-Elemente zwischen den Sitzschienen sowie seitlich dieser ausgeformt.
Hierbei gehen die Polypropylen-Elemente einen Formschluss mit den Sitzschienen ein.
Als Ergebnis kann das Bodenmodul als einteilige Komponente in das Fahrzeug eingeklebt werden, vgl. Abb. 12.38.
Durch die skizzierte Anpassung der Produktarchitektur und Anwendung der Verbundbauweise konnte das Gesamtgewicht des Bodenmoduls im Vergleich zur bestehenden
Ausführung um etwa 30 % reduziert werden. Gleichzeitig vereinfacht sich der Zeitaufwand in der Endmontage deutlich. Die verbesserten mechanischen Eigenschaften (unter
anderem erhöhte Torsionssteifigkeit) tragen zudem zur Verbesserung des akustischen
Verhaltens im Fahrzeuginnenraum bei. Varianten des Bodenmoduls (geometrische Ausführung oder unterschiedliche Bodenbeläge) können durch das gewählte Fertigungsverfahren teilweise innerhalb des Werkzeugs oder durch geringe Nachbearbeitungen vor der
Endmontage erzeugt werden.
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Teil IV
Produktgestaltung
Gestaltung – Prozess und Methoden
13
Sven Matthiesen
13.1Einleitung
Nachdem in der Konzeptphase das Lösungskonzept zur Erfüllung des Entwicklungsauftrags erarbeitet wurde, wird im nächsten Schritt die Produktgestalt durch die
Beschreibung ihrer geometrischen und stofflichen Merkmale festgelegt. Dieser Schritt,
in dem aus dem Konzept der Entwurf und schließlich das herstellbare Produkt definiert
wird, wird als Gestaltung bezeichnet. Zunächst werden in dem hier folgenden Kapitel
Aktivitäten in der Gestaltung und Methoden zu ihrer Unterstützung beschrieben. Darauf
folgend werden in den nächsten Kapiteln dieses Buchteils dann die Grundregeln der
Gestaltung, Prinzipien und Richtlinien beschrieben.
Die Gestaltung ist eine schwierige und langwierige Aufgabe in der Produktentwicklung.
Einerseits müssen eine Vielzahl von Anforderungen und Randbedingungen gleichzeitig
beachtet werden (siehe hierzu auch (Wittel et al. 2013)), andererseits entscheidet die Festlegung der konstruktiven Details über die Güte der Funktionserfüllung und die Herstellkosten des Produkts. Dadurch haben Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure einen
erheblichen Einfluss auf den Erfolg eines Produkts, und damit eine große Verantwortung
im Unternehmen (Sauer 2016, S. 4). Gut funktionierende Produkte unterscheiden sich
dabei oft nicht durch das gewählte Konzept, sondern durch die Details in der Produktgestalt von solchen, die nicht so gut funktionieren. Wie diese Details festgelegt werden,
hängt einerseits von den Erfahrungen der Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure
ab, andererseits von den im Unternehmen zuvor entwickelten Produkten und dem dabei
entstandenen Wissen. In der Gestaltung ist es essentiell, dass Zusammenhänge von der
S. Matthiesen (*)
Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_13
397
398
S. Matthiesen
zu erfüllenden Funktion und der zu realisierenden Gestalt1 verstanden sind. Da diese
Zusammenhänge oft nicht vollständig bekannt sind, entsteht die Gestalt eines Produkts
typischerweise nicht in einem Schritt. Sie wird iterativ herausgearbeitet, wobei sich Phasen
der Synthese und Analyse abwechseln. Synthese bedeutet dabei die Festlegung einer
Gestalt, mit der Funktionen unter den gegebenen Randbedingungen überhaupt oder besser
erfüllt werden können. Genügt das vorhandene Wissen für die Synthese der Gestalt nicht,
ist ein Analyseschritt notwendig. Analyse bedeutet dabei, dass notwendige Erkenntnisse zu
Gestalt-Funktion-Zusammenhängen auf Basis einer bereits vorhandenen oder erzeugten
Gestalt aufgebaut werden. Erkenntnisse zu diesen Zusammenhängen sind der Schlüssel zu
einer erfolgreichen Gestaltung und damit eine Basis für erfolgreiche Produktentwicklung.
13.2Die Einordnung der Gestaltung in den
Produktentwicklungsprozess nach VDI 2221
Wie die Gestaltung in den Prozess der Produktentwicklung eingeordnet werden kann,
lässt sich anhand der VDI 2221 darstellen, in der Aktivitäten im Produktentwicklungsprozess beschrieben werden. Abb. 13.1 zeigt diese Aktivitäten (VDI 2221:2018-03 Blatt 1).
Schwerpunktmäßig kann die Gestaltung den Aktivitäten „Gliedern in Module“, „Gestalten
der Module“ und „Integrieren des gesamten Produktes“ zugeordnet werden.
Viele Aktivitäten im Produktentwicklungsprozess wechselwirken mit der Gestaltung.
Durch die Koevolution von Problem und Lösung (Dorst und Cross 2001) entstehen einerseits Ergebnisse, welche als Eingangsgrößen die Gestaltung beeinflussen, andererseits
beeinflussen auch Ergebnisse aus der Gestaltung die nachfolgenden und vorhergehenden
Aktivitäten im Produktentwicklungsprozess. Die Aktivitäten eines konkreten Produktentwicklungsprozesses laufen dadurch zeitlich nicht linear, sondern meist sprunghaft
und iterativ ab. So können Erkenntnisse während des Gestaltens dazu führen, dass davorliegende und bereits abgeschlossene Aktivitäten erneut durchgeführt werden müssen.
Die Gestaltung und der in ihr stattfindende Erkenntnisgewinn beeinflusst den tatsächlich ablaufenden Prozess der Entwicklung für konkrete Produkte maßgeblich (vergleiche
auch die Phasen des Produktentwicklungsprozesses, dargestellt in Abb. 13.1 rechts). Sie
darf deshalb nicht isoliert von den anderen Aktivitäten im Produktentwicklungsprozess
betrachtet werden. In der Gestaltung ist es wichtig, die Ein- und Ausgangsgrößen zu
kennen, um das Risiko des Entwicklungsprojekts (Abschn. 13.4) abzuschätzen und notwendige Aktivitäten rechtzeitig zu planen. Abhängig vom Detaillierungsgrad und der
Datenqualität der Eingangsgrößen verändert sich der Aufwand und auch das Risiko in der
Gestaltung. Die vier wichtigsten Eingangsgrößen in die Gestaltung sind:
1Als
Gestalt wird dabei die Gesamtheit der Gestaltparameter bezeichnet, die ein technisches System
beschreiben und die zu seiner Herstellung notwendig sind.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
399
Produktplanung
Phasen
Ziele
Entwicklungsauftrag
verfeinerte
und ergänzte
Anforderungen
Ergebnisse
Klären und Präzisieren des
Problems bzw. der Aufgabe
Anforderungen
Ermitteln von Funktionen
und deren Strukturen
Funktionsmodelle
Suchen nach
Lösungsprinzipien und
deren Strukturen
Prinzipielle
Lösungskonzepte
Bewerten und Auswählen
von Lösungskonzepten
Lösungskonzept
Gliedern in Module,
Schnittstellendefinition
Systemarchitektur
Gestalten der Module
Teilentwürfe
Integrieren des
gesamten Produkts
Gesamtentwurf
Ausarbeiten der
Ausführungs- und
Nutzungsangaben
Produktdokumentation
...
…
…
…
Planung
Konzept
etc.
Zeit
virtuell
physisch
Absichern von Ergebnissen
Freigabe
Produktdokumentation
Abb. 13.1 Der Produktentwicklungsprozess nach VDI 2221 (VDI 2221:2018–03 Blatt 1)
1. Anforderungen und Randbedingungen aus dem Entwicklungsauftrag:
Der Entwicklungsauftrag ist als Basis des Produktentwicklungsprozesses eine
wichtige Eingangsgröße in die Gestaltung. Er kann nach der VDI2221 sowohl Ideen,
Wünsche, Visionen, als auch bereits detaillierte Anwendungsfälle und Anforderungen
zu Funktionen, Schnittstellen, Fertigungsverfahren usw. beinhalten (VDI 2221:2018–
03, S. 17). Anforderungen im Lastenheft sind oft Grundlage rechtlich verbindlicher
Vertragsdokumente. Eine detaillierte Beschreibung von Anforderungen geben beispielsweise Ehrlenspiel und Meerkamm (2017, S. 480). In der Produktentwicklung
sind sie von besonderer Bedeutung als Prüfstein, um den Reifegrad des Produkts
400
S. Matthiesen
während der Entwicklung zu beurteilen. Für die Gestaltung spielen besonders die
Unterschiede in den Anforderungen an das aktuell zu entwickelnde Produkt zu
denen an das Vorgänger- oder Referenzprodukt eine wichtige Rolle. Die Betrachtung
dieser Unterschiede hilft, Schwierigkeiten vorherzusehen und kritische Funktionen zu
erkennen. Das ist wichtig, um in der Gestaltung richtig zu priorisieren.
2. Gestaltdokumentation eines Vorgänger- oder Referenzprodukts:
Liegen Gestaltdokumentationen (CAD-Daten, Zeichnungen, Materialspezifikationen)
zu Vorgänger- oder Referenzprodukten vor, die bereits am Markt eingeführt wurden,
sind diese für die Gestaltung extrem wertvoll, da Gestalt-Funktion-Zusammenhänge bereits im Produkt nachgewiesen wurden. In den meisten Unternehmen ist
die Gestaltdokumentation kombiniert mit den Erfahrungen aus dem Vorgänger- oder
Referenzprodukt am Markt die wichtigste Eingangsgröße für die Gestaltung.
3. Erfahrungen mit verwandten Produkten:
Liegt die Gestaltdokumentation eines Vorgänger- oder Referenzproduktes nicht
explizit vor, ist die Erfahrung der Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure mit
einem Produkt, das ähnliche Funktionen wie das zu entwickelnde Produkt erfüllt,
eine wichtige Eingangsgröße in der Gestaltung. Dabei stützt sich die Gestaltung auf
implizit vorliegende Erfahrungen zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen ab. Durch
die individuelle Erfahrung erhält jedes Produkt in der Gestaltung eine im Detail
einzigartige und nicht deterministische Gestalt. Auch Ehrlenspiel und Meerkamm
beschreiben die Bedeutung von Erfahrung für eine erfolgreiche Produktentwicklung
(2017), S. 155.
4. Ergebnisse aus vorhergehenden Aktivitäten des Produktentwicklungsprozesses:
Die Gestaltung benötigt als Basis eine prinzipielle Idee oder ein Lösungskonzept
zur Umsetzung in die Produktgestalt. Da die Gestaltung auch rückwirkend Idee
und Konzept beeinflusst, ist es wichtig, dass die Konstruktionsingenieurinnen und –
ingenieure schon bei der Entwicklung des Produktprofils beteiligt ist.
Beim Gestalten werden aus den Eingangsgrößen die Ausgangsgrößen erzeugt. Welche
Ausgangsgrößen in welchem Detaillierungsgrad entstehen, ist abhängig von der Art des
zu gestaltenden Produkts, das den notwendigen Ressourceneinsatz und die Vorgehensweise in der Gestaltung bestimmt. Die vier wichtigsten Ausgangsgrößen der Gestaltung
sind:
1. Gestaltdokumentation des herstellbaren Produkts:
Zentrales Ergebnis und damit wichtigste Ausgangsgröße der Gestaltung ist die
Gestaltdokumentation des herstellbaren Produkts, das in seinen konstruktiven Details
so weit definiert ist, dass es seine Funktionen erfüllt und unter den gegebenen Randbedingungen (Kosten, Fertigung, Montage usw.) hergestellt werden kann.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
401
2. Verfeinerte und ergänzte Anforderungen und Randbedingungen aus der
Gestaltung:
Die eingehenden Anforderungen und Randbedingungen werden durch die entwickelte Gestalt häufig ergänzt und verfeinert. Das geschieht besonders dann, wenn
eingehende Anforderungen und Randbedingungen noch unscharf sind oder durch
gewonnene Erkenntnisse verändert und angepasst werden müssen.
3. Dokumentierte Entwicklungsgenerationen:
Die Dokumentationen der einzelnen Entwicklungsgenerationen2 sind ebenfalls
Ausgangsgrößen der Gestaltung. Sie entstehen im Verlauf der Gestaltung und bilden
Zwischenschritte auf dem Weg zur Gestaltdokumentation des eingeführten Produkts.
Die Dokumentationen der Entwicklungsgenerationen enthalten viele Informationen,
die in späteren Entwicklungsprojekten genutzt werden können. Werden die Entwicklungsgenerationen nicht oder unzureichend dokumentiert, geht Wissen verloren,
dass in folgenden Entwicklungsprojekten dann oft erneut erarbeitet werden muss.
4. Modelle der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge:
Oft unterschätzte Ausgangsgrößen sind Erkenntnisse zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen, die idealerweise in expliziten Modellen dokumentiert sind. Sie dienen als
Wissensbasis für die Entwicklung nachfolgender Produktgenerationen und reduzieren
den Wissensabfluss, wenn Mitarbeiter das Unternehmen verlassen. Sie können auch
im Fall von später auftretenden Problemen mit dem entwickelten Produkt als Basis
für die Problemlösung oder in Projekten zur Herstellkostenreduktion genutzt werden.
In den häufigsten Fällen liegen diese Modelle jedoch nur implizit vor, beispielsweise,
wenn noch jemand im Unternehmen weiß, wie eine in der Gestaltdokumentation
dokumentierte Toleranz mit der Güte der Funktionserfüllung zusammenhängt und wie
sich die Güte der Funktionserfüllung ändert, wenn die Toleranz vergrößert wird.
In Abb. 13.2 ist die Aktivität der Gestaltung mit ihren Ein- und Ausgangsgrößen dargestellt.
Im Folgenden werden die wichtigsten Begriffe der Gestaltung im Detail erläutert
und das Vorgehen näher beschrieben. Anschließend wird die Tragweite der zentralen
Eingangsgrößen (siehe Abb. 13.2) bezüglich des Risikos in der Gestaltung betrachtet.
2Als
Entwicklungsgenerationen werden die im Entwicklungsprojekt entstehenden Produkte
bezeichnet, die nicht reif genug sind, um am Markt eingeführt zu werden. Jede Produktgeneration
beinhaltet meist viele Entwicklungsgenerationen. Vergleiche auch Albers et al. 2017b.
402
S. Matthiesen
Abb. 13.2 Die Gestaltung im Produktentwicklungsprozess nach (Matthiesen et al. 2018)
13.3Vorgehen in der Gestaltung und wichtige Begriffe
Im Folgenden wird exemplarisch beschrieben, wie beim Gestalten vorgegangen werden
kann. Außerdem werden wichtige Begriffe der Gestaltung erläutert. Einen Überblick gibt
Abb. 13.3, die Aktivitäten aus Abb. 13.2 im Detail darstellt und erläutert.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
403
Abb. 13.3 Vorgehen und Begriffe der Gestaltung (Matthiesen et al. 2018)
Praxisbeispiel: Vorgehen in der Gestaltung an einem Power-Tool für den Stahlbau
Größere industriell genutzte Hallen werden oft durch Stahlkonstruktionen realisiert.
Die tragende Unterkonstruktion besteht aus Stahlträgern, auf denen spezielle
Kassettenbleche befestigt werden, um Dach- und Wandflächen zu bilden. Eine
Möglichkeit der Befestigung stellt das Nageln mit speziellen Nägeln dar. Diese werden
von sogenannten Bolzensetzgeräten ohne vorzubohren durch das Kassettenblech in
den Stahlträger getrieben. Innerhalb der Bolzensetzgeräte wird durch einen Pulververbrennungsprozess ein Kolben beschleunigt, der dann mit seiner kinetischen Energie
einen Nagel eintreibt. Die Anwendung dieses Power-Tools und die an der Funktion
beteiligten Komponenten zeigt Abb. 13.4.
Ein Beispiel für ein solches Bolzensetzgerät ist in Abb. 13.5 dargestellt. Dieses
Power-Tool erfüllt seine Funktion „Nägel in Stahluntergrund eintreiben“ durch viele
Teilfunktionen. Es besteht aus 219 Komponenten, die 520 Funktionen erfüllen und
dabei stark miteinander wechselwirken. Die einzelnen Komponenten werden durch
Gestaltparameter wie Radien, Form- und Lagetoleranzen, Materialspezifikationen
usw. in der Gestaltdokumentation beschrieben, wodurch das Power-Tool herstellbar
wird. Was genau passiert, wenn ein Parameter dieser Gestalt verändert wird, ist aufgrund dieser Menge an Komponenten und Funktionen schwierig einzuschätzen. ◄
404
S. Matthiesen
Nagel
Brennkammer
Werkstück und
Untergrund
Kolben
Bolzenführung
Kolbenführung
Abb. 13.4 Anwendung und prinzipielle Funktionsweise eines Bolzensetzgerätes (Matthiesen et al.
2018)
Ein Zweck für den Kunden:
• Nägel in nicht vorgebohrte
Stahluntergründe setzen
Viele Funktionen im Power-Tool:
• 219 Komponenten
• 520 Teilfunktionen
• Weit über 1000 Wechselwirkungen
Abb. 13.5 Komponenten und Funktionen im Bolzensetzgerät (Matthiesen et al. 2018), nach
(Matthiesen 2011)
Die Gestalt – Parameter, Eigenschaften und Merkmale
Beim Gestalten wird die Gestalt eines Produkts festgelegt. Als Gestalt wird dabei die
Gesamtheit der Gestaltparameter bezeichnet, die ein technisches System beschreiben
und die zu seiner Herstellung notwendig sind. Die Gestaltparameter können in Gestaltmerkmale und Gestalteigenschaften unterschieden werden. Ein Gestaltmerkmal kann
direkt beeinflusst werden, wie beispielsweise die Länge eines Bauteils, der Durchmesser
einer Welle oder die Oberflächenhärte. Gestalteigenschaften sind von den Merkmalen
abhängig und können nur indirekt beeinflusst werden (Weber 2005). Für die Gestaltung
ist diese Unterscheidung extrem wichtig, da nur die Gestaltmerkmale direkt festlegbar sind. Die Gestalteigenschaften sind abhängige Gestaltparameter, die sich aus den
Merkmalen ergeben. Dazu ein Beispiel: Gewicht ist eine Gestalteigenschaft und kann
nur indirekt durch Merkmale wie Länge, Durchmesser, Materialwahl festgelegt werden.
Funktionen können ebenfalls nur indirekt beeinflusst werden. In der Gestaltung müssen
Merkmale gefunden und genutzt werden, die entweder einen direkten Zusammenhang
mit einer Funktion besitzen oder aber Gestalteigenschaften beeinflussen, die für die
Funktionserfüllung relevant sind. Die Menge der Merkmale und Eigenschaften werden
als funktionsrelevante Gestaltparameter bezeichnet.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
405
Oft ist das Wissen, wie welcher Gestaltparameter die Funktion beeinflusst, nicht explizit
dokumentiert. In der Gestaltdokumentation (technische Zeichnungen, Fertigungsunterlagen,
Toleranzberechnungen, Materialspezifikationen usw.) sind die Gestaltmerkmale explizit
angegeben. Wie der Zusammenhang mit Gestalteigenschaften und Funktionen ist, wird dort
nicht dokumentiert, da diese Dokumentation hauptsächlich der Herstellung des Produktes
dienen. Dafür ist nur die zulässige Ausprägung eines Gestaltmerkmals notwendig, nicht
aber die explizite Dokumentation seines Zusammenhangs mit der Funktion. Warum Gestaltmerkmale so gewählt wurden, ist aus einem der Herstellung dienenden Produktmodell wie
einer Zeichnung meist nicht erkennbar und muss erneut erarbeitet werden, wenn dieses
Wissen notwendig wird.
Beispiel
Das oben vorgestellte Bolzensetzgerät soll durch einen Nachfolger mit verbesserten
Funktionalitäten abgelöst werden. Eine Produktgenerationsentwicklung beginnt.
Um das neue Bolzensetzgerät mit möglichst geringem Risiko gestalten zu können,
ist es wichtig, Erfahrungen aus dem Vorgängerprodukt zu nutzen. Dadurch wird
es einfacher, die Zusammenhänge der unzähligen Gestaltparameter in den 219
Komponenten mit den einzelnen Teilfunktionen und den in ihnen auftretenden
Wechselwirkungen zu verstehen. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses technische
System mit seinen vielen inneren Wechselwirkungen zusätzlich mit Untergrund und
Nutzer wechselwirkt. Die Erfüllung der Funktionen innerhalb des Gerätes hängen
massiv von diesen äußeren Wechselwirkungen mit den möglichen Benutzern und
den möglichen Anwendungsfällen ab. Eine Auswahl an Anwendungsfällen ist in
Abb. 13.6 beispielhaft dargestellt. Die dabei auftretenden Wechselwirkungen sind
weder beliebig genau messbar noch für alle Einsatzzwecke des Bolzensetzgerätes
vorhersagbar. Unter diesen Randbedingungen wird die Gestaltung auch für erfahrene
Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure zu einer Herausforderung.
In der Produktgenerationsentwicklung werden häufig neue Anforderungen an
die nachfolgende Generation gestellt, die aus Veränderungen am Markt, Wettbewerb und/oder dem Stand der Technik entstehen. Neue Anforderung im Beispiel
des Bolzensetzgerätes sind die Reduktion der Reparaturhäufigkeit über die Lebensdauer des Gerätes und die Möglichkeit, auch auf härteren Stahluntergründen Nägel
einzutreiben. Die Grundfunktion „Nagel in Stahluntergrund eintreiben“ bleibt gleich,
aber die Ausprägung der Funktion verändert sich quantitativ (es wird mehr Energie
am Nagel benötigt). Zudem muss das Gerät häufigere Fehlanwendungen zulassen,
bevor Teile im dabei aktivierten Sicherheitsmechanismus getauscht werden müssen.
Die meisten Anforderungen aus dem Vorgängerprodukt bleiben bestehen, sie werden
durch die neuen Anforderungen ergänzt oder quantitativ verändert. Um das Risiko in
der Gestaltung zu minimieren, gilt es, die richtigen Gestaltparameter zu übernehmen
und nur solche zu ändern, die zur Realisierung neuer oder veränderter Funktionen
notwendig sind. Es muss sehr genau bekannt sein, welche Funktionen durch eine Veränderung an der Gestalt verändert werden.
