Uploaded by Oliver Nagl

Skript HS22 (13.09.2022)

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HS 2022
Allgemeine Chemie I
Organische Chemie
Einführung in die organische Chemie
Klassische Strukturlehre, die chemische Bindung, Konformationsanalyse, Stereochemie & Symmetrielehre, Säuren &
Basen und organische Thermochemie.
Prof. Dr. Peter Chen
Skript AC-OC I
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Vorlesung:
Das vorliegende Dokument (Skript) dient als Basislektüre für die Vorlesung Allgemeine Chemie I (OC) (Abk. ACOC I), die von den Dozenten der Organischen Chemie
im Rahmen des Chemieunterrichtes an der ETH Zürich gelesen wird. Dieses Skript
wird als PDF auf der Website der Chen Gruppe zur Verfügung gestellt (nur wenn
eingeschrieben):
https://chen.ethz.ch/education/acoc-i.html
Übungsstunden:
Die in der Vorlesung vermittelten Themen werden mittels Übungen weiter vertieft
und sind integraler Bestandteil dieses Kurses. Es werden Übungsstunden angeboten,
welche dazu dienen die Übungen zu bearbeiten.
Übungspläne, Übungen und deren Musterlösungen werden als PDF auf der Website
der Chen Gruppe zur Verfügung gestellt (Link siehe oben, nur wenn eingeschrieben).
Als Prüfungsstoff dient alles, was in der Vorlesung, dem Skript (dieses Dokument) sowie in den Übungen und deren Lösungen vermittelt wird!
Letztes Update des Skripts: 13.09.2022
Lehrassistent:
Andrei Shved
andrei.shved@org.chem.ethz.ch
Übungsassistenten/innen:
Lukas Frey
Valerie Gentzke
Colin Hansen
Moreno Inauen
Oliver Knechtle
Sarah Oberholzer
Luca Schmutz
Luca Vigliotti
Phillip Yan
lukafrey@student.ethz.ch
vgentzke@student.ethz.ch
chansen@student.ethz.ch
moinauen@student.ethz.ch
kneolive@student.ethz.ch
osarah@student.ethz.ch
schmutzl@student.ethz.ch
lucavi@student.ethz.ch
phiyan@student.ethz.ch
Skript AC-OC I
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KAPITEL 1:
EINFÜHRUNG
In diesem Kapitel werden folgende Themen behandelt:
1.1. Organische Chemie
1.2. Zielsetzung der Vorlesung
Entdeckung des Elements Phosphor durch Hennig Brand 1669
Skript AC-OC I
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1.1. Organische Chemie
Die organische Chemie beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen Struktur, Funktion und Reaktivität von kohlenstoffhaltigen Verbindungen. Diese Verbindungen bestehen aus einem Grundgerüst aus C- und H-Atomen (Ketten, Ringe oder Netzwerke) an dem weitere Elemente wie z. B. O,
N, S, P, F, Cl, Br, I, usw. gebunden sein können. Die praktisch unendliche Zahl von möglichen
Kombinationen dieser Elemente führt zu einer Vielzahl von organischen Verbindungen. Dies beinhaltet z. B. alle Plastike, natürliche und synthetische Fibern (Wolle, Baumwolle, Nylon, ...), die
meisten Farbstoffe, Heilmitteln, Pestizide, Aromen, Parfums sowie alle petrochemischen Produkte
(Benzin, Diesel, ...). Weiter bestehen Nahrungsmittel meistens aus organischen Komponenten wie
Kohlenhydraten, Fette, Proteine und Vitamine. Diese Beispiele erläutern, wie verbreitet organische
Moleküle in unserem alltäglichen Leben sind.
Der Name "Organische Chemie" bezieht sich auf lebende Organismen. In der Tat waren Pflanzen
und Tiere während vieler Jahrzehnte die einzige Quelle von organischen Verbindungen. Heutzutage
werden sie meistens ausgehend von Erdöl oder anorganischen Verbindungen synthetisiert. Im März
2003 waren 8.6 Millionen organische Verbindungen bekannt.
Die erste Synthese eines organischen Moleküls wurde 1828 durch Friedrich Wöhler publiziert. Er
stellte Harnstoff aus Ammoniak und Knallsäure her:
NH3 + NCOH → H2NCONH2
1845 synthetisierte Hermann Kolbe Essigsäure durch Elektrolyse aus C, FeS2 und Cl2:
C
FeS2
CS2
Cl2
CCl4
heisses
Rohr
C2Cl4
Licht, H2O
H3CCOOH
e–, H2O
Cl3CCO2H
Seitdem wurde eine Vielzahl von Methoden entdeckt, die organische Verbindungen ineinander
umwandeln. Die Kenntnis dieser Verfahren ist das Ziel der späteren organisch-chemischen Vorlesungen.
Die Struktur einer organischen Verbindung ist essentiell für das Verständnis seiner Eigenschaften,
wie z. B. seine Farbe, sein Geschmack, sein Geruch, seine biologische Aktivität, seine Reaktivität
usw. Um die Wichtigkeit, die Struktur der Verbindungen zu kennen, können die Perkin-Geschichte
und die Herstellung von Vanillin sehr nützlich sein.
1.2. Zielsetzung der Vorlesung
Im Rahmen dieser Vorlesung werden wir uns mit der Struktur von organischen Verbindungen beschäftigen. Wir werden verschiedene Modelle diskutieren, die während der Zeit vorgeschlagen
wurden, um die experimentellen Beobachtungen zu erklären.
Während dieser Vorlesung werden, nach der Einführung der klassischen Konzepte der Strukturlehre, die Grundlagen des aktuellsten Molekularmodells besprochen. In der Folge werden die energeti-
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schen Aspekte von Molekülen erklärt. Der physikalische Gesichtspunkt von Umwandlungen zwischen chemischen Verbindungen wird am Ende diskutiert.
In diesem Skript wird die Energieeinheit Kalorie (cal) verwendet, da sie in der organischen Chemie
weit verbreitet ist, obwohl sie vom Internationalen System nicht empfohlen wird. 1 cal = 4.184 J =
2.61·1019 eV.
Dieses Skript ist als Hilfsmittel zur Erleichterung des Verständnisses der Vorlesung gedacht. Die
wichtigen Konzepte, die bekannt sein müssen, sind hier enthalten. Zusatzmaterial und Beispiele
sind im Anhang „Beispiele, Bemerkungen und Vertiefungen zum Skript AC-OC I“ enthalten und
können durch Links abgerufen werden. Weiter können aufgrund der limitierten Zeit einige Beispiele und Teilkapitel nicht besprochen werden. Einige Themen, wie z. B. die Nomenklatur und die
Symmetrielehre werden ausschliesslich in den Übungen besprochen.
Es ist daher empfohlen, immer den Vorlesungs- und Übungsstunden zu folgen und sich nicht nur
auf dieses Skript zu stützen.
KAPITEL 2:
NOMENKLATUR
In diesem Kapitel werden folgende Themen behandelt:
2.1. Terminologie
2.2. Kohlenwasserstoffe
2.2.1. Gesättigte offenkettige Kohlenwasserstoffe
2.2.2. Ungesättigte offenkettige Kohlenwasserstoffe
2.2.3. Monozyklische Kohlenwasserstoffe
2.2.4. Verbrückte polyzyklische Kohlenwasserstoffe
2.2.5. Kondensierte polyzyklische Kohlenwasserstoffringe
2.2.6. Spirokohlenwasserstoffe
2.2.7. Einfach- oder doppelbindungsverknüpfte Kohlenwasserstoffringe
2.3. Heterocyclen
2.3.1. Trivialnamen
2.3.2. Austauschnomenklatur
2.3.3. Hantzsch-Widman-System
2.4. Funktionelle Derivate der Kohlenwasserstoffe
2.4.1. Substitutive Nomenklatur
2.4.2. Funktionsklassennamen
2.4.3. Bestimmung der Hauptkette funktionalisierter Verbindungen
2.5. Exemplifizierung der Nomenklatur funktionalisierter Verbindungen
2.5.1. Kationen
2.5.2. Carbon- und Sulfonsäuren
2.5.3. Carbonsäurederivate
2.5.4. Sulfonsäurederivate
2.5.5. Aldehyde und Thioaldehyde
2.5.6. Ketone und Derivate
2.5.7. Alkohole, Phenole, Thiole und Derivate
2.5.8. Amine, Hydroxylamine und Imine
2.5.9. Ether, Epoxide, Sulfide, Sulfoxide und Sulfone
2.5.10. Halogenide
2.5.11. Azide, Isocyanide, Nitroso- und Nitroverbindungen
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Ziel dieses Kapitels ist die kompakte Darstellung der grundlegenden Prinzipien der organischchemischen Nomenklatur. Dabei wird bewusst auf allzu komplizierte und spitzfindige Beispiele
sowie die ausführliche Behandlung der entsprechenden Regeln verzichtet. Wichtig ist im Rahmen
dieser Vorlesung vielmehr die Schulung des Vermögens, Strukturelemente zu erkennen, zu benennen und zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ist dieses Ziel erreicht, wird man in komplizierten
praktischen Fällen schnell anhand der erforderlichen Regeln den korrekten Namen für eine Verbindung konstruieren, bzw. aus diesem die Struktur eines Moleküls ableiten können.
Als praktische Orientierungshilfe für die im Rahmen dieser Vorlesung erforderlichen Kenntnisse
dienen in erster Linie die Übungsaufgaben. Von Bedeutung sind vor allem die rationellen Verbindungsnamen. Die Trivialnamen, die sehr wichtig sind und bekannt sein müssen, sind explizit im
Text enthalten. Die vollständigen Listen dienen nur als Hilfsmittel für eventuelle zukünftige Nomenklaturprobleme und müssen nicht gelernt werden.
Die Welt der Nomenklatur ist ständig im Wandel und man muss immer berücksichtigen, dass in einigen Fällen, wie z. B. bei Chemical Abstract, die benutzte Nomenklatur leicht verschieden sein
kann (siehe z. B. Handbuch für die systematische Nomenklatur der organischen Chemie, metallorganischen Chemie und Koordinationschemie). In diesem Teil des Skriptes werden nur die wichtigsten Nomenklaturregeln gemäss der IUPAC Empfehlungen 1993 aufgelistet.
2.1. Terminologie
Zum bessern Verständnis der folgenden Ausführungen werden an dieser Stelle einige Definitionen
von häufig benutzten Begriffen aufgelistet.
Trivialnamen und systematische (oder rationelle) Namen
Trivialnamen sind individuelle Namen einzelner Verbindungen, die keine systematische Beziehung
zu deren Struktur haben. Diesem Nachteil steht die Einfachheit gegenüber, die vor allem beim Benennen von grossen, komplexen Molekülen geschätzt wird. Systematische Namen setzen sich dagegen aus speziellen Silben für Stammnamen und Affixe, aus den Namen der Substituenten sowie aus
Positionsangaben zusammen. Aus diesen Informationen kann man die chemische Struktur der Verbindungen abzuleiten. Ein Nachteil systematischer Namen ist, dass bei grossen Molekülen rasch
sehr kompliziert werden können. Beispiele.
Stammverbindungen
Sehr oft kann man sich vorstellen, dass einige Verbindungen aus wenigen Stammverbindungen
durch Ersetzen von H-Atomen durch andere Atome oder Atomgruppen abgeleitet werden können.
Der Name der Stammverbindung ist deshalb die Basis (Stammname), auf die der Name der tatsächlichen Verbindung aufgebaut wird. Z. B. darf CH3F als Derivat der Stammverbindung CH4
(Methan) betrachtet werden und wird deshalb Fluormethan genannt.
Substituenten
Als Substituenten bezeichnet man Atome oder Atomgruppen, die H-Atome der Stammverbindung
ersetzen. In CH3F ist das F-Atom der Substituent. In Abhängigkeit von der Zahl der Bindungen, die
den Substituenten an die Stammverbindung binden, kann er einwertig, zweiwertig, usw. sein.
Reste
Reste sind über ein Kohlenstoffatom gebundene Substituenten. Sie können selbst wiederum substituiert sein und werden oft mit R abgekürzt.
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Funktionelle Gruppe (oder charakteristische Gruppe)
Atomgruppen, die Heteroatome (Atome, die nicht C oder H sind) enthalten und häufig in organischen Verbindungen vorkommen, werden als funktionelle Gruppe bezeichnet. Sie verleihen einer
Verbindung ihre charakteristischen Eigenschaften, darunter insbesondere ihre chemische Reaktivität. Beispiele funktioneller Gruppen sind –OH für Alkohole oder –Br für Bromide.
Lokanten
Zur Lokalisierung von Substituenten, Bindungen und Verknüpfungsstellen innerhalb einer Struktur
benutzt man Zahlen, Buchstaben oder Präfixe, die man als Lokanten bezeichnet.
Affixe, Präfixe und Suffixe
Affixe sind definierte Silben, die zur Beschreibung von charakteristischen Strukturmerkmalen benutzt werden. Man unterscheidet zwischen Präfixen (Vorsilben) und Suffixen (Nachsilben). Z. B.
bezeichnet das Suffix –al Aldehyde, während das Präfix cyclo- typisch für cyclische Verbindungen
ist.
2.2. Kohlenwasserstoffe
2.2.1. Gesättigte offenkettige Kohlenwasserstoffe
Lineare Alkane
Die gesättigten Kohlenwasserstoffe gehören zur Klasse der Alkane (oder Paraffine). Die ersten vier
unverzweigten Alkane besitzen Halbtrivialnamen (Trivialteil + Suffix -an), während die höheren
durch systematische Namen (griechisches oder lateinisches Zahlwort + Suffix -an) benannt werden.
CH4
H3C-CH3
H3C-CH2-CH3
H3C-CH2-CH2-CH3
H3C-(CH2)3-CH3
Methan
Ethan
Propan
Butan
Pentan
H3C-(CH2)4-CH3
H3C-(CH2)5-CH3
H3C-(CH2)6-CH3
H3C-(CH2)7-CH3
H3C-(CH2)8-CH3
Hexan
Heptan
Octan
Nonan
Decan
Zur besonderen Hervorhebung der Tatsache, dass ein Alkan unverzweigt ist, wird es oft als nAlkan (z. B. n-Octan oder n-C8H18) bezeichnet. Der Name von n-Alkanen mit mehr als zehn CAtomen wird aus zwei Teilen gebildet: ein Präfix stellt den Einer dar, während der Zehner durch
den zweiten Teil wiedergegeben ist (vgl. auch die deutsche Schreibweise von Nummern).
Einer
1 hen2 do3 tri4 tetra5 penta6 hexa7 hepta8 octa9 nona-
Zehner
10 Decan
20 Cosan
30 Triacontan
40 Tetracontan
50 Pentacontan
60 Hexacontan
70 Heptacontan
80 Octacontan
90 Nonacontan
100 Hectan
Ausnahmen dieser Regel sind Undecan (n-C11H24), Icosan (n-C20H42) und Henicosan (n-C21H44).
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Die Namen der abgeleiteten einwertigen Reste werden durch Änderung des Suffixes -an durch -yl
gebildet. Beispiele. Die Reste Methyl-, Ethyl-, Propyl- und Butyl- werden sehr oft mittels Me, Et,
Pr bzw. Bu abgekürzt (z. B. CH3OH = MeOH).
Verzweigte Alkane
Um verzweigte Alkane zu benennen, werden sie als Derivate einer Hauptkette betrachtet.
Ausgehend von der Zahl Reste, die an einem C-Atom gebunden sind, werden die Kohlenstoffatome
in primären (H3CR), sekundären (H2CRR'), tertiären (HCRR'R'') und quaternären Zentren
(CRR'R''R''') geteilt.
Für die Festlegung der Hauptkette von Kohlenwasserstoffen gelten die folgenden nach Priorität
geordneten Bedingungen. Die Hauptkette ist diejenige mit:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
den meisten Mehrfachbindungen;
den meisten Atomen (längste Kette);
den meisten Doppelbindungen;
den meisten Seitenketten;
dem niedrigsten Lokantensatz für Substituenten;
den meisten C-Atomen in kleineren Seitenketten;
den am wenigsten verzweigten Seitenketten.
Die letzten zwei Bedingungen müssen nur in sehr seltenen Fällen erfüllt werden.
Die Namen der Seitenketten werden in Form der einwertigen Reste dem Namen der Hauptkette vorangestellt.
Die Hauptkette muss dann nummeriert werden. Die Nummerierung erfolgt in der Weise, dass man
den niedrigsten Lokantensatz erhält. Zur Ermittlung desselben vergleicht man die verschiedenen
Sätze miteinander. Sobald ein Unterschied gefunden wird, gilt derjenige Satz als der niedrigste, der
den kleinsten Lokanten an dieser Stelle aufweist. Z. B. der Satz 1,2,6,7,7,9,11 ist gegenüber
1,3,3,4,8,9 bevorzugt. Wenn zwei oder mehrere Seitenketten in äquivalenten Positionen sind, wird
der niedrigere Lokant für die alphabetisch niedrigere Kette gewählt.
Der Name der Hauptkette dient als Stammname. Die Namen der Seitenketten werden in alphabetischer Reihenfolge, jeweils mit den entsprechenden Lokanten versehen, als Präfixe vorgestellt. Die
Lokanten müssen nur eingeführt werden, wenn die Position der Substituenten nicht eindeutig ist.
Der erste Buchstabe des Gesamtnamens wird im Deutschen gross geschrieben, alle weiteren Teile
müssen klein geschrieben werden. Zahlen und Buchstaben werden durch Bindestriche voneinander
getrennt, was i. A. nicht auf verschiedene Namenteile zutrifft.
Wenn dieselbe Seitekette mehrmals anwesend ist, werden die multiplikativen Präfixe di-, tri-, tetra-, penta-, hexa-, usw. vorangestellt. Jede Seitekette erhält ihren eigenen Lokanten. Die multiplikativen Präfixe müssen nicht für die alphabetische Aufzählung der Substituenten berücksichtig
werden. Z. B. Dimethyl- besitzt eine niedrigere Priorität als Ethyl-. Beispiele.
Wenn die Seitenketten weitere Verzweigungen besitzen, wird analog obiger Hierarchie verfahren.
Innerhalb der Seitenkette wird eine "Hauptkette" bestimmt, usw. Man muss beachten, dass die
Nummerierung immer an der Verknüpfungsstelle mit der Hauptkette beginnt. Um zu zeigen, dass es
sich bei der verzweigten Seitenkette um eine zusammengehörende Substruktur handelt, werden ihre
Namenbestandteile in eine runde Klammer gesetzt. Die Klammern werden benutzt, wenn Untereinheiten wiederum aus Einzelbestandteilen aufgebaut sind. Wenn komplexe Hierarchien weitere
Klammern erforderlich machen, muss man die Untereinheiten mit eckigen und weiter geschweiften
Klammern umhüllen. Wenn noch weitere Klammern nötig sind, beginnt man wiederum mit runden
Klammern, usw.
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Verzweigte Untereinheiten besitzen eigene multiplikative Präfixe: Es wird bis-, tris-, tetrakis-,
pentakis-, hexakis-, usw. mitverwendet. Sie werden der entsprechenden Klammer ohne Bindestrich
vorangestellt. Obwohl die multiplikativen Präfixe bei der alphabetischen Ordnung in der Regel
nicht mitgezählt werden, ist bei zusammengesetzten Substituenten der erste Buchstabe massgebend,
auch wenn er ein Zahlwort ist. Beispiele.
~
Isopropyl-
~
~
~
Einige verzweigte Alkane und Reste behalten Trivialnamen bei. Daraus werden einige Reste durch
spezielle Präfixe abgeleitet. Die Beispiele, die bekannt sein müssen, sind hier gegeben:
sec-Butyl-
Isobutyl-
tert-Butyl-
Im Gegensatz zu den Präfixen iso- und neo-, müssen sec- und tert- nicht bei der alphabetischen
Aufstellung berücksichtig werden, sie sind aber immer kursiv geschrieben. Isopropyl-, Isobutylund tert-Butyl- werden oft mittels iPr, iBu und tBu abgekürzt. Beispiele.
2.2.2. Ungesättigte offenkettige Kohlenwasserstoffe
Die ungesättigten Kohlenwasserstoffe werden nach Alkenen (eine oder mehrere Doppelbindungen)
und Alkinen (eine oder mehrere Dreifachbindungen) unterschieden. Die Endung -an der gesättigten
Ketten wird durch das Suffix -en bzw. -in ersetzt. Wenn eine Verbindung mehrere Doppel- oder
Dreifachbindungen besitzt, werden die Endungen -adien, -atrien, ... bzw. -adiin, -atriin, ... verwendet. Die Doppelbindungen besitzen eine höhere Priorität als die Dreifachbindungen und werden
immer zuerst geschrieben. Die Lage der ungesättigten Bindungen wird in Form eines Lokanten des
ersten an der Mehrfachbindung beteiligten C-Atoms angegeben und dem entsprechenden Suffix vorangestellt.
Für die Bezifferung einer ungesättigten Hauptkette gelten die Regeln des Kapitels 2.2.1. Bei der
Zusammensetzung des Gesamtnamens geht man wie bei den Alkanen vor. Die Seitenketten werden
durch Anhängen der Endsilbe -yl gebildet und ausgehend von der Verknüpfungsstelle mit der
Hauptkette beziffert. Beispiele.
Einige Alkene und Alkine sowie einige Reste behalten Trivialnamen bei (vollständige Liste):
Kohlenwasserstoffe:
C
Allen
(Propadien)
Acetylen
(Ethin)
Vinyl-
(Ethenyl-)
Allyl-
(Prop-2-enyl-)
Reste:
~
~
Die Benützung von Ethylen statt Ethen ist nicht mehr erlaubt.
Neben einwertigen Resten existieren auch zwei-, drei- und mehrwertige Substituenten.
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Eine erste Klasse mehrwertiger Reste besteht aus Substituenten, die mehrmals durch Einfachbindungen an der Hauptkette gebunden sind. Um den Namen zu bilden, werden Stammname, Lokanten, und multiplikative Silben vor das Suffix -yl geschrieben. Eine Ausnahme ist –CH2–, das den
Trivialnamen Methylen- besitzt. Ethylen- (–CH2–CH2–, Ethan-1,2-diyl-) kann auch benützt werden. Beispiele. Zweiwertige unverzweigte Resten werden noch oft durch deren alte Nomenklatur
benannt, obwohl sie nach IUPAC nicht mehr erlaubt ist.
Die Namen zweiwertiger Reste, die durch eine Doppelbindung an der Hauptkette gebunden sind,
werden durch Änderung der Endung -yl der relativen einwertigen Substituenten mit -yliden gekennzeichnet. Methyliden- (H2C=) darf auch durch den Trivialnamen Methylen- gekennzeichnet
werden. Dies wird aber nicht empfohlen, um Methyliden- von –CH2– zu unterscheiden. Einige
häufige zweiwertige Reste besitzen eigene Trivialnamen.
Name endständiger dreiwertiger Reste sind durch Austausch von -yl durch -ylidin gebildet. Beispiele mehrwertiger Reste.
2.2.3. Monozyklische Kohlenwasserstoffe
Monocyclische Kohlenwasserstoffe und deren Reste werden durch den Präfix Cyclo- gekennzeichnet. Ansonst erfolgt die Namensbildung in der üblichen Weise. Beispiele.
Zur "Cyclohexatrienderivaten" und deren Resten werden Trivial- oder Halbtrivialnamen zugeordnet. Fundamentale Beispiele sind Benzol (C6H6) und Phenyl- (–C6H5 = –Ph). Um disubstituierte
Verbindungen zu bezeichnen wird sehr oft eine spezielle Konvention angewendet: der Buchstabe o
(ortho) wird für 1,2-Substitution verwendet, m (meta) für 1,3 und p (para) für 1,4:
1,2-Diethylbenzol
o-Diethylbenzol
1,3-Diethylbenzol
m-Diethylbenzol
1,4-Diethylbenzol
p-Diethylbenzol
Zudem werden einigen substituierten Benzolringen Trivialnamen zugeordnet. In der folgenden Abbildung sind die wichtigsten Beispiele von monozyklischen Kohlenwasserstoffen und relative Reste
eingetragen:
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C6H5 HC
Benzol*
Styrol*
Stilben*
Mesitylen**
m-Xylol**
(auch o- und p-Xylol)
Cumol**
~
Fulven**
Toluol*
CH C6H5
~
~
Phenyl-*
o-Tolyl-**
(auch m- und p-Tolyl-)
~
Benzyl-*
~
Trityl-*
Mesityl-**
*) Darf auch für am Ring substituierte Derivate angewendet werden.
**) Darf nur für unsubstituierte Verbindungen angewendet werden.
Zweiwertige Substituenten werden gemäss der üblichen Nomenklatur identifiziert, ausser zweiwertige Benzolreste, die o-, m- oder p-Phenylen- genannt werden:
~
~
~
~
~
~
o-Phenylen-
m-Phenylen-
p-Phenylen-
Zyklische Kohlenwasserstoffe mit azyklischen Ketten können grundsätzlich sowohl als kettensubstituierte Ringsysteme als auch als ringsubstituierte Ketten behandelt werden. Im allgemein verfährt
man so, dass die Grundstruktur möglichst viele Substituenten trägt oder die kleinere Einheit als
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Substituent der grösseren betrachtet wird. Oft wird in solchen Fällen auch der einfachste Name gewählt, oder derjenige, der den chemischen Absichten am besten entspricht. Beispiele.
2.2.4. Verbrückte polyzyklische Kohlenwasserstoffe
Gesättigte cyclische Kohlenwasserstoffe mit zwei oder mehr Ringen, in denen mindestens zwei
Ringe wenigstens zwei gemeinsame C-Atome aufweisen, werden als bi-, tri-, tetra-, usw.
-cycloalkane bezeichnet. Die Anzahl der Ringe ergibt sich aus der Zahl hypothetischer C–CSpaltungen, die notwendig sind, um eine offenkettige Verbindung zu erhalten. Die mehreren Ringen gemeinsamen Atome werden als Brückenköpfe bezeichnet. Zur Festlegung des Verbindungsnamens geht man wie folgt vor:
1. Im dreidimensionalen Formelbild oder einer geeigneten planaren Projektion wird derjenige
Ring als Hauptring definiert, der die meisten C-Atome enthält.
2. Die längstmögliche C-Kette, die zwei C-Atome des aus den zwei Zweigen bestehenden
Hauptrings zusätzlich miteinander verbindet, wird als Hauptbrücke festgelegt, die entsprechenden Verknüpfungsgellen heissen Hauptbrückenköpfe.
3. Wenn mehrere Brücken dieselbe Länge besitzen, ist die Hauptbrücke diejenige, die den
Hauptring so symmetrisch wie möglich teilt.
4. Alle anderen Brücken werden als Sekundärbrücken bezeichnet. Ihre Verknüpfungsstellen
heissen Nebenbrückenköpfe. Unabhängige Sekundärbrücken binden Brückenköpfe, die
zum Hauptring oder zur Hauptbrücke gehören. Die anderen, bei denen mindestens ein Brückenkopf teil einer Sekundärbrücke ist, heissen abhängige Sekundärbrücken.
