Emmanuel LEVINAS, Frieden und Nähe (1984), in: DERS., Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische (hgg. u.m.e. Vorw. v. Pascal Delhom u. Alfred Hirsch; Zürich: Diaphanes, 2007), 137-149. Frieden und Nähe I Das Problem Europas und des Friedens ist genau dasjenige, das den Widerspruch unseres Bewußtseins als Europäer darstellt. Es ist das Problem der Menschlichkeit in uns, der zentralen Stellung Europas, dessen »Lebenskräfte« - in denen das brutale Beharren der Seienden in ihrem Sein noch aktiv bleibt - schon vom Frieden verführt werden, von dem Frieden, der der Gewalt vorgezogen wird, und, noch genauer, vom Frieden einer europäischen Menschlichkeit in uns, die sich schon für die griechische Weisheit entschieden hat, um ausgehend vom Wahren den menschlichen Frieden zu erreichen. Frieden, ausgehend von der Wahrheit - von der Wahrheit eines Wissens, in dem sich das Mannigfaltige verträgt und vereint, anstatt auseinanderzugehen; in dem sich das Fremde angleicht und der Fremde assimiliert; in dem sich der/das andere mit der Identität des Identischen in jedem in Einklang bringt. Frieden als Rückkehr des Vielfältigen zur Einheit, entsprechend der platonischen oder neu-platonischen Idee des Einen. Frieden, ausgehend von der Wahrheit, der - höchstes Wunder - den Menschen gebietet, ohne sie zu bezwingen noch zu bekämpfen, der sie regiert oder sie versammelt, ohne sie zu knechten, der durch die Rede überzeugen kann, anstatt zu bezwingen, und der die feindseligen Elemente der Natur durch das Kalkül und das Können der Technik beherrscht. Frieden ausgehend vom Staat, der eine Ansammlung von Menschen wäre, die an denselben idealen Wahrheiten teilhaben. Frieden, der in ihm ausgekostet wird als eine durch Solidarität gesicherte Ruhe - exaktes Maß der Reziprozität in den unter Gleichen erwiesenen Diensten: Einheit eines Ganzen, in dem jeder seine Ruhe, seinen Platz, seinen Boden findet. Frieden als Stille und Ruhe! Frieden der Ruhe zwischen Seienden, die auf festem Boden stehen oder auf der tieferliegenden Festigkeit ihrer Substanz ruhen, die sich 137 in ihrer Identität genügen oder die fähig sind, Genugtuung zu erlangen und die nach Genugtuung streben. Aber infolgedessen ist das Bewußtsein des Europäers schlechtes Gewissen, 1 wegen des Widerspruchs, der es genau in der Stunde seiner Modernität zerreißt, welche wahrscheinlich diejenige der mit klarem Kopf gezogenen Bilanzen ist, diejenige des vollen Bewußtseins. Diese Geschichte eines Friedens, einer Freiheit und eines Wohlbefindens, die versprochen wurden, als würden sie von einem Licht ausgehen, das ein universales Wissen auf die Welt und auf die menschliche Gesellschaft - und sogar auf die religiösen Botschaften, die für sich eine Rechtfertigung in den Wahrheiten des Wissens suchten - projizierte, diese Geschichte erkennt sich nicht in ihren Jahrtausenden politischer und blutiger Bruderkämpfe, in ihren Jahrtausenden des Imperialismus, der Menschenverachtung und der Ausbeutung, bis hin zu unserem Jahrhundert der Weltkriege, der Genozide, des Holocausts und des Terrorismus; der Arbeitslosigkeit und des fortdauernden Elends der Dritten Welt; der erbarmungslosen Doktrinen und Grausamkeiten des Faschismus und des Nationalsozialismus und bis hin zum höchsten Paradox, in dem sich die Verteidigung des Menschen und seiner Rechte in Stalinismus umkehrt. Von daher das Bestreiten der zentralen Stellung Europas und seiner Kultur. Eine Europa-Müdigkeit! Bruch der Universalität der theoretischen Vernunft, die sich früh in dem »Erkenne dich selbst« erhoben hatte, um das ganze Universum im Selbstbewußtsein zu suchen. Von daher die Bekräftigung und die Aufwertung der besonderen Kulturen in allen Ecken der Welt. Bekräftigung, die an den höchsten Stellen der europäischen Universität selbst Widerhall und Anerkennung - und oft ihren Ursprung - und immer entgegenkommendes Verständnis findet. 