406
S. Matthiesen
Abb. 13.6 Verschiedene Anwendungsfälle des Bolzensetzgerätes (Matthiesen et al. 2018)
Abb. 13.7 zeigt das Vorgängerprodukt und das darauf aufbauende neue Bolzensetzgerät. Rein optisch sind sie sehr ähnlich, die Erfüllung der veränderten und ergänzten
Anforderungen liegt in den gezielt veränderten, für den Kunden größtenteils unsichtbaren, konstruktiven Details. Trotz dieser scheinbar nur geringen Veränderung ist die
Inventionshöhe von neuen Produktgenerationen meist erheblich, was in der Vielzahl
von entstehenden Patenten im Verlauf der Gestalt messbar wird. ◄
Abb. 13.7 Produktgenerationen eines Bolzensetzgerätes (Matthiesen et al. 2018)
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
407
Die Funktion – Produktverhalten und Zweck für den Kunden
Der Funktion kommt in der Gestaltung eine besondere Bedeutung zu. Produkte müssen
viele Anforderungen und Randbedingungen erfüllen, um beispielsweise wirtschaftlich
hergestellt werden zu können. Ihre Existenzberechtigung kommt aber aus der Funktionserfüllung. Der Begriff der Funktion wird in der Produktentwicklung je nach Autor und
Kontext unterschiedlich definiert. Erden et al. fanden beispielsweise in einer Untersuchung 18 unterschiedliche Definitionen von Funktion (Erden et al. 2008). Allgemein
kann Funktion als eine lösungsneutral beschriebene Beziehung zwischen Eingangs- und
Ausgangsgrößen beschrieben werden (VDI 2221:1993-05). Wichtig für die Gestaltung
ist, dass Funktion zwei unterschiedliche Aspekte hat:
• Funktion als Zweck – Soll-Funktion:
Die Soll-Funktion beschreibt den Zweck eines Produkts oder eines seiner Teilsysteme. Die Soll-Funktion gilt es zu erfüllen, da der Zweck die Existenzberechtigung eines technischen Systems darstellt.
• Funktion als Verhalten – Ist-Funktion:
Die Ist-Funktion beschreibt das tatsächliche Verhalten des Produkts oder eines seiner
Teilsysteme. Das Verhalten entsteht durch die Interaktion der Gestaltparameter miteinander und auch in Wechselwirkung des Produkts zur Systemumgebung.
Beispiel
Auf zwei der veränderten Anforderungen im Entwicklungsprojekt des Bolzensetzgerätes wird im Folgenden näher eingegangen. Eine der veränderten Anforderungen
ist die Reduzierung der Ausfallrate über die Lebensdauer, eine weitere, auch auf
härteren Stahlträgern der Stahlsorte S355J2 Nägel eintreiben zu können. Allein
aus diesen Anforderungen heraus eine Gestalt zu finden, mit der die veränderten
Funktionen erfüllt werden, ist schwierig, weil der Zusammenhang zwischen der
Funktionserfüllung und den vorhandenen und zu verändernden Gestaltparametern
nicht klar ist. Deshalb wird zunächst in einer Analyse ermittelt, welche (Teil-)
Funktionen besonders häufig ausfallen und welche Gestaltparameter für diese (Teil-)
Funktionen relevant sein könnten. Zugleich muss vorausgedacht werden, welchen
Einfluss die erhöhten Belastungen aus dem zusätzlichen Energiebedarf zum Eintreiben des Nagels auf das Bolzensetzgerät haben könnten, und ob dadurch bislang
unkritische Komponenten in ihrer Funktion beeinflusst werden oder die geforderte
Lebensdauer nicht mehr erreichen. Die Aktivität der Analyse beginnt mit der
Betrachtung von Rückläufern vom Markt, um die real auftretenden Belastungen
ermitteln zu können. So wird die vorige Produktgeneration genutzt, um Erkenntnisse für die Gestaltung zu gewinnen. Dabei zeigt sich, dass die Nichterfüllung einer
Teilfunktion der Funktion „Bolzensetzgerät repetieren“ für Ausfälle sorgt. Beim
Repetieren wird der Kolben nach dem Setzen in Ausgangsstellung gebracht und die
magazinierten Nägel und Kartuschen nacheladen. Die Komponente „Schiebernase“,
408
S. Matthiesen
die den beschleunigten Kolben nach erfolgreichem Setzen des Nagels zurückholt, versagt in manchen Power-Tools vorzeitig. Die Funktion „Rückholen des Kolbens durch
die Schiebernase“ wird deshalb als kritisch identifiziert.
Nachdem diese kritische Funktion identifiziert ist, geht es darum, sie zu
optimieren. Dazu muss in einer Analyse zunächst verstanden werden, warum sie
durch die bisherige Gestalt nicht ausreichend erfüllt wird. ◄
Analyse in der Gestaltung
Ziel der Analyse ist es, Erkenntnisse zu den Zusammenhängen von Gestalt und
Funktion zu erlangen. Es wird entweder analysiert, wie sich ein Produkt überhaupt verhält, oder inwiefern es gelungen ist, eine Gestalt zu synthetisieren, die in der Lage ist,
die gewünschte Funktion unter den gegebenen Randbedingungen zu erfüllen. In der
Gestaltung sollte jedem Syntheseschritt ein Analyseschritt folgen, um die synthetisierte
Lösung zu überprüfen. Allgemein wird eine Analyse in der Gestaltung immer mit
dem Ziel durchgeführt, synthesefähig zu werden. Sie wird deshalb auch als synthesegetriebene Analyse bezeichnet. Das bedeutet, dass während der Analyse Merkmale
herausgearbeitet werden, die als Stellgrößen für die Synthese einen Zusammenhang zur
gewünschten Funktion oder dem Systemverhalten besitzen. Mit ihnen kann die Gestalt
dann in der Synthese gezielt erzeugt oder angepasst werden. Die Analyse kann dabei auf
verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichem Fokus und Aufwand durchgeführt werden:
• Durchdenken der Zusammenhänge im System
Eine Analyse sollte zunächst im Kopf durchgeführt werden. Dabei wird versucht, zu
verstehen wie sich ein System verhält und zu reflektieren, ob die im Syntheseschritt
erdachte Gestalt tatsächlich in der Lage ist, die Funktion zu erfüllen. Diese Form
der Analyse benötigt eine schon vorhandene Entwicklungsgeneration oder ähnliche
Teilsysteme oder Produkte und es sollte angestrebt werden, möglichst früh in der
Gestaltung die Analyse durch Beobachtungen zu stützen.
• Analyse der Dokumentation
Die Analyse von vorliegender Dokumentation ist meist eine der ersten Analyseaktivitäten in der Gestaltung. Durch das zielgerichtete Durcharbeiten von Zeichnungen,
Versuchsergebnissen und weiteren Dokumenten, die Gestalt- und/oder Funktionsaspekte abbilden, wird versucht, das Modell des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs
möglichst weitgehend zu füllen.
• Beobachten des Systems
In der Beobachtung eines Systems können unbekannte Wechselwirkungen und
Einflussgrößen aufgedeckt und erkannt werden. Diese Form der Analyse bedingt, dass
zumindest ähnliche Produkte oder Teilsysteme des zu entwickelnden Produktes vorliegen.
Ein Ziel in der Gestaltung sollte sein, möglichst früh eine Analyse durch Beobachtung
durchführen zu können. Dadurch können früh unvorhergesehene Zusammenhänge
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
409
aufgedeckt und kostspielige Iterationen vermieden werden. Die beobachtbaren
Zusammenhänge sind dabei abhängig von der Wahl des Umgebungssystems, deshalb
muss das Umgebungssystem mit Bedacht gewählt und oft auch variiert werden.
• Abgleich von Ist- und Soll-Funktion
Ein wichtiger Schritt in der synthesegetriebenen Analyse ist der Vergleich von tatsächlichem Verhalten (Ist-Funktion) mit der Soll-Funktion. Ziel ist es hier, Erkenntnisse bezüglich der qualitativen und quantitativen Funktionserfüllung des Produkts zu
gewinnen und zu prüfen, ob ein erneuter Syntheseschritt notwendig ist.
Beispiel
In der Analyse der Schiebernasen der Marktrückläufer des Vorgängergerätes wird
das System von einem sehr erfahrenen Konstruktionsingenieur durchdacht. Dabei
entwickelt er ein Verständnis, welche Gestaltparameter wie mit der Ausfallursache
zusammenhängen. Aufgrund seiner Erfahrung gelingt ihm das durch das reine
Durchdenken des Systems. Ihm ist es dadurch möglich, eine optimierte Gestalt zu
synthetisieren, die in Abb. 13.8 rechts dargestellt ist. In der Repetiereinheit (Mitte
links im Bild) ist auch erkennbar, dass die Schiebernase im Betrieb nicht beobachtbar
ist, da sie in einer vollständig geschlossenen Führung läuft.
Dieses Durchdenken des Systems ist für Außenstehende nicht einsehbar und
von den erfahrenen Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieuren oft auch nicht
explizierbar. Für ihre weniger erfahrenen Kolleginnen und Kollegen ist es deshalb oft schwierig nachzuvollziehen, wie die Gestalt der Lösung entstanden ist. In
schwierigen Fragestellungen der Gestaltung tritt häufig der Fall auf, dass das implizite
Durchdenken des Systems auch bei erfahrenen Ingenieurinnen und Ingenieuren
F
F
F
F
F
Bolzensetzgerät
Repetiereinheit
F
Schiebernase aus dem
Vorgängerprodukt
F
Optimierte
Schiebernase
Kraft in einer Kontaktstelle
Lastpfad durch das Bauteil
Veränderung im Material
Abb. 13.8 Gestaltung der Schiebernase am Bolzensetzgerät nach (Matthiesen et al. 2018)
410
S. Matthiesen
nicht mehr ausreicht, um synthesefähig zu werden. Unterstützen kann dann zusätzlich die Analyse der Dokumentation des Vorgängerproduktes und die Beobachtung
von realen Systemen. Aus der Dokumentation des Vorgängerprodukts des Bolzensetzgerätes ist erkennbar, welche Passungen definiert wurden, welche Materialien
verwendet wurden, wie es in seine Umgebung eingebettet ist usw. Wichtig ist dabei,
sich an bewährtes anzulehnen und nur das zu verändern, was unbedingt verändert
werden muss. Um die Ursache des Versagens der Schiebernase zu finden und herauszufinden, warum die vom erfahrenen Kollegen entwickelte Lösung funktioniert, wird
eine Analyse der Marktrückläufer durchgeführt. In der Aktivität „Beobachten des
Systems“ kann über die realen Wirkflächenpaare auf das tatsächliche Verhalten des
Systems geschlossen werden. Häufig unterscheiden sich die idealen Wirkflächenpaare aus der Dokumentation von den real auftretenden, beispielsweise sind die
verschlissenen Flächen an der realen Komponente kleiner als die im CAD-Modell
definierten. Am Bolzensetzgerät zeigt sich, dass die Schiebernasen charakteristische
Verschleißspuren an verschiedenen Zonen aufweisen. Sie geben Hinweise darauf,
wie der reale Lastpfad in der Schiebernase bei den schwierig zu durchschauenden
Kraftverläufen während des Setzvorgangs durch Zündung, Rückstoß, Gegenhalten
des Anwenders, mehrachsige Belastung beim Repetieren usw. verläuft. Diese Kraftangriffspunkte sind in Abb. 13.8 mittig und rechts dargestellt. Sie sind aus der
Dokumentation allein nicht genau vorhersagbar und extrem schwierig zu messen
(vergleiche auch Abschn. 13.6.1). Aus dem Erkennen der real auftretenden Kontaktstellen wird ersichtlich, wie der Lastpfad durch die Komponente verläuft und wo die
Schiebernase überlastet wird. Eine Überprüfung der Ist-Funktion durch Berechnung/
Simulation der Kräfte in den ermittelten Kontaktstellen ist quantitativ nicht möglich,
da die Höhe der Kräfte weiterhin unbekannt ist. Ein Vergleich des Vorgängers und des
neu konstruierten Bauteils durch eine FE-Simulation zeigt eine deutlich reduzierte
Spannung, damit bestätigt die überprüfende Analyse den Synthesevorschlag des
erfahrenen Kollegen. Die Analyse ist damit abgeschlossen, dass die Versagensursache
gefunden und das Problem durch eine konstruktive Änderung der Komponente
behoben wurde. ◄
Synthese in der Gestaltung
Ziel der Synthese ist es, eine Gestalt zu definieren, mit der die benötigten SollFunktionen unter den gegebenen Randbedingungen erfüllt werden können. Die definierte
Gestalt ist dabei Mittel zum Zweck, da Funktionen nicht direkt, sondern nur über
Merkmale der Gestalt beeinflusst werden können. Um synthesefähig zu werden, muss
ein Zusammenhang zwischen den Merkmalen der Gestalt und der zu realisierenden
Funktion hergestellt werden. Dieser Zusammenhang kann in einem geeigneten Modell
beschrieben werden. Ist der Gestalt-Funktion-Zusammenhang nicht bekannt, muss ein
Analyseschritt vor der Synthese erfolgen.
Gestaltung beginnt immer dann mit der Aktivität Synthese, wenn bereits Erfahrungen
mit ähnlichen Produkten vorliegen. Ist das nicht der Fall, beginnt die Gestaltung mit der
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
411
Aktivität der Analyse, um ein initiales Modell zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang zu
entwickeln. Auf dieser Basis kann dann die Synthese erfolgen. Erfahrene Konstruktionsingenieure und Konstruktionsingenieurinnen binden Erkenntnisse aus früheren Analysen oft unbewusst in ihre Entwicklungsprojekte ein und können dadurch direkt mit der
Synthese beginnen.
Beispiel
Aus der Analyse kann in einer Synthese durch Verschiebung von Bauteilvolumen eine
verbesserte Gestalt erzeugt werden (siehe Abb. 13.8, rechts), mit der die Funktion
„Bolzensetzgerät repetieren“ unter den Anforderungen „reduzierte Ausfallrate“ und
„Setzen von Nägeln auf dem härteren Stahl“ erfüllt werden kann. Abb. 13.8 zeigt den
Unterschied in konstruktiven Details der Schiebernase, die nach dem gleichen Konzept
wie der Vorgänger funktioniert, aber eine deutlich höhere Lebensdauer aufweist.
Retrospektiv erscheint dieser Zusammenhang zwischen Kerbe und Überlastung einfach. Das liegt daran, dass bei retrospektiv beschriebenen Entwicklungsbeispielen die Lösung und damit das Problem selbst bereits bekannt sind. In der
Gestaltung müssen Erkenntnisse zu auftretenden Problemen erst in einer Analyse
herausgearbeitet werden. Die Identifikation der Krafteinleitungsstellen in der realen
Anwendung ist entscheidend dafür, dass die geometrischen Lagen der Kontaktstellen
als entscheidende Gestaltmerkmale für eine Verbesserung der Funktionserfüllung
erkannt werden können. Eine Übersicht dieses Vorgehens gibt Abb. 13.9 ◄
Das Modell des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs
In der Gestaltung wird immer eine Vorstellung davon benötigt, wie das Produkt seine
Funktionen erfüllen kann und welche Gestalt dazu geeignet sein könnte. Im Zentrum
der Übersichtsgrafik der Gestaltung (Abb. 13.3) steht deshalb das Modell des GestaltFunktion-Zusammenhangs, um das herum die oben beschriebenen Aktivitäten und
Begriffe angeordnet sind. Ohne diese Modellvorstellung kann nicht gestaltet werden. Sie
muss mindestens implizit im Kopf vorliegen, kann aber auch expliziert werden. Implizite
Modelle sind individuell verschieden und oft schwer greifbar. Sie können durch verschiedene Modellsprachen expliziert werden und beinhalten dann je nach Reichweite
und Fokus der Modellsprache verschiedene Aspekte des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs. Ein Beispiel für ein solches Modell ist das Beschreibungsmodell der statistischen
Versuchsplanung (vergleiche auch (Siebertz et al. 2010)), mit dem Zusammenhänge von
Gestaltparametern und Funktion mathematisch dargestellt werden können. Andere Beispiele sind CAD-Animationen, mit denen kinematisches Verhalten von Komponenten
visualisiert werden kann, oder FE-Modelle, in denen Belastungen auf Komponenten
abgebildet sind. Auch eine Skizze, die das Verhalten eines Produkts darstellt, kann als
explizites Modell betrachtet werden. Das C&C2-Modell, das speziell zur Unterstützung
der Gestaltung durch Dokumentation des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs entwickelt
wurde, wird im Abschn. 13.5 detaillierter vorgestellt.
412
S. Matthiesen
Erfahrung im
Entwicklungsteam
Vorhergehende
Produktgenerationen
Systemanalyse
Systemanalyse
Dokumentation
Vorgängerprodukt
Synthese einer
geeigneten Gestalt
Synthese
Analyse
Gestalt überprüfen und
evaluieren:
Synthese
Gestalt erzeugen, die
eine Funktion erfüllt:
Analyse
Gestalt-FunktionZusammenhang
identifizieren:
Beispielsweise FEM
Simulation
Prüfung
Abb. 13.9 Funktion identifizieren, umsetzen und prüfen (Matthiesen et al. 2018)
Konstruktionsingenieurinnen und –ingenieure greifen ausnahmslos auf diese implizit
oder explizit vorliegenden Modelle zurück, um Funktionen in eine Produktgestalt umzusetzen. In diesen Modellen liegen Vermutungen und Erkenntnisse zu den Zusammenhängen von Gestalt und Funktion im Produkt vor. Vermutungen sind dabei Annahmen,
die getroffen, aber noch nicht geprüft wurden. Sie können durch eine geeignete Überprüfung wie beispielsweise durch den Test eines Funktionsprototyps in Erkenntnisse
überführt werden. Gewonnene Erkenntnisse werden wieder in den Modellen abgelegt.
Um zu verstehen, warum Gestaltung ohne Modelle nicht möglich ist, hilft eine allgemeine Betrachtung des Begriffs Modell. Nach Stachowiaks „Allgemeiner Modelltheorie“ (1973) kann Erkenntnis grundsätzlich nur innerhalb eines Modells oder durch
Modelle entstehen.
13
u
Gestaltung – Prozess und Methoden
413
„[…] alle Erkenntnis [ist] Erkenntnis in Modellen oder durch Modelle,
und jegliche menschliche Weltbegegnung überhaupt bedarf des Mediums
‚Modell‘“. (Stachowiak 1973), S. 56
Generell haben Modelle drei wesentliche Merkmale: das Abbildungsmerkmal, das Verkürzungsmerkmal und das pragmatische Merkmal (Stachowiak 1973). Das Abbildungsmerkmal bedeutet, dass es zu jedem Modell ein Original gibt, das durch das Modell
abgebildet wird und das selbst auch wiederum ein Modell sein kann. Dieses Original
kann auch erst noch erstellt werden, es muss für die Modellbildung noch nicht vorliegen. Die Herausforderung in der Gestaltung ist, dass das Original erst durch das
Modell entsteht, also Modelle die relevanten Aspekte eines nicht vorhandenen Originals
abbilden müssen. In der Gestaltung ist es besonders wichtig, das Modell nicht mit
dem Original zu verwechseln. Beispielsweise kann es ein riskanter Trugschluss sein,
aus einem kinematisch kollisionsfreien CAD-Modell auf ein ebensolches Produkt zu
schließen, da in diesem Modell zumeist noch keine Fertigungs- und Umgebungseinflüsse abgebildet werden. Abb. 13.10 zeigt, wie das Verhalten eines realen Systems vom
ideal konstruierten abweichen kann, wenn das Modell bestimmte Aspekte des Originals
nicht berücksichtigt (in diesem Fall die Abweichung durch die Fertigung). Das in Rot
dargestellte Wirkflächenpaar (Definition in Abschn. 13.5.1) zeigt eine Abweichung vom
idealen Modell zum realen Produkt. Der Unterschied in der Größe des idealen Wirkflächenpaars (links) und des real gefertigten (mittig) führt über eine höhere Spannung
zum verstärkten Verschleiß und verändert dadurch die Lage des Wirkflächenpaars über
die Lebensdauer (rechts dargestellt).
Zweck: Übermäßigen Verschleiß in einem
Wirkflächenpaar erklären
F
F
C1
C1
C2
F
WFP1
WFP1
LSS1
LSS1
WFP2
Konstruiertes WFP1
C2
WFP2
Gefertigtes WFP1
C1
WFP1
LSS1
C2
WFP2
Verschlissenes WFP1
Abb. 13.10 Abweichung der realen von der idealen Gestalt in einem Wirkflächenpaar (Matthiesen
et al. 2018), nach Lemburg (2009)
414
S. Matthiesen
Das Verkürzungsmerkmal ist in der Gestaltung notwendig, da technische
Produkte bezüglich ihrer Funktionsweise oft durch ihre Menge an Komponenten
und deren Zusammenhänge nicht leicht verständlich, d. h. ihre inneren GestaltFunktion-Zusammenhänge kompliziert sind. In der Nutzung von Produkten treten
zudem Wechselwirkungen zwischen Produkt und Umwelt auf. Dadurch entsteht ein
komplexes3 Gesamtsystem, dessen Gestalt-Funktion-Zusammenhänge nicht mehr eindeutig beschreibbar sind. Jede Umwelt, also jeden Anwendungsfall und jede denkbare
Umgebung, in der das Produkt eingesetzt wird, zu berücksichtigen, ist in der Gestaltung
nicht möglich. Um mit diesem komplexen Gesamtsystem umgehen zu können, werden
Modelle benötigt, die die Realität vereinfachen und dadurch handhabbar machen und
durch die gleichzeitig die für die Funktionserfüllung relevanten Details der Gestalt
erkennbar werden. Das berühmte Zitat von Einstein „Man soll die Dinge so einfach
machen wie möglich - aber nicht einfacher“ beschreibt die dadurch entstehende Herausforderung in der Modellbildung für die Gestaltung treffend. Eine unnötige Genauigkeit
beim Modellbilden verhindert ein effizientes Vorgehen. Andererseits besteht das Risiko,
elementar wichtige Zusammenhänge nicht abzubilden, wenn das Modell zu stark vereinfacht wird.
Das pragmatische Merkmal bedeutet in der Gestaltung, dass ein Modell immer
zweckgebunden erstellt wird und nur für diesen Zweck Gültigkeit besitzt. Bei Verwendung und besonders der Wiederverwendung von Modellen muss beachtet werden,
wie weit der neue Zweck des Modells von seinem ursprünglichen Zweck abweicht und
wie sich die Aussagefähigkeit des Modells dadurch verändert. Ein Produkt kann nie vollständig mit Modellen beschrieben werden, da diese Modelle immer einem bestimmten
Zweck dienen. Dieser Zweck kann beliebig variieren.
u
Vollständigkeit sollte niemals angestrebt werden, da Modelle durch die
Zweckorientierung und ihren verkürzenden Charakter nie vollständig sein
können.
Die Strategie der Modellbildung der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge sollte deshalb
immer lauten: Modelliere gut genug, um synthesefähig zu werden, aber nicht detaillierter
und umfangreicher als dazu notwendig.
In der Gestaltung entsteht die letztendlich im Produkt umgesetzte Gestalt meist nicht
in einem Syntheseschritt, sondern in vielen Wiederholungen von Analyse und Synthese.
Das ist in Abb. 13.3 durch die Darstellung der Aktivitäten abgebildet. In diesem
3Kompliziertheit
bedeutet, dass viele miteinander verknüpfte Einflussfaktoren existieren, deren
Zusammenhänge aber mit entsprechendem Aufwand erfassbar und Verhaltensmuster im System
damit vorhersagbar sind. Komplexität bedeutet, dass Einflussfaktoren und Zusammenhänge nicht
vollständig erfasst werden können. Verhaltensmuster im System können deshalb beobachtet, aber
nicht vorhergesagt werden. Vgl. auch Kurtz und Snowden 2003.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
415
iterativen Wechselspiel von Synthese und Analyse wird neben dem Produkt auch das
Modell zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang aufgebaut.
u
Wird in der Analyse festgestellt, dass das Modell die benötigten Erkenntnisse noch nicht in ausreichender Güte beinhaltet, muss es in einer Iteration
verfeinert werden.