5. Die Bezifferung der C-Atome beginnt an einem Hauptbrückenkopf und läuft innerhalb des
Hauptrings auf dem längsten Weg über den zweiten Hauptbrückenkopf dahin zurück. Dann
folgt die Hauptbrücke. Die Sekundärbrücken werden fortlaufend – unabhängig von ihrer
Länge – der Reihe sinkender Brückenkopf-Lokanten nach weiter nummeriert. Die Bezifferung beginnt jeweils beim höher nummerierten Brückenkopf. Abhängige Sekundärbrücken
werden zuletzt nummeriert.
6. Die Lokanten der Nebenbrückenköpfe sollen so niedrig wie möglich sein.
Der Name wird gemäss folgender Ordnung zusammengesetzt: erstens kommt das multiplikative
Präfix gefolgt durch -cyclo-, dann in eckigen Klammern die Anzahl C-Atome der verschiedenen
Zweige und letztlich der Name des Stammalkans. In den eckigen Klammern wird erstens die Anzahl der C-Atome des längsten Zweiges des Hauptringes geschrieben, gefolgt durch diejenige des
kürzeren Zweigs, der Hauptbrücke, der unabhängigen und schliesslich der abhängigen Sekundärbrücke. Alle diese Zahlen sind durch Punkte getrennt. Die Lokanten der Brückenköpfe der Sekundärbrücken müssen als Superskripte (durch Komma getrennt) angegeben sein. Unabhängige Sekundärbrücken werden in der Reihenfolge absteigender Länge und zunehmender Lokanten angegeben,
während die abhängigen Sekundärbrücken unabhängig von ihrer Länge nach abnehmenden Lokanten geordnet werden müssen. Beispiele.
Wenn diese Regeln nicht ausreichen, um eine Verbindung eindeutig zu benennen, können weitere
Regeln und Beispiele in den IUPAC Empfehlungen 1999 (G. P. Moss, Pure Appl. Chem. 1999, 71,
513) gefunden werden.
Bei Derivaten verbrückter polyzyklischer Kohlenwasserstoffe (Systeme mit Mehrfachbindungen
oder Substituenten) wird bei der Zusammenstellung des Gesamtnamens analog verfahren wie bei
den offenkettigen Verbindungen. Bei der Bezifferung des Grundgerüsts ist darauf zu achten, dass –
sofern es nach Anwendung der soeben beschriebenen Regeln noch mehrere Möglichkeiten gibt –
für entsprechende Strukturelemente niedrigste Lokanten zu wählen sind. Für den Fall, dass ein ver-
Skript AC-OC I
14
brücktes polyzyklisches Kohlenwasserstoffgerüst als Rest auftritt, erhält die Verknüpfungsstelle den
niedrigsten Lokanten, der mit der Nummerierung des Grundgerüsts vereinbar ist. Wenn eine Doppelbindung zwei Atome verknüpft, die nicht aufeinander folgend nummeriert sind, muss man beide
Lokanten der Atome schreiben. Beispiele.
Einige verbrückte Polycyclen behalten Trivialnamen bei. Polycyclen, die Doppelbindungen enthalten, besitzen oft eine spezielle Nomenklatur (vgl. Kapitel 2.2.5).
2.2.5. Kondensierte polyzyklische Kohlenwasserstoffe
Die rationelle Nomenklatur polyzyklischer kondensierter (oder anellierter) Kohlenwasserstoffe ist
kompliziert und für die Ziele dieser Vorlesung nicht wichtig (G. P. Moss, Pure Appl. Chem. 1998,
70, 143). Nur die Trivialnamen einiger wichtiger Grundgerüste müssen gelernt werden. Die Gerüste
besitzen normalerweise eine festgesetzte Bezifferung, die unabhängig von eventuellen Substituenten ist. Dies gilt auch für den Fall, dass sie als Reste auftreten.
Im Folgenden sind die Trivialnamen und die Nummerierungen von drei wichtigen anellierten polyzyklischen Kohlenwasserstoffen wiedergegeben (vollständige Liste):
10
8
1
8a
7
6
3
4a
5
9
8
2
4
Naphthalin
8a
7
6
4a
10a
5
1
9a
10
Anthracen
4
1
10a
9
2
8a
2
8
3
7
3
4a
4b
4
5
6
Phenanthren
Die davon abgeleiteten Reste heissen Naphthyl-, Anthryl- und bzw. Phenanthryl-.
Trägt ein Gerüst in Position 1 einen Rest, so kann man auch von -Substitution sprechen, im Fall
der Position 2 von -Substitution, usw. Die Positionen 1 und 8 sowie 4 und 5 von Naphthalin können als peri-Positionen bezeichnet werden. Kondensationsstellen werden nicht fortlaufend nummeriert, sondern sie bekommen die Nummer des vorherigen Atoms und einen Buchstaben (a, b, usw.).
Ausser in einem Fall, ist die Benützung von Trivialnamen für gesättigte und partiell ungesättigte
Derivate kondensierter Polycyclen nicht mehr erlaubt. Sie werden als Produkte der Hydrierung der
vollständig ungesättigten Stammverbindungen betrachtet. Die Nummerierung wird beibehalten und
die Ringatome, die nicht mehr an Doppelbindungen beteiligt sind, werden durch das Präfix hydrogekennzeichnet. Beispiele.
2.2.6. Spirokohlenwasserstoffe
Eine polyspirozyklische Verbindung liegt vor, wenn Ringe über ein einziges Zentrum miteinander
verbunden sind. Das Atom, das die zwei Ringe verknüpft, wird als Spiroatom definiert. Im Rahmen dieser Vorlesung werden nur Monospirocyclen behandelt. Für eine ausführlichere Betrachtung
vgl. die IUPAC Empfehlungen 1999 (G. P. Moss, Pure Appl. Chem. 1999, 71, 531).
Monospirocyclen enthalten nur zwei miteinander gebundene Ringe. Ihr Name wird durch wie folgt
zusammengesetzt: das Präfix spiro-, die Gliederzahlen der das Spiroatom überbrückenden C-Ketten
in eckigen Klammern und schliesslich der Name des Stammalkans. Anders als bei den verbrückten
polyzyklischen Kohlenwasserstoffen beginnt die Nummerierung von Spirosystemen an einer dem
Spiroatom benachbarten Position und verläuft dann über den kleineren Zweig und das Spiroatom in
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den grösseren Zweig. Bei Derivaten von Spirocyclen sind in Übereinstimmung mit der genannten
Bezifferungsregel die kleinsten Lokanten für entsprechende Strukturelemente zu wählen. Beispiele.
2.2.7. Einfach- oder doppelbindungsverknüpfte Kohlenwasserstoffringe
Im Fall von über Einfach- oder Doppelbindungen verknüpften Kohlenwasserstoffringen muss man
generell einen Ring als Grundkomponente und die restlichen als Substituenten betrachten. Wenn
aber die Komponenten ähnlich sind, tritt eine spezielle Nomenklatur in Kraft.
Sind zwei identische monozyklische Kohlenwasserstoffe oder zwei Benzolderivate über eine Einfachbindung miteinander verknüpft, spricht man von bi-...-yl-Derivaten. In den anderen Fällen darf
man auch bi- vor den Kohlenwasserstoffnamen setzen. Die Lokanten der Verknüpfungspositionen
müssen vorangestellt werden, ausser wenn sie schon zur Benennung der Substituenten explizit angegeben waren. Die Nummerierung ist für die zwei Nomenklaturmethoden unterschiedlich. Im ersten Fall muss der Verknüpfungspunkt den tiefstmöglichen Lokanten bekommen. Im zweiten Fall
behalten die Teilstrukturen ausnahmslos ihre Nummerierung, die ohne Berücksichtigung der RingRing-Verknüpfungsstelle festgelegt sein muss. Um die Ringe zu unterscheiden, wird die Nummerierung des einen Systems mit Apostrophen versehen. In der Regel wird derjenige mit der höher
nummerierten Verknüpfungsstelle apostrophiert.
Wenn die Ringe über Doppelbindungen verbunden sind, muss man normalerweise einen Ring als
Stammsystem und die anderen als Substituenten betrachten. Im Fall von zwei identischen Ringen
darf man aber auch das Suffix –yliden benützen. Beispiele.
Bei drei oder mehr identischen Cyclen setzt man die Präfixe ter-, quarter-, quinque-, sexi-, septi-,
usw. vor den Stammnamen. Ketten aus über Einfachbindungen verknüpften Benzolringen werden
durch die Trivialnamen Bi-, Tri-, Tetra-, usw. -phenyle bezeichnet. Einem der endständigen Ringe
werden Ziffern ohne Apostroph zugeordnet, während die folgenden der Reihe nach mit einfachen,
zweifachen, usw. Apostrophen versehen werden. Die Verknüpfungen sollen so niedrig wie möglich
sein. Ein Doppelpunkt dient im Namen als Separator zwischen nicht direkt miteinander verknüpften
Positionen. Beispiele.
Sind nicht identische Ringsysteme über Einfach- und Doppelbindungen miteinander verbunden, so
wird ein Zyklus als Stammsystem und die anderen Ringe als Substituenten betrachtet. Die Wahl des
Stammsystems erhält man in abnehmender Priorität:
1.
2.
3.
4.
nach der Anzahl der Ringe;
nach dem grössten vorhandenen Ring;
nach dem höchstens Grad der Unsättigung;
nach der Liste der beibehaltenen Trivialnamen (vgl. Literatur).
Beispiele.
2.3. Heterocyclen
Eine zyklische Struktur, die Heteroatome enthält, nennt man einen Heterocyclus. Die Nomenklatur
ist nicht einfach. IUPAC schlägt zwei alternative Methoden vor, die zudem sehr viele Trivialnamen
erlauben. Die Nomenklatur von kondensierten Heterocyclen ist noch komplexer und wird hier nicht
besprochen.
Heterocyclen haben gegenüber den entsprechenden Kohlenwasserstoffen höhere Priorität.
Skript AC-OC I
16
2.3.1. Trivialnamen
Häufig vorkommende Heterocyclen besitzen eigene Trivialnamen. Ihre Bezifferung ist definiert, so
dass die Heteroatome die kleinstmöglichen Lokanten erhalten. Heteroatome, die sich an einer Kondensationsstelle befinden, werden im Gegensatz zu den polyzyklischen Kohlenwasserstoffen fortlaufend durchnummeriert. Die folgenden wichtigen Verbindungen besitzen Trivialnamen (eine vollständigere Liste ist in jedem Nomenklaturbuch zu finden):
O
1
Furan
3
3
3
Tetrahydrofuran
(THF)
Pyrrol
H
N4
H
N1
H
N1
H
N1
O1
3
S1
N
3
Imidazol
Thiophen
6
3
N
3
1
5
N
H
N7
8
3
Piperidin
2
O1
N1
N1
Morpholin
Pyridin
Pyrimidin
N3
4
N9
Purin
(7H-Purin)
Reste, die ausgehend von diesen Verbindungen abgeleitet werden, sind durch Anhängen der üblichen Endsilben -yl, -diyl, -yliden, usw. gekennzeichnet. Die Verknüpfungsstelle muss unter Erhaltung der definierten Nummerierung den tiefstmöglichsten Lokant bekommen. Der Lokant muss vor
dem Suffix -yl angegeben werden. Ausnahmen dieser Regel sind die folgenden wichtigen Substituenten (vollständige Liste). Wenn diese Trivialnamen verwendet werden, muss der Lokant der
Verknüpfungsstelle vor dem Substituentnamen stehen.
Furan
Piperidin
Pyridin
Chinolin
Isochinolin
Thiophen
→
→
→
→
→
→
FurylPiperidyl- (1-Piperidyl- darf auch Piperidino- geschrieben werden)
PyridylChinolylIsochinolylThienyl- (systematische Nomenklatur nicht erlaubt für dieser Substituenten)
2.3.2. Austauschnomenklatur
Die Austauschnomenklatur (oder a-Nomenklatur) ist die einfachste Methode, Heterocyclen zu
benennen. Sie wird vor allem für grosse und siliziumhaltige Heterocyclen verwendet. Sie kann aber
im Prinzip auf alle Heterocyclen und sogar auf offenkettige Verbindungen angewendet werden. Nur
kleine Heteromonocyclen werden gemäss dem Hantzsch-Widman-System beschrieben.
Gemäss der Austauschnomenklatur wird der Name des zu Grunde liegenden Kohlenwasserstoffes
durch vorangestellte a-Terme für die Heteroatome ergänzt. Im Folgenden sind einige a-Terme mit
abnehmender Priorität geordnet. (vollständige Liste im Handbuch für die systematische Nomenklatur der organischen Chemie, metallorganischen Chemie und Koordinationschemie):
Skript AC-OC I
17
a-Term
Ion
~
~
oxa-
O
~
Oxonia-
thia-
S
~
Thionia-
~
~
~~
~
~
Azonia-
~
~
a-Term
~
~
~~
~
Atom
phosphonia-
S
~
aza-
P
~
~~
~
N
phospha-
Sn
~
~~
B
~
~
~
~
stanna-
Si
P
~
~
~
~
~~
sila-
~
~
N
~
O
bora-
B
Borata-
~
Jedes Heteroatom wird im Verbindungsnamen durch sein Präfix dargestellt. Wenn mehrere Heteroatome anwesend sind, werden die Präfixe mit abnehmender Priorität angeordnet. Ionen werden
nach den entsprechenden Atomen aufgelistet. Vor jedem Term müssen die Lokanten stehen. Beispiele.
2.3.3. Hantzsch-Widman-System
Das Hantzsch-Widman-System wird benützt, um kleine Monoheterocyclen systematisch zu benennen. Seine Regeln müssen nicht im Rahmen dieser Vorlesung bekannt sein. Man muss nur einige
wichtige Verbindungsnamen kennen, die gemäss dieser Methode gebildet werden:
O
O
1
H
N1
1
2
Oxiran
4
O1
2
Aziridin
3
Oxetan
NH
3
Azetidin
O1
1,4-Dioxan
2.4. Funktionelle Derivate der Kohlenwasserstoffe
Organische Moleküle enthalten meist neben C- und H-Atome eine Vielzahl von Heteroatomen.
Diese Substituenten bestimmen die chemischen und physikalischen Eigenschaften des Moleküls
und werden daher charakteristische oder funktionelle Gruppen genannt.
Für funktionelle Derivate gibt es verschiedene Nomenklaturtypen. Hier werden die zwei häufigsten
Methoden besprochen: die substitutive Nomenklatur und die Funktionsklassennomenklatur (alt
radikofunktionelle Nomenklatur). Weitere Nomenklaturtypen können sich in bestimmten Fällen
als praktisch erweisen, aber spielen im Rahmen dieser Vorlesung nur eine untergeordnete Rolle.
Skript AC-OC I
18
2.4.1. Substitutive Nomenklatur
Dieser Abschnitt bildet die Grundlage der Nomenklatur funktioneller Verbindungen. Der folgende
Teil des Skripts enthält nur Erläuterungen dieser Regeln.
Bei diesem vielseitigsten Nomenklaturtyp, der bevorzugt angewandt werden sollte, werden die
Substituenten dem Stammnamen in Form von Präfixen oder Suffixen voran- bzw. nachgestellt. In diesem Zusammenhag werden die funktionellen Gruppen hierarchisch angeordnet. Die
ranghöchste funktionelle Gruppe wird grundsätzlich als Suffix genommen und bestimmt damit
die Verbindungsklasse. Sie erhält in der Regel den niedrigstmöglichen Lokanten und wenn er 1
ist, muss er wie üblich nicht spezifiziert werden. Die weiteren Reste und funktionellen Gruppen
werden als Präfixe vor den Namen des Grundgerüsts gestellt.
Zur Ermittlung des Suffixes wird eine hierarchische Gliederung verwendet. Im Folgenden sind die
wichtigsten funktionellen Gruppen nach absteigender Priorität angeordnet (vollständigere Liste; R
sind Reste, M ist ein beliebiges Metall, X ist ein Halogenid; C-Atome, die zwischen eckigen
Klammern stehen, sind im Stammnamen einbezogen):
Verbindungsklasse
Charakteristische
Gruppe
Präfix
Kationen
–(NR3)+, ...
z. B. -io-
Carbonsäuren
–C(=O)OH
–[C](=O)OH
Carboxy-
-carbonsäure
-säure
Sulfonsäuren
–S(=O)2OH
Sulfo-
-sulfonsäure
Carbonsäuresalze
–C(=O)OM
–[C](=O)OM
M-carboxylato-
M -carboxylat
M -oat
Sulfonsäuresalze
–S(=O)2OM
M-sulfonato-
M -sulfonat
Carbonsäureanhydride
–C(=O)OC(=O)–
---
-säure…säureanhydrid
-säureanhydrid
Carbonsäureester
–C(=O)OR
–[C](=O)OR
…yloxycarbonyl---
-yl…carboxylat
-yl…oat
Sulfonsäureester
–S(=O)2OR
-yloxysulfonyl-
-yl…sulfonat
---
-carbolacton
-olacton
Suffix
z. B. -ium
O
Lactone*
R
O
Carbonsäurehalogenide
–C(=O)X
–[C](=O)X
Halogencarbonyl-
-carbonylhalogenid
-oylhalogenid
Sulfonsäurehalogenide
–S(=O)2X
Halogensulfonyl-
-sulfonylhalogenid
Carbonsäureamide
–C(=O)NH2
–[C](=O)NH2
Carbamoyl---
-carboxamid
-amid
Skript AC-OC I
Sulfonsäureamide
19
–S(=O)2NH2
Sulfamoyl-
-sulfonamid
---
-lactam
---
-dicarboximid
-imid
O
Lactame*
NH
R
O
H
N
O
Carbonsäureimide*
R
Amidine
–C(=NH)NH2
–[C](=NH)NH2
Carbamimidoyl---
-carboximidamid
-imidamid
Nitrile
–CN
–[C]N
Cyan-
-carbonitril
-nitril
Aldehyde
–C(=O)H
–[C](=O)H
FormylOxo-
-carbaldehyd
-al
Thioaldehyde
–C(=S)H
–[C](=S)H
ThioformylThioxo-
-carbothioaldehyd
-thial
Ketone
>C=O
Oxo-
-on
Thioketone
>C=S
Thioxo-
-thion
Acetale
>C(OR)(OR')
…yloxy…yloxy-
-al…yl…ylacetal
-on…yl…ylacetal
Oxime
>C=N-OH
Hydroxyimino-
-aloxim
-onoxim
Alkohole, Phenole
–OH
Hydroxy-
-ol
Thiole
–SH
Sulfanyl-
-thiol
Alkoholate, Phenolate
–OM
M-oxido-
M -olat
Amine
–NH2
Amino-
-amin
Hydroxylamine
–NH-OH
Hydroxylamino-
-N-…hydroxylamin
Imine
>C=NH
Imino-
-imin
*) Diese Verbindungen werden immer häufiger mit der Austauschnomenklatur benannt.
Einige funktionelle Gruppen werden nur als Präfixe verwendet. Ihre Priorität in der substitutiven
Nomenklatur ist deshalb die niedrigste (vollständigere Liste; C-Atome, die zwischen eckigen
Klammern sind, sind im Stammnamen einbezogen):
Skript AC-OC I
20
Charakteristische Gruppe
Fluoride
Chloride
Bromide
Iodide
Azide
Isocyanide
Nitrosoverbindungen
Nitroverbindungen
Ether
Sulfide
Sulfoxide
Sulfone
–F
–Cl
–Br
–I
–N3
–NC
–NO
–NO2
–OR
–SR
–S(=O)R
–S(=O)2R
Präfix
FluorChlorBromIodAzidoIsocyanNitrosoNitro…yloxy…ylsulfanyl…ylsulfinyl…ylsulfonyl-
O
~~
~ ~
Epoxide
[C] [C]
Epoxy-
2.4.2. Funktionsklassennomenklatur
Kleine, einfache Moleküle, die nur eine funktionelle Gruppe besitzen, werden sehr oft gemäss der
Funktionsklassennomenklatur benannt. Es werden keine Suffixe verwendet, sondern die Stammnamen werden in Form ihrer Radikale benannt (d. h. mit der -yl-Endung), denen die meist anionisierten Namen der entsprechenden Verbindungsklasse nachgestellt sind.
In der folgenden Tabelle sind die Endungen der häufigsten funktionellen Gruppe wiedergegeben
(vollständigere Liste; C-Atome, die zwischen eckigen Klammern sind, sind im Stammnamen einbezogen):
Charakteristische Gruppe
Ester
Säurehalogenide
(z. B. R[C](=O)X, RS(=O)2X)
Nitrile; Isocyanide
Ketone
Alkohole
Ether; Sulfide
Sulfoxide; Sulfone
Halogenide
Azide
Amine
Radikofunktioneller Verbindungsname
-ester
-fluorid, -chlorid, -bromid, -iodid
-cyanid; -isocyanid
-keton
-alkohol
-ether; -sulfid
-sulfoxid; -sulfon
-fluorid, -chlorid, -bromid, -iodid
-azid
-amin
Beispiele.
2.4.3. Bestimmung der Hauptkette von funktionalisierten Verbindungen
Um die Hauptkette einer Verbindung, die funktionelle Gruppen trägt, zu identifizieren, sind modifizierte Regeln anzuwenden. Die Hauptkette ist diejenige mit:
Skript AC-OC I
21
1. den meisten Hauptgruppen (d. h. der meisten Zahl von Substituenten, die als Suffix geschrieben werden können, siehe zudem Kapitel 2.4.1.). Beispiel:
OH
Cl
OH
3-(4-Chlorbutyl)pentan-1,4-diol
2.
3.
4.
5.
den meisten Mehrfachbindungen;
den meisten Atomen (längste Kette);
den meisten Doppelbindungen;
den niedrigsten Lokanten für das Suffix. Beispiel:
HO
Cl
Cl
OH
HO
8-Chlor-5-(1-chlor-3-hydroxypropyl)octan-1,7-diol
6. den niedrigsten Lokanten für die Mehrfachbindungen;
7. den niedrigsten Lokanten für die Doppelbindungen;
8. den meisten durch Präfixe benannten Substituenten. Beispiel:
OH
OH
Cl
OH
3-Chlor-5-(3-hydroxybutyl)-4,6-dimethylnonan-2,8-diol
9. dem Satz niedrigster Lokanten für alle durch Präfixe benannten Substituenten;
10. den Substituenten, dessen Name im Alphabet zuerst erscheint;
11. den niedrigsten Lokanten für den Substituenten, dessen Name im Alphabet zuerst erschient.
Skript AC-OC I
22
2.5. Beispiele für die Nomenklatur funktionalisierter Verbindungen
Im Folgenden werden die substitutive und, wenn möglich, die radikofunktionelle Nomenklatur der
wichtigsten Klassen funktioneller Verbindungen mit Hilfe von Beispielen erläutert. IUPAC erlaubt
sehr viele Trivialnamen, meistens für einfache oder biologisch wichtige Moleküle. Diese Trivialnamen sind nicht im Rahmen dieser Vorlesung auswendig zu lernen, aber sie werden sehr häufig in
der chemischen Literatur verwendet.
Für eine ausführlichere Betrachtung und für die Nomenklatur seltener funktioneller Verbindungen
siehe z. B. Handbuch für die systematische Nomenklatur der organischen Chemie, metallorganischen Chemie und Koordinationschemie.
2.5.1. Kationen
Im Rahmen dieser Vorlesung wird nur das Kation Ammonium (R4N+) betrachtet:
Br
N
N
Tetramethylammonium
tert-Butyldimethylpentylammoniumbromid
2.5.2. Carbon- und Sulfonsäuren
Carbonsäuren
Je nachdem, ob das C-Atom der Carbonylgruppe (>C=O) im Stammnamen enthalten ist, oder nicht,
benutzt man die Bezeichnung -säure oder -carbonsäure, die dem Namen der Stammverbindung
folgt.
O
3-Methylbutansäure
HOOC
COOH
OH
COOH
Cyclopropancarbonsäure
Butandisäure
COOH
COOH
Naphthalin-2-carbonsäure
2-Benzylpentansäure
Sehr viele Carbonsäuren behalten Trivialnamen bei. Obwohl sie noch zugelassen sind, ist es empfohlen, nur systematische Namen zu benutzten. Nur drei Säuren sollten mittels ihrer Trivialnamen
bezeichnet werden:
Skript AC-OC I
23
H
COOH
O
O
H3C
OH
Ameisensäure
OH
Essigsäure
Benzoesäure
Die den Carbonsäuren entsprechenden Reste werden als Acylreste bezeichnet. Deren Namen werden durch Anhängen des Suffixes -oyl an den Stammnamen gebildet. Wenn das Carbonyl-C-Atom
nicht im Stammnamen enthalten ist, wird die Endung -carbonyl verwendet. Acetyl-, Formyl- und
Benzoyl- sind Ausnahmen:
O
~
O
~
O
~
~
R
Acylrest
O
Cyclopentancarbonyl-
Butandioyl-
O
O
O
~
Formyl-
~
~
H
Acetyl-
Benzoyl-
Sulfonsäuren
Für die Benennung von Sulfonsäuren wird die Vorsilbe -carbon- durch -sulfon- ersetzt:
O
HO
S
O
O
S
SO3H
O
OH
O
Propan-1,2-disulfonsäure
N
S
O
OH
4-Methylbenzolsulfonsäure
(p-Toluolsulfonsäure)
Pyrrol-1-sulfonsäure
2.5.3. Carbonsäurederivate
Carbonsäuresalze
Die den Carbonsäuren entsprechenden Anionen (Carboxylate) werden durch Anhängen des Suffixes -oat an den Stammnamen gebildet. Ist das Carbonyl-C-Atom nicht in diesem enthalten, so lautet
die Endung -carboxylat. Für die Benennung der entsprechenden Salze wird der Name des Kations
vorangestellt:
Skript AC-OC I
24
–
O
K+
H
O–
Methanoat
O
O
Mg2+
–
OOC
O–
O
Kaliumbicyclo[2.2.2]octan1-carboxylat
Magnesiumethandioat
Carbonsäureanhydride
An den Namen der Carbonsäure wird die Endung -anhydrid angehängt. Bei gemischten Anhydriden stellt man die Namen beider Säuren voran:
O
O
O
O
O
O
O
O
O
Essigsäureanhydrid
Cyclohexan-1,2dicarbonsäureanhydrid
Butandisäureanhydrid
O
O
N
O
O
O
O
Ethansäurehexansäureanhydrid
2-Methylpropansäurepyridin-2-carbonsäureanhydrid
Carbonsäureester und Lactone
Zwei Methoden sind erlaubt, um Ester zu benennen. Die substitutive Nomenklatur betrachtet diese
Verbindungen als durch den Alkoholrest substituierte Carboxylate und schlägt die Anwendung der
Silben -yl...carboxylat vor. Die zweite Methode, die aus der Funktionsklassennomenklatur kommt,
fordert die Benutzung der Endung -ester:
O
O
O
O
O
O
O
Ethylacetat
Essigsäureethylester
Methylbenzoat
Benzoesäuremethylester
O
Ethylmethylpropandioat
Ester können auch durch Präfixe wie Alkyloxycarbonyl- oder Acyloxy- bezeichnet werden, wenn
im Molekül eine vorrangige charakteristische Gruppe enthalten ist:
Skript AC-OC I
25
O
O
COOH
COOH
O
O
3-(Ethoxycarbonyl)propansäure
3-(Benzoyloxy)propansäure
Einige Substituenten behalten Trivialnamen bei: Methoxy- (MeO–), Ethoxy- (EtO–), Propoxy(PrO–), Isopropoxy-, Butoxy- (BuO–), Isobutoxy-, sec-Butoxy-, tert-Butoxy- und Phenoxy(PhO–).