1 Levinas spielt hier mit dem doppelten Sinn des französischen »conscience«, einerseits als Bewußtsein, andererseits als Gewissen, das schlecht oder gut genannt werden kann. [A.d.Ü.] 138 Interesse, das in unserer alten Welt, im Namen des antiken Universalismus Europas selbst, den unzähligen Partikularismen entgegengebracht wird, die vorgeben, ihm ebenbürtig zu sein. Interesse, das nicht mehr aus irgendeiner Vorliebe für den »barbarischen Exotismus« herkommt, sondern Verherrlichung einer Logik, die anders ist als diejenige des Aristoteles, eines Denkens, das anders ist als zivilisiert. Verherrlichung, die sich vielleicht durch ein Schuldgefühl erklärt, das durch die Erinnerung an die Kolonialkriege und an eine lange Unterdrückung derjenigen genährt wird, die man einst Wilde nannte, durch die Erinnerung an eine lange Gleichgültigkeit gegenüber der Traurigkeit einer ganzen Welt. Und, folglich, Bestreiten der zentralen Stellung Europas ausgehend von Europa selbst. Aber vielleicht, genau auch dadurch, Zeugnis eines Europa, das nicht nur hellenisch ist! Und dadurch auch das Problem, welcher genau der Anteil dieses Europas in einem Europa ist, von dem man möchte, daß es all seinen Versprechungen treu sei. Europa gegen Europa noch unter einem anderen Aspekt und in bezug auf dramatischste Eventualitäten. Die großen Reiche, die in solch hohem Maße über das Schicksal unseres Planeten entscheiden, sind aus einer europäischen Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Technik entstanden und aus ihrem Expansionsvermögen. Universalismus oder Imperialismus! Europäische Reiche, die über das geographische Europa hinausreichen und die um Macht derart rivalisieren, daß sie sich anschicken, die Erde selbst, die die Menschheit trägt, zu sprengen, wenn es nötig wäre. Sprengung der Erde selbst durch eine Energie, die durch die - moderne Wissenschaft gewordene - Suche nach der Wahrheit aus dem Sein herausgezogen wurde. Nun bedroht die Wahrheit das Sein selbst, nun bedroht die Wahrheit, wenn man es so sagen kann, das Sein als Sein und läßt Europa in Mißkredit geraten, das diese Kräfte entdeckte - und ungedeckt ließ. Aber sicherlich rührt schon diese Art selbst, anzuklagen und in Mißkredit geraten zu lassen, aus einer Berufung des Geistes her, dessen Liebe der Weisheit die Liebeskräfte nicht übersetzt und nicht erschöpft. 139 II Dieses schlechte Gewissen drückt nämlich nicht nur einen Widerspruch zwischen einem bestimmten Kulturprojekt und seinen Ergebnissen aus. Es besteht nicht nur aus den Verführungen eines Friedens, der jedem die Ruhe seines Glücks und eine Freiheit, die Welt zu besitzen, sichert, und sicherlich auch das Vermögen selbst, zu besitzen, das durch nichts getrübt werden sollte. Es handelt sich nicht um das Scheitern eines spekulativen oder dialektischen Projekts im Hegelschen Stil - eines Projekts, das gegenüber den Kriegen und den Morden und den Leiden gleichgültig wäre, solange diese im Verlauf des rationalen Denkens, das auch eine Politik ist, notwendig sind - solange sie in der Bildung der Konzepte notwendig sind, deren Logik und rationale Vollendung allein von Belang wären. Das Drama Europas ist nicht die intellektuelle Enttäuschung eines Systems, das durch die Inkohärenzen der Wirklichkeit widerlegt wird. Es ist nicht einmal nur die Gefahr des Sterbens, die jeden erschreckt. Es gibt die Angst, auch da Verbrechen zu verüben, wo sich die