Wenn festgestellt wird, dass eine Vermutung [Modellvorstellung] nicht ausreichend mit
der Realität übereinstimmt, wird eine Iteration notwendig (Meboldt et al. 2012). Dieser
Fall wird auch als Falsifizierung des Modells bezeichnet. Eine Falsifizierung entsteht
immer aus einer Überprüfung, in der die Vermutung in eine Erkenntnis überführt wird.
Auch falsifizierte Vermutungen können beim Gestalten helfen. Erfolgsentscheidend ist,
möglichst früh und günstig zu iterieren, damit schnell eine zielführende Synthese durch
das korrigierte und verfeinerte Modell möglich wird. Eine Strategie in der Gestaltung
kann auch sein, Iterationszyklen gezielt zu provozieren, um das Modell des GestaltFunktion-Zusammenhangs zu korrigieren und zu verfeinern.
Herauszufinden, wie das Modell verfeinert werden muss, oder warum die getroffene
Annahme nicht zutraf, ist die zentrale Herausforderung bei auftretenden Iterationen.
Diese Herausforderung kann durch geeignete Versuche, Simulationen oder auch rein
gedanklich angegangen werden (vergleiche auch Abschn. 13.6.2). Das korrigierte und
verfeinerte Modell der Zusammenhänge von Gestalt und Funktion hilft, das Produkt
zielgerichtet zu entwickeln. So entsteht iterativ eine Entwicklungsgeneration nach der
anderen, bis die Gestaltungsaufgabe erfüllt ist und das Produkt auf Basis seiner Gestaltdokumentation hergestellt werden kann.
13.3.1Grundlegende Empfehlungen zum Vorgehen in der
Gestaltung
In der Gestaltung sind einige grundlegende Vorgehensweisen empfehlenswert, um
erfolgreich zu sein. Diese werden hier kurz im Überblick beschrieben und in den
folgenden Kapiteln näher ausgeführt. Eine initial wichtige Vorgehensweise ist der
Umgang mit kritischen Funktionen. Zunächst wird anhand der Eingangsgrößen festgelegt, welche Funktionen wann im Produkt umgesetzt werden sollen. Hierbei empfiehlt
es sich, die kritischen Funktionen priorisiert anzugehen, um das Risiko für gravierende
Iterationen im späteren Verlauf zu reduzieren. Kritische Funktionen sind Funktionen,
bei denen das Lösungskonzept verworfen werden muss, wenn sie nicht erfüllt werden
können. Zu ihnen werden häufig Mindestanforderungen im Lastenheft definiert. Mit den
kritischen Funktionen steht und fällt der Erfolg der Gestaltung. Wird in der Gestaltung
klar, dass die kritische Funktion nicht erfüllt werden kann, gibt es drei Möglichkeiten:
416
S. Matthiesen
• Eine Iteration aus der Gestaltung heraus zurück in die Phase des „Suchen nach
Lösungsprinzipien und deren Strukturen“ (Vgl. Abb. 13.1)
• Die Aufgabe von Anforderungen, die nicht gehalten werden können
• Der Abbruch des gesamten Entwicklungsprojekts.
u
In der Gestaltung sollte die kritische Funktion so früh wie möglich durch
einen Funktionsprototyp überprüft werden.
Die Erzeugung eines Funktionsprototyps zum Nachweis der Erfüllung der kritischen
Funktion und die Entwicklung einer Analyseumgebung zu seiner Überprüfung sollten
höchste Priorität haben. Es empfiehlt sich, im Funktionsprototyp zunächst möglichst nur
die kritische Funktion ohne weitere Nebenfunktionen abzubilden, da mit zunehmendem
Funktionsumfang in den Prototypen die Erkenntnisse zu einzelnen Gestalt-FunktionZusammenhängen schwieriger herauszuarbeiten sind. Es gibt zwei Möglichkeiten,
kritische Funktionen früh zu erkennen. Das kann über Anforderungsunterschiede zum
Referenzprodukt4 oder auf Basis von Erfahrungen mit den zu realisierenden Funktionen
geschehen:
• Anforderungsunterschiede zum Referenzprodukt:
Liegt die Anforderungsliste zum Referenzprodukt vor, kann ein Vergleich der
Anforderungen stattfinden. Neue oder veränderte Anforderungen können ein Indiz für
den Grad der Schwierigkeit bei ihrer Realisierung sein. Kritische Funktionen können
auf Basis dieses Vergleichs erkannt werden.
• Erfahrung mit der zu realisierenden Funktion:
Ob eine Funktion als kritische Funktion eingeschätzt wird, hängt auch von den
Erfahrungen im Entwicklungsteam ab. Je mehr Erfahrung zu einer Funktion im Team
vorliegt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gestalt entwickelt werden
kann, die in der Lage ist, die Funktion zu erfüllen. Abhängig von der Konfidenz, d. h.
der Einschätzung, wie schwierig es wird, die Funktion umsetzen zu können, werden
Funktionen als kritisch oder weniger kritisch bewertet.
Sind die kritischen Funktionen identifiziert, ist es wichtig, ihre Zusammenhänge zur
Produktgestalt zu verstehen. Die Bildung von expliziten, also dokumentierten Modellen
zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang hilft dabei, die Gedankengänge zu strukturieren.
Sie sollte schon früh in der Gestaltung erfolgen. Mit expliziten Modellen können die
4Referenzprodukte
können neben unternehmenseigenen Vorgängerprodukten auch Wettbewerbsprodukte oder branchenfremde Produkte sein. Auch unternehmenseigene Systeme, die noch nicht
oder nie Marktreife erlangt haben, können als Referenzprodukt dienen. Albers et al. 2017b.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
417
Gedankengänge in der Analyse und Synthese leichter nachvollzogen werden und Wissen
zu gefundenen Zusammenhängen ist verfügbar. Abschn. 13.5.2. Dabei können Werkzeuge des Wissensmanagements unterstützen, wenn sie in Modelle der Gestaltung
integriert werden und so beispielsweise Anforderungen und Randbedingungen für die
Konstruktion leichter verfügbar machen (Katzwinkel et al. 2017).
u
In der Gestaltung unterstützen Modelle des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs
dabei, das Produkt vorzudenken, zu verstehen und synthesefähig zu werden.
Beim Verfeinern eines Modells zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang kann es vorkommen, dass sogenannte „Beobachtungsbarrieren5“ auftreten, weil die Zusammenhänge von Funktion und funktionsrelevanten Gestaltparametern schwierig aufzudecken
sind. Hier können geeignete Analysemethoden helfen, die Zusammenhänge erkennbar zu machen. Abschn. 13.6. Die Gestaltung beschränkt sich meist nicht allein auf die
Synthese und Analyse des Produkts. Es empfiehlt sich, früh mit dem Aufbau geeigneter
Analyseumgebungen, beispielsweise in Form von Prüfständen zu beginnen, da ohne
erkannte Zusammenhänge aus der Analyse die Gestaltung schwierig wird. Mit diesen
Prüfständen können quantitative Gestalt-Funktion-Zusammenhänge analysiert werden.
Abschn. 13.6.5. Sind Vermutungen zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen für die
Synthese nicht sicher genug bekannt, sollten sie überprüft werden. Dadurch werden
Erkenntnisse gewonnen. Um diese Erkenntnisse zu gewinnen, werden Hypothesen
zum Zusammenhang von Gestaltmerkmal und Funktion aufgestellt und überprüft.
Konstruktionshypothesen bieten hier eine Hilfestellung, um aus unsicheren Vermutungen
zu Erkenntnissen für die Gestaltung zu gelangen. Abschn. 13.6.2. In der synthesegetriebenen Analyse sollte der Fokus immer darauf liegen, die Erkenntnisse so schnell
und günstig wie möglich und so gut wie notwendig zu erzeugen. Dabei unterstützen verschiedene Arten von Prototypen und Prüfungsmöglichkeiten, die im Testing zur Überprüfung der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge genutzt werden. Abschn. 13.6.4.
Nachdem eine neue Gestalt synthetisiert wurde, ist der Schwerpunkt der
anschließenden Analyse der Abgleich von Ist-Funktion und Soll-Funktion. Ergebnis der Analysephase sind Erkenntnisse dazu, ob und in welcher Qualität die Gestalt
die gewünschten Funktionen erfüllt. Aus diesen Erkenntnissen kann eine Entscheidung
zum weiteren Vorgehen in der Gestaltung getroffen werden. Bei einem erfolgreichen
Test wird entweder der Reifegrad der Funktionserfüllung in einer Funktionsoptimierung
erhöht oder das die Funktion erfüllende Teilsystem in der Funktionsintegration in das
Produkt integriert. Vgl. auch Abschn. 13.6.4.
5Die
Beobachtungsbarriere bezeichnet eine eingeschränkte Zugänglichkeit der Gestaltfunktionselemente für eine Beobachtung des Systemverhaltens.
418
S. Matthiesen
• Funktionsoptimierung:
Die Erhöhung des Reifegrads kann darin bestehen, eine zunächst qualitative
Funktionserfüllung („wird die Funktion überhaupt erfüllt“) in eine quantitative
Erfüllung („wird die Funktion in < 2 s erfüllt“) zu überführen. Diese Aktivität findet
schwerpunktmäßig in der „Gestaltung der Module“ nach der VDI2221 statt.
• Funktionsintegration:
Eine Funktionsintegration beschreibt die Übernahme des geprüften Teilsystems
in das Gesamtsystem, um seine Wechselwirkungen zu betrachten. Sie findet
schwerpunktmäßig in der „Integration ins gesamte Produkt“ nach der VDI2221 statt.
u
Funktionen im Produkt zeitnah in einer geeigneten Form zu überprüfen ist
wichtig, um zielführend und risikoarm gestalten zu können.
13.4Risiken in der Gestaltung abhängig von den zentralen
Eingangsgrößen
In der Gestaltung besteht das Risiko, die gestellte Aufgabe gar nicht oder nicht ausreichend gut zu erfüllen. Auch wenn die Gestaltungsaufgabe erfüllt wird, besteht das
Risiko, das Projektbudget oder den zeitlichen Rahmen zu sprengen und dadurch zu
scheitern. Dabei hängt das Risiko vom Vorhandensein, dem Detaillierungsgrad und der
Datenqualität der Eingangsgrößen ab (Abschn. 13.2). Wenn eine Gestaltdokumentation
eines Vorgänger- oder Referenzprodukts vorliegt, ist es für den Erfolg der Gestaltung
entscheidend, dass diese als Ausgangsbasis genutzt und ein Zusammenhang zur
Funktionserfüllung gebildet wird. Das Projektrisiko kann entsprechend der Abb. 13.11
in vier Risiko-Cluster unterschieden werden. Dabei hat Risikocluster 1 das geringste,
Risikocluster 4 das größte Risiko.
• Risiko-Cluster 1: Gestalt und Zusammenhänge explizit dokumentiert
Die Gestaltdokumentation des Vorgängerproduktes liegt im Unternehmen vor und
es ist dokumentiert, warum welches Gestaltdetail wie gewählt wurde und wie es
mit der Funktion des technischen Systems zusammenhängt. Explizit vorliegendes
Wissen zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang kann bei der Gestaltung des neuen
Produktes genutzt werden. Wissen zur Gestalt (Geometrie, Materialeigenschaften,
Wärmebehandlungen usw.) ist im 3D-Produktmodell, den technischen Zeichnungen
und weiteren technischen Dokumentationen hinterlegt. Außerdem ist der Zusammenhang mit der Funktion z. B. in Toleranzbetrachtungen, Entwicklungsberichten, Versuchsprotokollen, Simulationen oder expliziten C&C2-Modellen dokumentiert. Das
Risiko, in der Gestaltungsphase zu scheitern oder Entwicklungszeit- und kosten durch
Iterationen zu überschreiten, ist in diesem ersten Risiko-Cluster relativ gering.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
419
Abb. 13.11 Risiko-Cluster in der Gestaltung (Matthiesen et al. 2018)
• Risiko-Cluster 2: Gestalt explizit dokumentiert, Zusammenhänge implizit bekannt
Die Gestaltdokumentation des Produktes liegt vor, aber das Wissen, warum die
Gestalt des Referenz- oder Vorgängerproduktes so gewählt wurde, ist nur implizit in
den Köpfen der Mitarbeiter/-innen vorhanden. In diesem Fall gibt es im Unternehmen
noch Wissensträger, die sich daran erinnern können, warum welches Gestaltdetail
im Vorgängerprodukt gewählt wurde und wie die Qualität der Funktionserfüllung
mit diesen Gestaltdetails zusammenhängt. In diesem Fall ist das Entwicklungsrisiko
erhöht, da die Wissensträger zur richtigen Zeit am richtigen Ort eingesetzt werden
müssen, um ihr Wissen in der Gestaltung zu nutzen. In den meisten Unternehmen, in
denen Produktlebenszyklen wenige Jahre betragen, ist das der Regelfall.
• Risiko-Cluster 3: Gestalt explizit dokumentiert, Zusammenhänge unbekannt
Es liegt eine explizite Gestaltdokumentation vor, aber das Wissen bezüglich des
Zusammenhangs von Gestalt und Funktion ist nicht mehr vorhanden. Entweder
ist die Entwicklung des Vorgängerproduktes vor langer Zeit geschehen und die
damaligen Wissensträger haben die Gestalt-Funktion-Zusammenhänge vergessen,
oder die Wissensträger haben das Unternehmen bereits verlassen. Hier steigt das
Entwicklungsrisiko deutlich an. Wie ein Gestaltmerkmal gewählt wurde, ist aus der
Dokumentation erkennbar, aber warum es so gewählt wurde und wie relevant es für
eine Funktion ist, ist nicht bekannt. Zusammenhänge müssen erneut hergeleitet und
geprüft werden. Diese Tätigkeit kann erhebliche Projektressourcen binden. Dieser
Fall ist in Entwicklungsprojekten heute durch den beschleunigten Unternehmenswechsel von Wissensträgern häufiger als in der Vergangenheit.
420
S. Matthiesen
• Risiko-Cluster 4: Keine explizite Gestaltdokumentation vorliegend, Zusammenhänge sind unbekannt
Wenn in einem Unternehmen ein Produkt entwickelt wird, für das keine Gestaltdokumentation eines Vorgänger- oder Referenzproduktes vorliegt, liegt ein erhebliches Risiko vor. Hier sind weder Gestaltparameter noch ihre Zusammenhänge mit
der zu erfüllenden Funktion bekannt. In diesem Fall ist es besonders wichtig, die
Gestalt auf Basis von Erfahrungen mit Gestalt-Funktions-Zusammenhängen bei
bekannten Produkten, die auch außerhalb des Unternehmens entwickelt worden sind,
aufzubauen. Die Analogiebildung wird dabei umso schwieriger, je geringer die Verwandtschaft des bekannten Produktes mit dem zu entwickelnden Produkt ist. Damit
steigt das Risiko in der Gestaltungsphase weiter an.
Wie hoch das Risiko in diesem Fall ist, zeigt sich im Umfeld der Produktpiraterie.
Viele Plagiate, die auf den Markt kommen, funktionieren deutlich schlechter als das
auf den ersten Blick gleich wirkende Originalprodukt. Kopieren ist selbst bei am
Markt verfügbaren Produkten schwierig. Die vorliegende Gestalt kann zwar analysiert und vermessen werden, die relevanten Gestaltmerkmale, wie sie eine Gestaltdokumentation beinhaltet, können aus dem vorliegenden Produkt aber nur mit hohem
Aufwand oder überhaupt nicht abgeleitet werden. Insbesondere sind zulässige
Toleranzfelder mit ihren Grenzmaßen, Prozessschritte beim Härten, usw. im finalen
Produkt nicht ersichtlich. In diesem Fall müssen zunächst relevante Gestaltmerkmale
gefunden und dann ihre Zusammenhänge mit der Funktion herausgearbeitet werden.
Das ist zeitintensiv und mit hohem Risiko, nicht erfolgreich zu sein, verbunden.
Ohne eine vorliegende Gestaltdokumentation liegt in jedem Fall ein erhöhtes Risiko vor.
Sie ist als Basis zur Erarbeitung eines expliziten Gestalt-Funktion-Zusammenhangs notwendig. Allgemein kann eine Analyse, ob und in welcher Qualität die Eingangsgrößen vorliegen, Aufschluss darüber geben, mit welchen Problemen gerechnet werden muss. Daraus
können Ressourcen abgeschätzt werden, die in Erkenntnisgewinn zu Gestalt-FunktionZusammenhängen investiert werden müssen, um beim Gestalten erfolgreich zu sein.
13.5Contact&Channel-Ansatz – C&C2-A, ein Modell zur
Modellbildung
Um allgemein ein Modell aufzubauen, wird ein Metamodell benötigt, das die Struktur des
Modells vorgibt und ein gemeinsames Verständnis der Modellnutzer ermöglicht. Nach
Stachowiak (1973) beinhaltet ein Metamodell Modellelemente und Grundregeln zur
Modellbildung. Dieses Metamodell ist vergleichbar mit einer Sprache, in der Wörter vorhanden sind, die unter Anwendung der Grammatik konkrete Sachverhalte beschreiben
kann. Ein Metamodell, das zur Modellbildung von Gestalt-Funktion-Zusammenhängen
entwickelt wurde, ist der C&C2-Ansatz. Die mit diesem Ansatz gebildeten C&C2-Modelle
bilden konkrete Gestalt-Funktion-Zusammenhänge ab und können in der Gestaltung genutzt
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
421
werden. Sie sind mit Schriftstücken vergleichbar, in denen die Sprache und Grammatik
genutzt wird, um konkretes Wissen abzubilden. C&C2-Modelle können sich unterscheiden,
solange sie dabei helfen, dem Ziel der Gestaltung, der Erzeugung der Gestaltdokumentation
des herstellbaren Produkts näher zu kommen. Im Folgenden wird der C&C2-Ansatz als
Modell zur Modellbildung mit seinen Elementen und Anwendungsregeln beschrieben.
Weiter wird das mit dem Ansatz gebildete C&C2-Modell vorgestellt und eine Vorgehensweise beschrieben, um es aufzubauen. Der C&C2-Ansatz ist vor allem ein Werkzeug zum
Denken, denn die Gestalt und mit ihr die Zusammenhänge von Gestalt und Funktion entstehen zunächst als gedankliches Modell im Kopf.
u
Der C&C2-Ansatz ist ein Denkzeug, also ein Werkzeug zur Unterstützung
und Strukturierung des Denkens während der Gestaltung eines Produkts.
Er ist das Metamodell, mit dem konkrete C&C2-Modelle zum Zusammenhang von Gestalt und Funktion von existierenden oder zu entwickelnden
Produkten gebildet werden können.
Wenn größere Schwierigkeiten beim Gestalten entstehen und/oder Diskussionen im
Team notwendig werden, kann das gedankliche Modell zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen mit einem expliziten C&C2-Modell dargestellt werden. So können die funktionsrelevanten Gestaltparameter leichter identifiziert und für die Gestaltung genutzt werden.
Dabei gilt es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
13.5.1Elemente des C&C2-Ansatzes
Alle funktionsrelevanten Elemente eines technischen Systems können durch Kernelemente
des C&C2-Ansatzes modelliert werden. Sie werden auch als Gestaltfunktionselemente
bezeichnet und in Abb. 13.12 links oben dargestellt. Darunter sind weitere Elemente des
C&C2-Ansatzes erkennbar. Rechts sind die Grundhypothesen zur Anwendung der Gestaltfunktionselemente abgebildet. Die Bestandteile des C&C2-A werden.
Die im Folgenden beschriebenen Definitionen sind angelehnt an Matthiesen (2002)
und Albers (2014):
• Wirkflächenpaare (WFP):
Wirkflächenpaare sind Flächenelemente. Sie werden gebildet, wenn zwei beliebig
geformte Oberflächen fester Körper oder generalisierte Grenzflächen von Flüssigkeiten, Gasen oder Feldern in Kontakt treten und am Energie-, Stoff- und/oder
Informationsaustausch beteiligt sind.
• Leitstützstrukturen (LSS):
Leitstützstrukturen sind Volumenelemente. Sie beschreiben Volumina von festen
Körpern, Flüssigkeiten, Gasen oder felddurchsetzten Räumen, die genau zwei
422
S. Matthiesen
Abb. 13.12 Der C&C2-Ansatz - Modellelemente und Grundhypothesen (Matthiesen et al. 2018)
Wirkflächenpaare verbinden und eine Leitung von Stoff, Energie und/oder
Information zwischen ihnen ermöglichen.
• Connectoren (C):
Connectoren integrieren die wirkungsrelevanten6 Eigenschaften, die außerhalb
des Gestaltungsbereichs liegen, in die Systembetrachtung. Sie sind eine für die
Beschreibung der betrachteten Funktion relevante Abstraktion der Systemumgebung.
Connectoren haben eine repräsentative Wirkfläche und ein damit verknüpftes Modell
der relevanten Systemumgebung und liegen damit im Betrachtungsraum aber nicht im
aktuellen Gestaltungsraum.
6Wirkung
wird durch Effekte verursacht und tritt in den Wirkflächenpaaren, Leitstützstrukturen
oder Connectoren auf. Sie ist dabei immer Wechselwirkung nach dem Newton‘schen Prinzip von
Actio  = Reactio. Beispiele für Wirkungen sind Reibkräfte, die im Wirkflächenpaar auftreten oder
auch die Anziehung von zwei Magneten.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
423
Jedes C&C2-Modell beinhaltet die Kernelemente des C&C2-Ansatz. In bestimmten
Fällen in der Gestaltung kann es hilfreich sein, weitere, sogenannte Nebenelemente im
Modell zu betrachten. Nebenelemente, die zur Modellbildung genutzt werden können,
sind:
• Wirkflächen (WF):
Wirkflächen sind Oberflächen fester Körper oder generalisierte Grenzflächen von
Flüssigkeiten, Gasen oder Feldern, die dauernd oder zeitweise in Kontakt zu einer
weiteren Wirkfläche stehen und dann ein Wirkflächenpaar bilden.
• Begrenzungsflächen (BF):
Begrenzungsflächen sind Oberflächen fester Körper oder generalisierte Grenzflächen
von Flüssigkeiten, Gasen oder Feldern, die keine Wirkflächen sind.
• Reststruktur (RS):
Reststrukturen sind Volumina von festen Körpern, Flüssigkeiten, Gasen oder felddurchsetzte Räume, die nicht zur Leitstützstruktur werden.
In einigen Fällen ist es zudem wichtig, die aufgebauten C&C2-Modelle zu strukturieren.
Das kann beispielsweise notwendig werden, wenn das Produkt bei der Funktionserfüllung seinen Zustand verändert. Die Betrachtung von Zuständen ist meist essentiell
zum Verständnis von komplizierteren Zusammenhängen.
u
Ein Zustand beschreibt den Zeitraum, in dem sich das C&C2-Modell nicht
ändert. Ein neuer Zustand tritt ein, wenn sich Anzahl und/oder Eigenschaften
der Gestaltfunktionselemente verändern.