Cyclische Ester werden als Lactone bezeichnet. Sie tragen die Endung -olacton oder -carbolacton,
wenn sie als zweiwertige Substituenten von Polycyclen betrachtet werden. Es ist aber immer mehr
empfohlen, diese Verbindungen als Heterocyclen zu benennen (vgl. Kapiteln 2.3. und 2.5.7.):
O
O
O
O
Butano-4-lacton
(Tetrahydrofuran-2-on)
Butano-3-lacton
(4-Methyloxetan-2-on)
Carbonsäurehalogenide
Substitutive und Funktionsklassennomenklatur schlagen für Carbonsäurehalogenide dieselben Endungen vor: -oylhalogenid oder -carbonylhalogenid (-halogenid = -fluorid, -chlorid, -bromid oder
-iodid). Wenn nötig dürfen auch die Präfixe Fluorcarbonyl-, Chlorcarbonyl, Bromcarbonyl- und
Iodcarbonyl- angewendet werden:
O
Br
O
I
Acetyliodid
HOOC
Cl
O
O
F
2-(Fluorcarbonyl)cyclopropancarbonsäure
Propandioylbromidchlorid
Carbonsäureamide, Lactame und cyclische Carbonsäureimide
Für Amide werden die Suffixe im Namen der entsprechenden Carbonsäure durch -amid oder
-carboxamid ersetzt. Sind die Amide am H-Atom weiter substituiert, so werden die Reste in der
Form N-...yl...amid vorangesetzt. Mittels Präfixe werden diese Gruppe als Carbamoyl- bezeichnet:
O
O
O
NH2
Acetamid
N
H
O
O
O
N
H
N,N'-Dimethylpropandiamid
N
NH2
O
O
N-Ethyl-N-methylfuran2-carboxamid
1-(Carbamoyl)methylcyclohexancarboxylat
Skript AC-OC I
26
Die Amide von Ameisensäure, Essigsäure und Benzoesäure behalten die Trivialnamen Formamid,
Acetamid und Benzamid bei.
Intracyclische Amide werden als Lactame bezeichnet. Sie werden als Heterocyclen oder unter
Verwendung des Suffixes -lactam benannt:
H
N
O
Butano-4-lactam
(Tetrahydropyrrol-2-on)
Carbonsäureimide sind die Stickstoffanaloga der cyclischen Anhydride. Sie werden durch Ersetzung der Endungen -disäure oder -dicarbonsäure des systematischen oder trivialen Namens der entsprechenden Säure durch -imid bzw. -dicarboximid benannt. Sie können auch gemäss der Heterocyclennomenklatur bezeichnet werden:
O
H
N
Butanimid
(Trivialname: Succinimid)
O
Amidine
Amidine werden durch Verwendung der Endungen -imidamid und -caroximidamid oder des Präfixes Carbamimidoyl- bezeichnet:
NH
NH
NH
O
NH2
Pentanimidamid
NH2
Furan-2-carboximidamid
H2N
COOH
3-Carbamimidoylpropansäure
Nitrile
In Analogie zu den Säuren werden die entsprechenden Nitrile (oder Cyanide) mit -nitril (C-Atom
zählt zur Kette), -carbonitril oder Cyan- bezeichnet. Alternativ darf die Funktionsklassennomenklatur angewendet werden, die die Endung -cyanid vorschlägt. H3C–CN besitzt den Trivialnamen
Acetonitril; H–CN wird Blausäure genannt.
Viele einfache Nitrile werden oft mit Trivialnamen bezeichnet, obwohl die systematische Nomenklatur zu bevorzugen ist (vgl. Kapitel 2.5.2.).
Skript AC-OC I
27
2.5.4. Sulfonsäurederivate
Die Nomenklatur von Sulfonsäurederivaten ist sehr ähnlich zu derjenigen der Carbonsäurederivate.
Im Folgenden sind einige Beispiele von Salzen, Estern, Säurehalogeniden und Amiden gezeigt:
Li+
O
O
SO3–
S
Cl
S
O
O
Lithiumhexansulfonat
p-Toluolsulfonylchlorid
N,N-Dimethylcyclobutansulfonamid
O
Br
SO2 O2S
O
S
N
HOOC
O
O
O2S
Methylmethansulfonat
NH2
3-Bromosulfonyl-5-methoxysulfonyl4-sulfamoylheptansäure
2.5.5. Aldehyde und Thioaldehyde
Aldehyde
Aldehyde werden durch das Suffix -al gekennzeichnet. Wenn das C-Atom der Carbonylgruppe
nicht in das Grundgerüst miteinbezogen ist, muss man die Endung -carbaldehyd verwenden. Wenn
funktionelle Gruppen höherer Priorität anwesend sind, werden die Aldehyde durch die Präfixe Oxooder Formyl- bezeichnet.
O
CHO
CHO
H
Hexanal
OHC
CHO
CHO
Propan-1,2,3-tricarbaldehyd
HOOC
CHO
4-Oxobutansäure
HOOC
Benzol-1,2-dicarbaldehyd
COOH
CHO
2-Formylbutandisäure
Sehr viele Aldehyde behalten Trivialnamen bei. Die wichtigsten sind:
Skript AC-OC I
28
O
O
O
H
H
H
H
Formaldehyd
Acetaldehyd
Benzaldehyd
Thioaldehyde
Die Namen von Thioaldehyden sind sehr ähnlich. Die verwendeten Bezeichnungen sind -thial und
-carbothialdehyd, bzw. Thioxo- und Thioformyl-:
S
S
H
CHS
HOOC
Thiophen-2-carbothialdehyd
4-Thioxobutansäure
2.5.6. Ketone und Derivate
Ketone
Ketone werden mittels des Präfixes Oxo- oder des Suffixes -on bezeichnet. Alternativ darf man die
Funktionsklassennomenklatur anwenden (-keton).
O
O
O
O
O
Propan-2-on
Dimethylketon
Aceton
But-3-en-2-on
Methylvinylketon
O
H
Tetrahydrofuran-2-on
(Butano-4-lacton)
2-Oxobutanal
Thioketone
Thioketone werden durch Thioxo- oder -thion gekennzeichnet:
S
S
O
S
Pentan-2,4-dithion
1-Phenyl-1-thioxopentan-3-on
Acetale
Acetale werden als …yloxy…yloxy- oder -on…yl…ylacetal bezeichnet. Wenn ein Acetal am Ende
einer Kette ist, wird es als Derivat eines Aldehyds berücksichtigt und deshalb -al…yl…ylacetal genannt:
Skript AC-OC I
29
Oxime
Oxime werden als -aloxim, -onoxim oder Hydroxyimino- bezeichnet:
OH
HO
N
H
N
N
OH
N
O
HO
Propanaloxim
Butan-2,3-diondioxim
3-Hydroxyiminobutan-2-on
2.5.7. Alkohole, Phenole, Thiole und Derivate
Alkohole und Phenole
Alkohole sind Verbindungen, die die funktionelle Gruppe –OH enthalten. Phenole sind Derivate
von C6H5OH. Man unterschiedet zwischen primären (RCH2OH), sekundären (RR'CHOH) und
tertiären (RR'R''COH) Alkoholen.
Viele dieser Verbindungen besitzen Trivialnamen, deren Anwendung erlaubt aber nicht empfohlen
ist. Die systematischen Namen werden mit dem Präfix Hydroxy- oder dem Suffix -ol gebildet. Das
radikofunktionelle Suffix -alkohol darf auch benützt werden.
OH
OH
HO
HO
Ethanol
Ethylalkohol
Propan-2-ol
Isopropylalkohol
OH
OH
OH
Propan-1,2,3-triol
COOH
HO
OH
2-Methylphenol
Benzol-1,2-diol
3-Hydroxypropansäure
Alkoholate
Die anionischen Derivate von Alkoholen und Phenolen werden durch Änderung von Hydroxy- bzw.
-ol mit M-oxido- bzw. -olat gekennzeichnet.
H3CO– Na+
(H3C)3CO– K+
Natriummethanolat
Kalium-tert-butanolat
Skript AC-OC I
30
Thiole
Thiole enthalten SH-Gruppen und werden durch Sulfanyl- (alt: Mercapto-, nicht mehr durch IUPAC erlaubt) oder -thiol bezeichnet.
SH
HO
SH
SH
HS
Sulfanylmethanol
Propan-1,2-dithiol
Benzolthiol
2.5.8. Amine, Hydroxylamine und Imine
Amine
Amine werden in primäre (RNH2), sekundäre (RR'NH) und tertiäre (R'R'R''N) Amine unterteilt.
Quaternäre Amine werden als Ammoniumionen bezeichnet.
Amino- und -amin sind die Silben, die für ihre systematische Nomenklatur verwendet werden. Die
Funktionsklassennomenklatur fordert die Endung -amin.
NH2
N
NH2
Cyclopentylamin
Phenylamin
(Anilin)
Dimethylbenzylamin
N
(Cyclohex-2-enyl)dimethylamin
H2N
COOH
Aminoessigsäure
(Glycin)
Hydroxylamine
Verbindungen der Art RNHOH werden als Hydroxylamine bezeichnet. Ihre Silben lauten Hydroxylamino- oder -N-...hydroxylamin.
H
N
H
N
OH
OH
HO
N-Phenylhydroxylamin
4-(Hydroxyamino)phenol
Imine
Imine sind die formalen Kondensationsprodukte von Aldehyden oder Ketonen mit primären Aminen bzw. Ammoniak.
Man kann zwei Methoden benützen, um Imine zu benennen. Es kann das Präfix Imino- oder das
Suffix -imin verwendet werden- Alternativ wird das Imin als Amin mit einem zweiwertigen Rest
aufgefasst.
Skript AC-OC I
31
NH
4-Iminobutanol
N
N
HO
N-Cyclohexylethanimin
Ethylidencyclohexylamin
N-Phenyl(but-2-en-1-yliden)imin
(But-2-en-1-yliden)anilin
2.5.9. Ether, Epoxide, Sulfide, Sulfoxide und Sulfone
Ether
Ether werden durch das Präfix ...oxy- bezeichnet (vgl. auch Kapitel 2.5.3.). Alternativ darf man die
Endung -ether der Funktionsklassennomenklatur verwenden:
O
O
O
Ethoxyethan
Diethylether
Methoxyethen
Ethenylmethylether
Methoxybenzol
Methylphenylether
Epoxide
Epoxide werden durch das Präfix Epoxy- bezeichnet. Sie können auch als Derivate von Oxiran aufgefasst werden:
OH
O
O
O
2,3-Epoxybutanal
(3-Methyloxiran-2-carbaldehyd)
O
2,3-Epoxyphenol
2-Methyloxiran
Sulfide
Schwefelhaltige Analoga von Ethern werden Sulfide benannt und mit dem Präfix ...ylsulfanyl- bezeichnet. Die Funktionsklassennomenklatur fordert die Endung -sulfid.
S
S
2-(Methylsulfanyl)thiopan
Methyl(2-thienyl)sulfid
S
3-(Allylsulfanyl)propen
Diallylsulfid
Skript AC-OC I
32
Sulfoxide und Sulfone
Sulfoxide (RS(=O)R') und Sulfone (RS(=O)2R') werden durch die Präfixe ...ylsulfinyl- bzw.
...ylsulfonyl- bezeichnet. Die radikofunktionelle Nomenklatur schlägt die Endungen -sulfoxid bzw.
-sulfon vor.
S
S
O
O
(Phenylsulfinyl)benzol
Diphenylsulfoxid
(Ethylsulfinyl)pentan
Ethylpentylsulfoxid
O
S
O
O
S
O
(Ethylsulfonyl)ethan
Diethylsulfon
(Methylsulfonyl)ethan
Ethylmethylsulfon
2.5.10. Halogenide
Halogenide werden mittels der Präfixe Fluor- Chlor- Brom- und Iod- kennengezeichnet. Die zugehörigen Funktionsklassenendungen heissen -fluorid, -chlorid, -bromid und -iodid.
CHCl3
CH2Cl2
Br
Dichlormethan
Methylendichlorid
trivial: Methylenchlorid
Trichlormethan
Methylentrichlorid
Chloroform
Cl
F
F
I
2-Brom-2-methylpropan
tert-Butylbromid
Cl
I
Cl
(Iodmethyl)benzol
Benzyliodid
1,2-Dichlor-3,3-difluorcyclobuten
2-Chlor-5-iodpent-2-en
2.5.11. Azide, Isocyanide, Nitroso- und Nitroverbindungen
Azide
Verbindungen mit der Gruppe –N3 heissen Azide und können mit der Substitutionsnomenklatur
(Azido-) oder der Funktionsklassennomenklatur (-azid) benannt werden:
Skript AC-OC I
33
Br
COOH
N3
N3
Azidoethan
Ethylazid
3-Azido-7-bromnaphthalin2-carbonsäure
Isocyanide
Isocyanide (alt Isonitrile oder Carbylamine) werden durch Verwendung des Präfixes Isocyan- oder
des Suffixes -isocyanid (Funktionsklassennomenklatur) benannt:
NC
NC
NC
Isocyanbenzol
Phenylisocyanid
Isocyanpropannitril
Nitroso - und Nitroverbindungen
Nitroso- (–NO) und Nitrogruppen (–NO2) werden in systematischen Namen mittels der Präfixe Nitroso- und Nitro- eingeführt:
NO2
NO
NO2
NO
Br
1-Brom-2-nitrosobenzol
Nitromethan
3-Nitro-4-nitroso
cyclopenten
KAPITEL 3:
KLASSISCHE
STRUKTURLEHRE
In diesem Kapitel werden folgende Themen behandelt:
3.1. Valenz und Konstitutionsisomere
3.2. Chemische Bindung
3.2.1. Lewis-Bindungsmodell
3.2.2. Formalladungen
3.2.3. Elektronegativität und Bindungsdipol
3.2.4. Homolyse und Heterolyse
3.2.5. Resonanztheorie
3.3. Stereochemie
3.3.1. Das Tetraedermodell
3.3.2. Optische Aktivität
3.3.3. Stereoisomere, Enantiomere und Diastereoisomere
3.3.4. Beispiel: Zuckerstrukturaufklärung nach Fischer
3.3.5. Absolute Konfiguration und CIP-Regeln
3.3.6. Stereoisomerie bei Doppelbindungen
3.3.7. Stereoisomere ohne Stereozentrum
3.4. Symmetrielehre
3.4.1. Punktgruppen
3.4.2. Molekülsymmetrie und Chiralität
3.4.3. Topizität
Skript AC-OC I
35
3.1. Valenz und Isomere
Die chemischen und physikalischen Eigenschaften der organischen Verbindungen sind nicht nur
durch ihre elementare Zusammensetzung bestimmt, sondern durch ihre Konstitution, das heisst die
Art wie die Atome in einem Molekül miteinander verbunden sind.
Das heutzutage verwendete Modell wurde durch Kekulé und Couper 1858 vorgeschlagen. Die Zahl
möglicher Konstitutionen wird durch die Valenz (oder Wertigkeit) der Atome bestimmt. Jedes
Atom besitzt eine maximale Zahl von Bindungen, die es mit benachbarten Atomen bilden darf. Die
folgende Tabelle zeigt, die Valenz von Atomen, die in der organischen Chemie wichtig sind:
C
N
O
H
4-wertig
3-wertig
2-wertig
1-wertig
Mehrwertiger Atome (meistens Kohlenstoff) können Ketten, Ringe oder Mehrfachbindungen bilden, was zu einer grossen Zahl von möglichen Konstitutionen führt. Diese werden eindeutig durch
ein graphisches Schema dargestellt (Konstitutionsformel) oder durch den Namen der Verbindung
kennengezeichnet.
Verbindungen gleicher Summenformel (oder Molekularformel, d. h. gleicher Zahl und Typ von
Atomen) aber mit verschiedener Konstitution werden als Konstitutionsisomere bezeichnet. Sie unterscheiden sich in ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften.
Z. B. sind Essigsäure, Ameisensäuremethylester und Hydroxyethanal die stabilsten Konstitutionsisomere mit Summenformel C2H4O2, aber sie verhalten sich drastisch unterschiedlich:
O
O
O
Konstitutionsformel
HO
OH
Schmelzpunkt
Siedepunkt
17 °C
118 °C
H
H
O
–99 °C
31 °C
97 °C
Zersetzung
Die Zahl der Konstitutionsisomere nimmt mit ansteigender Zahl der Atome rasch zu:
CH4
C2H6
C3H8
C4H10
C5H12
C6H14
C10H22
C20H42
C40H82
Konstitutionsisomere
1
1
1
2
3
5
75
366319
~ 6·1013
Die Anzahl Doppelbindungsäquivalente (Ringe, Doppel- oder Dreifachbindungen, vgl. Kapitel
3.2.1.) kann aus der Summenformel bestimmt werden. Man betrachte das Molekül AaBbCcDd, in
dem A die 4-wertigen (z. B. C, Si), B die 1-werigen (z. B. H, F, Cl, Br, I), C die 2-wertigen (z. B.
O, S) und D die 3-wertigen Atome (z. B. N, P) sind. Die Zahl Doppelbindungsäquivalente x ist
dann
Skript AC-OC I
36
x=
2a + 2 + d − b
2
Eine Dreifachbindung zählt als zwei Doppelbindungen. Z. B. besitzt eine Verbindung mit Summenformen C20H25NO 9 Doppelbindungsäquivalente. Im folgenden Isomer sind sie in 3 Doppelbindungen, 1 Dreifachbindung (= 2 Doppelbindungen) und 4 Ringe verteilt:
CH3
NH2
HO
Weitere Arten von Isomerie werden im Kapitel 3.3. beschreiben.
3.2. Chemische Bindung
3.2.1. Lewis-Bindungsmodell
In den vorherigen Kapiteln wurde die Struktur von vielen Verbindungen gezeigt, in denen die Atome durch Striche verbunden werden. Man sprach dabei von Bindungen, ohne eine Definition anzugeben. Dies nachzuholen ist das Ziel dieses Kapitels.
Nach der Entdeckung der Elektronen wurde versucht, die periodischen Eigenschaften der Elemente
damit zu interpretieren. Zwei der wichtigsten Atomeigenschaften sind das Ionisationspotential und
die Elektronenaffinität.
Das Ionisationspotential IP ist die Energie, die für die Freisetzung eines Elektrons laut folgender
Gleichung benötigt wird: A → A+ + e–.
Die Elektronenaffinität EA ist die Energie, die beim Aufnehmen eines Elektrons laut folgender
Gleichung freigesetzt wird: A + e– → A–.
Lewis schlug vor, dass die Atome versuchen, die leeren Stellen eines Kubus mit Elektronen zu füllen. Atome, in denen schon alle acht Ecken besetzt sind, werden Edelgase genannt und zeigen grosse Stabilität und Unreaktivität: sie sind chemisch inert. Dieser hypothetische Kubus wurde Valenzschale genannt und der Zustand, bei dem die Valenzschale vollständig gefüllt ist, heisst Edelgaskonfiguration (vgl. auch Kapitel 4.1.).
Skript AC-OC I
37
Atome mit ungefüllter Valenzschale versuchen, die Konfiguration des nächsten Edelgases durch
Bindungen zu anderen Atomen zu erreichen. Für Atome der tieferen Periode des Periodensystems
bedeutet dies, dass in der Valenzschale normalerweise acht Elektronen anwesend sein müssen. Diese Beobachtung wird als Oktettregel bezeichnet. Ausnahme dazu sind H und He, die nur zwei
Elektronen beherbergen können.
In Abhängigkeit der Atome, die miteinander wechselwirken können, werden drei verschiedene Arten von Bindungen unterschieden: metallische, ionische und kovalente Bindung.
•
•
•
Metallische Bindung: Atome wie z. B. Na oder Li bilden metallische Aggregate der Form
Nax bzw. Lix. Die Atome geben die Elektronen der entfernsten Schale ab und erreichen damit die Konfiguration des vorhergehenden Edelgases. Die abgegebenen Elektronen sind im
ganzen Gitter delokalisiert.
Ionische Bindung: In Salzen geben die Atome eines Elements mit niedrigem IP die äussersten Elektronen einer Komponente mit höherer Elektroaffinität ab. Beide erreichen die Konfiguration des vorhergehenden bzw. nachfolgenden Edelgases. Dies ist z. B. der Fall in LiF
oder MgCl2.
Kovalente Bindung: In einer kovalenten Bindung gehören die Bindungselektronen beider
aneinander gebundener Atome. Der Aufenthalt der Elektronen zwischen den Kernen verringert die Abstossung der Atomkerne. Solche Bindungen sind die wichtigste Bindungsart der
organischen Chemie. Sie werden vor allem für Elemente beobachtet, die ein grosses IP besitzen, wo die Abgabe mehrerer Elektronen zu viel Energie brauchen würde. Diese Elemente
bilden Oktettschalen aus, indem sie Elektronenpaare unter Ausbildung kovalenter Bindungen teilen.
Das Kubusmodell wurde eingeführt, um die Oktettregel physikalisch zu begründen. Das Molekül
Cl2 kann z. B. durch die Überlappung von zwei unvollständigen Kuben erklärt werden:
Skript AC-OC I
38
+
Cl
Cl
Cl
Cl
In den meisten Fällen teilen zwei an einer kovalenten Bindung beteiligte Atome nur zwei Elektronen. Es kommt aber vor, dass sie vier oder sogar sechs Elektronen gemeinsam haben. Diese Bindungen werden Doppel- bzw. Dreifachbindungen genannt. Doppelbindungen sind länger als Dreifachbindungen aber kürzer als Einfachbindungen (C–C 1.54 Å; C=C 1.34 Å; CC 1.21 Å). Weiter
sind Mehrfachbindungen nicht um die Bindungsachse frei drehbar.
Die Doppelbindung, wie diejenige in O2, kann gemäss dem Kubusmodell erklärt werden:
+
O
O
O O
Das Modell kann aber nicht die Entstehung von Dreifachbindungen wie in N2 begründen.
Anstatt einen Würfel zu verwenden, schlug Lewis daher vor, die Valenzschale eines Atoms als vier
Paare von Elektronenstellen in den Ecken eines Tetraeders zu betrachten:
Cl
Cl
Eine solche tetraedrische Geometrie wird tatsächlich für die meisten organischen Atome gefunden, die keine Mehrfachbindung bilden. Die Ecken können entweder durch Bindungselektronenpaare oder durch freie, nichtbindende Elektronenpaare besetzt werden. Die Unterteilung der
Elektronen in Paaren führte zur Idee, dass eine Bindung durch zwei Elektronen erzeugt wird.
Die Entstehung von Bindungen wird durch die Überlappung solcher Tetraeder erklärt:
Cl2
O2
N2
Dieses Modell besagt die freie Rotation um Einfachbindungen und die eingeschränkte Drehbarkeit
von Doppel- und Dreifachbindungen, wobei die Atome durch mehrere Ecken gebunden sind. Weiter kann auch den Abstand zwischen den zwei Kerne durch einfachen, geometrischen Rechnungen
berechnet werden. Dessen berechnete Abnahme von Einfach- bis Dreifachbindungen wird tatsächlich beobachtet. Obwohl dieses Modell viele Eigenschaften der Moleküle gut erklärt, wurde es vollständig durch die quantenchemische Betrachtung der Atome ersetzt (vgl. Kapitel 4.).
Wasserstoff und Helium sind die einzigen Elemente, die nur zwei Elektronen benötigen, um die
Edelgaskonfiguration zu erreichen. Zwei H-Atome werden daher ihre Elektronen billigen und eine
kovalente Bindung erzeugen, unter Bildung des stabilen H2-Molekül:
Skript AC-OC I
39
H· + ·H → H:H  H–H
In Methan (CH4) besitzt das C-Atom vier leere Valenzstellen, die durch die vier Elektronen der HAtome besetzt werden. Durch die Bildung von vier kovalenten Bindungen erhalten alle Atome eine
Edelgaskonfiguration.
: :
: :
H
H : C :H
H
F:B: F
F
BF3
Methan
:
H :N : H
H
Ammoniak
In Ammoniak (NH3) sind drei kovalente Bindungen und ein freies Elektronenpaar anwesend. Verbindungen mit nichtbindenden Elektronenpaaren werden oft Lewis-Basen, Nukleophile oder
Elektronenpaar-Donoren genannt.
Einige Atome wie B und Al bilden stabile Moleküle auch wenn die Oktettregel nicht erfüllt wird. Z.
B. sind in BF3 nur drei kovalenten Bindungen anwesend. Die F-Atome besitzen zwar acht Elektronen in der Valenzschale, aber das B-Atom hat noch zwei Valenzstellen frei. Dieses Molekül wird
daher versuchen die Elektronenlücke durch Bildung weiterer Bindungen zu füllen. Solche Moleküle
werden Lewis-Säuren, Elektrophile oder Elektronenpaar-Akzeptoren genannt.
Im Folgenden werden Elektronenpaare durch Striche statt Punkte dargestellt.
3.2.2. Formalladungen
Wie im vorhergehenden Abschnitt besprochen wurde, haben Lewis-Säuren eine grosse Elektronenaffinität, während Lewis-Basen nichtbindende Elektronenpaare besitzen. Analog zu den normalen
Säure/Base Reaktionen finden auch bei diesen Verbindungen Neutralisationsreaktionen statt:
F
F
H
B
N
F
H
H
F
F
H
B
N
F
H
H
Durch Bildung einer neuen Bildung mit dem freien Elektronenpaar des Ammoniak-Moleküls, wird
jetzt die Oktettregel auch beim B-Atom erfüllt. Diese Art von Bindungen wird dative kovalente
Bindung genannt.
Das neue Molekül darf aber auch als das Produkt von zwei geladenen Teilchen (BF3·– und NH3·+)
betrachtet werden, da die Elektronen nicht mehr vollständig zum N-Atom gehören. Die Ladung dieser fiktiven Teilchen wird als Formalladung bezeichnet. Sie wird durch folgende Gleichung bestimmt:
Formalladung
eines Atoms in
einer LewisFormel
Anzahl der Va= lenzelektronen
des freien Atoms
Anzahl der
Elektronen in ein–
samen Elektronenpaaren
– 1/2
Anzahl der Bindungselektronen
Skript AC-OC I
40
Beispiele:
•
CO2
•
NH4+
H
H
•
N
H
N: 5 – 0 – 4 = +1
H: 1 – 0 – 1 = 0
H
CO3
2-
3.2.3. Elektronegativität und Bindungsdipol
Die Elemente weisen unterschiedliches Verhalten bezüglich ihrer Elektronen in den entferntesten
Schalen auf. Z. B. gibt K sein Elektron leicht ab, während F eine sehr grosse Elektronenaffinität besitzt. Die Elektronegativität EN besagt, wie ausgeprägt diese Anziehung ist. In der folgenden Abbildung ist die Pauling-Elektronegativität der Elemente dargestellt:
Wenn zwei Atome verschiedener Elemente eine kovalente Bindung bilden, werden sie die zwei
gemeinsamen Elektronen mit unterschiedlicher Kraft anziehen. Z. B. werden die Elektronen in HCl
mehr durch das Cl-Atom (EN = 3.16) als durch das H-Atom (EN = 2.20) angezogen. Die Bindung
wird daher polarisiert, wobei sich die Bindungselektronen räumlich und zeitlich bevorzugt bei dem
Atom mit grösserer Elektronegativität aufhalten. Im Fall einer C–Li-Bindung zieht C (EN = 2.55)
Skript AC-OC I
41
die Elektronen stärker an sich als Li (EN = 0.98). Dagegen sind in einer C–F-Bindung die Elektronen näher beim F-Atom (EN = 3.98) lokalisiert. Kovalente Bindungen, in denen die Elektronen sich
nicht gleichmässig um die zwei Kerne verteilen, werden polare Bindungen genannt.