Begriffe vertragen. Es gibt die Angst der Verantwortung, die jedem im Tod oder im Leiden des jeweils anderen obliegt. Die Furcht eines jeden für sich in der Sterblichkeit eines jeden vermag es nicht, die Schwere des verübten Mordes und den Skandal der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden des jeweils anderen zu absorbieren. Hinter der Gefahr, der jeder für sich in einer Welt ohne Sicherheit ausgesetzt ist, erhebt sich das Bewußtsein der unmittelbaren Immoralität einer Kultur und einer Geschichte. Werden wir denn nicht in der Berufung Europas - vor der Botschaft der Wahrheit, die es bringt - das »Du wirst nicht töten« des Dekalogs und der Bibel gehört haben? Im Kapitel 32 der Genesis wird Jakob durch die Ankündigung beunruhigt, daß sein Bruder Esau - Feind oder Freund - ihm entgegenkommt, »vierhundert Mann bei ihm«. 2 Vers 8 lehrt uns: »Jaakob fürchtete sich sehr, ihm wurde bang.« Welchen Unterschied gibt es zwischen Furcht und Bangen? Der rabbinische Kommentator, der berühmte Rachi, er- 140 läutert für uns: Er fürchtete sich vor seinem Tod, aber ihm wurde bange, daß er vielleicht zu töten haben würde. Wenn wir an diesen ethischen Moment unserer Krisis Europas denken - wenn wir an unsere Angst denken - an die Angst Jakobs - die vor der auszuübenden Gewalt empfunden wird wäre sie auch im logischen Verlauf der Geschichte notwendig wäre sie auch in ihrem durch den Gang der Wahrheit gebotenen Verlauf notwendig, Wahrheit, die im absoluten Denken schreitet und am Ende den Frieden der »Identität des Identischen und des Nicht-Identischen« verspricht - wenn wir an diesen ethischen Moment unserer Krisis Europas denken (den im besonderen das philosophische Werk eines Franz Rosenzweig bezeugt, der im Hegelschen Denken erzogen wurde, der aber den Ersten Weltkrieg gekannt hat, obwohl nur den ersten), können wir uns fragen, ob der Frieden nicht auf einen Ruf zu antworten hat, der dringlicher als derjenige der Wahrheit und vor allem vom Ruf der Wahrheit unterschieden ist. Wir können uns fragen, ob wir nicht das Ideal selbst der Wahrheit - das kein Europäer zurückweisen könnte - schon in bezug auf ein Ideal des Friedens verstehen sollen, das älter als dasjenige des Wissens ist und das sich erst dem Ruf der Wahrheit öffnen wird; wir können uns fragen, ob das Wissen selbst und die die Geschichte bestimmende Politik nicht an ihren rechten Platz gelangen, wenn sie schon auf die Forderung des Friedens antworten und sich durch diese Forderung führen lassen. In diesem Fall jedoch wird der Frieden nicht mehr auf eine bloße Bestätigung der menschlichen Identität in ihrer Substantialität hinauslaufen, auf ihre aus Stille bestehende Freiheit, auf die Ruhe des Seienden, das in sich selbst, in seiner Identität als Ich seinen festen Boden findet. Es würde sich von nun an nicht mehr um den bürgerlichen Frieden des Menschen handeln, der hinter geschlossenen Türen zu Hause ist und das zurück2 Ich benutze hier die vom französischen Text ein wenig abweichende Übersetzung der Bibel durch Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, 12„ verbesserte Auflage der neubearbeiteten Ausgabe von 1954, Gerlingen 1997. [A.d.