Zustände besitzen eine gewisse zeitliche Dauer. Sie werden je nach Zweck der
Modellbildung festgelegt. Je nach Wahl der Betrachtungsebene kann es sinnvoll sein,
einen Zustand zu betrachten, oder ihn in viele Unterzustände zu untergliedern, um
detailliertere Erkenntnisse zu gewinnen. Vergleiche auch das C&C2-Sequenzmodell
Abschn. 13.6.1. Der C&C2-Ansatz enthält zudem noch weitere strukturierende
Elemente, die je nach Aufgabenstellung und Bedarf bei der Modellbildung genutzt
werden können. Diese Elemente sind:
• Tragstruktur (TS):
Die Tragstruktur beschreibt die Menge der betrachteten Leitstützstrukturen. Sie wird
benötigt, wenn die Leitstützstrukturen aus unterschiedlichen C&C2-Modellen des zu
entwickelnden Produktes berücksichtigt werden müssen. Dieses ist der Fall, wenn
unterschiedliche Anwendungsfälle und Zustände für die Gestaltung relevant sind.
• Wirknetz:
Das Wirknetz beschreibt die Summe der im C&C2-Modell abgebildeten Gestaltfunktionselemente innerhalb eines Zustands des Produktes. Ein C&C2-Modell
beinhaltet immer genau ein Wirknetz.
424
S. Matthiesen
• Wirkstruktur:
Die Wirkstruktur ist die Summe der modellierten Wirknetze in einem Produkt. Sie
beinhaltet alle modellierten Gestaltfunktionselemente. Damit ist sie entscheidend
für die Funktionserfüllung des gestalteten Produktes. Die Wirkstruktur kann aus
vielen einzelnen C&C2-Modellen unterschiedlicher Detaillierung und verschiedener
Zustände bestehen. Sie wird in der Regel durch ein C&C2-Sequenzmodell abgebildet.
Abb. 13.13 gibt einen Überblick über die Zusammenhänge der Elemente des C&C2Ansatzes. Die Elemente des C&C2-Ansatzes können in zustandsabhängige und zustandsunabhängige Elemente unterschieden werden. Die zustandsabhängigen Kernelemente
bilden das Wirknetz. Das Wirknetz verändert sich, wenn das Produkt seinen Zustand
wechselt. Zustandsunabhängige Elemente bleiben vorhanden, wenn der Zustand des
Produkts wechselt. Sie müssen ebenfalls berücksichtigt werden, da durch ihre Gestaltung
die Kernelemente beeinflusst werden.
Um aus den betrachteten Elementen C&C2-Modelle aufbauen zu können, sind Regeln
notwendig, die beschreiben, wie diese Elemente in Beziehung zueinanderstehen. Im C&C2Ansatz gibt es drei Regeln zur Modellbildung, diese werden als Grundhypothesen bezeichnet:
• Grundhypothese 1: Funktion braucht Wechselwirkung
Jedes funktionsrelevante Element eines technischen Systems ist an der Funktionserfüllung durch Wechselwirkungen mit mindestens einem anderen funktionsrelevanten Element beteiligt. Wechselwirkungen finden nur statt bei Kontakt von
Wirkflächen (WF), die gemeinsam Wirkflächenpaare (WFP) bilden.
• Grundhypothese 2: Funktion braucht Mindestelemente
Eine Funktion erfordert mindestens zwei Wirkflächenpaare (WFP), die durch eine
Leitstützstruktur (LSS) verbunden sind, und durch jeweils einen Connector (C) in die
Umgebung eingebunden sind. Funktionsbestimmend sind dabei die Merkmale, Eigenschaften und Wechselwirkungen der Wirkflächenpaare, der Leitstützstrukturen und
der Connectoren.
Abb. 13.13 Die Struktur der Modellelemente des C&C2-Ansatzes (Matthiesen et al. 2018)
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
425
• Grundhypothese 3: Fraktaler Charakter der Modellbildung
Jedes Teilsystem kann mit den Gestaltfunktionselementen Wirkflächenpaar (WFP),
Leitstützstruktur (LSS) und Connector (C) auf verschiedenen Abstraktions- und
Detaillierungsstufen beschrieben werden. Dazu ist eine Variation der Anzahl, der
Anordnung und/oder der Eigenschaften der dargestellten Gestaltfunktionselemente
erforderlich.
Die Grundhypothesen definieren die Zusammenhänge der Kernelemente in der Modellbildung und die Möglichkeiten und Randbedingungen der Modellbildung. Besonders
wichtig im C&C2-Ansatz ist der „Paarcharakter“, der durch das Kernelement Wirkflächenpaar und die Grundhypothese 1 „Funktion braucht Wechselwirkung“ beschrieben
wird. Es wird nicht die einzelne Wirkfläche modelliert, sondern das Wirkflächenpaar,
weil die Wechselwirkungen für die Funktion relevant sind. In der Gestaltung werden
Funktionen intuitiv oft einzelnen Bauteilen zugeordnet. Funktion entsteht aber immer
im Zusammenspiel der Bauteile. So ist die Funktion „Dichten eines Getriebes“ nicht
nur von der Dichtlippe des Radialwellendichtrings, sondern auch von der Oberfläche
der interagierenden Welle und dem Wirkflächenpaar zwischen Dichtung und Gehäuse
abhängig. In der Gestaltung werden Probleme oft an Bauteilen gesucht. Die Grundhypothese 2 „Funktion braucht Mindestelemente“ hilft dabei, Ursachen von Problemen
im Systemkontext zu analysieren und zu lösen. Probleme bezüglich einer Funktionserfüllung haben ihre Ursache meist in Wechselwirkungen innerhalb des Produktes oder
mit seiner Umwelt. Um sie zu erkennen, muss Bauteildenken und örtliche Gebundenheit überwunden werden. Die örtliche Gebundenheit beschreibt die Zuordnung der
Funktionserfüllung zu einem Bauteil und nicht zu den Wechselwirkungen im System
oder mit der Umgebung. Durch seine Kernelemente und Grundhypothesen lenkt
der C&C2-Ansatz die Denkvorgänge in der Gestaltung auf den „Paarcharakter“ der
funktionsrelevanten Systembestandteile und bezieht die Systemumgebung mit in die
Betrachtung ein.
13.5.2Das Contact&Channel-Modell – C&C2-M, ein Modell zur
Beschreibung der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge im
Produkt
Ein C&C2-Modell wird gebildet, um in der Gestaltung synthesefähig zu werden.
Es bildet Gestalt-Funktion-Zusammenhänge in bestehenden oder zu entwickelnden
Systemen ab. Es hilft zudem, Vermutungen und Erkenntnisse zum Gestalt-FunktionZusammenhang zu dokumentieren und Gedanken zu strukturieren. Zudem kann es als
Diskussionsgrundlage im Team dienen. Es besteht aus verschiedenen Komponenten und
wird auf Basis von Anwendungsregeln der Modellbildung gebildet. In Abb. 13.14 ist
dargestellt, wie aus den Bestandteilen des C&C2-Modells und den Anwendungsregeln zur Modellbildung ein C&C2-Modell eines technischen Systems erstellt wird.
426
S. Matthiesen
Abb. 13.14  C&C2-Modell - Bestandteile und Anwendungsregeln zur Modellbildung (Matthiesen et al.
2018)
Dieses mittig erkennbare Modell stellt die Gestalt-Funktion-Zusammenhänge bei
der Drehmomentübertragung im Getriebe dar und dient der Vermittlung des C&C2Ansatzes im ersten Semester der Universitätsausbildung. C&C2-Modelle, die in realen
Gestaltungsprojekten mit höherer Systemkomplexität gebildet werden, sind in den
folgenden Kapiteln dargestellt.
Die ergänzenden Anwendungsregeln zu den Grundhypothesen werden in den
Kapiteln zur synthesegetriebenen Analyse Abschn. 13.6 und der Synthese Abschn. 13.7
näher erläutert. Die Komponenten des C&C2-Modells werden im Folgenden detaillierter
beschrieben:
• Zweck der Modellbildung:
Zweck eines C&C2-Modells ist immer eine Fragestellung, die den Gestalt-FunktionZusammenhang im zu entwickelnden Produkt betrifft. Beispielsweise könnte ein
Zweck lauten: „Identifikation von Gestaltmerkmalen, die für die Undichtigkeit im
Getriebe relevant sind.“ Jedes C&C2-Modell hat einen speziellen Zweck zu einem
Aspekt der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge. Es empfiehlt sich, diesen Zweck auch
explizit ins Modell aufzunehmen und zu dokumentieren. Dadurch kann er als Richtschnur bei der Modellbildung genutzt werden. Zudem kann später nachvollzogen
werden, warum das Modell gebildet wurde.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
427
• Modellelemente des C&C2-Ansatzes:
Die Kernelemente des C&C2-Ansatzes sind in jedem C&C2-Modell vorhanden.
Zusätzlich können abhängig vom Zweck des Modells noch Neben- und Strukturelemente vorhanden sein. Detaillierte Beschreibungen dieser Elemente wurden in
Abschn. 13.5.1 gegeben.
• Abbild des Systems bei der Funktionserfüllung:
Der C&C2-Ansatz verknüpft Gestalt und Funktion, deshalb ist ein Abbild des
Systems bei der Funktionserfüllung als Basis des C&C2-Modells notwendig. Dieses
Abbild kann dabei eine erste Skizze, ein CAD-Schnitt, ein Foto eines Prototyps oder
bestehenden Produktes, ein FE-Modell oder Ähnliches sein. Wichtig ist, dass die
Produktgestalt in der Abbildung vorhanden ist.
• Systemgrenze des Ortes und des Zustands:
Modelle in der Gestaltung müssen für komplexe Fragestellungen der Gestalt-FunktionZusammenhänge geeignet sein. Dies gelingt, indem sie die Realität vereinfachen und
gleichzeitig die für die Funktionserfüllung relevanten Details der Gestalt erkennbar
machen. Dafür muss der Umfang des Modells geeignet begrenzt werden. Die Systemgrenze ist von entscheidender Bedeutung für den Umfang und die möglichen Erkenntnisse in einem Modell. Sie muss im Produkt sowohl örtlich als auch zeitlich festgelegt
werden. Bereiche des Produktes, die gestaltet oder analysiert werden sollen, müssen
innerhalb dieser Systemgrenze des C&C2-Modells liegen. Die örtliche Systemgrenze
schränkt den Bereich im Produkt ein, der im Modell betrachtet wird. Sie ist wichtig,
um ein schlankes Modell zu ermöglichen. Die Wirkungen von außerhalb der Systemgrenze werden in den Connectoren abgebildet und so berücksichtigt. Die zeitliche
Komponente in C&C2-Modellen ist der Zustand. Die Systemgrenze des Zustands
schränkt die Gültigkeit des Modells ein. Um mehrere Zustände in C&C2-Modellen
abbilden zu können, wird das C&C2-Sequenzmodell genutzt. Abschn. 13.6.1
• Ein- und Ausgangsgrößen des betrachteten Systems:
Es empfiehlt sich, Ein- und Ausgangsgrößen wie Kraft, Moment, Bewegung, Stofffluss, Wärmestrom etc. in das Modell zu integrieren. Diese Größen werden durch die
Connectoren über die Systemgrenze des Modells übertragen. Sie werden zusätzlich
eingezeichnet und dienen so als Hilfe zum visuellen Verständnis des Modells.
13.5.3Vorgehen bei der Modellbildung mit dem C&C2-Ansatz
Analysephasen in der Gestaltung können bei auftretenden Schwierigkeiten durch die Bildung
eines C&C2-Modells unterstützt werden. Wie bei dieser Modellbildung in der Analyse vorgegangen werden kann, ist in Abb. 13.15 dargestellt und wird im Folgenden beschrieben.
Die beschriebenen Schritte müssen dabei nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge
ablaufen. Sie können je nach Modell variieren und werden auch häufig iterativ durchlaufen, wenn beispielsweise die Systemgrenze angepasst werden muss oder ein anderes
Systemabbild günstiger erscheint.
428
S. Matthiesen
Die gewünschte Funktion wird
nicht erfüllt
Ist der Gestalt-FunktionZusammenhang bekannt?
NEIN
Modellbildung in der Analyse
a)
Zweck der Modellbildung notieren
b)
Systemgrenze in Raum und Zeit festlegen
c)
System bei der Funktionserfüllung abbilden
d)
Fluss der Systemgrößen verfolgen
e)
Gestaltfunktionselemente im Systemabbild darstellen
f)
Funktionsrelevante Gestaltparameter identifizieren
g)
Modell verifizieren
JA
Synthese
Abb. 13.15 Modellbildung mit dem C&C2-Ansatz in der Analyse (Matthiesen et al. 2018)
a. Zweck des Modells notieren:
Jedes Modell wird seinem Zweck entsprechend erstellt. Der Zweck beschreibt das
Ziel des Modellbildners. Er sollte im Modell notiert werden, um den Gültigkeitsbereich und damit die durch das Modell beantwortbaren Fragen nachvollziehbar zu
machen. Die von dem Modellbildner getroffenen Annahmen und Vereinfachungen
sind durch den Zweck prüfbar.
b. Systemgrenze in Raum und Zeit festlegen:
Jedes Modell bildet nur einen Ausschnitt der Realität ab. In der Gestaltung wird
dieser Ausschnitt in den Dimensionen Raum und Zeit festgelegt. Je nach Definition
der Systemgrenze variiert die als relevant eingeschätzte Anzahl an Elementen und
Wechselwirkungen.
c. System bei der Funktionserfüllung abbilden:
Eine geeignetes Abbild des Systems zu finden, in dem Interaktionen seiner
Komponenten bei der Funktionserfüllung erkennbar sind, ist ein entscheidender
Erfolgsfaktor der Modellbildung. Je besser diese Abbildung ist, desto detaillierter
kann die Modellbildung erfolgen. Oft ist es jedoch nicht leicht, eine geeignete
Abbildung des Systems zu erzeugen. In Abschn. 13.6.1 werden geeignete Vorgehensweisen dazu vorgestellt. Der fraktale Charakter der C&C2-Modellbildung unterstützt dabei, da wichtige Stellen im System mit besonderem Fokus betrachtet werden
können.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
429
d. Fluss der Systemgrößen verfolgen:
Die funktionsrelevanten Energie-, Stoff- und Informationsflüsse im analysierten
System verlaufen durch die Gestaltfunktionselemente. Unbekannte Gestaltfunktionselemente können so identifiziert werden.
e. Gestaltfunktionselemente im Systemabbild finden:
Die Gestaltfunktionselemente werden identifiziert und in das in c) erstellte Abbild
des Systems unter Beachtung der Grundhypothesen integriert. Über Wirkflächenpaare werden Systemgrößen zwischen den Komponenten des betrachteten Systemausschnitts übertragen. Sie werden über die Leitstützstrukturen in den Komponenten zu
den mit ihnen verknüpften Wirkflächenpaaren weitergeleitet. Die Connectoren bilden
die Interaktion des betrachteten Systems mit seiner Umgebung ab.
f. Funktionsrelevante Gestaltparameter identifizieren und den Zusammenhang zur
erfüllten Funktion formulieren:
Diese Phase ist in Entwicklungsprojekten häufig sehr zeitintensiv, aber unbedingt
notwendig, um gestalten zu können. Wenn die Merkmale und Eigenschaften der
Gestaltfunktionselemente inklusive des Zusammenhangs mit der zu erfüllenden
Funktion nicht klar sind, muss die Modellvorstellung verbessert werden. Das kann
durch Analysemethoden geschehen Abschn. 13.6.1. Zudem können Prototypen die
Korrektur und die Verfeinerung des Modells zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang
unterstützen. Diese Phase ist erst abgeschlossen, wenn ein Zusammenhang zwischen
funktionsrelevanten Gestaltparametern und der Funktion herausgearbeitet ist.
g. Modell verifizieren (gedanklich oder durch Beobachtung am System):
Die erkannten und im Modell abgebildeten Zusammenhänge von Gestalt und
Funktion sind zunächst nicht verifiziert. Der Abgleich mit der Realität ist notwendig, um zu prüfen, ob das Modell die Zusammenhänge korrekt abbildet. Modellverifikation zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang kann beispielsweise durch
Konstruktionshypothesen geschehen (Matthiesen et al. 2017c). Ergebnisse dieser
Aktivität ist die Verifikation des Modells zu den Zusammenhängen von Gestalt und
Funktion.
Die Modellbildung in der Analyse ist abgeschlossen, wenn der Gestalt-FunktionZusammenhang ausreichend verstanden ist, d. h. wenn Merkmale gefunden sind, welche
die Funktion beeinflussen. Dann kann mit einer Synthese begonnen werden, in der diese
verstandenen Gestalt-Funktion-Zusammenhänge genutzt werden, um eine Gestalt zu
entwickeln, die in der Lage ist, die Funktion zu erfüllen. Auch dabei unterstützt eine
Modellbildung der Zusammenhänge. Diese ist in Abb. 13.16 dargestellt.
In der Synthese kann die Modellbildung nach den folgenden Schritten ablaufen, die
ebenfalls nicht sequenziell durchlaufen werden müssen.
430
S. Matthiesen
Abb. 13.16 Modellbildung mit dem C&C2-Ansatz in der Synthese (Matthiesen et al. 2018)
a. Syntheseprinzipien wählen:
In der Synthese gibt es ausschließlich drei prinzipielle Möglichkeiten, zu gestalten. Wirkflächenpaare oder Leitstützstrukturen können hinzugefügt, entfernt oder in ihren Eigenschaften verändert werden. Auf Basis der erkannten Gestalt-Funktion-Zusammenhänge
aus der Analyse können Ideen dazu gesammelt werden, wie die zu synthetisierende
Gestalt aussehen könnte. Je gründlicher die Analyse durchgeführt wurde, desto leichter
wird es, eine Umsetzungsidee in der Synthese zu finden.
b. Hilfestellung zur Umsetzung suchen:
Geeignete Gestaltungsprinzipien (Kap. 16) und Richtlinien (Kap. 17) für die durchzuführende Synthese können helfen, eine Gestalt zu finden, die eine gewünschte
Funktion ausreichend erfüllen kann. Je nach Anforderungen und Randbedingungen
steht eine Vielzahl an Hilfestellungen zur Verfügung. Beispielsweise wird in der
spritzgussgerechten Gestaltung definiert, welche Geometrien mit diesem Verfahren
herstellbar sind und wie Komponenten beschaffen sein sollten.
c. Hilfestellung auf die konkrete Synthese adaptieren:
Die allgemeingültigen Gestaltungsprinzipien müssen auf die konkrete Synthese
adaptiert werden, sie benötigen zusätzlich zur Funktion, die sie beinhalten, eine Verknüpfung zur Gestalt des Produktes. Auch die konkreteren Richtlinien müssen häufig
noch in die tatsächlich stattfindende Synthese übersetzt werden. Beispielsweise ist
ein Winkel des verbleibenden WFPs kritisch für die Herstellbarkeit. Hier muss darauf
geachtet werden, dass er X° nicht übersteigt.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
431
d. Funktionsrelevante Gestaltparameter definieren:
Die Definition von Merkmalen und damit der abhängigen Eigenschaften in den
Gestaltfunktionselementen ist der Kern der Synthese. Hier wird das Produkt in seiner
Gestalt definiert. Beispielsweise werden Winkel in einem Wirkflächenpaar mit ihren
zulässigen Toleranzfeldern definiert.
Nach jeder Synthese erfolgt wieder ein Analyseschritt, in dem überprüft wird, ob
das Produkt die gewünschte Funktion auch erfüllt. Techniken, wie in der Analyse und
Synthese vorgegangen werden kann, werden in den folgenden Kapiteln detailliert
beschrieben und an Beispielen aus der Praxis verdeutlicht.
13.6Synthesegetriebene Analyse in der Gestaltung
In der synthesegetriebenen Analyse werden Zusammenhänge von Gestalt und Funktion
im Produkt identifiziert oder überprüft. Eine für die Gestaltung hilfreiche Analyse ist
erst dann abgeschlossen, wenn Gestaltmerkmale in den Gestaltfunktionselementen
erkannt und ihr Zusammenhang mit der Funktion verstanden wurde. Analyse ist dadurch
die Basis der Synthese. Synthetisieren fällt oft leicht, wenn das Problem in der Analyse genau genug verstanden ist. Für eine erfolgreiche Analyse des Produkts sind nicht
nur die Gestaltparameter der Produktgestalt sondern auch die der Umwelt relevant. Nur
mit ausreichender Kenntnis der Einsatzgebiete, in denen das Produkt eingesetzt wird,
können diese Parameter, die meist Eigenschaften sind, berücksichtigt werden. Beispielsweise ist der Stahlträger mit seinen Gestaltparametern an der Funktionserfüllung
„Nagel in Stahluntergrund setzen“ (siehe Abschn. 13.3) beteiligt. Für die Gestaltung
des Nagels müssen diese Parameter berücksichtigt werden, sie können jedoch nicht verändert werden. Mit Analysemethoden können auftretende Wechselwirkungen identifiziert
und qualitativ beschrieben werden. Hier kann erkannt werden, welche Gestaltparameter für die Funktionserfüllung relevant sind und welche Beziehung sie zueinander
haben (Matthiesen et al. 2017c). Eine Quantifizierung der Funktion und der auftretenden
Wechselwirkungen findet durch Versuche oder Simulation statt. Die im Versuch erstellte
Verknüpfung von Parametern aus Produktgestalt und Umwelt mit Messergebnissen kann
durch Systembeobachtung mit Analysemethoden ergänzt werden. So können unbekannte
Gestalt-Funktion-Zusammenhänge aufgedeckt werden. In Abb. 13.17 wird beispielsweise im Versuch ein Zusammenhang von Gewindehöhe in der Spitze einer selbstbohrenden Blechbohrschraube und der benötigter Eindringzeit in den Blechuntergrund
festgestellt. Die in der Mitte der Abbildung erkennbaren qualitativen Analysemethoden
werden im folgenden Abschn. 13.6.1 detaillierter erläutert.
Wenn eine reale Gestalt des Produkts als Referenzprodukt oder Prototyp vorliegt,
empfiehlt es sich, sie zu analysieren, da sie sich oft von der in vorliegenden Modellen
beschriebenen Gestalt unterscheidet und wertvolle Erkenntnisse zum realen Produktverhalten ermöglicht. Die Beobachtung des realen Systemverhaltens ist aber oft nicht
432
S. Matthiesen
Analyse des Systems
Beschreiben der
funktionsrelevanten
Gestaltparameter
Beschreiben der
Wechselwirkungen
Quantifizierung der
Funktion und der
Wechselwirkungen
Produktgestalt
Qualitative
Analysemethoden
Versuch
Umwelt
Modellbildung
Abb. 13.17 Aspekte der Systemanalyse zur Modellbildung (Matthiesen et al. 2018), nach (Matthiesen
et al. 2017c)
einfach. Schwierig zu erkennende Wechselwirkungen und Beobachtungsbarrieren
erschweren oder verhindern die Identifikation des Systemverhaltens, der auftretenden
Effekte und der dafür relevanten Gestaltparameter. Um diese Herausforderungen zu
überwinden, können Techniken der synthesegetriebenen Analyse genutzt werden.
13.6.1Techniken in der synthesegetriebenen Analyse
In der Produktentwicklung werden viele Entscheidungen auf Basis vager Informationen
getroffen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Entscheidung getroffen werden
muss, ob ein Konzept weiter ausgearbeitet wird. Der Entscheidungsträger geht hierbei
ein Risiko ein – kann die Funktion später nicht erfüllt werden, war der Aufwand in der
Gestaltung unnötig hoch.
u
In der Analyse sollte versucht werden, Zusammenhänge zu beobachten,
anstatt über sie zu philosophieren. Die Techniken in der Analyse folgen dem
Leitgedanken „Show me, don‘t tell me!“.