Da sich die Elektronen zeitlich länger beim elektronegativeren Atom aufhalten, bildet sich ein gerichtetes Dipolmoment. Die Summe aller Dipolmomentvektoren eines Moleküls ergibt das Moleküldipol.
+
H
−
+
Cl
H3C
−
Cl
Dipolmoment
−
H
H
H
Cl
Cl
Cl
Cl
Cl
Cl
Moleküldipol
−
Cl

−
+
Cl
Cl−
Kein Moleküldipol
Im Fall von Tetrachlormethan führt die Summe der Dipolmomentvektoren zur Aufhebung der Moleküldipol, obwohl die vier Bindungen polar sind.
Die Moleküldipole sind sehr wichtig, um z. B. das Verhalten zwischen den Molekülen zu verstehen.
3.2.4. Homolyse und Heterolyse
Kovalente Bindungen können auf zwei Arten gespalten werden. Bei der Homolyse entstehen nach
der Zerstörung der Bindung zwei Atome mit leeren Valenzstellen. Dagegen findet bei der Heterolyse eine asymmetrische Trennung der Bindungen statt, wodurch zwei ionische Teilchen gebildet
werden.
Homolyse:
Heterolyse:
CH3–H → CH3· + ·H
CH3–H → CH3– + H+
Die Energie, die für die Heterolyse notwendig ist, ist normalerweise sehr viel grösser als diejenige
der Homolyse. Im Fall von Methan braucht z. B. die Homolyse 104 kcal/mol und die Heterolyse
400 kcal/mol.
3.2.5. Resonanztheorie
In einigen Fällen ist es nicht möglich, die Elektronenstruktur mit Hilfe der Lewis-Formel zu beschreiben. Benzol dient als Paradebeispiel. Es wird normalerweise als ein Cyclohexanderivat mit
drei Doppelbindungen dargestellt. Man würde daher erwarten, dass die drei C–C-Einfachbindungen
länger als die C=C-Doppelbindungen sind. In Realität ist die Länge aller sechs Bindungen gleich.
Sie liegt mit 1.40 Å zwischen derjenigen einer Einfachbindung und derjenigen einer Doppelbindung.
In den Fällen, wo mehr als eine sinnvolle Lewis-Struktur für ein Molekül geschrieben werden kann,
spricht man von Resonanz. Dieses Konzept wurde eingeführt, um die Beschränkungen des üblichen
Modells überzuwinden. Die elektronischen Eigenschaften werden dann durch eine Überlagerung
der verschiedenen möglichen Resonanzstrukturen mit unterschiedlicher Bewichtung der einzelnen
Strukturen beschrieben. Diese unterscheiden sie sich nur durch die Verteilung der Elektronen in den
Skript AC-OC I
42
Bindungen. Die räumliche Lage der Atomkerne im Molekül in den verschiedenen Strukturen ist
identisch.
Resonanzstrukturen werden durch Doppelpfeile () verbunden. Die Überlappung der einzelnen
Strukturen wird oft auch durch eine spezielle Schreibweise gekennzeichnet, die die Resonanzstrukturen in gekrümmten Linien zusammenfasst.
Br
Br
Br
Cl
Cl
Cl
oder
Ein Molekül, das durch mehrere Resonanzstrukturen beschrieben wird, ist stabiler als eine isolierte
Lewis-Struktur. Dieser Effekt wird Resonanzstabilisierung genannt. Neben der Anzahl von Resonanzstrukturen ist es auch wichtig, deren relative Stabilitäten zu berücksichtigen. Eine Resonanzstruktur, die ziemlich unstabil ist, wird kaum Einfluss auf die Stabilisierung des Moleküls haben.
Um das Gewicht einer einzelnen Resonanzstruktur abzuschätzen, müssen die folgenden Punkte berücksichtigt werden:
•
•
•
Oktettstrukturen sind weitaus am stabilsten.
In Resonanzstrukturen mit Ladungstrennung ist die negative Ladung bevorzugt auf dem
Atom mit der höchsten Elektronegativität lokalisiert.
Die Ladungstrennung kostet Energie. Resonanzstrukturen mit Ladungstrennung tragen weniger zur aktuellen Elektronenverteilung im Molekül bei als ungeladene Resonanzstrukturen.
Selbst wenn ein Molekül durch viele Resonanzstrukturen beschrieben werden kann, existiert in
Wirklichkeit nur eine einzige Geometrie und eine einzige Elektronenverteilung! Die Resonanzstrukturen sind nur ein Hilfsmittel, um die Lewis-Formeln zu verwenden, auch wenn sie die
Realität nicht richtig darstellen können. Beispiele.
3.3. Stereochemie
Die Stereochemie beschäftigt sich mit der dreidimensionalen Struktur von Molekülen.
3.3.1. Das Tetraedermodell und seine Ausnahmen
Die tetraedrische Anordnung der Valenzelektronenpaare eines Atoms führt zu einer tetraedrischen
Anordnung der Substituenten. Dies gilt für die meisten Atome, die in der organischen Chemie wichtig sind und an Mehrfachbindungen beteiligt sind.
a
d
X
c
a
b
c
X b
d
a, b, c, d = Atome
oder nichtbindende
Elektronenpaare
Keilstrich-Schreibweise
Skript AC-OC I
43
Die obige Art, die dreidimensionale Struktur eines Moleküls mit fetten und gestrichelten Linien
darzustellen, wird Keilstrich-Schreibweise genannt. In diesem Fall ist d in der Richrung der Leser
gerichtet, b in der entgegengesetzten Richtung.
Zwei Atome können eine Einfachbindung durch Überlappung einer Tetraederecke bilden:
e
f
a
Y
X
d
c
f
d Y
e
b
a
X c
b
a, b, c, d, e, f = Atome
oder nichtbindende
Elektronenpaare
Die zentralen Atome können sich um die Bindungsachse drehen.
Das tetraedrische Modell (vgl. Kapitel 3.2.1.) kann also die lineare Geometrie von Dreifachbindungen erklären, indem man annimmt, dass die Bindung durch Überlappung einer Fläche erzeugt wird.
Bei Doppelbindungen hingegen wird ein Innenwinkel von 120° gemessen, der nicht ausgehend von
diesem Modell erklärbar ist (vgl. Kapitel 4.).
d 120° a
120° Y X
c
b
180°
b
Y
X
a
a, b, c, d = Atome
oder nichtbindende
Elektronenpaare
3.3.2. Optische Aktivität
Die ersten physikalischen Auswirkungen der Stereoisomerie wurden durch Experimente mit polarisiertem Licht beobachtet.
Das Licht, oder elektromagnetische Strahlung, besteht aus zwei Komponenten, ein magnetisches
und ein elektrisches Feld, die senkrecht zueinander oszillieren.
Normalerweise besteht das Licht aus einer Vielzahl von Lichtwellen, dessen elektrische Felder in
alle Richtungen orientiert sind. Einige Kristalle (Polarisatoren) können diese Wellen unterscheiden
und nur diejenige mit einer bestimmten Orientierung des elektrischen Feldes durchlassen. Das
Licht, dessen Wellen alle dieselbe Richtung des elektrischen Feldes besitzen, ist linear polarisiert.
Jean-Baptiste Biot beobachtete im Jahr 1815, dass einige organischen Flüssigkeiten die Polarisationsebene von Licht drehen können. Darunter befinden sich z. B. Lösungen von Rohzucker und in
einigen Fällen Weinsäure, je nach Herkunft.
Um den Drehwinkel zu bestimmen, wird die folgende Apparatur verwendet:
Skript AC-OC I
44
Eine Lichtquelle erzeugt eine Reihe von Lichtwellen, deren Polarisationsebene zufällig angeordnet
sind. Ein Polarisator (Nikolsches Prisma) ist nur für Wellen mit einer wohldefinierten Orientierung
durchlässig. Das linear polarisierte Licht geht durch die optisch aktive Probe und seine Polarisationsebene wird um den Winkel  gedreht. Ein Beobachter kann dann das polarisierte Licht nur dann
sehen, wenn er einen zweiten Polarisator ebenfalls um den Winkel  dreht.
Der Betrag von  ist eine stoffspezifische Grösse, die auch von der Wellenlänge des Lichtes, dem
Lösungsmittel, der Temperatur, der Konzentration der optisch aktiven Verbindung und der Länge l
der Probe abhängt.
Sehr oft wird die spezifische Drehung [] oder die molare Drehung [] in der chemischen Literatur angetroffen:
 T (LM, l , c ) =

l c
T (LM, l , c ) =    M
T
100
 ist der Drehwinkel in °, T die Temperatur,  die Wellenlänge in nm, LM das Lösungsmittel, l die
Länge der Probe in dm, c die Konzentration in g/mL und M die Molekularmasse.
Drehungen im Uhrzeigersinn werden durch einen positiven Winkel bezeichnet, diejenigen im Gegenuhrzeigersinn durch einen negativen.
Louis Pasteur (1822–1895) bewies im Jahr 1847, dass es in der Natur zwei Formen von Weinsäure
gibt: eine, die die Polarisationsebene rotiert und eine zweite, die darauf keinen Effekt hat. Weiter
beobachtete er, dass die zweite Form nach Kristallisation zwei Arten von Kristallen gibt, die die
Polarisation in entgegengesetzten Richtungen drehen. Im Laufe der Zeit wurden viele natürliche
Verbindungen isoliert, die polarisiertes Licht drehen; sie wurden als optisch aktive Verbindungen
bezeichnet. Optisch aktive Moleküle, die die Polarisationsebene im Uhrzeigersinn drehen, werden
mit (+) vor dem Namen gekennzeichnet (z. B. (+)-Weinsäure), die andere durch (–).
Es ist das Verdienst von Pasteur, die physikalische messbare Drehung von polarisiertem Licht auf
die räumliche Struktur von Molekülen zurückzuführen.
3.3.3. Stereoisomere, Enantiomere und Diastereoisomere
Kohlenstoff ist ein 4-wertiges Element und kann daher vier Substituenten binden. Wenn sie alle unterschiedlich sind, wird eine neue Isomerieart erzeugt. Stereoisomere sind Verbindungen, die dieselbe Konnektivität (Atom-Verbundenheit) besitzen und sich nicht durch Drehungen um Einfachbindungen ineinander überführen lassen (Konformationsisomerie, vgl. Kapitel 6.).
Skript AC-OC I
45
Die unterstehenden Verbindungen zeigen ein C-Zentralatom, das ein F-, ein Cl-, ein Br- und ein IAtom bindet. Obwohl ihre Konstitution gleich ist, sind sie räumlich unterschiedlich angeordnet. Es
ist unmöglich, das eine Stereoisomer durch Drehungen in das andere überzuführen. Sie besitzen eine unterschiedliche Konfiguration
F
F
Br
Cl
I
Cl
Br
I
Solche asymmetrischen Verbindungen, die sich wie Bild und Spiegelbild zueinander verhalten, d. h.
nicht zur Deckung gebracht werden können, sind chiral und werden Enantiomere oder optische
Isomere genannt. Die Chiralität ist die notwendige und hinreichende Beziehung für das Auftreten
von Enantiomeren. Ein Zentrum, das chiral ist, wird stereogenes Zentrum oder Stereozentrum
genannt.
Ethanol ist z. B. nicht chiral, da Bild und Spiegelbild gleich sind. Dagegen existieren zwei Enantiomere von 2-Iodbutan:
Spiegel
CH3
CH3
H
OH
H
H
HO
H
Ethanol
keine Stereoisomere
achirales Molekül
kein Drehwinkel
Spiegel
(+)-2-Iodbutan
24
[]589 = + 15.9°
rechtsdrehend
CH2CH3
H
H3C
I
CH2CH3
H
I
CH3
(–)-2-Iodbutan
24
[]589 = – 15.9°
linksdrehend
Die Komponenten eines Enantiomerenpaars haben immer dieselben chemischen und physikalischen
Eigenschaften. Sie können aber durch Messung ihrer optischen Aktivität unterschieden werden. Der
Betrag der spezifischen Drehung eines Enantiomerenpaars ist gleich, nur die Vorzeichen sind umgekehrt. Mischungen, die beide Enantiomere einer Verbindung in gleicher Menge enthalten, werden
Racemate genannt. Die gegenseitigen Effekte der zwei Enantiomere heben sich auf; es wird daher
keine optische Aktivität gemessen.
Enantiomere können auch stark unterschiedliche biologische Aktivitäten zeigen. Z. B. riechen (–)Carvon (aus Krauseminze) und (+)-Carvon (aus Kümmel) sehr verschieden.
O
O
(–)-Carvon
(+)-Carvon
Skript AC-OC I
46
Ein weiteres, tragisches Beispiel, ist das Beruhigungsmittel Thalidomid. In den fünfziger Jahren
wurde Thalidomid als Racemat verkauft. Während ein Enantiomer tatsächlich beruhigende Effekte
zeigt, ist das zweite teratogen, das heisst es verursacht Missbildung im Fötus. Thalidomid wurde im
Jahr 1962 verboten. Kürzlich wurde aber entdeckt, dass das giftige Enantiomer aktiv gegen Krebs
ist.
O
N
O
*
* = stereogenes Zentrum
NH
O
O
Wenn ein Molekül n stereogene Zentren enthält, werden maximal 2n Stereoisomere gebildet. Wenn
zwei dieser Isomere sich nicht wie Bild und Spiegelbild zueinander verhalten, aber Stereoisomere
sind, werden sie Diastereoisomere genannt. Das Molekül Threonin z. B. enthält zwei Stereozentren
und erzeugt daher 22 = 4 Stereoisomere. Damit können vier Paare von Diastereoisomeren und zwei
Paare von Enantiomeren gebildet werden:
Enantiomere
HOOC
NH2
H
H2N
COOH
H C
OH
H
H3C
HO
H
CH3
Diastereoisomere
HOOC
NH2
H
H3C
H
OH
H2N
COOH
H C
H
HO
CH3
Enantiomere
Auch die folgenden zwei Zucker bilden ein Diastereoisomerenpaar mit zwei stereogenen Zentren:
HO
H
O
HO
H
O
HO
HO
H
H
H H
H OH
(–)-Erythrose
H H HO H
(–)-Threose
In Gegensatz zu Enantiomeren zeigen Diastereoisomere unterschiedliche chemische und physikalische Eigenschaften.
Skript AC-OC I
47
Das folgende Schema fasst die Beziehungen zwischen den verschiedenen Isomeriearten zusammen:
Isomere (gleiche Summenformel)
Ist die Konstitution gleich?
Nein
Konstitutionsisomere
Ja
Stereoisomere
Verhalten sie sich wie Nein
Bild und Spiegelbild?
Diastereoisomere
Ja
Enantiomere
3.3.4. Beispiel: Zuckerstrukturaufklärung nach Fischer
Dieses Beispiel wird hilfreich sein, um das Verständnis der obigen abstrakten Konzepte zu erleichtern. Dazwischen werden auch einige weitere Begriffe eingeführt.
Die Zuckerstrukturaufklärung nach Fischer ist eines der schönsten Beispiele für logische Rückschlüsse in der Chemie. Emil Fischer publizierte im Jahr 1891 die exakte chemische Struktur von
Glucose und anderen natürlich vorkommenden Zuckern. Zu dieser Zeit stand fast keine analytischen Werkzeuge und fast keine unnatürliche Verbindung zu Verfügung. Er verfügte lediglich über
folgende Informationen:
1. Die Molekularformel (durch Verbrennung bestimmbar) und die Molekularmasse.
2. Physikalische Eigenschaften wie Schmelzpunkt, Siedepunkt, Brechungsindex, optische Aktivität, Farbe, Geruch und Geschmack.
3. Säuren und Basen.
Mit diesen primitiven Hilfsmitteln dauerte die Arbeit an der Strukturaufklärung fast dreissig Jahre.
Fischer gewann dafür den Nobelpreis im Jahr 1902.
Fischer verwendete für die Strukturbestimmung zwei wichtigen Reaktionsklassen: die Oxidation
und die Reduktion. Im Folgenden wird Oxidation ([O]) der Einfachheit wegen als Reaktion, die
den Sauerstoffgehalt eines Moleküls erhöht, definiert. Dagegen erhöht eine Reduktion ([R]) die
Anzahl der H-Atome. Z. B. können Alkohole einfach zu Aldehyden und danach zu Carbonsäuren
oxidiert werden.
mehr H
weniger O
H
R
H
OH
[O]
[R]
O
R
[O]
H
[R] R
O
OH
weniger H
mehr O
Skript AC-OC I
48
Salpetersäure ist z. B. ein Reagenz, das Alkohole und Aldehyde direkt zu Carbonsäuren oxidieren
kann.
Fischer kannte nur vier natürlich vorkommende Zucker mit Summenformel (CH2O)6 (Hexose):
Glucose, Mannose (aus Nüssen), Galactose (aus Feigen) und Fructose.
Anhand der Summenformel lässt sich berechnen, dass das Molekül über ein Doppelbindungsäquivalent verfügt. Fischer beobachtete dann, dass Glucose, Mannose und Galactose in Gegensatz zu
Fructose andere Verbindungen reduzieren können, was eine charakteristische Eigenschaft von Aldehyden ist. Er nahm daher an, dass Glucose, Mannose und Galactose Aldehyde sind (Aldose),
während Fructose zu den Ketonen gehört (Ketose). Fischer wusste auch, dass jedes C-Atom maximal ein O-Atom trägt. Die allgemeine Struktur einer Aldose mit n C-Atomen kann daher wie folgt
dargestellt werden:
O
C
H
OH
OH
C
H
CH2
n-2
(+)-Glyzerinaldehyd ist die einfachste Aldose, die eine optische Aktivität zeigt und daher ein stereogenes Zentrum besitzt:
O
HO
[O]
H
*
HO
H
OH
H
OH
Hydroxymalonsäure
(nicht chiral)
O
H
O
H
OH
(+)-Glyzerinaldehyd
(Fischer kannte noch nicht
die exakte Konfiguration)
H
H H
H
[R]
HO
OH
H
OH
Glyzerin
(nicht chiral)
Die Produkte der Oxidation und der Reduktion zeigen keine optische Aktivität.
Zucker bilden sehr häufig Sirupe. Fischer suchte damals übrig einen Weg, Derivate dieser Verbindungen zu kristallisieren, um sie zu analysieren. Es war bekannt, dass Phenylhydrazin, unter Verlust
von Wasser, mit Aldehyden eine neue Verbindungsklasse bildet (Phenylhydrazone). Fischer entdeckte im Jahr 1884, dass Aldose mit drei Äquivalenten Phenylhydrazin ganz neue Verbindungen
(Osazone) bildet:
HN
O
NH2
H
R
R
*
H
N
+3
C6H5
OH
N
H
C6H5
N
N
H
+ C6H5NH2 + NH3 + H2O
Skript AC-OC I
49
Die Osazonbildung zerstört das stereogene Zentrum in Position 2, aber die Produkte sind einfach zu
kristallisieren.
Fischer wollte auch aus einfachen Zuckern die komplexeren synthetisieren. Er entdeckte dafür, dass
die Zugabe von Blausäure zu einem Zucker, nach saurer Aufarbeitung, das erwünschte Produkt
ergibt (Kiliani-Fischer-Reaktion). Damit konnte er ausgehend von (+)-Glyzerinaldehyd die zwei
(CH2O)4-Aldosen herstellen:
Die Verwendung der üblichen Keilstrich-Schreibweise kann für Zucker ziemlich mühsam werden.
Fischer führte daher eine neue Konvention ein, die Fischer-Projektion genannt wird. Die längste
Kette im Molekül wird durch eine vertikale Linie dargestellt. Die Bindungen des Moleküls werden
so gedreht, dass alle Substituenten über dieser Kette zu liegen kommen. Schliesslich wird das Molekül auf die Ebene projiziert:
c
c
b
d
d
d
a
a
b
c
a
b
Fischer-Projektion
Einer Drehung der Fischer-Projektion um 90° führt ein Enantiomer in das andere über:
Skript AC-OC I
50
HOH2C
H
H
CHO
CHO
CHO
H
OH
OH
OH
CH2OH
CH2OH
(+)-Glyzerinaldehyd
H
90°
90°
CHO
H
OH
HOH2C
CHO
CHO
H
HO
H
OH
CH2OH
HOH2C
CH2OH
HOH2C
OH
HO
CHO
HOH2C
CHO
H
H
(–)-Glyzerinaldehyd
(+)-Glyzerinaldehyd
CHO
OH
(+)-Glyzerinaldehyd
Die bisher verwendete (+),(–)-Nomenklatur stützt sich auf der optischen Aktivität der chiralen Verbindungen, deren Messung nicht immer möglich ist und nicht einfach mit der dreidimensionalen
Struktur eines Moleküls in Beziehung gebracht werden kann. Ausgehend von der FischerProjektion wurde ein neues Nomenklatursystem vorgeschlagen (D,L-System), das noch in der Zuckerchemie verwendet wird. Im Fall von Zuckern, muss man die Fischer-Projektion so drehen, dass
das höchst oxidierte Kettenende oben liegt. Wenn die am weitesten entfernte Hydroxygruppe eines
chiralen Zentrums nach rechts scheint, wird die Konfiguration als D bezeichnet, sonst als L.
CHO
CHO
CHO
H
OH
CH2OH
D-Glyzerinaldehyd
HO
H
H
H
OH
OH
H
OH
CH2OH
D-Threose
CH2OH
D-Erythrose
Oft wird noch die Richtung der spezifischen Drehung angegeben (z. B. D-(–)-Threose, L-(+)Threose).
Wir sind bisher davon ausgegangen, dass wir die richtige, absolute Konfiguration der Zucker kennen, dies traf auf Fischer natürlich nicht zu. Er begann daher seine Arbeit unter der Annahme, dass
die absolute Konfiguration von (+)-Glyzerinaldehyd D war. Die absolute Konfiguration wurde erst
im Jahr 1954 eindeutig bestimmt.
Fischer war in der Lage, die relativen Konfigurationen der Zucker mit Hilfe der Oxidation mit
HNO3 zu bestimmen. Im Folgenden wird das Beispiel von Threose und Erythrose besprochen:
Skript AC-OC I
51
D-Threose
CHO
HO
H
H
OH
CH2OH
L-Threose
CHO
H
OH
HO
H
CH2OH
D-Erythrose
CHO
H
OH
H
OH
CH2OH
L-Erythrose
CHO
HO
H
HO
H
CH2OH
HNO3
HNO3
HNO3
HNO3
COOH
HO
H
H
OH
COOH
D-Weinsäure
COOH
OH
H
COOH
L-Weinsäure
H
HO
COOH
H
OH
H
OH
COOH
COOH
HO
H
HO
H
COOH
selbe Verbindung
optisch inaktiv
meso-Weinsäure
Die Oxidation von L- und D-Threose führt zu zwei verschiedenen Enantiomeren von Weinsäure,
die natürlich eine unterschiedliche optische Aktivität zeigen. Die Oxidation von D- und L-Erythrose
führt dagegen zu derselben Verbindung, die optisch inaktiv ist. Moleküle, die zwar über stereogene
Zentren verfügen, aber dennoch optisch inaktiv sind, nennt man meso-Verbindungen. Die Ursache
liegt in einer internen Spiegelebene, die die optische Aktivität gegenseitig aufhebt.
Im vorliegenden Fall ist dies nur möglich, wenn die zwei Hydroxygruppen auf derselben Seite der
Fischer-Projektion zu liegen kommen. Ob es sich dabei um einen D- oder L-Zucker handelt, spielt
keine Rolle. Es folgt daher, dass in der Threose die Hydroxygruppen einander gegenüberliegen. Die
D-Zucker wurden so genannt, weil sie nur ausgehend von D-Glyzerinaldehyd hergestellt werden
konnten. Fischer war aber nicht sicher, ob die entfernste chirale Hydroxygruppe tatsächlich auf der
rechten Seite der Fischer-Projektion war.
Analog nahm Fischer für die Strukturaufklärung der Hexose an, dass die natürliche Glucose die
Konfiguration D besitzt. Er hatte nur eine 50%-ige Wahrscheinlichkeit, aber 1954 wurde bewiesen,
dass er richtig lag. Da nun ein Stereozentrum eine fixierte Konfiguration hat, bleiben drei stereogene Zentren, die die folgenden acht Strukturen erzeugen:
Skript AC-OC I
52
CHO
OH
OH
OH
OH
CH2OH
H
H
H
H
HO
H
H
H
1
H
H
HO
H
CHO
H
OH
OH
OH
CH2OH
H
HO
H
H
2
CHO
OH
OH
H
OH
CH2OH
HO
H
HO
H
5
CHO
OH
H
OH
OH
CH2OH
HO
HO
H
H
3
CHO
H
OH
H
OH
CH2OH
H
HO
HO
H
6
CHO
H
H
OH
OH
CH2OH
4
CHO
OH
H
H
OH
CH2OH
HO
HO
HO
H
7
CHO
H
H
H
OH
CH2OH
8
Das weitere Vorgehen war wie folgt:
1. D-Glucose und Mannose bilden dasselbe Osazon. Da während der Synthese nur das stereogene Zentrum in Position 2 zerstört wird, müssen die Stereozentren an den Stellen 3, 4 und 5
beider Zucker gleich sein. Daher müssen Glucose und Mannose einem der Paare (1;2), (3;4),
(5;6) und (7;8) entsprechen.
2. D-Glucose und D-Mannose werden durch Salpetersäure zu optisch aktiven Carbonsäuren
oxidiert. 1 und 7 würden aber meso-Verbindungen erzeugen, die keine optische Aktivität besitzen. Daher können 1 mit 2 und 7 mit 8 ausgeschlossen werden. Folglich verbleiben nur
noch die Paare (3;4) und (5;6).
3. Eine Kiliani-Fischer-Reaktion bildet ausgehend von Arabinose D-Glucose und D-Mannose.
Es folgt, dass Arabinose dieselbe Konfiguration von D-Glukose in Position 2, 3 und 4 besitzt. Wenn D-Arabinose die Konfiguration 9 hat, werden 3 und 4 gebildet, hingegen führt
10 zu 5 und 6:
CHO
HO
H
H
OH
H
OH
CH2OH
H
HO
H
H
9
CHO
H
OH
HO
H
H
OH
CH2OH
10
CHO
OH
H
OH
OH
CH2OH
HO
HO
H
H
3
H
H
HO
H
CHO
OH
OH
H
OH
CH2OH
5
CHO
H
H
OH
OH
CH2OH
4
HO
H
HO
H
CHO
H
OH
H
OH
CH2OH
6
Skript AC-OC I
53
4. D-Arabinose gibt nach Oxidation eine optisch aktive Carbonsäure. Die Oxidation von 10
wurde aber zu einer optisch inaktiven Verbindung führen. D-Arabinose besitzt daher die
Konfiguration dargestellt in 9 und D-Glucose und D-Mannose entsprechen dem Paar (3;4).