Ü.] 141 wirft, was als Äußeres ihn negiert; es würde sich nicht mehr um den Frieden handeln, der dem Ideal der Einheit des Einen entspricht, die jede Andersheit stört. In einer Sensibilität, in der der Skandal des Mordes nicht erstickt wird, auch wenn die Gewalt rational notwendig ist - kann der Frieden unmöglich die gelassene Stille des Identischen bedeuten und kann sich die Andersheit unmöglich bloß als die logische Distinktion der Teile rechtfertigen, die zu einem zerteilten Ganzen gehören und die durch streng gegenseitige Beziehungen in einem Ganzen vereint sind. Wir müssen genau die Auffassung in Frage stellen, nach der sich das Ich in der Vielzahl der Menschen auf das Teil eines Ganzen beschränkt, welches sich in seinem Zusammenhalt nach dem Bild eines Organismus - oder eines Begriffs - wiederherstellt, dessen Einheit Kohärenz von Gliedern oder Struktur eines Begreifens ist. Wir müssen uns in bezug auf die Identität des Ich fragen - und dies wäre der andere Terminus einer Alternative-, ob die Andersheit vom jeweils anderen nicht - von vornherein etwas Absolutes hat, im etymologischen Sinne des Wortes, wie wenn der jeweils andere nicht nur, im logischen Sinn, anders wäre: anders aus einer Andersheit, die logisch in einer gemeinsamen Gattung überwindbar wäre - oder transzendental überwindbar wäre, indem sie sich für die durch ein Kantsches »ich denke« durchgeführte Synthese hergibt. Wir müssen uns fragen, ob der Frieden, anstatt im Absorbieren und Verschwinden der Andersheit zu bestehen, nicht im Gegenteil die brüderliche Art einer Nähe des jeweils anderen wäre, welche nicht bloß das Verfehlen einer Koinzidenz mit dem anderen wäre, sondern genau das Mehr der Sozialität über alle Einsamkeit - Mehr der Sozialität und der Liebe. Wir sprechen dieses so oft fälschlich verwendete Wort nicht leichtfertig aus. Frieden als Beziehung mit einer Andersheit, die nicht auf eine gemeinsame Gattung zurückgeführt werden kann, in der sie, schon in logischer Gemeinsamkeit, nur eine relative Andersheit wäre. Frieden, der folglich unabhängig von aller Systemzugehörigkeit, nicht reduzierbar auf eine Totalität und gleichsam un- 142 empfänglich für die Synthese wäre. Projekt eines anderen Friedens als der politische Frieden, von dem wir weiter oben sprachen. Ethische Beziehung, die folglich keine bloße Schwäche oder Entziehung der Einheit des auf der Vielheit von Individuen im Umfang der Gattung beschränkten Einen wäre! Hier im Gegenteil, im ethischen Frieden, Beziehung zum nicht assimilierbaren anderen, zum irreduziblen anderen, zum anderen, einzig. Allein der einzige ist irreduzibel und absolut anders! Nun ist die Einzigkeit des einzigen die Einzigkeit des Geliebten. Die Einzigkeit des einzigen findet ihre Bedeutsamkeit als Zeichen in der Liebe. Von daher Frieden als Liebe. Nicht so, daß die Einzigkeit der Andersheit infolgedessen als eine gewisse subjektive Illusion von Verliebten gedacht würde. Ganz im Gegenteil wäre das Subjektive als solches genau der Durchbruch - durch das unempfindliche Wesen des Seins und durch die Strenge seiner logischen Formen und seiner Gattungen und durch die Gewaltsamkeit seines Beharrens im Sein hindurch - zum einzigen, zum absolut anderen, aufgrund der Liebe, der menschlichen Nähe und des Friedens. Andere Nähe als irgendeine »kurze Distanz«, die im geometrischen Raum gemessen wäre, der die einen und die anderen trennt. Anderer Frieden als die bloße Einheit des Mannigfaltigen unter einer sie integrierenden Synthese. Frieden als Beziehung mit dem anderen in seiner logisch ununterscheidbaren Andersheit, in seiner Andersheit, die nicht auf die logische Identität einer letzten Differenz reduzierbar ist, die einer Gattung hinzugefügt wäre. Frieden als stetiges Wachwerden für diese Andersheit und für diese Einzigkeit. Nähe als unmögliche Übernahme der Differenz, unmögliche Definition, unmögliche Integration. Nähe als unmögliches Erscheinen. Aber Nähe! Die berühmte »Appräsentation« Husserls nicht als verarmte Repräsentation, sondern als rätselhafter Überschuß des Geliebten. Eigene Vortrefflichkeit der Transzendenz ohne Verweis auf die Immanenz des Wahren, die im Abendland als die höchste Gnade des Geistigen gilt. Denn es ist offenkundig, daß in der Kenntnis des jeweils anderen als eines bloßen Individuums - Individuum 143 einer Gattung, einer Klasse, einer Rasse - der Frieden mit dem jeweils anderen sich in Haß umkehrt; sie ist das Ansprechen des jeweils anderen als »espece de ceci ou de cela«. 