Statt mit Annahmen zu arbeiten, werden durch „Show me, don‘t tell me!“ möglichst
früh Belege geschaffen und dem Entscheidungsträger vorgelegt. So kann zum Beispiel der Kundennutzen häufig schon früh mit Hilfe eines schnellen Prototyps überprüft
werden. Auch in der Analyse dient dieser Leitgedanke dazu, Nachweise zu erbringen,
anstatt auf Basis von vagen Informationen Entscheidungen zur Synthese zu treffen.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
433
Um die Funktionsweise eines Produkts zu verstehen, also Nachweise zu GestaltFunktion-Zusammenhängen zu erbringen, müssen zunächst die Gestaltfunktionselemente
im Produkt erkannt werden. Gelingt das Erkennen der Gestaltfunktionselemente nicht,
kann es daran liegen, dass eine Beobachtungsbarriere vorliegt.
u
Genaues Hinschauen lohnt sich: Durch die Überwindung einer Beobachtungsbarriere wird vorher unbekanntes Systemverhalten erkennbar und kann auf
seine Ursachen zurückgeführt werden.
Eine Auswahl von Techniken um ein geeignetes Abbild des Systems bei der Funktionserfüllung zu erzeugen und damit die funktionsrelevanten Gestaltmerkmale zu identifizieren, ist in Tab. 13.1 dargestellt.
Tab. 13.1  Techniken in der Analyse, um Beobachtungsbarrieren zu überwinden und Gestaltfunktionselemente zu erkennen
Technik: Beobachtungs- Kurzbeschreibung der Technik
barriere überwinden
durch …
Zoom-In und Zoom-Out Bei der Technik Zoom-In wird die Analyse auf einen kleineren Ausschnitt fokussiert. Durch die fokussierte Betrachtung wird es möglich,
Zusammenhänge im System detaillierter zu analysieren, ohne dass die
Menge der zu verarbeitenden Informationen zu groß wird. Die Wahl
eines geeigneten Detaillierungsgrads ist oft der Schlüssel zum Analyseerfolg
Bei der Technik Zoom-Out wird die Systemgrenze der Analyse
erweitert, dadurch werden Wechselwirkungen zu anderen Teilsystemen
und der Umgebung in der Analyse berücksichtigt
Shift
Der Fokus der Analyse wird entlang des Wirknetzes (der Kette der
Gestaltfunktionselemente) verschoben. Es werden benachbarte Teilsysteme analysiert, um Erkenntnisse zu dem zu analysierenden Teilsystem zu erlangen
Wenn ein Teilsystem nicht analysiert werden kann, so können häufig
die umgebenden Teilsysteme analysiert werden. Die Erkenntnisse zu
den benachbarten Teilsystemen wird dann genutzt, um auf das Verhalten des unbekannten Teilsystems zu schließen
Zustandsmodellierung
mit dem C&C2Sequenzmodell
Die Veränderung von Gestalt-Funktion-Zusammenhängen über verschiedene zeitliche Zustände wird der Analyse zugänglich, indem
einzelne C&C2-Modelle verknüpft werden
Perspektivenwechsel
Eine Beobachtungsbarriere kann durch Veränderung der Betrachtungsrichtung des Systems überwunden werden. Dadurch können GestaltFunktion-Zusammenhänge erkennbar werden, die in der bisherigen
Perspektiven nicht sichtbar waren
Analysemethoden
Gestaltfunktionselemente werden im Produkt mit Hilfe geeigneter
Abbilder des Systems identifiziert. Dadurch können unbekannte
Gestalt-Funktion-Zusammenhänge aufgedeckt werden
434
S. Matthiesen
Blechbohrschraube
Schnellbauschraube
Anwendung
Detail der Anwendung
Schraube
Abb. 13.18 Anwendungsgebiete von Blechbohrschrauben und Schnellbauschrauben (Matthiesen et al.
2018)
Im Folgenden werden einige dieser Analysemethoden am Beispiel eines Entwicklungsprojekts einer Blechbohrschraube näher betrachtet (Abb. 13.18).
Praxisbeispiel: Entwicklungsprojekt einer spanlos eindringenden
Blechbohrschraube
Die im Beispiel in Abschn. 13.3 bereits angesprochenen Kassettenbleche müssen nicht
nur mit der Stahlkonstruktion des Untergrunds, sondern auch miteinander verbunden
werden. Für diese Verbindung werden Blechbohrschrauben verwendet. Im Einschraubvorgang durchbohrt die Schraube die Bleche, formt ein Gegengewinde und fixiert
durch ihr Gewinde die beiden Bleche zueinander. Sie muss dabei Dachbleche von
etwa 2 mm Stärke durchdringen können und besitzt dazu eine Bohrspitze ähnlich zu
herkömmlichen Metallbohrern. Beim Verschrauben entstehen durch diese Bohrspitze
Späne. Diese Späne müssen aufwändig entfernt werden, da sie ansonsten korrodieren
und das Blechdach beschädigen. Bei der Entwicklung einer neuen Blechschraube
ist eine Anforderung, das Auftreten von Spänen zu vermeiden. Die Umsetzung
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
435
dieser Anforderung in eine Gestalt, welche das Konzept „spanlos verdrängende
Schraube“ erfüllt, ist jedoch eine Herausforderung. Eine Blechbohrschraube, die
diese Anforderung erfüllt, existiert am Markt nicht. Es handelt sich damit um die Entwicklung eines neuen Produkts, das keinen direkten Vorgänger besitzt. Aber auch für
dieses neue Produkt existieren mehrere mögliche Referenzprodukte, deren GestaltFunktion-Zusammenhänge genutzt werden können. Ein mögliches Referenzprodukt ist
die sogenannte „Schnellbauschraube“, die zur Befestigung von Gipskartonplatten auf
Metallständern mit 0,6 mm Blechdicken genutzt wird. Diese Schrauben können ohne
eine Bohrspitze Bleche bis 0,6 mm durchdringen und erzeugen dabei keine Späne. Die
2 mm starken Dachbleche können sie jedoch nicht durchdringen.
In der Analyse der Funktionsweise dieser Schnellbauschraube wird ein initiales
C&C2-Modell gebildet, das die Ausgangsbasis für viele weitere Modelle in den
Details des betrachteten Systems darstellt. Der Zweck ist, den Einschraubvorgang
in Blechuntergrund besser zu verstehen, um Gestaltparameter zu finden, die spanloses Eindringen ermöglichen. Diese Gestaltparameter sollen dann in der neu zu entwickelnden Blechbohrschraube umgesetzt und optimiert werden, um die Anforderung
des spanlosen Eindringens in 2 mm Bleche zu erfüllen. Die Schnellbauschraube
dringt innerhalb weniger Millisekunden in das Blech ein und bildet dabei sehr kleine,
verdeckte Wirkflächenpaare aus. Hier zeigen sich zwei Beobachtungsbarrieren,
die überwunden werden müssen. Zum einen der zeitlich sehr kurze und für Menschen
nicht wahrnehmbare Eindringprozess und zum anderen das verdeckte Wirkflächenpaar, was eine Beobachtung mit optischen Verfahren verhindert. Das initiale C&C2Modell besitzt zwei Wirkflächenpaare, zum einen das Wirkflächenpaar zwischen
Schraube und Blechuntergrund, zum anderen das Wirkflächenpaar zwischen Bit und
Schraubenkopf. Es ist in Abb. 13.19 dargestellt. ◄
Wie diese Beobachtungsbarrieren ausgehend von diesem initialen Modell durch
geeignete Techniken der Analyse überwunden werden, wird im Folgenden dargestellt.
Dabei werden ausgewählte Techniken aus diesem und auch anderen Entwicklungsprojekten vorgestellt.
Zoom-In und Zoom-Out
Zoom-In und Zoom-Out beschreiben Techniken bei der Systembetrachtung in der Analyse. Hierbei wird die Betrachtungsebene des Systems verändert. Beim Zoom-In wird das
System auf einer detaillierteren Ebene betrachtet, um Gestalt-Funktion-Zusammenhänge
aufzudecken. Dabei kann ein Gestaltfunktionselement in mehrere kleinere Gestaltfunktionselemente aufgelöst werden. Die Modelle der weniger detaillierten Betrachtungsebenen
436
S. Matthiesen
Zweck: Funktionsrelevante Gestaltparameter im
Einschraubvorgang identifizieren
WFP1
C1
LSS1-2
WFP2
C2
F
M
Abb. 13.19 Initiales C&C2-Modell der Schnellbauschraube (Matthiesen et al. 2018)
bleiben dabei weiterhin gültig. Zoom-Out erweitert den Überblick über das System durch
eine erhöhte Betrachtungsebene. So können Wechselwirkungen mit umgebenden Teilsystemen oder der Umgebung leichter betrachtet werden. Dazu können Gestaltfunktionselemente zusammengefasst werden. Die Modelle der detaillierteren Betrachtungsebene
bleiben dabei ebenfalls gültig. Beide Strategien helfen dabei, die Informationsmenge im
Modell gezielt zu reduzieren, um effizienter Erkenntnisse zu gewinnen.
u
Zoom-In verfeinert die Betrachtungsebene, wodurch Gestalt-FunktionZusammenhänge im Detail bestimmt werden können. Zoom-Out verschafft
einen Überblick über das System und seine Wechselwirkungen mit der
Umgebung.
Beispiel
Das Wirkflächenpaar 1 aus Abb. 13.19 ist auf der höheren Betrachtungsebene weiter
als ein Wirkflächenpaar gültig. Durch Zoom-In werden weitere Wirkflächenpaare
sichtbar, welche zwischen der Spitze und dem Untergrund auftreten und in Abb. 13.20
dargestellt sind. ◄
Shift
Im Shift wird der Fokus der Analyse entlang des Wirknetzes (der Kette der Gestaltfunktionselemente) verschoben. Dadurch wird die Systemgrenze erweitert, indem ein
Connector in Wirkflächenpaare und Leitstützstrukturen aufgelöst wird. Die Systemgrenze kann auch verschoben werden, indem andere Wirkflächenpaare und Leitstützstrukturen in einen neuen Connector umgewandelt werden.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
437
Zweck: Funktionsrelevante Gestaltparameter im
Einschraubvorgang identifizieren
WFP1
LSS1-2
C1
WFP2
C2
F
M
Zweck: Abstützen der Schraube im Blech analysieren
C1.2
C1.1
WFP1.2
WFP1.3
C1.3
Abb. 13.20 Zoom-In am Wirkflächenpaar Schraubenspitze-Blechuntergrund (Matthiesen et al. 2018)
Häufig sind Teilsysteme, die bei einer Funktionserfüllung miteinander interagieren,
unterschiedlich schwierig zu analysieren. Wenn ein Teilsystem nicht analysiert werden
kann, so können häufig die umgebenden Teilsysteme analysiert werden. Die Erkenntnisse zu den benachbarten Teilsystemen wird dann genutzt, um auf das Verhalten des
unbekannten Teilsystems zu schließen.
u
Shift verschiebt den Fokus der Systembetrachtung entlang des Wirknetzes.
Die benachbarten Teilsysteme werden analysiert, um Rückschlüsse auf das
Verhalten im ursprünglich betrachteten Teilsystem ziehen zu können.
Beispiel
Es wird festgestellt, dass die Schraube an einem bestimmten Punkt des Eindringvorgangs kurz stehenbleibt. Der Verdacht fällt auf das Wirkflächenpaar 2 zwischen
Schraubenkopf und Bit (Abb. 13.19, rechts). Die Systemgrenze der Betrachtung
wird verschoben. Durch das Auflösen des Connectors am Wirkflächenpaar 2 werden
detailliertere Gestaltfunktionselemente erkennbar und die Systemgrenze wird in den
Bit erweitert (Abb. 13.21). Hier zeigt sich, dass die Ursache des beobachteten Verhaltens im Connector C2.4 liegt, da der Bit nicht durchrutscht, sondern mit dem
438
S. Matthiesen
Zweck: Funktionsrelevante Gestaltparameter im
Einschraubvorgang identifizieren
WFP1
LSS1-2
C1
Zweck: Abstützen der Schraube im Blech
analysieren
WFP2
C2
F
M
Zweck: Ursache des Stehenbleibens finden
WFP1.3
WFP2.2WFP2.2
C2.4
C1.1
WFP1.2
C2.1
C1.2
WFP2.3
WFP2.3
C1.3
Abb. 13.21 Shift von der Schraubenspitze zum Bit (Matthiesen et al. 2018), nach Thau (2013)
Antriebsstrang des Power-Tools stehenbleibt, was an einer Kupplung im Antriebsstrang des Power-Tools liegt. Durch das Verfolgen des Wirknetzes können so
Ursachen von Wirkungen gefunden werden, die aus dem bisherigen Modell noch
nicht erklärbar waren. ◄
C&C2-Sequenzmodell
Oft müssen in der Analyse mehrere Zustände eines technischen Systems betrachtet
werden, um seine Funktionsweise zu verstehen. In Zuständen variieren die Gestaltfunktionselemente ihre Anzahl und/oder Eigenschaften. Es empfiehlt sich, Zustände
einzeln und nacheinander zu analysieren und die Beobachtungen zusammenzuführen.
Zustände unterscheiden sich dadurch, dass Wirkflächenpaare und Leitstützstrukturen
hinzukommen, wegfallen oder ihre funktionsrelevanten Gestaltparameter verändern.
Das C&C2-Sequenzmodell besteht aus mehreren C&C2-Modellen, die das betrachtete
Produkt in verschiedenen Zuständen abbilden. Diese C&C2-Modelle werden im
Sequenzmodell zeitlich und/oder auch logisch geordnet und verknüpft, damit Veränderungen der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge analysiert werden können.
u
C&C2-Sequenzmodelle verknüpfen C&C2-Modelle über die in ihnen
abgebildeten Zustände hinweg.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
439
Beispiel
Der Eindringvorgang der Schnellbauschraube findet innerhalb weniger Millisekunden
statt. Er wird genauer betrachtet, um herauszufinden, welche Gestaltparameter relevant
für das Eindringen in dickere Stahlbleche sein könnten. Dazu wird mit einer HighspeedKamera das Systemverhalten beobachtbar gemacht und anschließend Zustände identifiziert
und in C&C2-Modellen abgebildet. Es werden sechs Zustände aus der Highspeed-Aufnahme identifiziert und in C&C2-Modellen abgebildet. In Abb. 13.22 ist ein Ausschnitt
dieses Sequenzmodells dargestellt. Im ersten Zustand (links) ist das WFP A1 vorhanden.
Im Zustand 2 kommt das WFP A2 hinzu, dadurch ändert sich das Systemverhalten und
neue Gestalt-Funktion-Zusammenhänge werden relevant. Im Zustand 1 ist beispielsweise die Härtedifferenz im WFP A1 relevant dafür, dass die Schraube das Blech ankörnt
und nicht abrutscht. Im Zustand 2 ist die Schraube bereits ein Stück in das Blech eingedrungen. Die Härtedifferenz des WFP A1 ist weiter relevant dafür, wie das Material an
der Spitze verdrängt wird. Das WFP A2 kommt hinzu, hier sind andere Gestaltparameter
für die Funktion „Verdrängen“ relevant, wie beispielsweise der Winkel zur Schraubenachse. Der Winkel dieses WFP A2 formt das Blech um und ist dadurch für später folgende
Zustände relevant. Er entscheidet, wie gut das Gewinde der Schraube in einem späteren
Zustand in das Blech eingreifen kann. Der Winkel ist in diesem späteren Zustand nicht
mehr erkennbar, weil das WFP A2 nicht mehr vorliegt, sobald die Schraubenspitze
das Blech durchdrungen hat. Seine Wirkung ist aber entscheidend für die Funktionsweise. Mit dem C&C2-Sequenzmodell lassen sich diese zustandsübergreifenden GestaltFunktion-Zusammenhänge analysieren. So kann beispielsweise ein schlechtes Eingreifen
des Gewindes in einem späteren Zustand durch die Geometrie des Blechs auf einen
bestimmten Winkel im WFP A2 zurückgeführt werden, in dem diese Geometrie geprägt
wird. ◄
Zweck: Funktionsrelevante Gestaltparameter im
Einschraubvorgang identifizieren
WFP1
C1
LSS1-2
Zustand 1: Körnen mit WFP A1
WFP2
C2
F M
Zustand 2: Verdrängen mit WFP A2
C1.1
C3
C3
C1.1
WFP A1
WFP A1
…
WFP A2
Abb. 13.22 Ausschnitt des C&C2-Sequenzmodells im Einschraubvorgang (Matthiesen et al. 2018),
nach Thau (2013)
440
S. Matthiesen
Perspektivenwechsel
Beim Perspektivenwechsel wird die Betrachtungsrichtung des Systems oder einer Baugruppe verändert. Dadurch kann Systemverhalten beobachtbar gemacht werden, das bisher nicht sichtbar war. So können Gestalt-Funktion-Zusammenhänge aufgedeckt und
eine Beobachtungsbarriere überwunden werden.
u
Betrachtung des Systems aus anderen Raumrichtungen oder Standpunkten
hilft, Beobachtungsbarrieren zu überwinden und Ursachen für unbekanntes
Systemverhalten zu finden.
Beispiel
Um die gesamte Situation oder das Gesamtbild überblicken zu können, ist es
manchmal erforderlich, das Produkt aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Dazu eignen sich Videoaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven während der
Funktionserfüllung. Am Beispiel einer Kehrmaschine zeigt Abb. 13.23 den Blick aus
dem Auffangbehälter heraus. Durch diese Beobachtung lassen sich neue Erkenntnisse zur Beförderungsart des Kehrguts gewinnen. Es zeigt sich, dass die Bürste ihre
Funktion gut erfüllt, aber Rückpraller des Kehrguts an der Rückwand des Auffangbehälters dazu führen, dass bereits aufgesammeltes Kehrgut wieder aus dem Behälter
befördert wird und dadurch das Reinigungsergebnis negativ beeinflusst. Diese
Beobachtung kann in nachfolgenden Gestaltungsschritten helfen. ◄
Versagensstellen und Verschleißspuren untersuchen
Verschleiß und Versagen sind Indikatoren dafür, dass die betroffenen Komponenten an einer
Funktionserfüllung beteiligt sind. Kommen Oberflächen während der Funktionserfüllung
Abb. 13.23 Perspektivenwechsel am Beispiel einer Kehrmaschine (Matthiesen et al. 2017c)
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
441
miteinander in Kontakt, hinterlässt das oft Spuren. Durch die Identifikation und Interpretation dieser Spuren ist es möglich, Wirkflächenpaare zu identifizieren. Die Versagensart, der Ort und der Zeitpunkt des Versagens der Leitstützstruktur kann eine Hilfestellung
sein, um die Funktionen und die Wirkflächenpaare zu definieren, die zu dem Versagen der
Leitstützstruktur geführt haben. Durch einen Vergleich des verschlissenen Systems mit
einem noch unbenutzten System können Veränderungen der einzelnen Oberflächen und
Bauteilgeometrien identifiziert und bewertet werden. Die Veränderungen sind Hinweise für
Belastungen während der Funktionserfüllung.
u
Verschleißspuren sind Indizien für Wirkflächenpaare. Druck- und Versagensstellen sind Indizien für Leitstützstrukturen.
Beispiel
In Abb. 13.24 sind Blechbohrschrauben in einem Magazin dargestellt. Hier wird
untersucht, wie sich eine Entwicklungsgeneration der Blechbohrschrauben verhält,
wenn sie auf der Baustelle im Magazin des Schraubers, mit dem sie montiert werden,
gefördert wird. Hier sind Verschleißspuren als Pfeile im Magazin des Schraubers zu
erkennen. Die Analyse der Verschleißspuren lässt Rückschlüsse zu, welche Wirkflächenpaare für die Führung der Schraube im Magazin verantwortlich sind und wo
optimiert werden muss, um die Zuführung der Schraube zu verbessern. ◄
Materialdurchdringende Verfahren
Häufig kann nur vermutet werden, welche Flächen zwischen Bauteilen tatsächliche Wirkflächenpaare für eine betrachtete Funktion sind. Das liegt daran, dass diese Flächen oft an
verborgenen Stellen in Kontakt treten und damit einer Analyse nicht direkt zugänglich sind.
Um diese Wirkflächenpaare zu identifizieren können materialdurchdringende Verfahren
genutzt werden. Beispielsweise können verborgene Kontaktflächen und damit mögliche
Wirkflächenpaare mit Röntgenaufnahmen, Magnetspintomographie oder Ultraschall für das
menschliche Auge sichtbar gemacht werden - ohne das reale System zerstören zu müssen.
u
Verborgene Wirkflächenpaare können durch materialdurchdringende Verfahren optisch sichtbar gemacht werden.
Abb. 13.24 Verschleiß am Beispiel eines Schraubenmagazins nach Thau (2013)
442
S. Matthiesen
Beispiel
Um das Übertragungsverhalten zwischen Bit und Schraube zu verbessern und den
Cam-Out-Effekt (das Überspringen des Antriebs in der Schraube) zu verringern, muss
die Detailgestalt in der nächsten Entwicklungsgeneration verbessert werden. Um überhaupt zu verstehen, welches Detail der Gestalt für die Funktion „Drehmoment übertragen“ relevant ist, werden Wirkflächenpaare zwischen Schraubenkopf und Bit mit
Hilfe von Röntgenaufnahmen sichtbar gemacht (Abb. 13.25). So wird erkannt, dass
Wirkflächenpaar A1 für die Funktion relevant ist und die restlichen Oberflächen des
Schraubenkopfs und des Bits Begrenzungsflächen darstellen. ◄
Tuschierpaste
Sind an einem vermuteten Wirkflächenpaar keine Verschleißspuren zu erkennen, so können
die Oberflächen der Bauteile mit Tuschierpaste behandelt werden. Tuschierpaste ist eine
Farbe, die leicht von Oberflächen lösbar ist. Sie wird an Stellen, die bei der Funktionserfüllung in Kontakt treten, abgetragen. Damit können Wirkflächenpaare identifiziert
werden und die Unterscheidung zwischen Wirkflächenpaar und Begrenzungsfläche erfolgen.
u
Mit Tuschierpaste kann zwischen Wirkflächenpaaren und Begrenzungsflächen unterschieden werden.
Beispiel
In Abb. 13.26 wird Tuschierpaste auf eine Blechbohrschraube aufgetragen. Durch
den Einschraubvorgang wird die weiße Farbe bei Berührung mit dem Untergrund
abgetragen. Ausgehend von den Wirkflächen auf der Schraube kann auf die Wirkflächen
im Untergrund und damit auf die Wirkflächenpaare zwischen Schraube und Untergrund
geschlossen werden. ◄
Schnittebenen
WFP A1
kein WFP
WFP A1
Abb. 13.25 CT-Aufnahme des Wirkflächenpaars zwischen Bit und Schraube nach Thau (2013)
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
443
Abb. 13.26 Anwendung von Tuschierpaste an der Blechbohrschraube nach Thau (2013)
Geometrische Skalierung
Bei sehr kleinen oder sehr großen Systemen kann es hilfreich sein, das System so zu
skalieren, dass es für Menschen handhabbar wird. Die Prototypen müssen auf der Vermessung realer Bauteile basieren und können beispielsweise über Methoden des Rapid
Prototyping hergestellt werden. Damit entspricht die Geometrie der Prototypen der der
realen Bauteile, nur in den geometrischen Verhältnissen skaliert.
u
Eine geometrische Skalierung kann in der Modellbildung helfen, indem das
betrachtete System handhabbar wird.