COOH
HO
H
H
OH
H
OH
COOH
CHO
HO
H
H
OH
H
OH
CH2OH
optisch aktiv
9
H
HO
H
CHO
OH
H
OH
CH2OH
H
HO
H
COOH
OH
H
OH
COOH
optisch inaktiv
meso-Verbindung
10
5. Fischer entdeckte eine neue Methode, um die zwei Enden eines Zuckers auszutauschen.
Wenn die –CHO und die –CH2OH Gruppe ausgetauscht werden, stellt man aus 3 ein neues
Produkt her. Dagegen würde 4 nur das Ausgangsmaterial liefern.
180°
H
HO
H
H
CHO
OH
H
OH
OH
CH2OH
H
HO
H
H
CH2OH
OH
H
OH
OH
CHO
3
HO
HO
H
H
HO
HO
H
HO
CHO
H
H
OH
H
CH2OH
HO
HO
H
H
CHO
H
H
OH
OH
CH2OH
180°
CHO
H
H
OH
OH
CH2OH
HO
HO
H
H
CH2OH
H
H
OH
OH
CHO
4
4
D-Glucose erzeugt eine neue Verbindung, daher ist D-Glucose 3 und D-Mannose 4:
H
HO
H
H
CHO
OH
H
OH
OH
CH2OH
D-Glucose
HO
HO
H
H
CHO
H
H
OH
OH
CH2OH
D-Mannose
Skript AC-OC I
54
6. Fructose hat keine reduzierende Wirkung, folglich muss er sich um eine Ketose handeln. Sie
liefert aber dasselbe Osazon wie D-Glucose. Die drei entfernsten Hydroxygruppen müssen
daher dieselbe Konfiguration, nämlich derjenige der D-Glucose besitzen. Daher hat DFructose die folgende Struktur:
CH2OH
O
HO
H
H
OH
H
OH
CH2OH
D-Fructose
3.3.5. Absolute Konfiguration und CIP-Regeln
Bis zu den fünfziger Jahren konnte nur die relative Konfiguration von chiralen Verbindungen bestimmt werden. Nach der Einführung einer neuen analytischen Methode (Röntgenstrukturanalyse)
wurde es aber möglich, die absolute Konfiguration, d. h. eine Konfiguration ohne relative Bezüge
zu benachbarten Substanzen, jedem Stereozentrum zuzuordnen.
Um die verschiedenen Stereoisomeren zu benennen, wurde ursprünglich das D,L-System verwendet. Heutzutage wird aber das systematischere und allgemeingültige R,S-System benützt. Dieses
Nomenklatursystem geht direkt von der dreidimensionalen Struktur des Moleküls aus, um die absolute Konfiguration von Stereoisomeren zu spezifizieren. Die vier verschiedenen Substituenten eines
chiralen Zentrums werden dabei in einer Sequenz angeordnet, aus der sich die Konfiguration (R
oder S) abgeleiten lässt. Man folgt der folgenden Prozedur:
1. Die vier Substituenten eines stereogenen Zentrums werden identifiziert. Jedem der vier Substituenten wird unter der Benutzung bestimmter Sequenzregeln die Prioritäten a, b, c, d zugeordnet, so dass gilt: a > b > c > d.
2. Das Molekül wird räumlich so angeordnet, dass man entlang der Bindung vom Stereozentrum zum Substituenten mit der niedrigsten Priorität d schaut:
a
d
c
b
3. Man betrachtet nun das Molekül in dieser Orientierung und verbinde die Substituenten in
der Reihenfolge a über b zu c. Bewegt man sich dabei im Uhrzeigersinn, so wird das Stereozentrum R (rectus) genannt, verläuft die Bewegung entgegen dem Uhrzeigersinn, dann
wird das Stereozentrum S (sinister) genannt.
Skript AC-OC I
55
a
a
d
d
c
b
b
c
R
S
Für die Zuordnung der Prioritäten werden die Regeln von Cahn, Ingold und Prelog (CIP-Regeln)
angewendet. Für die Zuordnung gelten die folgenden Punkte in abnehmender Priorität:
1. Höchste Ordnungszahl des ersten Atoms am Stereozentrum: z. B. 53I > 35Br > 17Cl > 16S > 9F
> 8O > 7N > 6C > 1H > freies Elektronenpaar.
2. Höchste Massenzahl des ersten Atoms am Stereozentrum: z. B. 2D > 1H.
3. Wenn mehrere Substituenten dieselbe Ordnungszahl und dieselbe Massenzahl besitzen, so
wird der Substitutionsgrad berücksichtigt. Dasjenige Atom, welches mit anderen Atomen
höherer Ordnungszahl verbunden ist, geht voran. Sind die beide Atome auch in dieser Richtung gleichwertig, so hat dasjenige Atom die höhere Priorität, welches mit mehr Atomen
höherer Ordnungszahl verbunden ist. Erlaubt das zweitinnerste Atom keine Entscheidung,
so geht man zum dritten über, usw. Z. B. CCl3 > COCl > COOR > COOH > CONH2 > COR
> CHO.
4. Mehrfach gebundene Atome werden durch Verdoppelung (bei Doppelbindungen) bzw. Verdreifachung (bei Dreifachbindungen) durch Anbringen von Phantomatomen dargestellt:
R
O
R
R
C
R
O
R
R
R
C
R
(N) (C)
(C) (C)
R
C
(C) (C)
R
R
R
(C) (C)
(O) (C)
R
C
C
R
R
R
R
N
R
C
N
(N) (C)
Weitere Unterregeln können in der Literatur gefunden werden. Beispiele.
Dieselben Regeln gelten auch für chirale Zentren, die nicht C-Atome sind:
O
N
N
Si
P
As
Auch 3-wertige Elemente bilden Stereozentren, wenn das zentrale Atom nicht in der Ebene der drei
Substituenten liegt. Das freie Elektronenpaar dient als vierter Substituent:
S
S
P
O
Bei Aminen und Oxoniumsalzen ist das Chiralitätszentrum nicht stabil, da die Konfiguration sehr
schnell invertiert:
Skript AC-OC I
56
b
b
a
X = N, O
X
X
a
c
c
R
S
3.3.6. Stereoisomerie bei Doppelbindungen
Doppelbindungen können sich bei Raumtemperatur nicht um die Bindungsachse drehen. Unterschiedliche Substituenten können daher zu Diastereoisomere führen:
H3C
H3C
H
H
CH3
H
CH3
H
Eine alte Nomenklatur, die aber noch häufig verwendet wird, gibt die relative Anordnung der Substituenten durch die Silben cis (auf derselben Seite) und trans (auf verschiedenen Seiten) an. Diese
Nomenklatur wird auch für die Angabe der relativen Konfigurationen von Substituenten verwendet
und muss nicht zwingend auf den CIP-Regeln basieren. Die Verwendung von cis und trans sei daher mit Vorsicht zu geniessen.
H3C
H3C
H
H
CH3
H
CH3
H
cis-2-Buten
trans-2-Buten
Da diese Nomenklatur nicht eindeutig ist, wurde das E,Z-System eingeführt, das den CIP-Regeln
für die Bestimmung der Priorität der Substituenten folgt. Befinden sich die Gruppen höchster Priorität jedes Atoms auf derselben Seite der Doppelbindung, ist die Verbindung ein Z-Isomer (zusammen). Umgekehrt spricht man von E-Isomer (entgegen). Beispiele.
3.3.7. Stereoisomere ohne Stereozentrum
Bisher haben wir nur über Stereoisomerie in Verbindung mit Stereozentren oder Doppelbindungen
gesprochen. Ein Chiralitätszentrum muss aber nicht immer Sitz eines Atoms sein. Z. B. liegt im folgenden Molekül das stereogene Zentrum im Molekülzentrum:
d
a
c
b
Weiter können Achsen, Ebenen oder Helizes Chiralitätselemente sein.
Skript AC-OC I
57
Stereoisomerie bei einer Chiralitätsachse
Eine Chiralitätsachse ist z. B. bei Allenen und 2,2',6,6'-tetrasubstituierte Biphenylen vorhanden. Die
Benennung nach R,S-Nomenklatur geschieht folgendermassen:
1. Man betrachtet das Molekül von einem ausserhalb auf der Bindungsachse liegenden Punkt.
Der Punkt befindet sich auf der Seite des Moleküls, wo der Substituent höchster Priorität
liegt.
2. Die Substituenten am näheren Ende der Achse haben Vorrang vor denjenigen am fernen
Ende der Achse.
3. Man verbindet die Substituenten in abnehmender Reihenfolge a > b > c > d. Bewegt man
sich dabei im Uhrzeigersinn, so wird das Stereozentrum R genannt, umgekehrt wird das Stereozentrum als S bezeichnet.
Beispiele:
• Allenderivat
Spiegel
COOH
H
HOOC
C
C
HOOC
C
C
H
C
H
3
3
COOH
COOH
H
2
COOH
1
H
HOOC
1
H
H
2
4
4
(R)-(–)-Glutinsäure
•
H
COOH
C
(S)-(+)-Glutinsäure
Biphenylderivat (bei diesem Molekül findet keine Racemisierung statt, da die Drehung um
die Bindungsachse durch die sperrigen Substituenten verhindert wird):
O2N
Cl
Br
Falsche Richtung
(Br hat höchste Priorität)
X
HOOC
3
2 Cl
NO2
Br 1
COOH
(R)-2'-Brom-6'-chlor-6-nitrobiphenyl-2-carbonsäure
4
Eine weitere Nomenklatur zur Beschreibung von Verbindungen mit einer Chiralitätsachse ist das
M,P-System.
Skript AC-OC I
58
Stereoisomerie bei einer Chiralitätsebene
In einem System wie dem nachfolgenden überbrückten aromatischen Molekül wird die Ebene, die
den Benzolring, die beiden Sauerstoffatome und das Bromatom enthält, Chiralitätsebene genannt.
Wenn das Molekül nicht racemisieren kann, entstehen zwei Enantiomere. Diese Asymmetrie wird
auch planare Chiralität benannt.
Die Bezeichnung nach der R,S-Nomenklatur geschieht folgendermassen:
1. Man bestimmt das ranghöchste, direkt an der Ebene gebundene und mit der Brücke verbundene Atom zum Leitatom (a).
2. Die Sequenz erhält man folgendermassen: a entspricht dem Leitatom und b dem an das Leitatom gebundenen Atom in der Ebene. Der nächstgebundene ranghöchste Substituent gemäss den CIP-Regeln liefert c.
3. Die Blickrichtung wird durch die Brücke festgelegt.
4. Die absolute Konfiguration erhält man dann durch die Richtung der Sequenz a > b > c.
Spiegel
H2C
H2C
H2
C
H2C
CH2
H2C
CH2
2
H2
C
2
CH2
H
H
aO
CH2
O
O
b
c Br
1
b
Br c
Oa
1
R
S
Stereoisomerie bei Helix-Strukturen
Helices sind häufig vorkommende chirale Moleküle. Sie besitzen eine spezielle Nomenklatur. Beobachtet man eine Helix längs ihrer Achse in der Richtung von oben nach unten und beschreibt sie
eine Rechtsdrehung, so wird sie mit P (plus) bezeichnet. Eine linkgängige Helix wird dagegen mit
M (minus) bezeichnet.
Spiegel
P
M
Skript AC-OC I
59
3.4. Symmetrielehre
3.4.1. Punktgruppen
Um die Geometrie eines Moleküls zu beschreiben, werden Symmetrieelemente wie z. B. Punkte,
Gerade und Ebene verwendet. Eine Symmetrieoperation ist eine Bewegung eines dreidimensionalen Gebildes in einem festgelegten Koordinatensystem. Eine Spiegelung z. B. entspricht einer Drehung um 180°, so dass der Anfangs- und Endzustand ununterscheidbar sind.
Es werden vier Arten von Symmetrieelementen definiert:
• -Ebenen sind Spiegelebenen, die eine geometrische Figur so in zwei Teile unterteilt, dass
diejenige Hälfte auf der einen Seite der Ebene, genau dem Spiegelbild der Hälfte auf der anderen Seite entspricht.

H
Br
Br
H
•
Cn-Achsen sind Geraden, die so durch ein Molekül verlaufen, dass man bei einer Drehung
des Moleküls um 360°/n (n = 1,2,...) um diese Gerade eine dreidimensionale Anordnung erhält, die von der ursprünglichen Figur nicht zu unterscheiden ist.
I
C2
I
•
Drehspiegelachsen Sn sind eine Kombination von - und Cn-Symmetrieelementen. Diese
Symmetrie wird beobachtet, wenn ein Molekül mit einer Spiegelung an einer -Ebene und
einer Drehung um 360°/n um eine Gerade, die senkrecht zur Spiegelebene liegt, in sich
selbst übergeführt wird.

Cl
H
•
H
Cl
1) Spiegelung
2) Drehung um 180°
S2
C2
Inversionszentrum i: Ein Molekül ist inversionssymmetrisch, wenn durch die Spiegelung
aller Substituenten am Inversionszentrum das Molekül unverändert bleibt.
CH3
i
H3C
Skript AC-OC I
60
Die Moleküle können in Abhängigkeit ihrer Symmetrieelemente in verschiedene Gruppen unterteilt
werden. Diese Gruppen werden als Punktgruppen bezeichnet. Im Folgenden sind die Abkürzungen der verschiedenen Punkgruppen aufgelistet:
Nicht axiale Punktgruppen
C1 oder I
Identität, kein Symmetrieelement.
Cs
Nur eine Symmetrieebene .
Ci
Nur ein Inversionszentrum i.
Axiale Punktgruppen
Punktgruppe Cn
C2'
Hauptachse Nebenachsen
senkrecht zur
Hauptachse
Cn
Dn
Cnv
Cnh
Dnh
Dnd
1
1
1
1
1
1
Sn
Cn/2
v
vertikale
Spiegelebenen
enthaltend die
Hauptachse
Sonstige
h
horizontale
Spiegelebenen
senkrecht zur
Hauptachse
n
n
n
n
n
n
1
1
Sn; i bei geradem n
Sn; i bei geradem n
S2n; i bei ungeradem n
Sn, i bei n/2 ungerade
Kubische Punktgruppen
Td
Tetraedrische Symmetrie: 4 C3, 3 C2, 6 , 3 S4 (z. B. CH4).
Oh
Oktaedrische Symmetrie: 3 C4, 4 C3, 6 C2, 9 , 3 S4, 4 S6, i (z. B. SF6).
...
Spezielle Punktgruppen
Cv
C,   (z. B. Cl–CC–H).
Dh
C,  v, i, S,  C2', h (z. B. H–CC–H).
Ih
Insgesamt 120 Symmetrieelemente (z. B. C60).
Zur Bestimmung der Punktgruppe eines Moleküls ist es oft sehr hilfreich, ein Flussdiagramm zu
verwenden. Beispiele.
Skript AC-OC I
61
3.4.2. Molekülsymmetrie und Chiralität
Die Punktgruppen finden viele Anwendungen in allen Bereichen der Chemie. Im Rahmen dieser
Vorlesung werden wir nur die Beziehung zwischen Chiralität und Symmetrie betrachten.
Moleküle sind chiral, wenn Bild und Spiegelbild nicht deckungsgleich sind. Ausgehend aus der
Symmetrielehre kann man beweisen, dass ein Molekül chiral ist, wenn es zu den Punktgruppen C1,
Cn oder Dn gehört.

CH3
CH3
H3C
H
CH3
H
H
H
CH3
H
C2

H3C
H
H
CH3
H
CH3
cis-Isomer
Cs Punktgruppe
achiral
trans-Isomer
C2 Punktgruppe
chiral
C2
Weitere Beispiele.
3.4.3. Topizität
Die Topizität beschreibt die Äquivalenz oder Nichtäquivalenz von Atomen oder Gruppen in einem
Molekül.
Zwei Gruppen sind homotop (oder äquivalent), wenn sie durch eine Drehung des Moleküls um eine
Drehachse ineinander überführt werden können. Moleküle mit homotopen Gruppen müssen also
eine Cn-Achse (n > 1) aufweisen. Solche Gruppen befinden sich in gleicher Umgebung innerhalb
des Moleküls und sind nicht voneinander unterscheidbar. Die Substitution der einen oder anderen
homotopen Gruppe durch irgendeine andere Gruppe liefert identische Moleküle.
Man nennt Gruppen enantiotop, wenn sie durch eine Drehspiegelung des Moleküls ineinander
überführt werden können. Moleküle mit enantiotopen Gruppen müssen also eine Sn-Achse (n  1)
aufweisen. Solche Gruppen befinden sich in zueinander enantiomeren Umgebungen innerhalb des
Moleküls und sind in achiralen Medien nicht unterscheidbar, können aber in chiralen Medien oder
mit chiralen Reagenzien unterschieden werden. Die Substitution der einen oder der anderen enantiotopen Gruppe durch irgendeine andere achirale Gruppe liefert zueinander enantiomere Moleküle,
durch irgendeine andere chirale Gruppe zueinander diastereomere Moleküle.
Man nennt Gruppen diastereotop, wenn sie die gleiche Konstitution besitzen, aber durch keinerlei
Symmetrieoperationen ineinander überführt werden können. Solche Gruppen befinden sich in zueinander diastereomeren Umgebungen innerhalb des Moleküls und sind deshalb in achiralen und chiralen Medien unterscheidbar. Die Substitution der einen oder der anderen diastereotopen Gruppe
durch irgendeine andere Gruppe liefert zueinander diastereomere Moleküle.
In der folgenden Abbildung ist ein Flussdiagramm zur Klassifizierung der Topizität von Gruppen
gezeigt:
Skript AC-OC I
62
Haben die Gruppen die gleiche
chemische Verbundenheit?
Nein
verschieden
Ja
Sind die Gruppen mittels einer
Drehung ineinander überführbar?
Ja
homotop
Nein
Sind die Gruppen durch
Drehspiegelungen (Sn)
ineinander überführbar?
Ja
enantiotop
Nein
diastereotop
Die Topizität spielt eine wichtige Rolle in der Kernresonanzspektroskopie (vgl. Vorlesungen Analytische Chemie). Zueinander homotope und enantiotope Atomkerne ergeben in achiralen Lösungsmitteln Signale an der gleichen Stelle. In chiralen Lösungsmitteln sind enantiotope Kerne unterscheidbar. Diastereotope und verschiedene Kerne geben immer verschiedene Signale. Beispiele.
KAPITEL 4:
EINFÜHRUNG IN DIE
QUANTENCHEMIE
In diesem Kapitel werden folgende Themen behandelt:
4.1. Atomorbitale
4.2. Chemische Bindungen
4.3. Geometrie eines Moleküls und Hybridisierung
4.4. Konjugierte Systeme
Werner Heisenberg
Skript AC-OC I
64
4.1. Atomorbitale
Um die Bewegung eines Elektrons um einen Kern zu beschreiben, muss man seine Position und
seine Energie kennen. Um diese Grössen zu beschreiben, wurden viele Atommodelle vorgeschlagen. Das aktuellste wurde nach der Einführung der Quantenphysik vorgelegt. Gemäss diesem Modell verhalten sich die Elektronen nicht wie Planeten zu ihrer Sonne, um die alle denkbaren Bahnen
besetzt sein können. Für Elektronen um einen Kern sind dagegen nur ganz bestimmte Werte für
Energie und Abstand erlaubt. Jedes Elektron wird in der Tat durch eine Wellenfunktion  charakterisiert. Obwohl  keine klassische physikalische Bedeutung hat, gibt die Grösse 2 die Wahrscheinlichkeitsverteilung des Elektrons an, d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Elektron
innerhalb eines bestimmten Raums befindet. Ausgehend von den Wellenfunktionen können die erlaubten Energiezustände der Elektronen berechnet werden. Generell finden die chemischen Reaktionen statt, nur um die Gesamtenergie eines Moleküls zu erniedrigen. Es ist deshalb sehr wichtig, die
relativen Energien der Elektronen zu kennen.
Wir starten mit der zeitunabhängigen Schrödingergleichung für die elektronische Wellenfunktion
(1).
𝑯𝜓 = 𝐸𝜓
(1)
Hierbei ist 𝑯 der Hamilton-Operator, 𝜓 die elektronische Wellenfunktion und 𝐸 die elektronische
Energie. Diese Gleichung, bei der ein Operator multipliziert mit einer Funktion einen Skalar multipliziert mit derselben Funktion ergibt, ist ein Beispiel eines Eigenwertproblems. 𝐸 ist der Eigenwert
des Hamilton-Operators und 𝜓 ist die Eigenfunktion. Der Hamilton-Operator ist:
𝑯≡−
ℏ2
2𝑚
∇2 + 𝑉
(2)
Hierbei ist der erste Term die kinetische Energie der Elektronen und der Zweite entspricht der potenziellen Energie. 𝑉 enthält Terme wie:
𝑍 𝑒2
−
4𝜋ɛ0 𝑟12
was dem Coulomb-Potential zwischen zwei Partikeln im Abstand 𝑟12 mit den Ladungen +Z und -1
entspricht. Der Laplace-Operator ∇2 im ersten Term der Gleichung (2) lautet in kartesischen Koordinaten:
𝜕2
𝜕2
𝜕2
∇2 ≡ 2 + 2 + 2
𝜕𝑥
𝜕𝑦
𝜕𝑧
Für einen beliebigen Operator, insbesondere für den Hamilton-Operator, kann der wahrscheinlichste
Wert einer Wellenfunktion 𝜓, der Erwartungswert, gemäss Gleichung (3) berechnet werden. In unserem Fall entspricht der Erwartungswert E demjenigen für die Energie.
∫ 𝜓 ∗ 𝑯𝜓𝑑𝜏 = 𝐸∫ 𝜓 ∗ 𝜓𝑑𝜏
⟨𝜓|𝑯|𝜓⟩ = 𝐸 ⟨𝜓|𝜓⟩
(Integral-Form)
(3)
(Bra-Ket-Notation, Dirac Notation)
Skript AC-OC I
65
Die Energiezustände sind durch vier ganze Zahlen charakterisiert:
•
•
•
•
Die Hauptquantenzahl n unterscheidet die Hauptenergieniveaus oder Schalen. Sie hängt
vom mittleren Abstand zwischen Elektron und Kern ab und seine möglichen Werte gehen
von 1 bis .
Die Orbitalquantenzahl (oder Nebenquantenzahl) l bestimmt den Drehimpuls des Elektrons. l kann nur Werte zwischen 0 und n-1 annehmen (0  l < n), d. h., dass jede Schale n
Unterschalen besitzt. Normalerweise werden die Unterschalen nicht durch Nummern bezeichnet, sondern durch Buchstaben. Zustände mit l = 0 werden als s definiert, mit l = 1 als
p, mit l = 2 als d, usw.
Die magnetische Quantenzahl m bezeichnet die möglichen Orientierungen des Elektrons
in einem magnetischen Feld. -m  l  m: jede Unterschale besitzt deshalb 2l + 1 Atomorbitale.
Die Spinquantenzahl s gibt die Orientierung des Elektronenspins an, der als eine Art von
Drehimpuls angesehen werden kann. Sie darf nur die Werte 1/2 oder –1/2 annehmen.
Gemäss den obigen Definitionen wird ein Atomorbital durch eine Kombination von n, l und m eindeutig beschrieben. In der folgenden Tabelle sind die energetisch niedrigsten Atomorbitale gezeigt
(1s ist das energieärmste Orbital):
vierte Schale
n
4
dritte Schale
3
zweite Schale
2
erste Schale
1
L
3
2
1
0
2
1
0
1
0
0
m
-3, -2, -1, 0, 1, 2, 3
-2, -1, 0, 1, 2
-1, 0, 1
0
-2, -1, 0, 1, 2
-1, 0, 1
0
-1, 0, 1
0
0
Symbol
4f
4d
4p
4s
3d
3p
3s
2p
2s
1s
Da das Wichtigste in der Chemie die Minimierung der Gesamtenergie eines Systems ist, ist es sehr
wichtig die relative Energie der Orbitale zu kennen. Einige Regeln sind dafür nützlich:
•
•
•
•
Je grösser n ist, desto grösser ist die mittlere Energie der Schale.
Innerhalb derselben Schale besitzen Orbitale mit grösseren l die grössere Energie.
In Abwesenheit eines äusseren magnetischen Felds besitzen die Orbitale mit gleichen n und
l dieselbe Energie.
Orbitale, die dieselbe Energie haben, sind entartet.
Skript AC-OC I
66
In der folgenden Abbildung ist ein qualitatives Energieniveaudiagramm der ersten Atomorbitale
des Wasserstoffatoms gezeigt:
Die Gesamtenergie eines Systems ist durch die Summe der Energien aller Elektronen gegeben.
Die Gestalt (die Form) und die Symmetrie eines Orbitals sind wichtig für qualitative Aussagen über
die Reaktivität von Atomen. In der folgenden Abbildung sind die Wellenfunktionen der Orbitale s,
pz, py und px gezeigt. Orbitale mit l > 0 besitzen verschiedene Teile, deren Vorzeichen unterschiedlich sind. Sie werden durch hellere und dunklere Farben unterschieden.
z
z
y
x
y
x
s
(l = 0)
z
y
x
pz
(l = 1)
z
y
x
py
(l = 1)
px
(l = 1)
Um die Elektronen in den Orbitalen anzuordnen, müssen drei Regeln berücksichtigt werden (Aufbauprinzip):
•
•
•
Je weniger Energie ein System besitzt, desto stabiler ist es.
Jedes Orbital darf mit maximal zwei Elektronen besetzt sein (Pauliprinzip).
Wenn es mehrere Orbitale gleicher Energie gibt, besetzen die Elektronen unterschiedliche
Orbitale (Hund’sche Regel).
Skript AC-OC I
67
Die Elektronenkonfiguration beschreibt die Verteilung der Elektronen innerhalb der Atomorbitale. Das Wasserstoff Atom besitzt nur ein Elektron, das sich im tiefliegenden 1s-Orbital befindet.
Eine solche Konfiguration wird durch 1s1 abgekürzt. Im Helium ist auch das zweite Elektron im 1sOrbital: die Konfiguration ist deswegen 1s2. Das dritte Elektron in Lithium muss das nächste Orbital besetzen, das 2s-Orbital: die Konfiguration ist daher 1s22s1. Mit derselben Methode können die
Elektronenkonfigurationen aller Elemente geschrieben werden:
H
He
Li
Be
B
C
N
O
F
Ne
…
Kr
…
1s1
1s2
1s22s1
1s22s2
1s22s22p1
1s22s22p2
1s22s22p3
1s22s22p4
1s22s22p5
1s22s22p6
…
1s22s22p63s23p63d104s24p6
…
1. Schale vollständig besetzt
2. Schale vollständig besetzt
3. Schale vollständig besetzt
Die äusserste Schale wird Valenzschale genannt. Die Elektronen dieser Schale sind die am
schwächsten gebundenen Elektronen und nehmen an der Bildung chemischer Bindungen teil. Die
tiefer liegenden Elektronen sind nicht wichtig für das chemische Verhalten der Elemente. Eine Lücke in der Valenzschale bedeutet, dass das Atom ein Elektron relativ leicht aufnehmen kann (vgl. z.