3 III Wir haben diese formale Analyse des Friedens - als Beziehung mit dem einzigen und dem anderen - Beziehung, die durch das allgemeine Wort Liebe bezeichnet wurde - nicht ohne den Versuch durchgeführt, zu deformalisieren, diese Strukturen in ihrer Konkretheit wieder zu finden, nicht ohne eine Phänomenologie. Wir waren der Ansicht, daß die Einzigkeit und die Andersheit des einzigen konkret das Angesicht des anderen Menschen ist, dessen ursprüngliches Sich-Zeigen [epiphanie] nicht in seiner Sichtbarkeit als plastische Form liegt, sondern in der »Appräsentation«. Das Denken, das für das Angesicht des anderen Menschen wach ist, ist kein Denken von ... , keine Repräsentation, sondern von vornherein ein Denken für. .. , eine Nicht-Gleichgültigkeit für den anderen, die das Gleichgewicht der gleichmütigen und unempfindlichen Seele des reinen Kennens bricht, ein Wachwerden für den anderen Menschen in seiner für das Wissen nicht erkennbaren Einzigkeit, eine Annäherung des erstbesten in seiner Nähe als Nächsten und einzigen. Angesicht - vor allem besonderen Ausdruck und unter allem Ausdruck, welcher, da er schon selbstgegebene Haltung ist, die Nacktheit des Angesichts versteckt. Angesicht, das nicht Ent-hüllung ist, sondern reine Mittellosigkeit des wehrlosen Ausgesetztseins. Ausgesetztsein als solches, äußerstes Ausgesetztsein vor dem Tod, die Sterblichkeit selbst. Äußerste Zerbrechlichkeit des einzigen, Zerbrechlich3 Levinas spielt hier mit dem Sinn des Wortes »espece«, Art, Spezies, das im Ausdruck »espece de ... «, immer in Verbindung mit einem Schimpfwort, einen pejorativen Sinn hat. So gibt z.B. Langenscheidts Handwörterbuch folgende Übersetzungen an: d'imbecile! (Sie oder du) Dummkopf!; regardez-moi cette d'abruti! schauen Sie mal diesen blöden Kerl an! [A.d.Ü.] N N 144 keit des Fremden. Nacktheit aus reinem Ausgesetztsein, das nicht bloß Emphase des Bekannten, des in der Wahrheit Enthüllten ist: Ausgesetztsein, das Ausdruck ist, erste Sprache, Ruf und Vorladung. Angesicht, das folglich nicht ausschließlich das Gesicht des Menschen ist. In Leben und Schicksal von Wassilij Grossman (dritter Teil, Kapitel 23) geht es um einen Besuch, den die Familien oder die Frauen oder die Verwandten der politischen Gefangenen in der Lubjanka in Moskau abstatten, um sich über das Neueste zu erkundigen. An den Schaltern bildet sich eine Schlange, eine Schlange, in der die einen nur den Rücken der anderen sehen. Eine Frau wartet darauf, an die Reihe zu kommen: »Nie hatte [sie] gedacht, daß der menschliche Rücken dermaßen ausdrucksstark sein kann und so eindringend Seelenzustände übermitteln kann. Die Personen, die sich dem Schalter näherten, hatten eine spezielle Art, den Hals und den Rücken zu strecken, die gehobenen Schultern hatten Schulterblätter, die wie durch Federn gespannt waren, und schienen zu schreien, zu weinen, zu schluchzen.«4 Angesicht als die äußerste Zerbrechlichkeit des anderen. Der Frieden als Wachwerden für die Zerbrechlichkeit des anderen. In dieser äußersten Geradheit des Angesichts und in seinem Ausdruck nämlich: Vorladung und Bitte, die das Ich angehen, die mich angehen. In dieser äußersten Geradheit - sein Recht über mich. Die Bitte, die mich als Ich angeht, ist der konkrete Umstand, in dem dieses Recht seine Bedeutsamkeit als Zeichen findet. Als ob der unsichtbare Tod, dem das Angesicht des jeweils anderen gegenübersteht, meine Angelegenheit wäre, als ob dieser Tod mich ansehen und angehen würde. In diesem Wachrufen der Verantwortung des Ich durch das Angesicht, das es vorlädt, das es verlangt und nach ihm ruft, ist der jeweils andere der Nächste. 