Beispiel
In Abb. 13.27 sind 10-fach vergrößerte Prototypen des Schraubenkopfs und des Bits
dargestellt. Auf diese Weise kann das Wirkflächenpaar A1 von Menschen ohne Hilfsmittel betrachtet werden. ◄
Rekonstruktion
Es kann hilfreich sein, Funktionen mit Teilen des technischen Systems nachzubilden.
Durch das Nachbilden wird es möglich, Gestalt-Funktion-Zusammenhänge so zu
reproduzieren, dass sie leichter nachvollziehbar sind. Dies erleichertet die Modellbildung
und die Identifikation von Wirkflächenpaaren. Hilfsmittel sind hier (demontierte) Baugruppen des Systems, Prototypen und Ersatzmaterialien. Das Abstraktionsniveau in der
444
S. Matthiesen
WFP A1
Abb. 13.27 Geometrische Skalierung am Beispiel des Wirkflächenpaars Bit-Schraube nach Thau
(2013)
Rekonstruktion ist oftmals hoch und es muss berücksichtigt werden, welche Aussagen
mit dem rekonstruierten System möglich sind. Eingesetzt werden kann diese Analysemethode bevorzugt bei Systemen, welche zunächst nicht in der benötigten Art herstellbar
sind.
u
Das Rekonstruieren von Produkten kann bei der Modellbildung helfen:
Rekonstruierte Prototypen können genutzt werden, wenn realitätsnahe Prototypen zunächst nicht herstellbar sind
Beispiel
In Abb. 13.28 ist die Analyse des Einschraubvorgangs der Spitze der Blechbohrschraube
mit einem Prototyp aus Kunststoff und einem Untergrund aus Plastilin dargestellt. Hier
wird Rekonstruktion in Kombination mit geometrischer Skalierung angewendet. Damit
wird der Einschraubvorgang rekonstruiert und ein erstes Modell der Gestalt-FunktionZusammenhänge gebildet. Mit diesen Prototypen können zu Beginn der Gestaltung
schnell und günstig die ersten notwendigen Erkenntnisse gewonnen werden. Auf dieser
Basis können dann aufwändigere Prototypen erstellt werden. ◄
Schnittmodell und Schliffbild
Es kann zielführend sein, Teile eines Systems im Zustand der Funktionserfüllung zu entfernen, so dass eine Schnittebene durch die Wirkflächenpaare entsteht. Oftmals ist das
tatsächliche Verhalten zum vorgedachten Verhalten verschieden. Durch Schnittmodelle
ist die Veranschaulichung des inneren Aufbaus und der tatsächlichen Funktionsweise
möglich. Beispiele hierfür sind Schnittmodelle und Schliffbilder. Durch diese Schnittebene können tatsächliche Wirkflächenpaare und Leitstützstrukturen identifiziert werden.
Schliffbilder helfen in der Analyse, wenn die Gestaltfunktionselemente im Gesamtsystem von außen nicht sichtbar, d. h. verdeckt oder ineinander liegend, sind.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
445
Abb. 13.28 Rekonstruktion am Beispiel der Blechschraube nach Thau (2013)
u
Schnittmodelle und Schliffbilder des technischen Systems ermöglichen das
Erkennen von Gestaltfunktionselementen im System, die von außen nicht
sichtbar sind.
Beispiel
Abb. 13.29 zeigt ein Schliffbild der eingedrehten Blechbohrschraube im Untergrund
Gipskarton. Die Wirkflächenpaare und Leitstützstrukturen zwischen Schraube und
Untergrund konnten in diesem Schliffbild identifiziert werden. ◄
WFP
Abb. 13.29 Schliffbild der Schnellbauschraube im Eingriff nach Thau (2013)
446
S. Matthiesen
Spannungsoptik
Bei der spannungsoptischen Analyse können die mechanischen Belastungen in Körpern
sichtbar gemacht werden. Dazu werden Materialien (wie beispielsweise Acrylglas)
genutzt, die bei Belastung ihre optischen Eigenschaften ändern. Diese Materialien
weisen in der Regel andere Eigenschaften als die Materialien des realen Anwendungsfalls auf. Eine qualitative Untersuchung der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge ist damit
möglich, auch wenn keine quantitativen Aussagen getroffen werden können. Spannungsoptische Verfahren können qualitativ genutzt werden, um zu analysieren, wie der
Spannungsverlauf innerhalb eines Bauteils, aber auch die Krafteinleitung in angrenzende
Bauteile erfolgt. Zusätzlich kann durch den Vergleich der Helligkeitsintensitäten auch
quantitativ auf die Höhe der Spannungen geschlossen werden.
u
Mit Spannungsoptik können Lastpfade sichtbar gemacht werden und damit
auf Leitstützstrukturen sowie auf Wirkflächenpaare geschlossen werden.
Beispiel
In Abb. 13.30 ist ein mechanischer Dübel dargestellt, welcher in einem Acrylglaskörper verankert ist. Es sind die durch den Dübel induzierten Spannungen im Untergrund erkennbar. Daraus kann auf die Leistützstruktur im Untergrund geschlossen
werden, die an der Funktionserfüllung beteiligt ist. Dieses Beispiel zeigt deutlich,
wie Leitstützstrukturen sichtbar gemacht werden können und Wirkflächenpaare in
unzugänglichen Systemen identifiziert werden können. Das kann die Basis für nachfolgende Gestaltoptimierung sein. ◄
Die Anwendung von Techniken der Analyse zum Modellaufbau hilft dabei,
Beobachtungsbarrieren zu überwinden und die funktionsrelevanten Gestaltparameter in
den Gestaltfunktionselementen zu identifizieren. Der Leitgedanke „Show me, don’t tell
me!“ unterstützt dabei, indem die gebildeten gedanklichen Modelle weitest möglich mit
harten Fakten untermauert werden. Sind funktionsrelevante Parameter gefunden, muss
im nächsten Schritt geprüft werden, ob das aufgebaute Modell die Realität ausreichend
abbildet.
13.6.2Erkenntnisgewinn in der Gestaltung durch
Hypothesenbildung und -prüfung
Ziel der synthesegetriebenen Analyse ist es, durch Untersuchung des Systemverhaltens
seinen Zusammenhang mit funktionsrelevanten Gestaltparametern aufzudecken. Manche
der aufgedeckten Zusammenhänge sind leicht erklärbar oder bereits bekannt. Diese
werden als Erkenntnisse in das Modell zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang integriert.
Zusätzlich zu diesen Erkenntnissen enthält das Modell immer auch Vermutungen und
Annahmen zu den Gestalt-Funktion-Zusammenhängen.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
447
Unbelasteter Zustand
Produkt 1
Produkt 2
Belasteter Zustand
Produkt 1
Produkt 2
Abb. 13.30 Spannungsoptik am Beispiel von Kunststoffdübeln (Matthiesen et al. 2018)
u
Aus vermuteten und erkannten Zusammenhängen muss in der Synthese
eine Gestalt gefunden werden, mit der die gewünschten Funktionen erfüllt
werden kann.
Das subjektive Vertrauen in die Vermutungen und Annahmen des Modells wird als
Konfidenz bezeichnet. Je höher die Konfidenz, desto (subjektiv) sicherer ist, dass sie
richtig sind. Je niedriger die Konfidenz ist, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit,
dass eine Synthese auf Basis dieser Vermutungen nicht zum Ziel führt. Eine nicht zielführende Synthese sollte vermieden werden, da in jedem Entwicklungsprojekt nur
448
S. Matthiesen
begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen. Im Folgenden wird eine Vorgehensweise
beschrieben, wie Annahmen mit niedriger Konfidenz konkretisiert und überprüft werden
können, um das Risiko in der anschließenden Synthese zu reduzieren. Dadurch entstehen aus den Vermutungen und Annahmen Erkenntnisse d. h. nachgewiesene kausale
Zusammenhänge von Gestalt und Funktion. In der Gestaltung ist es wichtig, zu wissen,
zu welchen Vermutungen Erkenntnisse notwendig sind, da Erkenntnisgewinn immer
Aufwand bedeutet.
u
Die Gestaltung ist durch Annahmen zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang
risikobehaftet. Um mit dem Risiko in der Gestaltung umgehen zu können, ist
nicht entscheidend, keine Fehler zu machen, sondern aus ihnen rechtzeitig
das Richtige zu lernen.
Bei jedem Syntheseschritt sollte zunächst entschieden werden, ob die Konfidenz einer
Vermutung ausreichend hoch ist, um basierend auf ihr eine Gestalt zu erzeugen oder
anzupassen. Zudem ist es wichtig, die Tragweite der Vermutung abzuschätzen, d. h.
zu prognostizieren was eine Falsifizierung, also die Widerlegung durch den Abgleich
mit dem realen Systemverhalten, für die Gestaltung bedeutet. Wird auf Basis einer
nichtzutreffenden Vermutung eine Gestalt synthetisiert, die die notwendige Funktion
dann nicht erfüllt, kommt es zu einer Iteration, die zeit- und kostenintensiv sein kann.
Abschn. 13.3. Je später in der Gestaltung diese Falsifizierung einer Vermutung eintritt, desto gravierender ist die daraus entstehende Iteration. Im ungünstigsten Fall zeigt
sich eine falsifizierte Vermutung erst nach Abschluss der Gestaltung in nachfolgenden
Aktivitäten des Produktentwicklungsprozesses oder sogar nach der Markteinführung
des Produkts. Die Geschichte ist voll von Beispielen, in denen sich die Falsifizierung
einer Vermutung erst durch eine Katastrophe zeigt. Bekannte Beispiele sind Vermutungen zu den Abmaßen der Schotten der Titanic, den Dämpfungselementen der Radreifen des ICE1 oder den Materialeigenschaften der Steuerstabspitzen im Kernkraftwerk
Tschernobyl. Auch weniger katastrophale Falsifizierungen von Vermutungen können zu
extrem kostspieligen Rückrufen führen, wenn sie nach der Markteinführung auftreten.
Dadurch kann die Gesundheit von Menschen und auch die Existenz eines Unternehmens
gefährdet werden.
u
Vermutungen mit großer Tragweite sollten möglichst früh im Produktentwicklungsprozess in Erkenntnisse überführt werden, um das Risiko in der
Gestaltung zu senken. Die benötigten Erkenntnisse sollten dabei so gut, wie
es Tragweite und Konfidenz erfordern und so schnell wie möglich erzeugt
werden.
Welche Vermutungen geprüft werden sollen, kann aus dem Modell der GestaltFunktion-Zusammenhänge bewertet werden. Für diese Bewertung ist es notwendig, die
Konfidenz und Tragweite von Vermutungen abzuschätzen. Diese Abschätzung kann auf
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
449
Basis von Erfahrungen und auch vorhandenem Wissen, wie beispielsweise Tabellenbüchern zu Toleranzen, erfolgen. Zeigt sich in einer Vermutung eine Unsicherheit (geringe
Konfidenz) oder eine hohe Tragweite (Zusammenhang mit der kritischen Funktion
Abschn. 13.3.1) sollte aus der Vermutung eine explizite Hypothese gebildet und diese überprüft werden. „Die Gefahr, in absurde Ergebnisse Zusammenhänge hinein zu interpretieren,
ist ohne das vorherige Aufstellen einer Hypothese groß“ (Lindemann 2009), S. 161. Nur
bei geringer Tragweite und/oder hoher Konfidenz kann es sinnvoll sein, auf Basis von
ungeprüften Vermutungen zu konstruieren. Im Folgenden werden Möglichkeiten und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Vermutungen in der Gestaltung beschrieben.
1. Synthese aus unbegründeten Vermutungen:
Aus einer Problemstellung in der Gestaltung entstehen meist viele Vermutungen
zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang. Sie bilden die Basis jeder Gestaltung. Die
direkte Umsetzung dieser ungeprüften Vermutungen in einer Synthese birgt jedoch
ein hohes Risiko einer Iteration, da eine Übereinstimmung mit der Realität weder
gedanklich noch am Produkt geprüft wird. Bestätigt sich eine ungeprüfte Vermutung
nicht, kann es zudem vorkommen, dass keine weiterführende Idee aus ihr gewonnen
werden kann, weil ihr Bezug zum Problem nicht durchdacht wurde. Dadurch sind die
Ressourcen zur Umsetzung dieser Idee verloren.
2. Synthese aus begründeten Vermutungen:
Sind Vermutungen entstanden, sollten sie begründet werden. Hierbei wird das Modell
des Gestalt-Funktion-Zusammenhangs noch einmal durchdacht. Helfen können hier
die Diskussion im Team, welches die Begründung prüft und kritisch hinterfragt, oder
auch das Suchen nach Argumenten gegen die Vermutung. Hierbei zeigt sich, ob eine
plausible Begründung der Vermutung möglich ist, oder ob eine Überprüfung notwendig wird. Im Fall einer plausiblen Begründung kann mit der Gestaltung begonnen
werden, wenn die Tragweite eine Umsetzung ohne Prüfung zulässt. Im Fall einer
hohen Tragweite oder Unsicherheit in der Begründung wird eine Überprüfung notwendig.
3. Synthese aus geprüften Vermutungen:
Zeigt sich eine Unsicherheit in der Begründung, oder ist die Tragweite im Verhältnis
zur Konfidenz zu hoch, wird eine Überprüfung notwendig. Diese Überprüfung kann
je nach Art der Vermutung am virtuellen oder realen Produkt stattfinden. Basis für
diese Überprüfung ist eine Hypothese zum vermuteten Zusammenhang, der durch sie
überprüfbar gemacht wird.
Eine begründete Vermutung im Entwicklungsprojekt des Bolzensetzgerätes
In der Gestaltung des Bolzensetzgerätes wird eine Entwicklungsgeneration einem
Lebensdauertest unterzogen. Dabei versagt ein Sicherungsmechanismus vorzeitig
und verursacht einem Ausfall des gesamten Systems. In einer neuen Entwicklungsgeneration soll der Sicherungsmechanismus verbessert werden. In dieser Situation
450
S. Matthiesen
entstehen schnell viele unterschiedliche Vermutungen, was die Ursache des Versagens sein könnte und wie man das gebrochene Bauteil verändern könnte, um sein
Versagen zu vermeiden. Dieses Bauteil ist ein Blech, mit dem die korrekte Position
eines Nagels detektiert wird, und das ein Auslösen bei inkorrekter Position verhindert.
Die Problemursache, warum dieses Bauteil versagte, ist zu diesem Zeitpunkt noch
nicht tiefgehender analysiert worden. In dieser Situation besteht die Versuchung, aus
diesen vielen (scheinbar) guten Ideen direkt die nächste Entwicklungsgeneration zu
synthetisieren. Um das damit verbundene Risiko zu vermeiden, wird jedoch zunächst
die Problemursache analysiert und Vermutungen aufgestellt, warum das Bauteil
versagt.
Eine Vermutung ist, dass ein Schwingbruch aufgrund der Bewegung des
Blechs beim Detektieren der Nägel die Ursache des Versagens sein könnte. In der
Begründung dieser Vermutung zeigt sich, dass sichtbare Verschleißspuren nicht
mit dieser Vermutung übereinstimmen, zudem sind die auftretenden Kräfte beim
Detektieren des Nagels sehr gering. Aus der Analyse der Verschleißspuren wird
eine neue Vermutung gebildet und so das Modell zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang entsprechend der Beobachtungen aus der Analyse korrigiert. Diese Vermutung
ist, dass eventuell der starke Rückstoß aus dem Gerät zu einer Bewegung der Nageldetektion quer zu ihrer vorgedachten Bewegungsrichtung führt. In Abb. 13.31 ist die
Nageldetektion im Bolzensetzgerät abgebildet. Die Belastung durch den Rückschlag
ist im Detail durch vertikalen Pfeil visualisiert. Die Belastung durch die Hauptfunktion der Nageldetektion ist durch den horizontalen gebogenen Pfeil visualisiert.
Eine Analyse der Bruchkante im Blech stützt diese Vermutung zusätzlich, da die
Rissbildung quer zur Belastung durch die Hauptfunktion beginnt. Damit erscheint sie
plausibel und eine Synthese wird möglich, in der eine breitere Führung für das Blech
konstruiert wird, die das Biegemoment auf das Blech reduzierte. Dadurch wird das
Problem behoben und der Sicherungsmechanismus versagt nicht mehr. ◄
Abb. 13.31 Funktionsweise und Belastung der Nageldetektion (Matthiesen et al. 2018)
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
451
13.6.3„Konstruktionshypothesen“ als Hilfsmittel zum
Erkenntnisgewinn
Um vermutete Zusammenhänge prüfen zu können, werden Hypothesen gebildet.
Hypothesen dienen in der Wissenschaft dazu, Erkenntnisse zu Zusammenhängen von
Variablen zu gewinnen. Dabei wird der Einfluss einer sogenannten unabhängigen
Variable auf eine von ihr abhängige Variable geprüft. Die unabhängige Variable beeinflusst dabei durch ihre Ausprägung die abhängige Variable. In der Gestaltung ist die
unabhängige Variable oder Stellgröße das Gestaltmerkmal. Die abhängige Variable
oder Zielgröße ist die Funktion. Eine Hypothese beschreibt damit eine überprüfbare Vermutung zum Zusammenhang von Gestalt und Funktion. Hypothesenbildung
in diesem Sinne wird in vielen Bereichen der Produktentwicklung genutzt, beispielsweise um Ursachen für auftretende Probleme zu finden (VDI 3822:2011-11). In der
Gestaltung werden Hypothesen genutzt, um Erkenntnisse zu Zusammenhängen von
Gestalt und Funktion zu gewinnen und damit Aspekte des Modells zum GestaltFunktion-Zusammenhang zu verifizieren. Da es häufig schwierig ist, zu entscheiden,
wann eine Hypothese Gestalt und Funktion in geeigneter Form beinhaltet, können die
Konstruktionshypothesen als Hilfsmittel zum Erkenntnisgewinn genutzt werden. Sie
geben durch ihre Elemente einen Rahmen vor, in dem Zusammenhänge von Gestalt und
Funktion überprüfbar gemacht werden (Matthiesen et al. 2017a). In einer Konstruktionshypothese wird zunächst die begründete Vermutung explizit notiert. Durch das
Explizieren von Vermutungen können bereits Lücken und Fehler im Verständnis des
Gestalt-Funktion-Zusammenhangs erkannt werden. Diese Vermutung bildet die Basis
der Hypothesenbildung und –prüfung und macht die Hypothese nachvollziehbar. Der
vermutete Gestalt-Funktion-Zusammenhang wird explizit als messbarer Gestaltparameter und quantifizierte Funktion angegeben. Aus diesen Elementen entsteht der Leitsatz der Konstruktionshypothese: „Wenn [messbarer Gestaltparameter als Stellgröße],
dann [messbare Funktion als Zielgröße], weil [Begründung der Vermutung].“ Dabei
beinhaltet das „Weil“ die Vermutung als Basis der Hypothese, die zur Dokumentation
mit aufgenommen wird. Der Kern der Hypothese sind der Gestaltparameter und die
Funktion. Das explizite Formulieren einer Konstruktionshypothese nach dem Leitsatz
hilft dabei, eine Vermutung soweit zu konkretisieren und zu begründen, dass sie prüfbar
wird. Dadurch zeigt sich auch, ob eine Vermutung schon ausreichend konkret ist, damit
eine Prüfung zum Erkenntnisgewinn führt. Beispielsweise wird eine Hypothese zur Vermutung „wenn hier die Reibung erhöht wird, dann hält es“, aufgestellt. Der Eintrag eines
Gestaltmerkmals in den Leitsatz der Hypothese ist aus dieser Vermutung noch nicht
möglich, da die Reibung eine Wirkung ist, die aus Gestaltparametern im Wirkflächenpaar
entsteht. Diese Gestaltparameter müssen noch identifiziert werden, damit die Hypothese
geprüft werden kann. Ein Gestaltparameter könnte beispielsweise die Materialeigenschaft einer Beschichtung sein, die den Reibkoeffizient im Wirkflächenpaar beeinflusst.
Um Hypothesen nachweisen zu können, wird eine geeignete Überprüfung im
Rahmen eines Experiments benötigt. Die explizite Formulierung der Prüfung dient
452
S. Matthiesen
dazu, möglichst schnelle und einfache Wege zu finden, um zu der benötigten Erkenntnis
zu gelangen. Wie eine Prüfung aussieht und mit welcher Unsicherheit die gewonnene
Erkenntnis behaftet ist, wird hier explizit und nachvollziehbar dokumentiert. Zur
Prüfung eines Gestalt-Funktion-Zusammenhangs ist dabei nicht immer ein vollständiger
Prototyp eines Systems notwendig, es ist nur wichtig, dass der zu prüfende Gestaltparameter variiert und unter Berücksichtigung der Wirkungen seiner Umgebung untersucht
werden kann. Ehrlenspiel und Meerkamm beschreiben beispielsweise die Prüfung einer
Variation an einer Scheibenbremse für den Bahnbetrieb durch eine einfache Versuchseinrichtung, mit der die kritischen Funktionen geprüft werden können (2017).
In Tab. 13.2 sind die Elemente einer Konstruktionshypothese dargestellt. Im oberen
Teil ist der Leitsatz formuliert, darunter die Prüfung und abschließend das Ergebnis. Die
Formulierung des Ergebnisses kann Handlungsempfehlungen zum weiteren Vorgehen
beinhalten, um das Vorgehen zu dokumentieren. So können Entscheidungen bei aufeinander
aufbauenden Hypothesen nachvollzogen werden. Das Ergebnis hilft zudem, retrospektiv
einen Überblick über aufgestellte und geprüfte Hypothesen zu gewinnen. Auch wenn sie
falsifiziert werden, helfen Konstruktionshypothesen in der Gestaltung weiter, da durch die
Widerlegung einer Vermutung ebenfalls Erkenntnisse entstehen, die das Systemverständnis
erhöhen können. So kann aus auftretenden Fehlern für die Gestaltung gelernt werden.
Anwendung der Konstruktionshypothesen zur Überprüfung eines GestaltFunktion-Zusammenhangs im Entwicklungsprojekt der Blechbohrschraube
Am Beispiel der Blechbohrschraube (vergleiche auch Abschn. 13.6.1) werden
Konstruktionshypothesen angewendet, um Gestaltmerkmale zu identifizieren, die mit der
Funktion „schnelles Eindringen in Stahlblech“ zusammenhängen. Die Beobachtungsbarriere
durch den extrem kurzen Eindringvorgang wird hier mittels einer Highspeed-Kamera überwunden und zeigt, dass die Schraube in einem Zustand des Eindringens keinen Formschluss zum Blech erzeugt und so kaum Material verdrängt. Siehe auch das Sequenzmodell
der Blechbohrschraube in Abschn. 13.6.1. Daraus wird folgende Vermutung formuliert:
„Ein höherer Gewindegang verbessert den Eindringvorgang.“ Die Begründung ist, dass ein
höherer Gewindegang das Material in diesem Bereich schneller verdrängen kann. Um diese
Vermutungen zu überprüfen, wird eine Konstruktionshypothese aufgestellt. Tab. 13.3 zeigt
die Konstruktionshypothese zum Gestaltparameter Gewindehöhe.