B. Fluor), während ein isoliertes Elektron aus einem Valenzorbital relativ leicht abgegeben wird
(vgl. z. B. Lithium oder Natrium). Da die Valenzschale der Edelgase vollständig ist, sind diese
Atome besonders stabil und unreaktiv (Oktettregel, vgl. Kapitel 3.2.1.).
Wenn die Elektronen eines Atoms in der stabilsten Konfiguration sind, ist das Atom in seinem
Grundzustand. Alle anderen Konfigurationen der Elektronen entsprechen angeregten Zustände.
4.2. Chemische Bindung
Atomorbitale können miteinander wechselwirken. Das führt zur Bildung chemischer Bindungen.
Um die Stärke einer Bindung zu quantifizieren, wird die Dissoziationsenergie benützt, d. h. die
Energie die notwendig ist, um die chemische Bindung zu spalten. Je stabiler die Bindung ist, desto
mehr Energie wird benötigt (vgl. Kapitel 5.1.).
Quantenchemisch werden Bindungen als Wechselwirkungen zwischen Atomorbitalen betrachtet
(Molekülorbitalmodell). Folgende Eigenschaften sind für das Verständnis wichtig:
•
•
•
Wenn sich zwei Atome annähern, entsteht zwischen den Atomorbitalen eine Wechselwirkung, die neue Molekülorbitale erzeugt. Nur Atomorbitale gleicher Symmetrie bezüglich der
Kern-Kern-Achse wirken aufeinander.
Eine chemische Bindung wird gebildet, wenn diese Wechselwirkung die Gesamtenergie des
Systems senkt. D. h., dass die besetzten Orbitale energetisch abgesenkt werden müssen. Die
Energie der leeren Orbitalen hat keinen Einfluss auf die Gesamtenergie des Moleküls.
Die Wechselwirkung ist grösser, wenn die Orbitale gute Überlappung haben und ähnlich in
der Energie sind.
Skript AC-OC I
68
•
Die Wechselwirkung zwischen zwei Orbitalen führt zu einer Aufspaltung der Energieniveaus.
• Die Summe der Atomorbitale und diejenige der Molekülorbitale muss stets gleich sein.
Wir beginnen mit zwei normierten Orbitalen 𝜙1 und 𝜙2 , die 1s Orbitale für die σ-Bindung von H2
oder 2p Orbitale einer C=C π-Bindung in Ethen sein könnten. Die Wellenfunktion 𝜓 des Moleküls
kann durch eine lineare Kombination von Atomorbitalen (LCAO – linear combination of atomic
orbitals) angenähert werden (Gleichung (4)).
𝜓 ≈ 𝑐1 𝜙1 + 𝑐2 𝜙2 = 𝑐1 |𝜙1 ⟩ + 𝑐2 |𝜙2 ⟩ = |𝑐1 𝜙1 + 𝑐2 𝜙2 ⟩
(4)
Hierbei sind 𝑐1 und 𝑐2 skalare Konstanten, die Orbitalkoeffizienten genannt werden. Um diese zu
bestimmen, machen wir Gebrauch vom sogenannten Variationsprinzip. Dieses besagt:
«Für eine normierte, stetige Testwellenfunktion 𝜑, die die Randbedingungen des Problems erfüllt,
ist der Erwartungswert der Energie grösser oder gleich dem tiefsten Eigenwert für das System.»
Oder:
∫ φ∗ 𝑯𝜑𝑑𝜏 ≥ 𝐸0
(5)
Dieses Prinzip kann nun darauf angewendet werden die Lösung für die Orbitalkoeffizienten aus
Gleichung (4) und die dazugehörige Energie zu finden. Dazu leitet man die Energie nach den Koeffizienten ab und setzt die Ableitung gleich Null.
Für die dabei entstehenden Matrixelemente wird folgende Notation gebraucht:
∫ 𝜙𝑖∗ 𝑯𝜙𝑗 𝑑𝜏 ≡ ⟨𝜙𝑖 |𝑯|𝜙𝑗 ⟩ ≡ 𝐻𝑖𝑗
∫ 𝜙𝑖∗ 𝜙𝑗 𝑑𝜏 ≡ ⟨𝜙𝑖 |𝜙𝑗 ⟩ ≡ 𝑆𝑖𝑗
Wir beginnen mit dem untenstehenden Ausdruck für die Energie für unsere LCAO Wellenfunktion:
⟨𝜓|𝑯|𝜓⟩
𝐸=
⟨𝜓|𝜓⟩
In den Ausdruck setzen wir nun die Wellenfunktion aus Gleichung (4) ein und schreiben ihn aus.
𝐸=
⟨𝑐1 𝜙1 + 𝑐2 𝜙2 |𝑯|𝑐1 𝜙1 + 𝑐2 𝜙2 ⟩ 𝑐12 𝐻11 + 2𝑐1 𝑐2 𝐻12 + 𝑐22 𝐻22
=
(vorausgesetzt dass 𝐻12 = 𝐻21 )
⟨𝑐1 𝜙1 + 𝑐2 𝜙2 |𝑐1 𝜙1 + 𝑐2 𝜙2 ⟩
𝑐12 + 2𝑐1 𝑐2 𝑆12 + 𝑐22
(6)
Die Energie wird nun nach 𝑐1 abgeleitet und die Ableitung gleich Null gesetzt, um das Minimum
der Energiefunktion zu finden. Man erhält:
𝜕𝐸
2𝑐1 𝐻11 + 2𝑐2 𝐻12
𝑐12 𝐻11 + 2𝑐1 𝑐2 𝐻12 + 𝑐22 𝐻22
2𝑐1 + 2𝑐2 𝑆12
0=
= 2
−
∙
𝜕𝑐1 𝑐1 + 2𝑐1 𝑐2 𝑆12 + 𝑐22
𝑐12 + 2𝑐1 𝑐2 𝑆12 + 𝑐22
𝑐12 + 2𝑐1 𝑐2 𝑆12 + 𝑐22
=
2𝑐1 𝐻11 + 2𝑐2 𝐻12 − 𝐸(2𝑐1 + 2𝑐2 𝑆12 ) 2𝑐1 (𝐻11 − 𝐸) + 2𝑐2 (𝐻12 − 𝐸𝑆12 )
=
𝑐12 + 2𝑐1 𝑐2 𝑆12 + 𝑐22
𝑐12 + 2𝑐1 𝑐2 𝑆12 + 𝑐22
Die Ableitung wird null, wenn der Zähler null ist. Dasselbe kann man auch für 𝑐2 machen und man
erhält ein Set von homogenen linearen Gleichungen, die als Matrizengleichung geschrieben werden
können (Eigenwertproblem).
𝑐1 (𝐻11 − 𝐸) + 𝑐2 (𝐻12 − 𝐸𝑆12 ) = 0
𝑐1 (𝐻12 − 𝐸𝑆12 ) + 𝑐2 (𝐻22 − 𝐸) = 0
(
𝐻11 − 𝐸
𝐻12 − 𝐸𝑆12
0
𝐻12 − 𝐸𝑆12 𝑐1
)( ) = ( )
𝐻22 − 𝐸
𝑐2
0
Skript AC-OC I
69
Ein solches System von linearen Gleichungen hat nur dann eine nicht-triviale Lösung, wenn die dazugehörige Determinante null wird (die triviale Lösung wäre 𝑐𝑖 = 0, was hier aber nicht sinnvoll
wäre). Diese Determinante wird Sekulärdeterminante genannt und hat die folgende Form:
𝐌 = |𝑚𝑖𝑗 |
mit 𝑚𝑖𝑗 = 𝐻𝑖𝑗 − 𝐸, falls 𝑖 = 𝑗
und 𝑚𝑖𝑗 = 𝐻𝑖𝑗 − 𝐸𝑆𝑖𝑗 , falls 𝑖 ≠ 𝑗
In unserem Fall mit zwei Orbitalen ergibt die Sekulärdeterminante eine quadratische Gleichung mit
zwei Lösungen:
𝐻11 ± 𝐻12
𝐸=
(vorausgesetzt dass 𝐻11 = 𝐻22 )
1 ± 𝑆12
Die drei Integrale in der Lösung für die Energie haben eigene Bezeichnungen. 𝐻𝑖𝑖 wird als
Coulomb-Integral, 𝐻𝑖𝑗 als Resonanzintegral und 𝑆𝑖𝑗 als Überlappungsintegral bezeichnet. Die ersten zwei Integrale sind negativ, wohingegen das Überlappungsintegral positiv ist.
Dieser Ausdruck für die Energie führt zur vertrauten Energieaufspaltung von zwei Orbitalen, wenn
sie miteinander wechselwirken. Wäre das Überlappungsintegral null, dann wäre die Energie symmetrisch um die Energie des Coulomb-Integrals aufgespalten. Ist die Überlappung der Orbitale
nicht null, dann erhöht sich die Energie des antibindenden Orbitals stärker als das bindende abgesenkt wird.
Um die Orbitalkoeffizienten zu bestimmen, kann der gefundene Ausdruck für die Energie in den
Ausdruck für die Ableitung der Energie nach den Koeffizienten eingesetzt und nach den Koeffizienten gelöst werden. Man erhält aus einer quadratischen Gleichung:
1
𝑐1 = 𝑐2 =
(bindend)
√2
1
1
𝑐1 =
, 𝑐2 = −
(antibindend)
√2
√2
Eine wichtige Eigenschaft von Orbitalkoeffizienten ist, dass sie normiert sind. D. h. für 𝜓 = 𝑐1 𝜙1 +
𝑐2 𝜙2 + ⋯ ist die ∑𝑐𝑖2 = 1. Zugleich gibt das Quadrat eines Koeffizienten die Wahrscheinlichkeit
an, dass ein Elektron das LCAO MO an diesem Atom besetzt.
Um die Entstehung von chemischen Bindungen zu analysieren, ist es immer nützlich die Situation
grafisch in Energieniveaudiagrammen darzustellen:
70
Skript AC-OC I
Die Atomorbitale 𝜙1 AO und 𝜙2 AO wechselwirken miteinander und erzeugen die zwei Molekülorbitale 𝜓1MO und 𝜓2MO, beide mit einer Energie die anders als die Energien der Ausgangsorbitale ist.
Mit einem Energieniveaudiagramm kann man dann sehen, ob eine Bindung gebildet wird. Wenn z.
B. zwei H-Atome wechselwirken, können beide Elektronen in das tiefliegende Orbital 𝜓1MO gehen
und das System wird deshalb stabiler. In der Tat existiert das Molekül H2 (Bindungsstärke 104
kcal/mol). Im Fall von zwei He-Atomen, muss man vier Elektronen verteilen. Da in einem Orbital
nur maximal zwei Elektronen sein können, werden beide Molekülorbitale vollständig besetzt und
keine Systemstabilisierung findet statt. Da sich keine Bindung bilden kann, existiert He2 nicht.
Wenn die Energie eines Molekülorbitales niedriger als diejenige der Atomorbitale ist, wird es als
bindend bezeichnet. Wenn seine Energie höher ist, ist es antibindend und wenn praktisch keine
Energieänderung stattfindet, ist das Molekülorbital nichtbindend.
Die Wellenfunktionen der Molekülorbitale können gemäss dem LCAO-Modell (linear combination
of atomic orbitals) berechnet werden. Die Grundidee ist, dass die Molekülorbitale praktisch nur eine lineare Kombination von Atomorbitalen sind. In den folgenden Abbildungen sind die Formen
einiger Molekülorbitale ausgehend von s und p Atomorbitalen gezeigt:
Skript AC-OC I
71
In allen Fällen werden durch lineare Kombinationen von zwei Atomorbitalen zwei Molekülorbitale
gebildet: eines aus deren Summe und das zweite aus deren Differenz. Stabilisierende Wechselwirkungen werden beobachtet, wenn die überlappenden Orbitalteile dasselbe Vorzeichen haben. Die
Elektronen können ihre Zeit zwischen beiden Kernen verbringen und das Molekül wird stabilisiert.
Wenn die Vorzeichen unterschiedlich sind, wird die Wellenfunktion zwischen den Kernen gelöscht;
die Kern-Kern-Abstossung wird schlechter abgeschirmt und das System wird destabilisiert. Die
Ebene, wo die Wahrscheinlichkeitsdichte Null ist, wird als Knotenebene bezeichnet.
Die Molekülorbitale werden auf Grund ihrer Symmetrie benannt. Wenn ein Orbital symmetrisch
bezüglich der Geraden, die zwei Kerne verbindet, ist, wird es -Orbital genannt. Wenn es nicht
symmetrisch ist, heisst es -Orbital. Antibindende Orbitale werden durch einen Stern (*) kennengezeichnet.
Bindungen, die durch - bzw. -Molekülorbitale charakterisiert sind, werden - bzw. -Bindungen
genannt. Da die -Orbitale nicht symmetrisch bezüglich Drehungen sind, kann die Überlappung nur
stattfinden, wenn die Atomorbitale parallel sind. Die Energie, die benötigt wird, um diese Überlappung aufzubrechen ist so hoch, dass bei Raumtemperatur keine Drehung beobachtet wird. Bei Bindungen dagegen ist kaum Energie notwendig und sie sind frei drehbar (vgl. Kapitel 6.).
-Orbitale sind weniger stabilisiert (bzw. destabilisiert) als -Orbitale, weil im ersten Fall die Überlappung zwischen den Atomorbitalen kleiner ist. In der Tat beträgt die Dissoziationsenergie einer
C-C--Bindung 90 kcal/mol, während für eine C-C--Bindung nur 70 kcal/mol genügen. Die Stabilität der Bindungen wird, neben ihrem Typ, auch durch die Energien der Atomorbitale bestimmt: je
ähnlicher sie sind, desto grösser werden Wechselwirkung und Stabilisierung (bzw. Destabilisierung).
4.3. Geometrie eines Moleküls und Hybridisierung
Das Energieniveaudiagramm eines H2-Moleküls wird wie folgt dargestellt:
Die 1s-Orbitale der zwei H-Atome erzeugen zwei Molekülorbitale. Beide Elektronen können im
bindenden Orbital bleiben und eine stabile Bindung wird gebildet.
Zweiatomige Moleküle sind zwingend linear, während für dreiatomige Verbindungen auch eine
gewinkelte Geometrie berücksichtigt werden muss. Mit der Anwendung der Molekülorbitale kann
man in der Tat begründen, warum Wasser diese zweite Möglichkeit bevorzugt.
72
Skript AC-OC I
Nur die sechs Atomorbitale der Valenzschalen (vier aus dem O-Atom und eines aus jedem H-Atom)
werden in der Bildung von Wasser involviert, d. h. man erwartet sechs Molekülorbitale. Im Fall des
theoretischen linearen Wassers können zwei p-Orbitale des O-Atoms weder bindende noch antibindende Wechselwirkungen mit den H-Atomen bilden, weil sich aus geometrischen Gründen alle
Wechselwirkungen gegenseitig aufheben. Sie werden dann zwei nichtbindende Molekülorbitale erzeugen. Beim linearen Wasser bekommt man daher vier bindende und vier nichtbindende Elektronen. Wenn das Molekül gewinkelt ist, findet eine Änderung der Überlappungen statt, was die Energie der Molekülorbitale ändert. Ein signifikanter Fall ist dasjenige des pz-O-Orbitals, das jetzt ein
bindendes Molekülorbital erzeugen kann. Das gewinkelte Wasser besitzt sechs bindende und nur
zwei nichtbindende Elektronen und ist deshalb stabiler.
Die Schwierigkeiten der Anwendung des Molekülorbitalmodells nehmen leider mit der Anzahl
Atome rasch zu, weil die Zahl der möglichen Atomorbitalkombinationen immer grösser wird.
Wechselwirkungen zwischen mehr als zwei Orbitalen sind schwierig qualitativ zu schätzen. Deshalb wurde das Konzept von Hybridisierung vorgestellt, in der die Wechselwirkungen zwischen
den Atomen stufenweise aufgebaut werden. Die Idee der Hybridisierung ist, dass die Atomorbitale
vor der Bildung der Molekülorbitale zusammenwechselwirken und neue Atomorbitale erzeugen.
Diese Mischung wird einfach als eine lineare Addition der Atomorbitale abgeschätzt, was oft missverstanden wird. Die Hybridisierung bleibt trotzdem sehr hilfreich zur Beschreibung organischchemischer Moleküle.
Skript AC-OC I
73
Die Geometrie von Wasser lässt sich sehr gut auch mit diesem zweiten Modell erklären. Zuerst mischen sich das 2s-O- und das 2py-O-Orbital und erzeugen zwei Hybridorbitale, die man spHybridatomorbitale nennt:
Die O-H-Bindungen werden dann durch die Überlappung der sp-O- und 1s-H-Orbitale gebildet. Die
freien, nichtbindenden Elektronen liegen in den px- und pz-Orbitalen. Dieser Hybridisierungsgrad
würde einer linearen Geometrie entsprechen, was für das lineare Wasser perfekt ist.
Ein gewinkeltes Set von Hybridorbitalen für das gewinkelte Wasser kann durch Mischen der 2s-O-,
2py-O- und 2pz-O-Orbitale erzeugt werden. Die drei Hybridorbitale werden als sp2Hybridatomorbitale bezeichnet:
Die O-H-Bindungen werden immer durch Wechselwirkungen zwischen den 1s-H- und den zwei
sp2-O-Orbitalen gebildet, aber sie sind in diesem Fall gewinkelt. Die verbleibenden vier Elektronen
sind im dritten sp2- und im px-O-Orbital. Diese sp2-Hybridisierung würde aber ein 120° Winkel
zwischen den Bindungen voraussagen, während er nur 105° beträgt.
Wenn alle O-Valenzorbitale gemischt werden, erhält man vier sp3-Orbitale, die wie in einem Tetraeder orientiert sind:
Tetraeder haben einen Innenwinkel von 109.47°, was besser mit dem gemessenen Wert des Wassers
übereinstimmt. Zwei sp3-Orbitale bilden die O-H-Bindungen, während die anderen zwei die nichtbindenden Elektronen aufnehmen. Die Bevorzugung der sp3-Hybridisierung des O-Atoms in Wasser wird durch die Energieänderung des Systems bestimmt:
2p
2p
2p
3
sp
2
sp
sp
2s
Skript AC-OC I
74
Je grösser die Anzahl von gemischten p-Orbitalen grösser ist, desto höher liegen die Hybridorbitale
energetisch. Das Energieminimum für acht Elektronen in einem Molekül wird im Fall von sp3Hybridisierung gefunden. Hybridisierung findet nicht in freien Atomen statt, weil die künstliche
Mischung atomarer Orbitale nur ein Teilschritt während der Bildung einer Bindung ist.
Gemäss dem Hybridatomorbitalmodell werden daher die -Bindungen durch Überlappung von
Hybridatomorbitalen gebildet, während -Bindungen durch laterale Überlappung der nichthybridisierten p-Orbitale entstehen.
Die Einflüsse der verschiedenen Hybridisierungarten können sehr gut durch Vergleich von Ethan,
Ethen und Ethin beobachtet werden (vgl. auch Kapitel 4.2.1.):
Länge
/Å
Ethan C–C 1.54
Ethen
1.33
C=C
Ethin CC 1.20
C-C Bindungen
Energie
Winkel / °
/ kcal/mol
90
109.5
173
146.6 (HCH)
121 (CCH)
231
180
C-H Bindungen
Länge / Å
Energie
/ kcal/mol
1.10
100
1.08
111
1.06
131
Im Ethan bindet ein Kohlenstoffatom vier andere Atome und muss daher sp3 hybridisiert sein. Im
Ethen werden die zwei sp2-hybridisierten C-Atome durch eine - und eine -Bindung aneinandergebunden, während die anderen zwei Orbitale die C-H-Bindungen erzeugen. Die trigonale Geometrie von sp2-Zentren erklärt die gemessenen Winkel, die nahe an den theoretischen 120° sind. Im
Ethin sind die C-Atome sp-hybridisiert und über drei Bindungen gebunden (eine  und zwei ); die
sp-Hybridisierung erklärt die Linearität des Moleküls.
Da Ethan keine -Bindung besitzt, ist eine praktisch freie Rotation um die C-C-Achse erlaubt. Bei
Ethen gibt es dagegen eine Energiebarriere von 63 kcal/mol.
Hybridatomorbitale mit steigendem s-Charakter sind stabiler. Diese Eigenschaft hat Einfluss auf die
Stabilität der C-H-Bindungen: je höher der s-Charakter ist, desto kürzer und stabiler werden die Bindungen.
Neben diesen allgemeineren Voraussagen kann das Hybridatomorbitalmodell die Eigenschaften
spezifischer Systeme erklären, wie z. B. die Inversion von N-Atomen.
4.4. Konjugierte Systeme
In der klassichen Stukturlehre der Moleküle lassen sich viele Eigenschaften anhand des beschriebenen Konzepts der Chemischen Bindung im Rahmen der Wechselwirkung zweier Orbitale erklären
und abschätzen (siehe Kapitel 4.2.). Es gibt jedoch Beispiele in welchen diese Zwei-Orbital basierte
Herangehensweise gewisse molekulare Charakteristiken nicht ausreichend beschreibt (siehe auch
Kapitel 4.3).
Wenn drei oder mehr aneinander gebundene Atome p-Orbitale besitzen, können -Molekülorbitale
gebildet werden, die alle diese Zentren verbinden. Diese Konjugation führt zu einer Stabilisierung
des Systems.
Die Hückel-Methode
Wenn die Anzahl an Basisfunktionen (Basisorbitalen) zunimmt, kann es sehr schwierig werden die
Sekulärdeterminante zu lösen. Tatsächlich erhöht sich die Anzahl an Matrixelementen quadratisch.
Skript AC-OC I
75
Deswegen wurden von Erich Hückel einige Vereinfachungen vorgeschlagen, die die Sekulärdeterminante lösbar machen. Einige dieser Vereinfachungen sind recht drastisch aber die Wellenfunktionen und Energien, die dadurch erhalten werden, sind qualitativ richtig. In der Festkörperphysik wird
eine Hückel-Berechnung auch als «Tight-Binding» Berechnung bezeichnet.
Die Vereinfachungen lauten:
1. σ - π Trennung ist gut. Damit wird die Hückel-Methode in (fast) planaren ungesättigten
Verbindungen auf π-Systeme beschränkt. Das aus σ-Bindungen bestehende «Molekülskelett» interagiert nicht mit den π-Bindungen, falls diese eine andere Symmetrie bezüglich einer Spiegelebene im Molekül haben.
2. Alle Coulomb-Integrale 𝐻𝑖𝑖 haben denselben Wert und sind gleich der Energie eines 2p Orbitals von Kohlenstoff.
3. Alle Resonanzintegrale 𝐻𝑖𝑗 zwischen benachbarten Zentren haben denselben Wert und entsprechen der Hälfte der π-Energie in Ethen.
4. Alle Resonanzintegrale 𝐻𝑖𝑗 zwischen nicht-benachbarten Zentren werden gleich Null gesetzt.
5. Alle Überlappungsintegrale 𝑆𝑖𝑗 werden gleich Null gesetzt.
Die Sekulärdeterminante kann unter Berücksichtigung dieser Vereinfachungen und durch Benutzung einer neuen Notation umgeschrieben werden.
𝛼−𝐸
𝑥≡
mit 𝐻𝑖𝑖 = 𝛼, 𝐻𝑖𝑗 = 𝛽
𝛽
Somit kann die Sekulärdeterminante unseres Systems aus zwei Orbitalen geschrieben werden als:
𝑥 1
|
|=0
1 𝑥
Damit erhält man ein einfaches Rezept, um die Sekulärdeterminante innerhalb der HückelApproximation zu schreiben:
1. Setze die Determinante einer quadratischen Matrix, deren Ordnung gleich der Anzahl πZentren im Molekül ist, gleich Null.
2. Setze alle Diagonalelemente gleich x.
3. Setze alle Matrixelemente zwischen benachbarten Zentren gleich 1.
4. Setze alle anderen Matrixelemente gleich Null.
Die Lösungen des polynomischen Ausdrucks entsprechen den Energieeigenwerten des π-Systems;
Durch Einsetzen dieser Lösungen in den Ausdruck für die Ableitung der Energie nach den Koeffizienten erhält man die p-Orbitalkoeffizienten.
Das einfachste solcher Systeme ist das Allylradikal C3H5, das aus drei konjugierten C-Atomen gebildet ist. Dies ist das einfachste System, das nichtbindende Orbitale besitzt.
Skript AC-OC I
76
Die Reihenfolge der Matrixelemente entspricht der Nummerierung der Kohlenstoffatome in der
Struktur. Um die Sekulärdeterminante in der Hückel-Approximation zu schreiben, brauchen wir nur
auf die Konnektivität der Kohlenstoffatome zu schauen.
𝑥 = 0, ±√2
𝑥 1 0
|1 𝑥 1 | = 0
0 1 𝑥
𝑥 3 − 2𝑥 = 0
𝑥(𝑥 2 − 2) = 0
𝑬 = 𝛼 − 𝑥𝛽 = 𝜶, 𝜶 ± √𝟐𝜷
Die Lösungen für die Energie können wieder in den Ausdruck für die Ableitung der Energie nach
den Koeffizienten eingesetzt werden, um die Orbitalkoeffizienten zu erhalten. Dies führt schlussendlich zum folgenden MO-Diagramm:
0.707
- 0.5
- 0.5
0.707
- 0.707
 - 1.414

(nonbonding)
0.707
0.5
0.5
 + 1.414
allyl radical
Die Orbitale werden gemäss Konvention so gezeichnet, dass man von oben auf das planare πSystem schaut und deshalb nur immer die Phase des oberen Halbteils des p-Orbitals sieht.
Um die relativen Energien der Orbitale zu beschreiben, werden sie zur Energie eines isolierten 2pOrbitales in Beziehung gebracht. Diese Energie wird mit  bezeichnet. Die Aufspaltung zwischen 
und dem Orbital wird durch die Energieeinheit  ausgedrückt. Da  < 0 ist, hat ein Orbital bei  + 
eine tiefere Energie als . Die Energie der Orbitale hängt von der Zahl der Knotenebenen ab: je
mehr Knotenebenen es gibt, desto energiereicher ist das Orbital.
Skript AC-OC I
77
E
 − 
 − 

2p
 + 
 + 
Allylkationen, Allylradikale und Allylanionen sind alle relativ stabile Moleküle, weil alle Elektronen bindende und nichtbindende Molekülorbitale besetzen. Die Bindungslänge des Allylkations ist
1.4 Å und die Rotationsbarriere beträgt 15.7 kcal/mol für das Allylradikal (H.-G. Korth, H. Trill, R.
Sustmann, J. Am. Chem. Soc. 1981, 103, 4483). Diese Werte bestätigen, dass die Atome weder
durch Einfach- noch durch Doppelbindungen gebunden sind.