4 Das französische Zitat ist eine eigene Übersetzung von Levinas. 145 Ausgehend von dieser Geradheit des Angesichts des jeweils anderen haben wir früher schreiben können, daß das Angesicht des anderen in seiner Zerbrechlichkeit und seiner Wehrlosigkeit für mich zugleich die Versuchung zu töten und der Ruf zum Frieden ist: »Du wirst nicht töten«. 5 Angesicht, das mich schon anklagt, mich verdächtigt, aber schon nach mir ruft und mich verlangt. Das Menschenrecht ist da, in dieser Geradheit des Ausgesetztseins und des Gebots und des Vorladens, älteres Recht als alles Verleihen von Würde und als alles Verdienst. Die Nähe des Nächsten - der Frieden der Nähe - ist die Verantwortung des Ich für einen anderen, die Unmöglichkeit, ihn vor dem Rätsel des Todes allein zu lassen. Was konkret die Empfänglichkeit [susception] dafür ist, für den anderen zu sterben. Der Frieden mit dem jeweils anderen geht so weit. Es ist der ganze Ernst der Nächstenliebe, der Liebe ohne sinnliche Begierde. Frieden der Nächstenliebe, bei dem es nicht wie beim Frieden der reinen Ruhe darum geht, sich in seiner Identität zu bestätigen, sondern diese Identität selbst, ihre unbegrenzte Freiheit und ihre Macht immer in Frage zu stellen. IV Aber die Ordnung der Wahrheit und des Wissens hat eine Rolle zu spielen in diesem Frieden der Nähe und in der ethischen Ordnung, die er bedeutet. In einem sehr hohen Maße ist es die ethische Ordnung der menschlichen Nähe, die diejenige der Objektivität, der Wahrheit und des Wissens hervorruft oder erfordert. Was äußerst wichtig ist für den eigentlichen Sinn Europas: Sein biblisches Erbe impliziert die Notwendigkeit des griechischen Erbes. Europa ist kein bloßes zusammenfließen zweier kultureller Strömungen. Es ist die Konkretheit, in der die Weisheiten des 5 Zur Übertragung des Französischen »tu ne tueras pas« vgl. unsere Einleitung, Anm. 22. [A.d.Ü.] 146 Theoretischen und des Biblischen eine bloße Zusammenkunft übersteigen. Die Beziehung mit dem anderen und dem einzigen, die der Frieden ist, führt dazu, eine Vernunft zu verlangen, die thematisiert und synchronisiert und synthetisiert, die eine Welt denkt und über das Sein reflektiert, Begriffe, die für den Frieden der Menschen notwendig sind. Zwar kommt die Verantwortung für den anderen Menschen, in ihrer Unmittelbarkeit, vor aller Frage. Aber wie verpflichtet sie, wenn ein Dritter diese Exteriorität zu zweit stört, in der mein Subjektwerden als Subjekt [sujetion de sujet] Unterwerfung unter den Nächsten [sujetion au prochain] ist? Der Dritte ist anders als der Nächste, aber auch ein anderer Nächster und auch ein Nächster des anderen und nicht einfach seinesgleichen. Was habe ich zu tun? Was haben sie bereits einander getan? Welcher hat Vortritt vor dem anderen in meiner Verantwortung? Was sind sie denn, der andere und der Dritte, in bezug aufeinander? Geburt der Frage. Die erste Frage im Zwischen-Menschlichen ist Frage der Gerechtigkeit. Es ist von nun an nötig, zu wissen, sich ein Bewußtsein als Mit-Wissen [con-science] zu schaffen. Meiner Beziehung mit dem einzigen und dem Unvergleichlichen überlagert sich der Vergleich und, im Hinblick auf Fairneß oder Gleichheit, ein Abwägen, ein Denken, ein Rechnen, der Vergleich der Unvergleichlichen und, folglich, die Neutralität - Präsenz oder Repräsentation - des Seins, die