Tab. 13.2  Elemente der Konstruktionshypothese
Leitsatz
Wenn
Gestaltparameter als Stellgröße
Dann
Messbare Funktion als Zielgröße
Weil
Begründung der Vermutung, auf der die Hypothese basiert
Prüfung
Prüfvorschrift oder Versuchsplan
Ergebnis
Verifikation/Falsifikation mit Handlungsempfehlung zum weiteren
Vorgehen
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
453
Tab. 13.3  Konstruktionshypothese zur Gewindehöhe der Blechbohrschraube
Leitsatz
Wenn
die Gewindehöhe bei Z mm Entfernung von der Spitze Y mm beträgt
(Gewindehöhe Referenzschraube: X mm <Y mm)
Dann
Reduziert sich die Einschraubzeit um >T % (zur Referenz)
Weil
Ein höherer Gewindegang im WFP eine höhere Spannung induziert und den
Blechuntergrund schneller verdrängt wird
Prüfung
Test mit N Prototypen und N Referenzschrauben in 0,6 mm Blech.
Die Prototypen werden aus vermessenen und geclusterten SerienSchnellbauschrauben erzeugt. Im Versuch erfolgt die Messung der Einschraubzeit über Highspeed-Kamera und Video-Auswertung
Ergebnis
Verifiziert. Der höhere Gewindegang hat die Einschraubzeit durchschnittlich
um (T+5) % reduziert. Der Effekt ist signifikant
WFP 1a
W F P 1b
Gewindehöhe in mm
h
H = Y mm
H = X mm
In Abb. 13.32 ist der funktionsrelevante Gestaltparameter an der Schraubenspitze
dargestellt und seine Veränderung schematisch gezeigt. Die Veränderung der Funktionserfüllung in der Überprüfung ist rechts abgebildet. Hier zeigt sich, dass die Veränderung
der Einschraubzeit die Hypothese verifiziert. Die Entscheidung zur Verifikation und
Falsifikation (Annahme oder Zurückweisung einer Hypothese) ist dabei abhängig vom
festgelegten Konfidenzintervall.
Um diese Hypothese in einem Experiment überprüfen zu können, sollte die
kritische Funktion „Eindringen in Stahlblech“ bereits erfüllt werden. Anforderungen
an die Prototypen sind damit eine hohe Wiedergabetreue einer Einzelfunktion, vergleiche auch Abb. 13.34 im Abschn. 13.6.4. Prototypen aus dem 3D-Drucker oder ähnlichen generativen Verfahren kommen aufgrund der aktuell mit ihnen erreichbaren
Einschraubzeit in s
TOP10
FLOP10
Hypothese:
falsifiziert
verifiziert
Gestaltmerkmal
Variation des
Gestaltmerkmals
Veränderte Funktionserfüllung
Abb. 13.32 Überprüfung des Gestaltmerkmals Gewindehöhe der Blechbohrschraube (Matthiesen et al.
2018) nach Thau (2013)
454
S. Matthiesen
Materialeigenschaften nicht in Frage. Um Vermutungen zu dieser Einflussgröße auf die
Funktionsweise zu prüfen, sind also sehr teure und langwierig herzustellende Prototypen
aus gewalztem und wärmebehandelten Stahl notwendig. In diesem Fall können aber
verwandte Produkte genutzt werden, um Prototypen für die zu prüfende Konstruktionshypothese zu erzeugen. Die Schnellbauschrauben (vgl. auch Abb. 13.18) erfüllen die
gewünschte Funktion bereits qualitativ, d. h. sie können Stahlblech durchdringen,
allerdings nicht die geforderte Blechdicke. Aufgrund ihrer Fertigung durch Walzen
ergibt sich zudem eine große Streuung der geometrischen Parameter, d. h. möglicherweise ist eine zufällige Variation der zu prüfenden Gestaltmerkmale vorhanden. Für das
Experiment ist entscheidend, dass sich die zu prüfenden Schrauben nur in dem zu überprüfenden Gestaltparameter unterscheiden. Durch Vermessen und Clustern ergeben sich
„Prototypen“, die sich genau in diesem Gestaltparameter unterscheiden. Sie können im
Experiment zur Überprüfung der Konstruktionshypothese genutzt werden. So werden
Erkenntnisse zum Zusammenhang des Gestaltmerkmals Gewindehöhe mit der Funktion
„Eindringen in Stahlblech“ erzeugt.
Durch diesen gezielten Erkenntnisgewinn mit in geeigneten Tests überprüften
Konstruktionshypothesen wird es möglich, eine Blechbohrschraube zu gestalten, mit
der 2 mm dicke Bleche verschraubt werden können, ohne Späne zu erzeugen. Damit
wird das Ziel der Gestaltung erreicht, indem eine Gestalt erzeugt wird, mit der die SollFunktion erfüllt werden kann. Durch die wegfallende Reinigung des Daches bringt
diese Blechbohrschraube einen entscheidenden Mehrwert für den Kunden und wird
zur Innovation. Die entscheidenden Gestaltparameter werden zum Patent angemeldet.
In Abb. 13.33 sind die patentierten Gestaltmerkmale erkennbar. Der Erfolg dieses Entwicklungsprojekts beruht auf der Gestaltung, in der das Produktprofil und Konzept in
ein herstellbares Produkt umgesetzt wird. Das wird durch eine synthesegetriebene Analyse der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge und der Synthese auf Basis der gewonnenen
Erkenntnisse möglich.
Im nun folgenden Abschnitt wird detaillierter auf die Überprüfung von GestaltFunktion-Zusammenhängen eingegangen, da sie häufig erhebliche Ressourcen in der
Gestaltung binden und ihre zielführende Durchführung eine Herausforderung darstellt.
13.6.4Gestalt-Funktion-Zusammenhänge erkennen und
überprüfen durch Testing
Ist das Modell der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge soweit konkretisiert, dass es in
Hypothesen beschrieben werden kann, wird eine Überprüfung notwendig, um sicherzustellen, dass es die Realität korrekt und ausreichend genau abbildet. Es empfiehlt sich,
diese Überprüfung möglichst früh in der Gestaltung durchzuführen, um das Modell
rechtzeitig zu erweitern oder bei Bedarf korrigieren zu können. Hierzu können verschiedene Möglichkeiten von Prototypen und Demonstratoren dienen, mit denen beispielsweise Erkenntnisse zu grundsätzlichen Funktionsweisen und Eigenschaften
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
455
Abb. 13.33 Patent zur Blechbohrschraube (Matthiesen et al. 2018) nach (Matthiesen et al. 2013)
gewonnen werden (Lindemann 2016), S. 757, einzelne Gestaltparameter untersucht
werden oder auch das Verhalten des Gesamtsystems analysiert wird.
Je nach Zielstellung, Zeitpunkt im Projekt und aktuellem Kenntnisstand kann die
Form einer Überprüfung durch das Testing variieren. Boës et al. (2017) beschreiben eine
Systematik des Testing, in der die Kategorien Validierung, Verifikation, Experiment und
„Ausprobieren“ (trial and error) unterschieden werden. Die in diesen Kategorien verwendeten Prototypen unterscheiden sich in der Art des Wissens, das mit ihnen erzeugt
wird und damit auch im notwendigen Ressourceneinsatz zu ihrer Erzeugung und der
erreichbaren Konfidenz in der Überprüfung. Abb. 13.34 zeigt diese Aktivitäten und ihre
Einsatzgebiete.
In der Aktivität „Ausprobieren“ dienen Prototypen dazu, erstes grundlegendes Verständnis zu erlangen und daraus neue Ideen zu entwickeln. Diese Aktivität ist besonders
in der Anfangsphase der Modellbildung zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang wichtig.
Hier kommen häufig sehr einfache Prototypen zum Einsatz, die vergleichbar zu den
„Paper Prototypes“ in der Interface-Entwicklung sind (Snyder 2003). Sie dienen dazu,
dem Kunden einen ersten Eindruck vom Produkt zu vermitteln und beinhalten häufig
die zu prüfende Funktion im Sinne eines „Wizard of Oz Prototyps“. Dieser Prototyp
simuliert ein noch nicht fertiges (Teil-)System und verhindert dadurch, dass Projektressourcen in eine Entwicklung unter unrichtigen Annahmen zu den Kundenwünschen
fließen (Dow et al. 2005).
Im Experiment werden Erkenntnisse zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen durch
Prüfung von Hypothesen gewonnen. Hierfür ist nicht zwangsläufig das Produkt oder
456
S. Matthiesen
VALIDIERUNG
Überprüfung ob Nutzerbedürfnisse erfüllt sind
Beobachten in der Anwendung mit Nutzer/Kunden
VERIFIKATION
Absichern der Erreichung von Zielgrössen
Eindeutige Erfüllungskriterien (ja/nein)
EXPERIMENT
Ermittlung von Einflussparameter
Bestätigung/Wiederlegung von Hypothesen
AUSPROBIEREN
Grundsätzliches Verständnis entwickeln
Inspiration und neue Ideen
Abb. 13.34 Aktivitäten des Testing (Meboldt et al. 2017)
eines seiner Teilsysteme notwendig. Es können auch spezielle Prototypen zum Einsatz
kommen, die mit dem späteren Produkt wenig zu tun haben und deren Zweck darin
besteht, Erkenntnisse zu genau einem Gestalt-Funktion-Zusammenhang zu gewinnen.
Mit ihnen wird gezielt das Modell zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang aufgebaut oder
verfeinert.
Die Verifikation wird nach der VDI2206 als Überprüfung verstanden, ob eine
Realisierung mit den Spezifikationen übereinstimmt (VDI 2206:2004-06). Sie wird in
Unternehmen häufig in Tests zur Absicherung von Anforderungen in den späten Phasen
der Produktentwicklung durchgeführt, beispielsweise als Lebensdauertest, Crashtest
eines Fahrzeuges oder Serienfreigabetest. In der Gestaltung findet die Verifikation beispielsweise im Bereich der Hypothesenprüfung statt, aber auch in der Überprüfung, ob
genutzte Modelle richtig erstellt wurden.
In der Validierung findet ein kontinuierlicher Abgleich vom Entwicklungsstand des
Produkts zu seinen Zielen und Zwecken statt und sie kann deshalb als zentrale Aktivität im Entwicklungsprozess betrachtet werden (Albers et al. 2016). Damit hat die
Validierung auch in der Gestaltung eine zentrale Stellung, da durch sie sichergestellt
wird, dass immer mit Fokus auf den Kunden gestaltet wird.
Das Testing dient in der Gestaltung im Wesentlichen zwei Zielen. Zum einen der
Überprüfung von Funktionserfüllung des Produkts oder einer seiner Entwicklungsgenerationen. Zum anderen dem Erkenntnisgewinn durch Aufbau des Modells zum
Gestalt-Funktion-Zusammenhang. Das zweite Ziel ist dabei häufig die Grundlage des
ersten, da Erkenntnisse nur erzeugt werden, um das Produkt besser gestalten zu können.
Für beide Ziele können Prototypen genutzt werden, die Funktionen auf verschiedenen
Stufen abbilden. In Abb. 13.35 sind Beispiele für Prototypen auf verschiedenen Stufen
von Wiedergabetreue und Integration dargestellt. Wird ein Prototyp erstellt, mit dem eine
457
niedrig
hoch
Gestaltung – Prozess und Methoden
Wiedergabetreue (fidelity)
13
Einzelfunktion
Gesamtsystem
Integrationsstufe
Abb. 13.35 Klassierung von Prototypen nach Wiedergabetreue und Integrationsstufe nach Türk et al.
(2014)
Einzelfunktion in niedriger Wiedergabetreue abgebildet wird (links unten), lässt sich
ein Lösungsprinzip schnell in der ersten Umsetzung prüfen. Diese Einzelfunktion kann
optimiert werden, bis sie in hoher Wiedergabetreue vorliegt. Dieser Prototyp ist links
oben abgebildet. Wenn Wechselwirkungen zwischen Teilsystemen überprüft werden
sollen, können Prototypen des Gesamtsystems erstellt werden, entweder mit niedriger
Wiedergabetreue zur ersten Abschätzung oder durch Integration von Funktionen mit
hoher Wiedergabetreue in das Gesamtsystem (links oben). Diese Prototypen dienen
der Verfeinerung des Modells in verschiedenen Phasen der Gestaltung. Die Funktionsoptimierung (Erhöhung der Wiedergabetreue) findet schwerpunktmäßig im „Gestalten
der Module“, die Funktionsintegration (Integration von Einzelfunktionen ins Gesamtsystem) in der „Integration des gesamten Produkts“ statt (vgl. auch Abschn. 13.2). Die
Gestaltung ist beendet, wenn die relevanten Teilsysteme für alle Funktionen ausreichend
optimiert und ins Gesamtsystem integriert worden sind.
13.6.5Quantifizierung von Gestalt-Funktion-Zusammenhängen
durch Entwicklungsprüfständen
Die Quantifizierung von Gestalt-Funktion-Zusammenhängen in Produkten ist notwendig, um Aussagen zu Hypothesen treffen zu können. Ein quantitativer GestaltFunktion-Zusammenhang zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl die Gestaltparameter
458
S. Matthiesen
als auch die Funktion in messbarer Form vorliegen. Für diese Quantifizierung wird eine
Umgebung benötigt, in der im Rahmen der Analyse geeignete Versuche durchgeführt
werden können (vergleiche auch Abb. 13.17). Analyseumgebungen, die dem Erkenntnisgewinn zu Gestalt-Funktion-Zusammenhängen dienen, werden hier als Entwicklungsprüfstände bezeichnet. Diese Prüfstände werden aus den ihnen zugrundeliegenden
Hypothesen zum Gestalt-Funktion-Zusammenhang aufgebaut und beinhalten Messmöglichkeiten für die Funktion. Zudem bilden sie die Systemumgebung entsprechend
der Integrationsstufe der zu prüfenden Funktion ab. Eine besondere Herausforderung
in dieser Quantifizierung sind dynamische Wechselwirkungen mit der Umwelt, da
sie meist das gesamte Produkt betreffen und erst gemessen werden können, wenn es
physisch vorliegt. In diesem weit ausgereiften Gesamtprodukt sind Änderungen von
funktionsrelevanten Gestaltparameter oft mit hohem Aufwand verbunden, indem beispielsweise neue Spritzgussformen erzeugt oder Werkzeuge bei Zulieferern angepasst
werden müssen. Eine Frage in der Gestaltung ist deshalb, wie das dynamische Verhalten eines (Teil-)Systems möglichst früh und möglichst realitätsnah analysiert
werden kann, um auf dieser Basis gestalten zu können. Eine Möglichkeit zur Quantifizierung von dynamischen Gestalt-Funktion-Zusammenhängen ist der Einsatz von
geeigneten Entwicklungsprüfständen. Eine Herausforderung beim Aufbau dieser Prüfstände ist es, dieses realitätsnahes dynamisches Systemverhalten in einer reproduzierbaren Umwelt zu erfassen. Die Anforderungen realitätsnah und reproduzierbar sind
dabei konträr zueinander. Eine möglichst reproduzierbare Umwelt ist notwendig, um
beispielsweise das dynamische Verhalten verschiedener Gestaltvarianten unter vergleichbaren Bedingungen zu bestimmen und so Gestalt-Funktion-Zusammenhänge eindeutig
zu identifizieren. Hierfür werden aktuell häufig Prüfstände eingesetzt, welche die
Belastungen auf das reale Produkt nur eingeschränkt abbilden, aber im Gegenzug einstellbar und reproduzierbar sind. Versuche in der realen Anwendung können realitätsnahe
Belastungsprofile liefern, hier leidet aber die Reproduzierbarkeit durch die Vielfalt an
Anwendungsfällen und unterschiedlicher Anwender. Um gestalten zu können ist häufig
die genaue Kenntnis des Verhaltens in der realen Anwendung entscheidend. Dazu wird
sowohl Reproduzierbarkeit als auch Realitätsnähe benötigt. Sollen sowohl eine hohe
Reproduzierbarkeit als auch eine realitätsnahe Umwelt realisiert werden, erfordert dies
einen immensen Aufwand. Es müssen viele Lastkollektive ermittelt und auf den Prüfständen abgebildet werden. Ein Ansatz, um diesen Aufwand zu reduzieren und trotzdem eine hohe Realitätsnähe auf dem Prüfstand zu ermöglichen, ist die Erfassung der
Wechselwirkung an den Schnittstellen im Feldversuch und ihre Reproduzierung auf
einem Entwicklungsprüfstand.
Um bereits früh in der Gestaltung das Verhalten eines Produkts zu analysieren,
können Entwicklungsprüfstände genutzt werden, in denen realitätsnahe Belastungen
über definierte Schnittstellen auf bereits fertigbare Teile des Produkts aufgebracht
werden können.
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
459
Auf einem Entwicklungsprüfstand kann beispielsweise nur ein Teil des Systems
in Hardware auf abgebildet werden. Der nicht auf dem Prüfstand abgebildete Systemteil und auch die Umwelt werden aus einem Simulationsmodell über geeignete Aktoren
auf den Prüfstand übertragen. Sensoren messen die das Verhalten des Teilsystems
auf dem Prüfstand und spielen die Daten in das Simulationsmodell zurück. Dabei ist
es sogar möglich, mit Hilfe des IPEK-XiL-Ansatzes standortverteilt Erkenntnisse zu
gewinnen (Albers et al. 2017a). Ein Beispiel für solche Entwicklungsprüfstände ist der
in Abb. 13.36 dargestellte Teilsystementwicklungsprüfstand für Winkelschleifergetriebe.
Durch diesen ist es möglich Winkelschleifergetriebe unter realitätsnahen Bedingungen
zu untersuchen, ohne bereits ein fertiges Gesamtprodukt zu benötigen. Dadurch lässt
sich das Systemverhalten zukünftiger Produkte hinsichtlich der Untersuchungsziele
bewerten und daraus Gestalt-Funktion-Zusammenhänge quantifizieren.
Eine Herausforderung bei Produkten, die stark mit ihrem Anwender interagieren, ist
die Abbildung des Anwenders auf einem Entwicklungsprüfstand. Ein reproduzierbarer,
aber trotzdem realitätsnaher Anwender kann mittels geeigneter Robotersysteme und
Hand-Arm Modelle abgebildet werden. Um den Anwender in seinen Wirkungen auf das
Produkt berücksichtigen zu können, sind häufig aufwändige Tests mit Versuchspersonen
notwendig. Ein automatisierter Prüfstand, der die Wirkungen des Anwenders auf PowerTools reproduzierbar abbilden kann, ist in Abb. 13.37 dargestellt.
Abtriebsmotor
Antriebsmotor
Motorwelle des
Winkelschleifers
Winkelschleiferantriebsstrang
Abb. 13.36 Mechanischer Aufbau des Teilsystementwicklungsprüfstands zur Untersuchung des
Dynamikverhaltens eines Winkelschleiferantriebsstrangs nach (Matthiesen et al. 2017, S. 78)
460
S. Matthiesen
Abb. 13.37 Abbildung des Anwenders in einem Entwicklungsprüfstand (Bildquelle: IPEK – Institut
für Produktentwicklung 2017)
13.7Synthese in der Gestaltung
In der Synthese wird eine Gestalt festgelegt, die in der Lage ist, die geforderte Funktion
unter vorgegebenen Anforderungen und Randbedingungen zu erfüllen. Dabei wird das
in einer Analyse aufgebaute Modell, also die Vermutungen und Erkenntnisse zu den
Zusammenhängen von Gestalt und Funktion, genutzt. Sind die funktionsrelevanten
Parameter bekannt oder wurden sie in der Analyse erarbeitet, ist es häufig naheliegend,
wie und in welcher Ausprägung sie in der Synthese festgelegt werden müssen, um
gewünschte Funktionen unter vorgegebenen Anforderungen und Randbedingungen zu
realisieren.
u
Wenn das Modell der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge gut genug ist,
ermöglicht es eine erfolgreiche Synthese.
Eine geforderte Funktion kann durch viele verschiedene Ausprägungen einer Gestalt
erfüllt werden. Es gibt also viele Möglichkeiten, eine geeignete Gestalt festzulegen. Alle
diese Möglichkeiten können durch drei grundlegende Syntheseprinzipien beschrieben
werden. In den Begriffen des C&C2-Ansatzes lauten sie folgendermaßen:
1. Hinzufügen von Wirkflächenpaaren oder Leitstützstrukturen
2. Entfernen von Wirkflächenpaaren oder Leitstützstrukturen
3. Merkmale von Wirkflächenpaaren oder Leitstützstrukturen verändern
Die Umsetzung dieser drei allgemeinen Syntheseprinzipien ist im konkreten Fall
herausfordernd, weil hinter jedem Prinzip eine Vielzahl an Umsetzungsmöglichkeiten
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
461
steckt. Die Syntheseprinzipien können Denkanstöße liefern, um Schwierigkeiten in
der Synthese zu überwinden. Sie können als „diskursive Kreativitätstechnik“ bei der
systematischen Lösungsfindung genutzt werden. Hier wird auch vom „Erfinden mit der
Brechstange“ gesprochen. Hilfestellungen zur Umsetzung dieser drei Syntheseprinzipien
werden durch die Grundregeln der Gestaltung, Gestaltungsprinzipien und Gestaltungsrichtlinien geliefert. Diese Hilfestellungen unterscheiden sich im Grad ihrer Abstraktion
und ihrem Gültigkeitsbereich, da bei zunehmender Konkretisierung der Anwendungsbereich eingeschränkt wird. Die Überlegung, wie ein Gestaltungsprinzip durch die drei
grundsätzlichen Syntheseprinzipien umgesetzt werden kann, hilft dabei, Denkbarrieren
zu überwinden. Die Verknüpfung von Gestaltungsprinzipien und Syntheseprinzipien
erleichtert das Definieren von funktionsrelevanten Gestaltparametern.
13.7.1Techniken in der Synthese
Im Folgenden werden beispielhaft einige Techniken in der Synthese beschrieben. Sie
können helfen, das Denken in der Synthese auf die Gestalt-Funktion-Zusammenhänge
zu lenken und unter Berücksichtigung des Produkts mit seinen inneren und äußeren
Wechselwirkungen heraus eine geeignete Gestalt zu synthetisieren.
• Gestalte Wirkflächenpaare und Leitstützstrukturen
Es empfiehlt sich, mit der Gestaltung von Wirkflächenpaaren und Leitstützstrukturen
zu beginnen, da sie für die Funktion relevant sind. Danach können Begrenzungsflächen und Reststrukturen konstruiert werden.
• Priorisiere die kritische Funktion
Zunächst sollten Wirkflächenpaare und Leitstützstrukturen gestaltet werden, die für
die Erfüllung der kritischen Funktion notwendig sind. Weniger kritische Funktionen
werden im Nachgang integriert. So wird die Gestaltung fokussiert und die kritische
Funktion schneller umgesetzt und überprüft. Zudem sinkt das Risiko, durch die
gleichzeitige Umsetzung von vielen Funktionen den Überblick zu verlieren.