Analog können die Molekülorbitale grösserer konjugierter Systeme gebildet werden. Die folgende
Abbildung zeigt die Orbitale von Butadien:
Auch in diesem Fall entsprechen die Bindungslängen nicht den normalen Werten für Einfach- und
Doppelbindungen. Die Energieaufspaltung zwischen dem LUMO (lowest unoccupied molecular
orbital) und dem HOMO (highest occupied molecular orbital) hängt von der Anzahl konjugierter
Doppelbindungen ab. Je grösser das konjugierte System ist, desto kleiner wird die Aufspaltung. Die
Energiedifferenz zwischen den Orbitalen kann aus der Wellenlänge des Lichts berechnet werden,
die benötigt wird, um ein Elektron aus dem HOMO in das LUMO anzuregen. Das Absorptionsmaximum von Ethen liegt bei ~165 nm (173 kcal/mol) und bei ~215 nm (133 kcal/mol) für Butadien.
Sehr lange konjugierte Systeme besitzen Absorptionsmaxima im sichtbaren Bereich. Z. B. hat Carotin, ein wichtiges Pigment für das Sehen, ein Absorptionsmaximum im blauen Bereich, bei 452
nm (63 kcal/mol).
Skript AC-OC I
78
Es gibt sehr nützliche Regelmässigkeiten in den Hückel-Wellenfunktionen. Zum Beispiel für lineare
Polyene:
1. Die Eigenfunktion des tiefsten Energieeigenwertes hat keine Knotenebenen.
2. Hückelorbitale sind so verteilt, dass ihr «Schwerpunkt» auf α liegt.
3. Die Eigenfunktionen geradzahliger Polyene haben eine zunehmende Anzahl Knotenebenen
je höher der Energieeigenwert ist. Zudem haben geradzahlige Polyene keine nichtbindenden
Orbitale.
4. Ungeradzahlige Polyene weisen ein nichtbindendes Orbital auf.
5. Die Energieeigenwerte linearer, unverzweigter Polyene haben folgende Gesetzmässigkeit:
𝜋
𝐸𝐽 = 𝛼 + 2𝛽cos (
𝐽)
𝐽 = 1,2, … , 𝑁
𝑁+1
wobei 𝐸𝐽 die Hückel-Energie des J-ten Molekülorbitals in einem Polyen mit N π-Zentren ist.
Konjugierte Systeme können auch eine cyclische Struktur besitzen. Das bekannteste Beispiel ist
Benzol, dessen -Molekülorbitale in der folgenden Abbildung dargestellt sind:
Einige cyclische konjugierte Systeme besitzen eine aussergewöhnliche Stabilität relativ zu ihren
offenkettigen Analoga und werden als aromatisch bezeichnet. Z. B. ist die Gesamtenergie von
Skript AC-OC I
79
Benzol gegenüber derjenigen von drei Ethenmolekülen um 2 stabiler, während die Energie von
Benzol ist um 1 niedriger als diejenige von Hexatrien. Ein aromatisches Molekül muss planar und
cyclisch sein und 2, 6, 10, 14, ... (4n + 2) -Elektronen besitzen (Hückel Regel). Wenn eine dieser
Bedingungen nicht erfüllt wird, ist das Molekül nichtaromatisch. Wenn das System planar und
cyclisch ist aber 4n -Elektron besitzt, ist es antiaromatisch.
Aromatische Moleküle sind z. B. Naphthalin (10 -e-), Anthracen (14 -e-) oder [18]-Annulen (18
-e-). Cyclooctatetraen ist dagegen nicht aromatisch, weil es 4n -Elektronen besitzt aber auch nicht
planar ist. Cyclobutadien ist ein antiaromatisches Molekül, dessen Gesamtenergie 4 + 2 beträgt.
Zwei freie Ethenmoleküle besitzen eine Energie von nur 4 + 4. Die darausfolgende relative Unstabilität von Cyclobutadien hat mit seiner Antiaromatizität zu tun.
In cyclischen π-Systemen mit Hückel-Überlappung sind die Hückel-Energien durch die PolygonRegel gegeben. Dazu wird das Polygon in einen Kreis mit Radius 2𝛽 einbeschrieben und zwar so,
dass eine Ecke auf dem untersten Teil des Kreises liegt. Jede Ecke entspricht dann einem HückelEnergielevel (siehe Frost-Musulin-Kreis).
2
benzene
cyclopentadienyl
Hier kann man sehen, woher die 4n+2 Aromatizitätsregel kommt. Für eine cyclische Anordnung
von Orbitalen kann mit 4n+2 Elektronen eine Konfiguration von lauter doppelt besetzten bindenden
Orbitalen erreicht werden.
80
KAPITEL 5:
ORGANISCHE
THERMOCHEMIE
In diesem Kapitel werden folgende Themen behandelt:
5.1. Dissoziationsenergie, Enthalpie und freie Enthalpie
5.2. Standardbildungsenthalpie
5.3. Homodesmische Reaktionen
5.3.1. Thermodynamischer Effekt der Aromatizität
5.3.2. Berechnung der Ringspannung
5.3.3. Stabilisierung in konjugierten Alkenen
Skript AC-OC I
Skript AC-OC I
81
5.1. Dissoziationsenergie, Enthalpie und freie Enthalpie
Der Energieverlauf zweier Atome in Abhängigkeit ihres Abstandes ist in der folgenden Abbildung
gezeigt:
Das System besitzt ein Minimum, das durch die gegenseitigen Effekte der Kern-Kern-Abstossung
und der anziehenden Kraft zwischen Elektronen und Kernen erzeugt wird. Wenn das System in der
Nähe dieses Energieminimums ist, bildet sich eine chemische Bindung (aus physikalischen Gründen können nicht Bindungen das Gesamtminimum erreichen, vgl. die physikalisch-chemischen
Vorlesungen). Die Dissoziationsenergie (oder Bindungsenergie) ist diejenige Energie, die benötigt
wird, um die Atome auseinander zu reissen (vgl. auch Kapitel 4.2.). Im Fall von H2 ist die Dissoziationsenergie 104 kcal/mol, für CH3–H 104 kcal/mol, für H3C–CH3 88 kcal/mol, für H2C=CH2
172 kcal/mol und für HCCH 230 kcal/mol. Da die thermische Energie bei Raumtemperatur nur
15–20 kcal/mol beträgt, sind alle diese Moleküle stabil.
Jede Reaktion führt normalerweise zu einer Energieänderung E. Wenn Energie freigesetzt wird,
wird die Reaktion als exotherm bezeichnet und der Energiewert wird negativ definiert. Dagegen
wird bei einer endothermen Reaktion Energie aus der Umgebung genommen, was zu einem positiven E führt.
Die Energieänderung E wird bei konstantem Volumen meistens mittels spektroskopischer Methoden ermittelt. Da aber für gewöhnlich Reaktionen bei konstantem Druck ablaufen, muss man eine
neue Grösse einführen, die Enthalpie H genannt wird. Sie gibt die Energieänderung bei konstantem Druck an und wird normalerweise mittels thermochemischer Messungen bestimmt.
Da bei konstantem Druck das System Volumenarbeit leisten kann, gilt die folgende Gleichung:
E – H = Arbeit
Skript AC-OC I
82
Zum Beispiel wird ein Teil der Energie, die in einem Ottomotor durch Verbrennung von Benzin
freigesetzt wird, in benutzbare Arbeit umgewandelt, während der Rest als Wärme in die Umwelt
zerstreut wird.
Die freie Enthalpie G, dass heisst die in Arbeit überführbare Energie, ist eine weitere wichtige
Grösse der Thermochemie. Sie beinhaltet sowohl einen enthalpischen Term (H) als auch einen
Entropieterm (S) (T ist die absolute Temperatur):
G = H – T·S
Die Entropieänderung kann als eine Änderung der Bewegungsfreiheitsgrade (z. B. Rotation, Vibration, Translation) des Systems betrechtet werden. Z. B. nimmt die Entropie ab, wenn die Bewegung
eines Moleküls durch die Umsetzung eingeschränkt wird oder wenn aus zwei Molekülen eines entsteht. Sie nimmt dagegen zu, wenn aus einer Ausgangsverbindung zwei oder mehrere Produkte gebildet werden.
Ein negativer Wert für G bedeutet, dass Energie freigesetzt wird und dass die Reaktion spontan
abläuft, obwohl keine Aussage über deren Geschwindigkeit gemacht werden kann (vgl. Kapitel 7.).
Wenn die thermochemischen Werte beim Normalzustand (298 K, 1 atm) gemessen werden, sind sie
durch ein ° ergänzt (z. B. G°). Eine tiefere Beschreibung dieser Grösse wird im Rahmen der physikalisch chemischen Vorlesung ausgeführt.
5.2. Standardbildungsenthalpie
Die Standardbildungsenthalpie ist die Energieänderung bei konstantem Druck und Normalzustand, die bei der Bildung einer Verbindung aus den Elementen resultiert. Sie ist eine der am häufigsten verwendeten Grössen der organischen Chemie und wird als Hf° bezeichnet. Definitionsgemäss ist für die stabilste Modifikation eines Elements Hf° = 0.
Beispiele:
•
Butan:
4 C (Graphit) + 5 H2 (g) → n-C4H10 (g)
H° = Hf° = –30.36 kcal/mol
•
2-Methylpropan:
4 C (Graphit) + 5 H2 (g) → (H3C)3CH (g)
H° = Hf° = –32.41 kcal/mol
Butan und 2-Methylpropan sind daher stabiler als vier C-Atome und 5 H2-Moleküle im Normalzustand. Die Bildungsenthalpie von 2-Methylpropan ist um 2.05 kcal/mol niedriger als diejenige des
Butans. Im folgenden hypothetischen Gleichgewicht wird daher 2-Methylpropan dominieren (vgl.
also Kapitel 7.2.):
n-C4H10 (g)
(H3C)3CH (g)
H° = –2.05 kcal/mol
Skript AC-OC I
83
Folgende Grafik erleichtert das Verständnis:
H
~
Hf° =
–32.41
kcal/mol
~
Normalzustand
(Graphit + H2)
Hf° =
–30.36
kcal/mol
Butan
H° = –2.05
kcal/mol
2-Methylpropan
Gemessene Hf° für eine Vielzahl von Verbindungen können in fast jedem allgemeinem Chemiebuch gefunden werden.
Mit Hilfe der Bildungsenthalpien können die Reaktionsenthalpien H° abgeschätzt werden:
C2H4 + H2 → C2H6
H° = Hf° (Produkte) – Hf° (Edukte) =
= Hf° (C2H6) – [Hf° (C2H4) + Hf° (H2)] = (–20) – (13 + 0) = –33 kcal/mol
Analog kann die freie Reaktionsenthalpie G° definiert werden.
5.3. Homodesmische Reaktionen
Es wird oft beobachtet, dass einige Moleküle stabiler bzw. unstabiler als Verbindungen ähnlicher
Struktur sind. Z. B. ist Benzol sehr viel stabiler als Hexatrien. Dies wird durch seine Aromatizität
erklärt, da es sechs -Elektronen in einem Hückel-System besitzt (vgl. Kapitel 4.4.). Cyclopropan
ist dagegen unstabiler als die anderen gesättigten monocyclischen Kohlenwasserstoffe aufgrund der
Baeyer-Spannung (vgl. Kapitel 6.2.1.).
Zweck dieses Kapitels ist eine Methode einzufügen, um diese chemische Erfahrung physikalisch zu
quantifizieren.
Die eingangs erwähnten Beispiele zeigen im Folgenden, dass die Standardbildungsenthalpie für eine solche Diskussion ungeeignet ist:
6C (Graphit) + 3H2 (g) → C6H6 (g) H = 19.8 kcal/mol
Skript AC-OC I
84
3C (Graphit) + 3H2 (g) → C3H6 (g) H = 12.7 kcal/mol
Aufgrund dieser Werte würde man folgern, dass Benzol und Cyclopropan unstabiler (energiereicher) als Graphit und Wasserstoff wären, während Cyclopropan eine höhere Stabilität als Benzol
hätte.
Dieses Beispiel zeigt, dass ein besserer Referenzzustand gewählt werden muss, der das chemische
Verhalten besser widerspiegelt (vgl. Strained Organic Molecules, c. 1).
Die Benützung von standardisierten Referenzzuständen ist nicht geeignet, weil sie keine brauchbare
Definition von Stabilität geben. Man kann dagegen die Standardbildungsenthalpien von Cyclopropan und Propan vergleichen, um abzuschätzen, welches Molekül stabiler ist. Analog kann man auch
mit Benzol verfahren und die Stabilität mit seinen Isomeren Prisman, Dewar-Benzol oder
Benzvalen vergleichen. Diese Methode erlaubt aber nur eine grobe Abschätzung, da die Referenzverbindungen oft eine ganz andere Struktur besitzen. Propan und Cyclopropan haben zudem unterschiedliche Summenformeln!
Man spricht oft von "-Energie", "Resonanzstabilisierung", "Spannung", "sterischen Effekten",
usw. Alle diese Begriffe setzen voraus, dass die Bildungsenthalpie durch die Summe vieler verschiedener Beiträge bestimmt ist. Wenn man z. B. wissen möchte, wie gespannt Cyclopropan ist,
liegt es auf der Hand, dieses Molekül mit ungespanntem Cyclopropan zu vergleichen. Analog dient
hypothetisches nicht aromatisches 1,3,5-Cyclohexatrien als Referenzzustand für Benzol. Leider
existieren diese Referenzmoleküle nicht und ihre Bildungsenthalpien können daher nur abgeschätzt
werden.
Eine Methode, um diese Abschätzung durchzuführen, stützt sich auf die Bindungsenthalpien bekannter Verbindungen.
Die C–H Dissoziationsenergie kann z. B. durch die Reaktion
CH4 → CH3 + H
H = 104 kcal/mol
beschrieben werden. Analog werden die C–C und C=C Bindungsenergien durch folgende Reaktionen bestimmt:
C2H6 → 2 CH3
C2H4 → 2 CH2
H = 88 kcal/mol
H = 173 kcal/mol
Ausgehend von den Atomisierungsenthalpien Hf(C) = 171 kcal/mol und Hf(H) = 52 kcal/mol,
wird für 1,3,5-Cyclohexatrien eine Bildungsenthalpie von
Hf° = 6·Hf°(C) + 6·Hf°(H) – 6·H(C–H) – 3·H(C–C) – 3·H(C=C) =
= 6·171 + 6·52 – 6·104 – 3·88 – 3·173 = –69 kcal/mol
erhalten. Analog ist die Bildungsenthalpie des ungespannten Cyclopropans –63 kcal/mol.
Diese Werte sind aber sehr unterschiedlich bezüglich der experimentellen Bildungsenthalpien und
es ist sehr schwierig, dass es tatsächlich eine solche Energiedifferenz durch Konjugation oder Ring-
Skript AC-OC I
85
spannung entsteht. Weiter ergibt sich, dass Benzol um 89 kcal/mol unstabiler als 1,3,5Cyclohexatrien ist, obwohl man weiss, dass die Konjugation einen stabilisierenden Einfluss hat.
Die Quelle solcher Ungenauigkeit liegt in den verwendeten Annahmen. Das Modell nimmt an, dass
Methan, Ethan und Ethen weder stabilisiert noch destabilisiert sind, weil sie als Referenzmoleküle
gewählt wurden. Weiter wurde vorausgesetzt, dass jede Bindung unabhängig von den übrigen betrachtet werden kann. Diese Voraussetzungen werden oft nicht erfüllt, wie das folgende Beispiel
zeigt.
Wenn die Bildungsenthalpie von Methan selbst mittels dieser Methode berechnet, findet man, dass
sie
Hf°(C) + 4·Hf°(H) – 4·H(C–H) = 171 + 4·52 – 4·104 = – 37 kcal/mol
betragen sollte. Die gemessene Hf beträgt – 18 kcal/mol, woraus eine Destabilisierung um
19 kcal/mol folgt! Diese Beispiele verdeutlichen, dass das Modell nicht konsistent ist und offensichtlich ein besserer Referenzzustand benötigt wird.
Isodesmische Rektionen sind Reaktionen, bei denen die Art der Bindungen nicht verändert wird,
wohl aber die Struktur der Moleküle (W. J. Hehre, R. Ditchfield, L. Radom, J. A. Pople, J. Am.
Chem. Soc. 1970, 92, 4796).
Einige Beispiele isodesmischer Reaktionen:
(CH2)3 + 3 CH4 → 3 C2H6
C6H6 + 6 CH4 → 3 C2H6 + 3 C2H4
Da die Art der Bindungen erhalten bleibt, kann man annehmen, dass die Reaktionsenthalpie H = 0
ist. Man kann jetzt mit Hilfe von bekannten Bildungsenthalpien diejenige einer gewünschten hypothetischen Verbindung berechnen. Für das ungespannte Cyclopropan ist Hfber = 3·Hf°(C2H6) –
3·Hf°(CH4)  3·(– 20) – 3·(– 18) = – 6 kcal/mol, was eine Destabilisierung von 19 kcal/mol für
das gespannte Cyclopropan entspricht. Im Fall von 1,3,5-Cyclohexatrien ist Hfber = 3·Hf°(C2H4)
+ 3·Hf°(C2H6) – 6·Hf°(CH4)  3·(–20) + 3·(13) – 6·(–18) = 87 kcal/mol. Die Stabilisierung von
Benzol beträgt daher 67 kcal/mol.
Bei homodesmischen Reaktionen wird, neben der Art der Bindungen, auch die Hybridisierung der
Atome beibehalten (P. George, M. Trachtman, C. W. Bock, A. M. Brett, Tetrahedron 1976, 32,
317; Theo. Chim. Acta 1975, 38, 121). Sie sind deshalb die bessere Methode, thermochemische Beiträge zu quantifizieren.
Die obigen Beispiele müssen wie folgt modifiziert werden:
(CH2)3 + 3 C2H6 → 3 CH3CH2CH3
Hfber(CH2)3 = 3·Hf°(C3H8) – 3·Hf°(C2H6)  3·(–25) – 3·(–20) = –15 kcal/mol
Skript AC-OC I
86
C6H6 + 3 C2H4 → 3 CH2=CH–CH=CH2
Hfber(C6H6) = 3·Hf°(C4H6) – 3·Hf°(C2H4)  3·(26) – 3·(13) = 39 kcal/mol
Mit Hilfe von Ethan, Propan, Ethen und Butadien können daher die Spannung von Cyclopropan
(Hf°(CH2)3 – Hfber(CH2)3 = 13 – (–15) = 28 kcal/mol) und die Stabilisierung von Benzol
(Hfber(CH2)3 – Hf°(CH2)3 = 39 – 20 = 19 kcal/mol) abgeschätzt werden.
Die Anwendung von homodesmischen Reaktionen ist auch hilfreich, um komplexe Fragen zu beantworten. Im Folgenden werden einige Beispiele über Aromatizität, Ringspannung und Konjugation besprochen.
5.3.1. Thermodynamischer Effekt der Aromatizität
Die homodesmischen Reaktionen wurden eingeführt, um die Stabilität cyclischer Moleküle zu
quantifizieren. Sie sind aber auch nützlich, um die Anwesenheit von neuen thermochemischen Eigenschaften zu beweisen. In diesem Beispiel wird die Homoaromatizität besprochen, ein Thema,
das während einiger Jahre hitzig diskutiert wurde (vgl. folgende Literaturzitate).
Quinacene sind starre, schalförmige Moleküle:
In Triquinacen sind die drei Doppelbindungen in einer bestimmten Anordnung festgelegt. Die C=C
Bindungslänge und der Abstand zwischen nichtgebundenen benachbarten C-Atomen betragen 1.33
bzw. 2.55 Å. Obwohl die Doppelbindungen ziemlich weit auseinander liegen, wurde eine Überlappung zwischen den -Orbitalen vorgeschlagen. Dieses spezielle System mit sechs -Elektronen
könnte daher dem Molekül einen aromatischen Charakter verleihen (Homoaromatizität). Spektroskopische Untersuchungen ergaben keine eindeutigen Beweise. Da aber die Aromatizität eine thermochemische Eigenschaft ist, kann man dafür eine homodesmische Reaktion betrachten (J. F.
Liebman, L. A. Paquette, J. R. Peterson, D. W. Rogers, J. Am. Chem. Soc. 1986, 108, 8267).
Die Bildungsenthalpien (siehe oben) wurden mit Hilfe der Verbrennungswärme bestimmt, ausser
für Triquinacen, bei dem die Hydrierwärme benützt wurde. Man kann daher die folgende homodesmische Reaktion schreiben:
+ 2
(53.5 ± 1.0)
2·(–24.5 ± 0.9)
4.5 ± 1.6 kcal/mol
3
3·(3.0 ± 1.0)
9.0 ± 1.4 kcal/mol
Skript AC-OC I
87
Wenn es keine Homoaromatizität gäbe, sollte die Reaktionsenthalpie Null betragen. Da aber die
Reaktion um 4.5 kcal/mol endotherm ist, sollte man annehmen, dass Triquinacen bezüglich den Referenzmolekülen stabilisiert ist.
Eine mögliche Kritik dieser Methode ist, dass nicht alle möglichen Effekte (z. B. 1,3-diaxiale
Wechselwirkung zwischen H-Atomen) berücksichtigt werden. Wenn man aber eine ähnliche homodesmische Reaktion für Dihydrotriquinacen schreibt, findet man, dass die Reaktionsenthalpie Null
ist. Dies schliesst den Beitrag durch diaxiale Wechselwirkungen aus.
2
+
(30.5 ± 1.0)
(–24.5 ± 0.9)
6.0 ± 1.4 kcal/mol
2·(3.0 ± 1.0)
6.0 ± 1.4 kcal/mol
Eine geeignete Summe der zwei Gleichungen kann weiter die sp3-sp3, sp3-sp2 und die sp2-sp2 1,3diaxialen Wechselwirkungen beiseitigen. Dies sprengt jedoch den Rahmen dieser Vorlesung.
Der Vollständigkeit halber muss man berichten, dass 1998 die Bildungsenthalpie von Triquinacen
mittels Verbrennung bestimmt wurde, was einen zuverlässigen Wert lieferte (S. P. Verevkin, H.-D.
Beckhaus, C. Rüchardt, R. Haag, S. I. Kozhushkov, T. Zywietz, A. de Meijere, H. Jiao, P. von
Ragué Schleyer, J. Am. Chem. Soc. 1998, 120, 11130). Mit einer Bildungsenthalpie von 57.01 ±
0.70 kcal/mol findet man, dass die Reaktionsenthalpie praktisch Null ist. Das heisst, dass der Einfluss der Homoaromatizität sehr klein wäre, wenn er überhaupt vorhanden wäre.
5.3.2. Berechnung der Ringspannung
In Ringen weichen die Winkel oft beträchtlich von den Idealwinkeln der entsprechenden Hydridorbitale ab. Das augenfälligste Beispiel ist Cyclopropan, dessen sp3-Atome einen Winkel von 60° statt
die normalen 109.5° besitzen müssen. Diese Destabilisierung wird Baeyer-Spannung genannt (vgl.
Kapitel 6.2.).
Im Folgenden werden die Ringspannungen der ersten sechs monocyclischen ungesättigten Kohlenwasserstoffe mit Hilfe von homodesmischen Reaktionen berechnet (Hf° (Ethan) = –20 kcal/mol;
Hf° (Propan) = –25 kcal/mol; alle Werte sind in kcal/mol angegeben):
Skript AC-OC I
88
Cyclus
Hf
Homodesmische
Reaktion
exp.
H2C
H2
C
Hf ber.
Spannung
–15
28
–20
27
Cyclopropan
12.7
Cyclobutan
6.8
Cyclopentan
–18.7
+ 5
5
–25
6
Cyclohexan
–29.5
+ 6
6
–30
~0
Cycloheptan
–28.3
+ 7
7
–35
7
Cyclooctan
–29.7
+
8
–40
10
H2C
3
+ 3
CH2
+
4
4
8
Nach dem stark gespannten Cyclopropan und Cyclobutan, sinkt die Spannung in Cyclohexan auf
Null. Mit steigender Zahl der Ringglieder nimmt die Spannung wieder zu.
5.3.3. Stabilisierung in konjugierten Alkenen
Im Kapitel 4.4. wurde gezeigt, wie mehrere direkt gebundene Atome mit parallel angeordneten pOrbitalen durch Konjugation stabilisiert werden können. Mit Hilfe von homodesmischen Reaktionen kann diese Stabilisierung quantifiziert werden.
Als erster Fall sei Penta-1,4-dien (Hf° = 25 kcal/mol) betrachtet. Das sp3-hybridisierte C-Atom in
Position 3 sollte die Konjugation unterbrechen:
+2
(25)
2·(–20)
–15 kcal/mol
2
+
2·(5)
(–25)
–15 kcal/mol
Tatsächlich zeigt die vorgeschlagene homodesmische Reaktion keinen Unterschied zwischen Reaktanden und Produkten.
Im Fall von Penta-1,3-dien ist dagegen eine Wechselwirkung zwischen den zwei Doppelbindungen
möglich:
+
(18)
–2 kcal/mol
+
(–20)
(5)
(–3)
+2 kcal/mol
Penta-1,3-dien ist daher bezüglich zwei separierter Doppelbindungen um 4 kcal/mol stabilisiert.
Homodesmische Reaktionen hängen stark von den gewählten Referenzmolekülen ab. Eine mögliche alternative Reaktion für Penta-1,3-dien ist:
Skript AC-OC I
89
+
(18)
23 kcal/mol
+
(5)
(26)
(–3)
23 kcal/mol
Die Reaktion zeigt keine Enthalpieänderung. Dies bedeutet, dass Penta-1,3-dien gegenüber Butadien nicht stabiler ist. Dies macht Sinn, da Butadien selbst schon durch Konjugation stabilisiert wird.
KAPITEL 6:
KONFORMATIONSANALYSE
In diesem Kapitel werden folgende Themen behandelt:
6.1. Konformationen offenkettiger Verbindungen
6.1.1. Ethan
6.1.2. Butan
6.2. Konformationsanalyse ringförmiger Moleküle
6.2.1. Cyclopropan
6.2.2. Cyclobutan
6.2.3. Cyclopentan
6.2.4. Cyclohexan
6.2.5. Monosubstituierte Cyclohexane
6.2.6. Disubstituierte Cyclohexane
6.2.7. Weitere Cyclohexanderivate
6.3. Zusammenfassung wichtiger Konzepte der Konformationsanalyse
Skript AC-OC I
91
6.1. Konformationen offenkettiger Verbindungen
Wie im Kapitel 4.2. erklärt wurde, sind die cis- und trans-Isomere eines Olefins bei Raumtemperatur konformationsstabil, d. h. es findet keine Rotation um die C=C-Bindung statt. Die zwei Diastereoisomere stehen nur oberhalb 400°C im dynamischen Gleichgewicht. Bei gesättigten offenkettigen Verbindungen ist hingegen das Verhalten anders. Da die Rotationsbarriere um Einfachbindungen relativ klein ist, findet bei Raumtemperatur praktisch freie Rotation statt:
H
Cl
Cl
Cl
H
H
Cl
H
H
H
Cl
H
H
H
H
Cl
Cl
H
Cl
H
Die Energie, die für die Rotation gebraucht wird, ist so klein, dass unter normalen Bedingungen
keine Isomerie beobachtet werden kann. Bei Raumtemperatur sind im Allgemeinen zwei Isomere
trennbar, wenn die Energiebarriere wenigstens 25 kcal/mol beträgt. Die Analyse der möglichen
Isomere solcher einfachen Systeme ist aber hilfreich, um das chemische Verhalten komplexerer
Moleküle zu verstehen.