Thematisierung und die Sichtbarkeit des Angesichts, das sich gewissermaßen unter dem starren Blick als bloße Individuation des Individuums verliert; das Gewicht des Habens und des Handelsverkehrs; die Notwendigkeit, das Mannigfaltige und die Einheit der Welt unter einem synthetischen Thema zusammenzudenken; und, von daher, die Förderung, im Denken, der Intentionalität und der Intelligibilität des Bezugs und der letzten Bedeutsamkeit des Seins; und von daher letztlich, in der Vielzahl der Menschen, die äußerste Wichtigkeit der politischen Struktur der Gesellschaft, die den Gesetzen und folglich den Institutionen unterworfen ist, in denen das Für-den- 147 anderen der Subjektivität - in denen das Ich - mit der Würde des Bürgers in die perfekte Reziprozität der politischen Gesetze eintritt, die wesentlich egalitär sind oder zu werden gehalten sind. Aber die Formen des Geistes, die so gefördert werden, und die Begriffe wie Sein oder rationale Wahrheit, die so den Charakter eines Ursprungs allen Sinnes annehmen, und die politische Einheit mit den Institutionen und den Beziehungen, die da und von da her errichtet werden, sind jederzeit im Begriff, ihren Schwerpunkt in sich selbst zu tragen und auf eigene Rechnung auf dem Schicksal der Menschen als Quelle von Konflikten und Gewaltsamkeiten zu lasten. Es schien uns von daher wichtig, an den Frieden und die Gerechtigkeit als deren Ursprung, Rechtfertigung und Maß zu erinnern; daran zu erinnern, daß diese Gerechtigkeit, die sie ethisch legitimieren kann - das heißt, die dem Menschlichen unter dem Gewicht des Seins seinen eigenen Sinn des Des-inter-essiert-Seins bewahren kann - keine natürliche und anonyme Legalität ist, die die menschlichen Massen regiert und aus der eine Technik des sozialen Gleichgewichts entnommen wird, die durch die vorübergehenden Grausamkeiten und Gewaltsamkeiten hindurch die antagonistischen und blinden Kräfte in Einklang bringt. Es schien uns wichtig, daran zu erinnern, daß es unmöglich ist, einen Staat so zu rechtfertigen, der seinen eigenen Notwendigkeiten ausgeliefert ist. Nichts vermochte sich der Kontrolle der Verantwortung des »einen-für-denanderen« zu entziehen, die die Grenze des Staates zeichnet und unaufhörlich an die Wachsamkeit der Personen appelliert, die sich nicht mit der bloßen Subsumption der Fälle unter der allgemeinen Regel zufriedenzugeben vermochten, zu der der Computer fähig ist. Es ist nicht unwichtig zu wissen - und dies ist vielleicht die europäische Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts-, ob der egalitäre und gerechte Staat, in dem der Europäer seine Erfüllung findet - und den es einzurichten und vor allem zu bewahren gilt -, aus einem Krieg aller gegen alle hervorgeht - oder aus der irreduziblen Verantwortung des einen für den anderen und ob er 148 die Einzigkeit des Angesichts und die Liebe ignorieren kann. Es ist nicht unwichtig, dies zu wissen, damit der Krieg nicht zur Einrichtung eines Krieges mit gutem Gewissen im Namen der historischen Notwendigkeiten wird. Das Bewußtsein entsteht als Anwesenheit des Dritten in der Nähe des einen zum anderen, und es wird folglich in dem Maße zum Des-inter-esse, in dem es aus ihr hervorgeht. Der Grund des Bewußtseins ist die Gerechtigkeit und nicht umgekehrt. Die Objektivität ruht auf der Gerechtigkeit. Die extravagante Großzügigkeit des Für-den-anderen wird durch eine vernünftige, dienende oder engelhafte Ordnung überlagert, Ordnung der Gerechtigkeit durch das Wissen, und die Philosophie ist hier ein Maß, das der Unendlichkeit des Seins-für-denanderen des Friedens und der Nähe beigebracht wurde, und gleichsam die Weisheit der Liebe. 149