• Synthetisiere Wirkflächenpaare, nicht Wirkflächen
Das Denken in Wirkflächenpaaren bei der Synthese hilft, Bauteildenken zu überwinden und die Funktion in den Fokus der Gestaltung zu legen. Durch das Erstellen
von fertigungsgerechten Bauteilzeichnungen kann leicht der Blick auf die Wechselwirkungen verloren gehen. Das liegt daran, dass die Gestaltmerkmale immer in
einzelnen Bauteilen definiert sind. Für die Funktion relevant ist aber die Interaktion
der Wirkflächen im Wirkflächenpaar. Beispielsweise wird die Rauheit einer Welle in
ihrer technischen Zeichnung definiert. Für die Funktion „Dichten des Getriebes“ ist
aber das WFP zwischen Welle und Dichtring relevant. Die Dichtlippe des Wellendichtrings muss also ebenfalls berücksichtigt werden.
462
S. Matthiesen
• Folge den Gestaltfunktionselementen
In der Synthese empfiehlt es sich, den Gestaltfunktionselementen durch das Produkt
zu folgen. Funktionen werden immer in der Interaktion der Gestaltfunktionselemente
erfüllt. Gestalten entlang des Wirknetzes, also der Aufbau einer Kette der Gestaltfunktionselemente, hilft dabei, funktionsgerecht zu gestalten. Beispielsweise können
so funktionsbezogene Toleranzketten aufgebaut werden.
• Nutze Reststruktur und Begrenzungsflächen zur Synthese von Gestaltfunktionselementen oder entferne sie
Wird in der Synthese Gestaltungsraum gesucht, um die Beanspruchbarkeit einer Leitstützstruktur zu steigern oder die Spannung in einem Wirkflächenpaar zu reduzieren,
kann es helfen, Begrenzungsflächen und Reststrukturen zu identifizieren und sie
in Wirkflächenpaare und Leitstützstrukturen zu überführen. Werden in der Analyse eine Reststruktur und/oder eine Begrenzungsfläche identifiziert, können sie zu
bestehenden Gestaltfunktionselementen hinzugefügt werden, oder aus ihnen neue
Gestaltfunktionselemente erzeugt werden. Ist dies nicht notwendig oder möglich,
können Begrenzungsflächen und Reststrukturen entfernt werden. Dies ist besonders
im Leichtbau wichtig.
Entscheidend in der Synthese ist, die funktionsrelevanten Gestaltparameter so festzulegen, dass die Gestalt in der Lage ist, die Funktion unter vorgegebenen Anforderungen
und Randbedingungen zu erfüllen. Die Anwendung der Syntheseprinzipien des C&C2Ansatzes kann dabei unterstützen abstrakte Gestaltungsprinzipien effizient in einer
konkreten Syntheseaufgabe zu nutzen.
13.8Zusammenfassung
Ziel der Gestaltung ist es, ein herstellbares Produkt zu definieren, welches die benötigten
Funktionen unter vorgegebenen Anforderungen und Randbedingungen erfüllen kann.
Die Bedeutung der Funktion in der Gestaltung ist zentral, da sie die Daseinsberechtigung
des Produktes bildet. Um eine Funktion zu erfüllen, ist eine geeignete Produktgestalt
notwendig. Diese Gestalt beinhaltet Gestaltmerkmale, die direkt veränderbar sind, und
Gestalteigenschaften, die nur indirekt durch Veränderung der Gestaltmerkmale beeinflusst werden können. Diese Gestaltmerkmale und -eigenschaften erfüllen durch ihre
Interaktion die Funktionen des Produkts. Deshalb müssen die Zusammenhänge von
Gestalt und Funktion verstanden werden. Erfahrung und Gestaltdokumentationen von
Referenzprodukten stellen eine wichtige Basis für die Gestaltung dar. Daher sollten diese
Eingangsgrößen früh und bewusst in die Gestaltung eingebunden werden. Liegen diese
Eingangsgrößen nicht vor, steigt das Risiko in der Gestaltung. Mit dem Wissen und der
Analyse der Gestaltdokumentation von Vorgängerprodukten beginnt der Gestaltungsprozess, in dem iterative Zyklen aus Analyse und Synthese ablaufen. Dabei wird das
Modell der Gestalt-Funktion-Zusammenhänge aufgebaut, korrigiert und verfeinert
13
Gestaltung – Prozess und Methoden
463
und für die Synthese des Produkts genutzt. Dieses Modell entsteht zunächst immer im
Kopf, kann aber auch explizit, beispielsweise als C&C2-Modell vorliegen. Es beinhaltet
Vermutungen und Erkenntnisse dazu, wie Gestalt und Funktion zusammenhängen. Eine
Herausforderung beim Aufbau dieser Modelle ist die Beobachtungsbarriere, welche das
Erkennen und somit das Verstehen von Zusammenhängen verhindert. Durch geeignete
Techniken der Analyse kann sie überwunden werden. So werden Gestalt-FunktionZusammenhänge aufgedeckt und im Modell abgebildet. Um die Gültigkeit von Vermutungen im Modell zu überprüfen, können gezielt Vermutungen in Experimenten
überprüft werden. Dazu hilft das Aufstellen von geeigneten Hypothesen. In der Synthese
werden Lösungen entwickelt. Hierbei unterstützen die Syntheseprinzipien des C&C2Ansatz dabei, strukturiert Lösungsmöglichkeiten zu generieren. Zielgerichtet Produkte
zu gestalten ist möglich, wenn Analyse und Synthese zur Überführung von Funktion in
Gestalt beherrscht werden.
In diesem Kapitel wird die Gestaltung beschrieben und Techniken für ein
strukturiertes und zielgerichtetes Vorgehen in der Gestaltung gezeigt. Der Schwerpunkt
dieses Kapitels liegt auf der Unterstützung in den Analysephasen der Gestaltung. Denn
ist ein Problem durch kreative Analyse erst einmal verstanden, ist die Lösung oft gar
nicht mehr so schwierig!
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Grundregeln der Gestaltung
14
Eckhard Kirchner und Alfred Neudörfer
Durch die in Kap. 12 beschriebene Vorgehensweise zur Festlegung der Produktarchitektur werden die Hauptschnittstellen der Produktkomponenten, Baugruppen und Bauteile zueinander definiert. Auch die Beziehung der Komponenten untereinander wird
entsprechend festgelegt. Die dabei zu beachtenden Anforderungen an das Produkt selbst
sowie des wahrscheinlichen Fertigungsverfahrens liefern bereits eine Reihe von Hinweisen bzw. Vorgaben für die Gestaltung des Produkts. Im Rahmen des Entwurfs- und
Ausarbeitungsprozesses als Teilschritte des Produktentwicklungsprozesses, vgl. Kap. 4,
werden dann durch die Gestaltung die wesentlichen geometrischen Eigenschaften des
Produkts festgelegt, sodass anschließend die Grobgestalt des Produkts vorliegt. Damit
das Produkt und alle seine Einzelteile hergestellt werden können, muss jedes Detail
eindeutig beschrieben sein. Das Entwerfen schließt sich an die entsprechend Teil III
durchgeführten Arbeitsschritte der Konzeptentwicklung an und überführt die identifizierte technische Lösung in ein herstellbares Produkt. Nach der VDI-Richtlinie 2223
(2004) ist das Gestalten die Tätigkeit, bei welcher der Konstrukteur Gestalt- und Werkstoffeigenschaften von Gestaltungselementen festlegt, während das Entwerfen neben
dem Gestalten auch das Planen, Steuern und Überwachen des Gestaltungsprozesses
einschließt. Das Gestalten ist also die eigentlich kreative Tätigkeit, die in diesem Kapitel
mit drei allgemeingültigen Grundregeln unterstützt wird.
E. Kirchner (*) · A. Neudörfer
TU Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. Bender und K. Gericke (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-57303-7_14
467
468
E. Kirchner und A. Neudörfer
Abb. 14.1 Phasen des Produktlebenslaufs für die ganzheitliche Anwendung der Grundregeln
14.1Grundregeln, Gestaltungsprinzipien und
Gestaltungsrichtlinien
Die Entwickler werden bei der Konzeptentwicklung durch allgemein anwendbare
Methoden unterstützt, die unabhängig vom Fertigungsverfahren anwendbar sind. Beim
Gestalten hingegen muss unter Beachtung einer Reihe von Regeln, Prinzipien und Richtlinien ein Kompromiss gefunden werden, der z. B. vom gewählten Werkstoff, den Bauteilabmessungen, dem geplanten Fertigungsprozess abhängig ist. Dieser Kompromiss
stellt sicher, dass ein Bauteil nicht nur theoretisch, sondern unter realen Bedingungen
seine Funktion erfüllt und dass es so kostengünstig wie möglich unter Berücksichtigung
der geplanten Stückzahlen produziert werden kann. Bei diesen Überlegungen treten hinsichtlich der Gestaltung bereits Widersprüche auf, da sich häufig Anforderungen an die
geforderte Funktionserfüllung, z. B. aufgrund hoher Werkstoffqualität und Fertigungsgenauigkeit, nach geringen Kosten sowie einem niedrigen Bauteilgewicht gegenseitig ausschließen. Da es in der Regel nicht gelingen kann, alle Anforderungen an das
technische Produkt in vollem Umfang zu erfüllen, muss also im Einzelfall entschieden
werden, wie ein guter Kompromiss zwischen technischen Anforderungen und den
Restriktionen der Fertigung aussehen kann.
Wichtig ist das Verständnis dafür, dass die Grundregeln der Gestaltung auf alle
Phasen des Produktlebens anwendbar sind, vgl. Abb. 14.1. Im Rahmen der ganzheitlichen Produkt- und Prozessentwicklung können durch das Antizipieren der Fertigungs-,
Montage-, Nutzungs- und Recyclingprozesse die Grundregeln ganzheitlich angewendet
werden und dadurch alle Phasen des Produktlebenslaufs1 positiv beeinflusst werden, vgl.
(Abele et al. 2007; Birkhofer et al. 2012). Die Beispiele in diesem Kapitel verdeutlichen
dies.
In diesem und den beiden folgenden Kapiteln werden Gestaltungshinweise gegeben,
welche den Konstrukteuren als Orientierung dienen und die möglichst viele der
genannten Hauptkriterien berücksichtigen, insbesondere aber Funktionalität, Gewicht
und Kosten. Es wird dabei unterschieden zwischen:
1Die Phasen des Produktlebenslaufs nach Abb. 14.1 sind vom Produktlebenszyklus zu unterscheiden, vgl. Kap. 4.
14
Grundregeln der Gestaltung
469
• Grundregeln der Gestaltung: Sie sind immer anzuwenden und führen im Allgemeinen zu funktionssicheren und kostengünstigen Produkten.
• Gestaltungsprinzipien: Sie unterstützen schwerpunktmäßig ein Optimierungskriterium wie z. B. eine funktionssichere oder kostengünstige Gestaltung unter
Berücksichtigung besonderer Aspekte, wie z. B. das Leiten von Kräften, thermische
Einflüsse auf ein Produkt, elektromagnetische Verträglichkeit usw.
• Gestaltungsrichtlinien: Sie sind kontextabhängig bei bestimmten Bedingungen für
das Produkt anwendbar und orientieren sich häufig am gewählten Fertigungsverfahren
und seinen Einzelschritten.
Häufig werden die Gestaltungsrichtlinien in der Literatur und insbesondere im internationalen Sprachgebrauch als Design for X bezeichnet, das X steht dabei unter Anderem
für die verschiedenen in Kap. 16 besprochenen Fertigungsverfahren.
Die drei Grundregeln Eindeutig, Einfach und Sicher, die Gestaltungsprinzipien
(Kap. 15) und die Gestaltungsrichtlinien (Kap. 16) werden zusammen als Konstruktionshinweise bezeichnet. Die Beachtung der Grundregeln der Gestaltung und die Berücksichtigung der Gestaltungsprinzipien und -richtlinien erhöhen die Chancen einer
günstigen bzw. optimierten Realisierung der gewählten prinzipiellen Gesamtlösung.
Umgekehrt kann insbesondere die Nicht-Beachtung der Grundregeln ohne weitere
Zusatzmaßnahmen leicht zu Problemen führen.
Die in diesem Kapitel besprochenen drei Grundregeln der Gestaltung sind allgemein
formuliert und weisen dadurch eine hohe Übertragbarkeit auf. Abb. 14.2 ordnet Grundregeln, Gestaltungsprinzipien und -richtlinien hinsichtlich ihres Konkretisierungsgrads
und ihrer Übertragbarkeit. Den drei allgemeinen Grundregeln stehen mehrere hundert
spezielle Gestaltungsrichtlinien in der Literatur gegenüber, vgl. (Freund 2018), von
denen einige in Kap. 16 zusammengefasst sind.
Abb. 14.2 Konstruktionshinweise als Regeln und Vorbilder für die Gestaltung – Grundregeln,
Gestaltungsprinzipien und Richtlinien (Nach (Freund 2018))
470
E. Kirchner und A. Neudörfer
In der Praxis gibt es jedoch viele Produkte, bei deren Gestaltung bewusst von allgemeinen Gestaltungsregeln abgewichen wurde. Dies kann verschiedene Gründe haben,
insbesondere sind hier die Herstellkosten zu nennen, welche bei Massenprodukten im
Vordergrund stehen und der Vergleich der Kosten mit dem erzielbaren Gewinn. In
Relation zu Investitionsgütern ist die Lebensdauer von Konsumgütern gering, deshalb
kommen bei diesen Produkten teilweise konstruktive Ausführungen und Gestaltungen
zum Einsatz, die den üblichen, hier dargestellten Regeln widersprechen. Trotzdem
erreichen diese Produkte die von den Kunden erwartete Lebensdauer und sind funktionssicher. Häufig bauen die in diesen Fällen angewandten produktspezifischen Regeln auf
umfangreichem Erfahrungswissen in der Produktion und in der Nutzung der Produkte
durch die Kunden auf. Die verwendeten speziellen Auslegungsrichtlinien sind produktund unternehmensspezifisch und können also im Gegensatz zu den im Folgenden dargestellten allgemeingültigen Konstruktionshinweisen nicht verallgemeinert werden.
Ein typisches Beispiel für eine solche Anwendung von Erfahrungswissen und die
bewusste Abkehr von den Richtlinien der Literatur sind die Verzahnungen aus dem Automobilbereich, vgl. Abb. 14.3. Aufgrund ihres hohen Erfahrungswissens können die Fahrzeughersteller die Zahnräder für die verschiedenen Gangstufen unter Einhaltung strenger
Vorschriften für den Aufbau der Berechnungsmodelle und die Vorgehensweisen in Auslegung und Produktion die Verzahnungen sehr genau auf deren Nutzungsdauer hin
optimieren. Dabei wird von den Getriebeherstellern z. B. vom Postulat der Literatur
abgewichen, dass für den Normaleingriffswinkel der Evolventenverzahnung immer αn = 20◦
gilt. Hohe Produktionsstückzahlen und die Möglichkeit der Optimierung von Gewicht, Bauraum und Kosten erlauben auch andere Normaleingriffswinkel für diese Anwendungen, vgl.
(Kirchner 2007). Trotz der Abweichung von den „Grundsätzen“ der Verzahnungsauslegung
werden aber die Grundregeln der Gestaltung berücksichtigt. Für Industrieanwendungen mit
kleinsten Stückzahlen hingegen muss auf Normwerkzeuge zurückgegriffen werden, was
die Beschränkung auf Moduln aus den Normzahlreihen und einen Normaleingriffswinkel
αn = 20◦ erfordert, vgl. (Linke 2010; Niemann et al. 2005; Schlecht 2006).
Abb. 14.3 Treibendes und
getriebenes Stirnrad eines
Fahrzeuggetriebes (Aus
(Kirchner 2007))
14
Grundregeln der Gestaltung
471
Die Grundregeln der Gestaltung sind ohne Einschränkung anwendbar, ihre Berücksichtigung ist aus vielen Gründen sinnvoll, da insbesondere die Grundregel Einfach auch zu
kostengünstigen Lösungen führt, vgl. Abschn. 14.3. Gleiches gilt auch für die Grundregel
Eindeutig, da z. B. eindeutig montierbare Bauteile auch kostengünstige Montageprozesse
zur Folge haben, siehe Abschn. 14.2. Verwechslungen der Montagerichtung werden beispielsweise ausgeschlossen und Nacharbeiten werden zumindest reduziert, wenn nicht ausgeschlossen, außerdem ist die Überwachung des Montageprozesses mit Kamerasystemen
leicht möglich. Die Sicherheit und damit die dritte in Abschn. 14.4 besprochene Grundregel
der Gestaltung Sicher genießt aufgrund des erhöhten Sicherheitsbewusstseins der Kunden
und in Folge von Fragen der Produkthaftung eine sehr hohe Priorität. Sicher meint hier nicht
nur Sicherheit im Sinne eines unversehrten Nutzers und der Umwelt, sondern auch im Sinne
der Funktionserfüllung selbst unter Einfluss von Störgrößen wie Fertigungstoleranzen,
Verschleiß, Umwelteinflüssen usw., vgl. (Freund 2018; Niemann et al. 2005; Schlecht 2006;
Würtenberger 2018). Diese Robustheit der Funktionserfüllung ist eine Voraussetzung für
zufriedene Kunden und trägt damit zum langfristigen Bestehen eines Unternehmens bei.
Die Idee der drei Grundregeln wird von Pahl und Beitz (1997) zusammenfassend wie
folgt beschrieben:
• Die Beachtung von Eindeutigkeit hilft, Wirkung und Verhalten zuverlässig vorherzusagen und erspart in vielen Fällen Zeit und aufwändige Untersuchungen.
• Einfachheit stellt normalerweise eine wirtschaftliche Lösung sicher. Eine geringere Anzahl
der Teile und einfache Gestaltungsformen lassen sich schneller und besser fertigen.
• Die Forderung nach Sicherheit bedingt die konsequente Berücksichtigung der Fragen
nach Haltbarkeit, Zuverlässigkeit und Unfallfreiheit sowie zum Umweltschutz.
Ein typisches Beispiel für eindeutig montierbare elektrische Verbindungen ist in
Abb. 14.4 gezeigt. Beide Verbindungen sind jeweils nur in einer Richtung ohne Werkzeug montierbar und erfüllen somit die Grundregeln Einfach und Eindeutig, ein Vertauschen der Polarität ist bei sachgemäßer Montage ausgeschlossen. Die in Abb. 14.4
rechts gezeigte spritzwasserdichte Ausführung genügt durch die formschlüssige
Abb. 14.4 Elektrische Steckverbinder als Beispiele für die Einhaltung der Grundregeln eindeutig, einfach und sicher
472
E. Kirchner und A. Neudörfer
Verriegelung bei der Montage zusätzlich auch der Grundregel Sicher. Der Rasthaken
verhindert gleichzeitig ein Lösen des Steckverbinders, ermöglicht eine eindeutige
Leitung der Kabelzugkräfte am Stecker und unterstützt die eindeutige Erkennbarkeit der
korrekten Montage durch eine haptische und akustische Rückmeldung an den Monteur.
Der VGA-Stecker in Abb. 14.4 links erfüllt aufgrund der fehlenden Verriegelung die
Grundregel Sicher nicht, moderate Kabelzugkräfte führen bereits zum Trennen der
Steckverbindung. Die Grundregeln gelten nicht nur für die klassische mechanische
Konstruktion, sondern insbesondere auch für moderne mechatronische Systeme.
14.2Eindeutig
Eckhard Kirchner
Ein typisches Beispiel einer konstruktiv eindeutigen Gestaltung zeigt Abb. 14.5 anhand
einer Wälzlagerung mit Gehäusedichtung. Während bei der eindeutigen Gestaltung die
axiale Fixierung des Festlagers und die Erzeugung eines Dichtdrucks zwischen O-Ring
und Gehäuse über verschiedene Leit-Stütz-Strukturen realisiert werden, sollen die drei
nicht eindeutigen Varianten für beide Funktionen die gleiche Leit-Stütz-Struktur nutzen.
Eine der beiden Funktionen wird dabei nicht vollumfänglich erfüllt, weil entweder in
axialer Richtung eine sogenannte Doppelpassung vorliegt (b) oder weil die Dichtungsfunktion (c) oder die axiale Fixierung (d) völlig fehlen.
Dieses einführende Beispiel verdeutlicht die drei der Grundregel zugrunde liegenden
Gedanken:
• Eindeutigkeit: Für eine zuverlässige und wirtschaftliche Auslegung der zu gestaltenden
Elemente muss die aus einzelnen Wirkprinzipien aufgebaute Wirkstruktur eine geordnete
Führung des Energie- bzw. Kraftflusses, des Stoff- und Signalflusses sicherstellen.
• Funktion: Innerhalb einer Funktionsstruktur muss eine klare Zuordnung der Teilfunktionen mit zugehörigen Eingangs- und Ausgangsgrößen sichergestellt werden.
Abb. 14.5 Eindeutige Gestaltung Festlagers mit Gehäusedichtung: (a) Eindeutige Ausführung mit
Radialnut für den O-Ring, (b) Dichtfugendruck von Vorspannkraft abhängig (Doppelpassung), (c)
Dichtung ohne Funktion, (d) Lager axial nicht fixiert
14
Grundregeln der Gestaltung
473
• Wirkprinzip: Das gewählte Wirkprinzip muss hinsichtlich der physikalischen
Effekte definierte und beschreibbare Zusammenhänge zwischen Ursache und
Wirkung aufweisen.
14.2.1Konstruktive Aspekte der Eindeutigkeit
Die positiven Effekte der Grundregel Eindeutig können anhand der Gestaltung von
Lagerungen anschaulich erklärt werden. Bekannt und häufig bevorzugt eingesetzt sind
die sich eindeutig verhaltenden Fest- und Loslageranordnungen nach Abb. 14.6a. Das
linke Festlager nimmt alle Axialkräfte auf, unabhängig von deren Richtung. Das rechte
Loslager gestattet einen Ausgleich von Wärmedehnungen durch eine ungehinderte axiale
Verschieblichkeit, ohne dass dabei Zwangskräfte entstehen. Den Lagerberechnungen
liegen eindeutige Lastzustände zugrunde und sie folgen den Regeln der Statik, vgl. Gross
et al. (2016).
Sogenannte Stützlageranordnungen, Abb. 14.6b zeigt mit einer X-Anordnung ein
Beispiel, sollen dagegen nur vorgesehen werden, wenn die zu erwartenden thermisch
oder mechanisch induzierten Längenänderungen vernachlässigbar klein sind oder bei
konstanter Lastrichtung ein geringes Spiel in der Lagerung zulässig ist oder bei der Auslegung berücksichtigt wurde. Die Berechnung der Lagerlasten erfolgt nach den Regeln
der Elastostatik, vgl. (Gross et al. 2017).
Da die Axialbelastung der Lager von der Anstellung, d. h. der Vorspannkraft,
abhängig ist und Kräfte infolge Wärmedehnung insbesondere bei inhomogener
Erwärmung des Systems ohne Kenntnis der Ist-Toleranzen nicht eindeutig beschreibbar
Abb. 14.6 Grundsätzliche
Lageranordnungen. (a) Festund Loslageranordnung, (b)
Stützlageranordnung, (c)
elastisch verspannte Lager
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E. Kirchner und A. Neudörfer
sind, ist eine klare Verteilung der Axialkräfte auf linkes und rechtes Lager nicht möglich.
In der Praxis werden daher bei der Montage angestellter Lagerungen alle Komponenten
auf ihre Ist-Toleranzen vermessen, um eine eindeutige Vorspannkraft FV im Montagezustand sicherzustellen, vgl. (Kirchner und Birkhofer 2017). Eine mögliche Abwandlung
ist die sogenannte schwimmende Anordnung, bei der die Lager z. B. am Gehäuse mit
A
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