6.1.1. Ethan
Um die Rotation um Einfachbindungen zu analysieren, ist es vorteilhaft, einige Konventionen einzuführen. Es gibt mehrere Methoden, um die dreidimensionale Struktur eines Moleküls darzustellen. Neben der üblichen Keilstrich-Schreibweise und der Fischer-Projektion, gibt es die NewmanProjektionen, die für Konformationsanalysen sehr hilfreich sind. Dazu betrachtet man das Molekül
entlang der Achse, um die die Rotation erfolgt:

H
H
H
H
H
H
H
KeilstrichSchreibweise
H
H

H
H
H
NewmanProjektion
Bei der Newman-Projektion wird ein Diederwinkel  definiert, der den Winkel der beiden Ebenen,
welche durch die C-C-H-Bindungen verlaufen, angibt. Wenn  = 0° ist, sind die Substituenten verdeckt (oder ekliptisch, engl. eclipsed), wenn  am grössten ist, sind sie gestaffelt (engl. staggered):
Skript AC-OC I
92
H
H
H
H
H
H
H
H
H
HH
H
gestaffelt
verdeckt
ekliptisch
Obwohl die H-Atome sehr klein sind, sind sie genügend gross, um die gegenseitige Abstossung ihrer Elektronen zu spüren. Je näher sie sind, desto unstabiler ist das System. In einem Diagramm
lässt sich die Energie des Systems in Abhängigkeit des Winkels  darzustellen:
Die möglichen relativen Anordnungen werden als Konformationen bezeichnet. Die Energieminima eines solchen Diagramms heissen Konformere, die Maxima Übergangszustände.
Die Spannung, die durch die sterische Abstossung verdeckter H-Atome erzeugt wird, heisst PitzerSpannung und beträgt 1 kcal/mol. Die Energiedifferenz zwischen der gestaffelten und der verdeckten Anordnung beträgt daher für Ethan nur 3 x 1 = 3 kcal/mol. Bei Raumtemperatur ist genügend
Energie vorhanden, um die Konformere ineinander überzuführen. Während einer Sekunde geht
Ethan ca. 3·1011-mal von einem Minimum in ein anderes über.
6.1.2. Butan
Während es bei Ethan nur ein Konformer gibt, ist bei Butan die Situation komplizierter. Die Anwesenheit von Methylgruppen führt zu drei möglichen Konformeren, wenn man das Molekül entlang
der C(2)-C(3)-Bindung betrachtet:
H
H
H3C
CH3
H3C
H
CH3
H
H
HH
H
 = 0°
verdeckt
synperiplanar
C2v
 = 60°
gestaffelt
gauche, synclinal
C2
H
CH3
H
H3C
HH
 = 120°
verdeckt
C2
Skript AC-OC I
93
H
H
CH3
H3C
H
H
CH3
H
H
H
H
H
CH3
H
CH3
HCH3
 = 180°
gestaffelt
antiperiplanar
C2h
H
 = 240°
verdeckt
 = 300°
gestaffelt
gauche, synclinal
C2
C2
Wenn  = 0° ist, sind sich die zwei Methylgruppen am nächsten. Da sie grösser als H-Atome sind,
ist auch die entsprechende destabilisierende Wechselwirkung intensiver (2.5 kcal/mol). Eine solche
Anordnung wird als synperiplanar (oder syn) bezeichnet. Eine 60°-Drehung führt zu einer gestaffelten Konformation. Die zwei Methylgruppen sind aber noch relativ nahe, was zu einer gauche(oder synclinalen-) Anordnung mit einer Spannung von 0.9 kcal/mol führt. Wenn  = 120° ist die
Konformation wiederum verdeckt, jedoch gibt es jetzt zwei H3C/H- (1.4 kcal/mol) und eine H/Hdestabilisierende Wechselwirkung. Mit  = 180° sind die Methylgruppen am entfernsten und es gibt
keine Destabilisierung. Diese antiperiplanare (oder anti) Anordnung entspricht dem Gesamtminimum des Systems.
Ausgehend von diesen Molekularspannungen können die relativen Energien von Konformeren und
Übergangzuständen des Butans berechnet werden. Die Differenz zwischen anti- und gaucheAnordnung beträgt 0.9 kcal/mol, was eine Gleichgewichtverhältnis von 4.6:1 entspricht (vgl. Kapitel 7.2.).
Ausser der anti- und syn-Anordnung sind alle anderen Konformere chiral (C2-Symmetrie). Da aber
die Umwandlung zwischen den möglichen Konformeren sehr rasch ist, erscheint Butan achiral.
Im Allgemein gilt, dass das stabilste Konformer einer Alkankette dasjenige ist, in dem alle C-CBindungen antiperiplanar sind. Drehungen um irgendeine Achse führen zu energetisch höheren
Konformationen:
H
H
H
H H
H H
H H
H
CH3
H3C
H3C
H
H
Butan
CH3
H
H H
H H
Nonan
H
Skript AC-OC I
94
6.2. Konformationsanalyse ringförmiger Moleküle
Obwohl die Konformationsanalyse offenkettiger Verbindungen oft keine praktische Konsequenz
mit sich bringt, erlaubt ihre Anwendung auf ringförmige Systeme in einigen Fällen ein besseres
Verständnis für ihre Reaktivität.
Neben den üblichen destabilisierenden Wechselwirkungen zwischen Substituenten, gibt es einen
weiteren Effekt, der für die Analyse zyklischer Verbindungen berücksichtigt werden muss: die
Ringspannung. Sie ist die Energie, die benötigt wird, um die normale Geometrie eines sp3hybridisierten Atoms (109.5°) zu ändern, so dass die Bildung des Zyklus möglich wird. Z. B. ist die
Ringspannung für Cyclopropan sehr gross, da der Innenwinkel im Dreiring 60° beträgt. Diese
Spannung kann mit Hilfe von homodesmischen Reaktionen abgeschätzt werden (vgl. das Beispiel
"Ringspannung" im Kapitel 5.).
Im Folgenden wird die Konformationsanalyse der wichtigsten und häufigsten cyclischen Kohlenwasserstoffe durchgeführt.
6.2.1. Cyclopropan
Cyclopropan ist der kleinste zyklische Kohlenwasserstoff, bestehend aus nur 3 C-Atomen. Aus geometrischen Gründen müssen die C-C-C-Winkel 60° statt der normalen 109.47° für sp3hybridisierte Atome betragen. Diese ungünstige Anordnung führt zu einer Destabilisierung, die
Baeyer-Spannung genannt wird. Diese Wechselwirkung, zusammen mit sechs Pitzer-Spannungen
(alle H-Atome sind ekliptisch angeordnet), führen zu einer relativ grossen Ringspannung von
28 kcal/mol.
H
H
H
H
H
H
H
H
60°
H
H
H
H
Um die C-C-C-Bindungswinkeln im Cyclopropan mit dem Hybridatomorbitalmodell zu erklären,
muss man annehmen, dass die C-C--Bindungen gebogen sind, so dass der Winkel zwischen den
Orbitalen grösser werden:
H
H
H
H
H
H
Skript AC-OC I
95
6.2.2. Cyclobutan
Aus geometrischen Gründen muss Cyclobutan einen Innenwinkel von 90° besitzen. Diese Tatsache
und acht Pitzer-Spannungen würden zu einer sehr hohen Ringspannung führen. Um den Betrag der
Pitzer-Spannungen des planaren Cyclobutans zu reduzieren, besitzt dieses Molekül ein nichtplanares Konformer. Wenn Cyclobutan eine planare Konformation annehmen würde, wäre es noch
energiereicher (ca. 1.3 kcal/mol). Die beiden gefalteten (engl. puckered) Konformere stehen miteinander in raschem Gleichgewicht über den planaren Übergangzustand (‡):
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
Bei den gefalteten Konformeren sind die H-Atome nicht mehr ekliptisch angeordnet, was das Molekül stabilisiert. Die Konformere sind um 25° bezüglich der planaren Konformation gewinkelt.
Um die dreidimensionale Anordnung eines Moleküls zu zeichnen, ist es oft nützlich die folgende
Konvention anzuwenden:
H
H
+
H
H
H
–
–
H
H
+
H
Die Atome, die unter einer fiktiver Ringebene liegen, werden durch ein – gekennzeichnet; diejenigen, die darüber liegen, tragen ein +.
6.2.3. Cyclopentan
Planares Cyclopentan würde einen Innenwinkel von 108° besitzen. Ein Wert, der sehr nah an die
109.47° eines Tetraeders kommt. Die geringe Baeyer-Spannung würde aber von 10 ungünstigen HC-C-H Pitzer-Spannungen (10 x 1 kcal/mol) begleitet sein. Experimentell findet man, dass in der
Tat die Ringspannung nur ca. 6 kcal/mol beträgt und das Molekül nicht planar ist:
H
H
H
H
H
108°
H
H
H
H
H
H
H H
H
H
H
H
H
H H
Diese bevorzugte Anordnung heisst envelope-Konformation (Briefumschlag).
Eine Pseudorotation (d. h. eine Bewegung einiger Atome, die als eine Rotation des ganzen Moleküls erscheint) führt die verschiedenen envelope-Konformere ineinander über. Diese Pseudorotation
benötigt sehr wenig Energie und verläuft daher sehr schnell.
Skript AC-OC I
96
+
+
–
–
–
–
+
+
+
+
–
+
...
–
+
+
...
6.2.4. Cyclohexan
Eine planare Konformation im Cyclohexan würde zu einem Innenwinkel von 120° führen, was
wiederum eine beträchtlicher Baeyer-Spannung erzeugen würde. Experimentell weist aber dieses
Molekül einen Winkel von 109.5° und keine Ringspannung auf. Das Molekül bevorzugt eine sesselförmige Konformation, in der alle Bindungen gestaffelt vorliegen:
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H H
H
H
Die H-Atome lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Atome, die senkrecht zur Ringebene stehen,
werden als axiale (engl. axial) Wasserstoffe bezeichnet, die anderen sechs heissen äquatoriale
(engl. equatorial) Wasserstoffe.
Einer der wichtigsten Eigenschaften der Sesselkonformation ist, dass sie umklappen kann. Dieser
Vorgang wird als Ringinversion bezeichnet und seine Energiebarriere beträgt 10.8 kcal/mol. Durch
Inversion werden die axialen Wasserstoffe in die äquatorialen Positionen übergeführt und umgekehrt.
a
a
H
H
e
a
H
H
He
He
eH
eH
H
Ha H
e
a
H
Ha
a
H
Ha
a
e
eH
H
eH
He
aH
He
He
Ha
aH
a = axial; e = äquatorial
Sesselkonformationen kommen sehr oft in verschiedenen Bereichen der Chemie vor, wie z. B. in
der Zuckerchemie. Neben Grundzustandskonformationen besitzen häufig auch Übergangzustände
eine Sesselkonformation. Es ist daher sehr wichtig, diesen Sessel akkurat und gleichbleibend zu
zeichnen. Die sechs Verknüpfungen des Ringes bilden drei Paare von gegenüberliegenden, parallelen Bindungen. Weiter sind die Bindungen zu den äquatorialen Substituenten parallel zu den Ringbindungen.
Skript AC-OC I
97
Für einige Problemstellungen ist es auch nützlich, die doppelte Newmann-Projektion anzuwenden:
H
H
H
H
H
H
–
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
+
+
H
–
–
H
H
HH
H
H
+
H
Die Ringinversion kann experimentell mit Hilfe der magnetischen Kernresonanz (NMR) nachgewiesen werden. Mit dieser analytischen Methode lassen sich 1H-Kerne in Abhängigkeit ihrer chemischen Umgebung unterscheiden. Axiale und äquatoriale Wasserstoffkerne haben eine unterschiedliche Umgebung. Im Fall von [D11]-Cyclohexan, wo nur ein 1H-Kern vorhanden ist, würde
man zwei Signale erwarten. Da aber die Ringinversion bei Raumtemperatur schneller als die Zeitauflösung von NMR ist, ist nur ein Signal zu beobachten, da das Proton sich zeitlich gemittelt sowohl in der axialen als auch in der äquatorialen Position befindet. Man könnte sagen, dass nur ein
gemitteltes Molekül vorliegt. Wenn man aber die Temperatur erniedrigt, wird die Ringinversion
langsamer und bei –90°C wird das Proton sowohl in der axialen als auch in der äquatorialen Lage
gemessen, was zu zwei verschiedenen Signalen führt:
Signal von [D11]-Cyclohexan bei Raumtemperatur
Nur ein gemitteltes Signal ist messbar.
Signale von [D11]-Cyclohexan bei –90°C.
Die zwei Positionen im Sessel werden unterschieden.
D
D
D
D
D
D
D
D
D
D
D
H
D
D
D
D
D
D
D
DD
D
D
H
Die Ringinversion erfolgt nicht über einen planaren Übergangzustand, sondern sie verläuft über eine Serie von Konformeren:
Skript AC-OC I
98
Die sesselförmige Konformation (Punktgruppe D3d) geht über einen Halbsessel-Übergangzustand
(Cs-Symmetrie) in ein twist-Konformer (Punktgruppe D2) über. Die Energiedifferenz von 5.5
kcal/mol entspricht im Gleichgewicht einem Sessel/Twist Verhältnis von 8000:1.
Die Wanne (oder Boot, C2v) ist wesentlich unstabiler (7.1 kcal/mol). Diese hohe Spannung wird
durch zwei Arten destabilisierender Wechselwirkungen erzeugt:
H
H
H
H
H
H
H
HH
H
HH
4 Pitzer-Spannungen
flagpole H/H-Wechselwirkungen
6.2.5. Monosubstituierte Cyclohexane
Obwohl die zwei Sesselkonformere im Cyclohexan nicht unterscheidbar sind, ist die Situation für
Cyclohexanderivate drastisch anders (vgl. auch [D11]-Cyclohexan).
Im Gleichgewicht liegen die zwei Sesselkonformere von Methylcyclohexan im Verhältnis 95:5, zugunsten des Konformers mit äquatorialer Methylgruppe, vor.
H
H
H
H
H
H
H
H
H
95%
5%
H
H
Skript AC-OC I
99
Wenn die Methylgruppe in der äquatorialen Position liegt, sind keine starken sterischen Wechselwirkungen mit den Ringprotonen vorhanden. Durch Ringinversion kommt die äquatoriale Methylgruppe axial zu liegen, was zu zwei ungünstigen gauche-Wechselwirkungen führt. Solche destabilisierenden Abstossungen in Cyclohexanderivaten werden 1,3-diaxiale Wechselwirkungen genannt.
Die Spannung beträgt 1.7 kcal/mol, was das beobachtete Gleichgewicht erklärt. Ein ähnlicher Fall
wurde schon für die gauche-Konformere von Butan beobachtet, wo eine Destabilisierung um
0.9 kcal/mol gemessen wird. Die Ähnlichkeit zwischen 1,3-diaxialen Wechselwirkungen und gauche-Abstossungen kann in der folgenden Abbildung beobachtet werden:
H
H
H
H
H
H
H
H
CH3
H
H
CH3
H
H
H
H
H
H
H
2 x 1,3-diaxiale WW
1.7 kcal/mol
H
H
H
1 x gauche-WW
0.9 kcal/mol
Dieses Verhalten wird für alle Substituenten beobachtet. Sie liegen in Allgemein bevorzugt in der
äquatorialen Position. Die Energiedifferenz zwischen dem stabilen äquatorialen Konformer und
dem Axialen wird A-Parameter genannt. In der folgenden Tabelle sind die Werte einiger wichtigen
Substituenten eingetragen:
Substituent
F
Cl
Br
I
OH
OMe
OEt
OAc
OTs
OBn
SH
SPh
NH2
NH3+
NMe2
NHMe2+
NMe3+
A / kcal mol-1
0.2
0.4
0.5
0.4
0.3
0.7
0.9
0.7
0.7
1.0
0.9
0.9
1.2
1.9
2.1
2.4
4.1
Substituent
Me
Et
i
Pr
n-Pr
n-Bu
t
Bu
Neopentyl
Cyclohexyl
Ph
COOH
COO–
COOMe
COOEt
C≡ N
C≡ CH
HgBr
A / kcal mol-1
1.7
1.8
2.1
2.1
2.1
5.5
2.0
2.2
3.1
1.2
2.3
1.1
1.1
0.2
0.2
0
6.2.6. Disubstituierte Cyclohexane
Es existieren verschiede Isomere von Dimethylcyclohexan, die ganz verschiedene Standardbildungsenthalpien besitzen. Im Folgenden werden diese Energieunterschiede dank der Konformationsanalyse erklärt.
Skript AC-OC I
100
1,1-Dimethylcyclohexan
Im 1,1-Dimethylcyclohexan (achiral) besitzen beide Sesselkonformere eine axiale und eine äquatoriale Methylgruppe, was zu keiner Energiedifferenz zwischen den Konformeren führt:
CH3
CH3
CH3
CH3
1,2-Dimethylcyclohexan
Es existieren zwei Isomere dieses Moleküls: cis und trans.
Das chirale trans-Isomer kann zwei verschiedene Konformationen mit unterschiedlicher Energie
einnehmen:
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3
Das diäquatoriale Konformer hat nur eine ungünstige Me/Me-gauche-Wechselwirkung
(0.9 kcal/mol), während im diaxialen Fall vier 1,3-diaxiale Abstossungen vorhanden sind, die insgesamt 3.4 kcal/mol betragen. Eine Energiedifferenz von 2.5 kcal/mol entspricht einem Verhältnis
von ca. 99:1.
Für das achirale cis-Isomer ist dagegen keine Energiedifferenz zwischen den beiden Sesselkonformeren zu erwarten, weil in beiden Fällen nur eine 1,3-diaxiale und eine gauche-Wechselwirkung
anwesend sind:
CH3
CH3
H3C
R
R
CH3
S
CH3
CH3
S

S
CH3
R
CH3
CH3
CH3
Die zwei Konformere sind chiral. Da sie aber in einem raschen Gleichgewicht miteinander stehen,
scheint diese Verbindung von einem makroskopischen Gesichtspunkt achiral zu sein.
Der Unterschied in den Standardbildungsenthalpien der zwei Isomere (das trans-Isomer ist um 1.8
kcal/mol stabiler als das cis-) wird deswegen durch die Anwesenheit von zwei zusätzlichen gaucheWechselwirkungen bei dem cis-Isomer erklärt:
Skript AC-OC I
101
1,3-Dimethylcyclohexan
Das cis-Isomer ist achiral und seine Sesselkonformere weisen eine grosse Energiedifferenz auf. Der
diaxiale Sessel besitzt eine Me/Me- (3.7 kcal/mol) und zwei Me/H- (1.7 kcal/mol) 1,3-diaxiale
Wechselwirkungen, was zu einem Verhältnis von 10’000:1 führt (ΔG = 5.4 kcal/mol).
CH3
CH3
CH3
H3C
H
H3C
CH3
Die zwei Konformere des chiralen trans-Isomers haben dieselbe Energie, da beide nur zwei 1,3diaxiale Wechselwirkungen besitzen. Die Ringinversion führt in diesem Fall zu einem identischen
Sesselkonformer und lässt die Konfiguration unverändert:
CH3
CH3
R
R
CH3
R
CH3
R
CH3
CH3
Die unterschiedlichen Standardbildungsenthalpien (das trans Isomer ist um 2.0 kcal/mol weniger
stabil als das cis) können dank der zwei 1,3-diaxialen Wechselwirkungen bei dem trans-Isomer erklärt werden:
1,4-Dimethylcyclohexan
Die Konformere des cis-Isomers sind, analog denen des 1,1-Dimethylcyclohexans ununterscheidbar.
Skript AC-OC I
102
CH3
CH3
CH3
H3C
CH3
H3C
Im trans-1,4-Dimethylcyclohexan führt die Anwesenheit von vier 1,3-diaxialen Wechselwirkungen
zu einer grösseren Stabilität des diäquatorialen Konformers (E = 3.4 kcal/mol):
CH3
CH3
H3C
H3C
CH3
CH3
Auch in diesem Fall wird das cis Isomer durch die ständigen 1,3-diaxialen Wechselwirkungen um
theoretisch 1.7 kcal/mol (experimentell: 1.9 kcal/mol) bezüglich des trans-Isomers destabilisiert:
Durch homodesmotische Gleichungen können Standardbildungsenthalpien für 1,1Dimethylcyclohexan ((Hf°(homodesm.) = –44.4 kcal/mol) und die 1,2-, 1,3- und 1,4Dimethylcyclohexane (Hf°(homodesm.) = –43.8 kcal/mol) vorausgesagt werden. Diese Werte
können dann durch die Destabilisierung durch gauche-Wechselwirkungen korrigiert werden (→
Hf°(berechnet)). Dabei ist hervorzuheben, dass die 1,3-diaxiale Wechselwirkung nichts Anderes
als zwei gauche-Wechselwirkungen ist. Da Cyclohexan keine Ringspannung besitzt, muss für diese
nicht korrigiert werden. Dieses Vorgehen liefert Werte, die erstaunlich gut mit den experimentell
bestimmten Standardbildungsenthalpien Hf°(exp.) übereinstimmen. Folgende Tabelle fasst dieses
Vorgehen für das jeweils stabilste Konformer zusammen:
Anzahl Destabilisierung Hf°(berechnet)
Hf°(exp.) a)
gauche- / kcal mol-1 **
/ kcal mol-1
/ kcal mol-1
WW *
1,1-Dimethylcyclohexan
2+0
1.7
–42.7
–43.3
cis-1,2-Dimethylcyclohexan
2+1
2.6
–41.2
–41.2
trans-1,2-Dimethylcyclohexan
0+1
0.9
–42.9
–43.0
cis-1,3-Dimethylcyclohexan
0+0
0
–43.8
–44.2
trans-1,3-Dimethylcyclohexan
2+0
1.7
–42.1
–42.2
cis-1,4-Dimethylcyclohexan
2+0
1.7
–42.1
–42.2
trans-1,4-Dimethylcyclohexan
0+0
0
–43.8
–44.1
a)
E. Prosen, W. Johnson, F. Rossini. Journal of Research, Research Paper RP1821, Vol. 39, 1947,
173-175
Verbindung
Skript AC-OC I
103
*) Anzahl der gauche-Wechselwirkungen (1,3-diaxialen Wechselwirkungen) + Anzahl Me/Me
gauche-Wechselwirkungen im stabilsten Konformer.
**) Theoretische Destabilisierung des Moleküls durch die Anwesenheit von gaucheWechselwirkungen (1,3-diaxiale Wechselwirkung (entspricht 2 x gauche-Wechselwirkung) =
1.7 kcal/mol; Me/Me gauche-Wechselwirkung = 0.9 kcal/mol).
6.2.7. Weitere Cyclohexanderivate
Wenn die Energiedifferenz zwischen zwei Sesselkonformeren gross ist, kann der Ring bei Raumtemperatur praktisch nicht mehr invertieren. Dies ist z. B. der Fall bei tert-Butylcyclohexan. Die
sehr starken 1,3-diaxialen Wechselwirkungen schieben das Gleichgewicht zu 99.99% auf die Seite
der äquatorialen Konformation (E = 5.5 kcal/mol).
In trans-Decalin (IUPAC: Decahydronaphthalin) würde die Ringinversion eines Ringes zu grossen
Spannungen im anderen Teil des Bicyclus führen. trans-Decalin ist daher konformationsstabil, was
sich leicht mit Hilfe von Molekülmodellen überprüfen lässt:
H
H
cis-Decalin kann hingegen rasch invertieren, da es keine Energiedifferenz zwischen den beiden
Konformeren gibt:
H
H
H
H
Die starre Struktur polycyclischer Verbindungen ist wichtig für natürlich vorkommende Moleküle
wie z. B. Steroide, deren dreidimensionale Anordnung die biologische Aktivität mitbestimmt. Das
Cholestangerüst besitzt 7 Stereozentren, was theoretisch 64 diastereoisomeren Paaren entspricht.
Jedoch existiert in der Natur nur dasjenige Diastereoisomer, bei dem die ungünstigen Wechselwirkungen minimiert werden:
Skript AC-OC I
104
CH3
CH3
H
C8H17
H
H
H
6.3. Zusammenfassung wichtiger Konzepte der Konformationsanalyse
In diesem Abschnitt werden die Effekte zusammengefasst, die in den letzten zwei Kapiteln betrachtet wurden. Weitere Effekte, die die Konformation eines Moleküls beeinflussen, werden im Rahmen
dieser Vorlesung nicht besprochen.
Ekliptische Abstossung
Die ekliptische Abstossung oder Pitzer-Spannung entstehet, wenn der Diederwinkel zwischen zwei
Substituenten in 1,2-Position Null beträgt:
H
H
HH
H3C
CH3
1 kcal/mol
bezüglich trans
1 kcal/mol
Gauche-Anordnung
In der gauche-Anordnung beträgt der Diederwinkel 60°. Dies führt zu einer leichten Destabilisierung des Systems, da sich die beiden Substituenten noch nah befinden.
H3C
H
CH3
H
H
H
Baeyer-Spannung
Diese Spannung wird in cyclischen Systemen beobachtet, in denen die sp3-hybridisierten Atome
ihre Geometrie ändern müssen, um den Ring zu schliessen.
1,3-Diaxiale Wechselwirkungen
Diese Wechselwirkungen sind ein Spezialfall von gauche-Abstossungen und eignen
sich zur Beschreibung von Verbindungen mit einem cyclohexanartigen Grundgerüst. Im Allgemein sind diese Wechselwirkungen stark destabilisierend, was die
Bevorzugung der äquatorialen Position der Substituenten am Cyclohexanring erklärt.
R
R2
R1
KAPITEL 7:
CHEMISCHE
REAKTIONSLEHRE
In diesem Kapitel werden folgende Themen behandelt:
7.1. Einführung
7.2. Thermodynamik und Reaktionsgleichgewicht
7.3. Reaktionskinetik
7.3.1. Reaktionsgeschwindigkeit
7.3.2. Aktivierungsenergie und Arrhenius-Gleichung
Skript AC-OC I
106
7.1. Einführung
Im Kapitel 5.1. wurde erklärt, dass eine Reaktion prinzipiell spontan abläuft, wenn G = H – T·S
< 0. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verbrennung von Glukose:
C6H12O6 + 6 O2 → 6 CO2 + 6 H2O
Die Reaktionsenthalpie H° beträgt –608 kcal/mol und die Entropieänderung S ist stark positiv,
da aus sieben Teilchen zwölf Teilchen entstehen. Die freie Reaktionsenthalpie G hat mit
–676 kcal/mol daher einen sehr hohen Wert. Trotz der günstigen Energieänderung entzünden sich
Glukose und deren Polymerisationsprodukte (darunter Zucker, Mehl, Baumwolle, Cellulose, Holz,
Papier, ...) glücklicherweise nicht spontan. Dies wird durch die Tatsache erklärt, dass die Reaktion
extrem langsam abläuft.
Der Verlauf chemischer Reaktionen wird in der Tat durch zwei völlig verschiedene Konzepte charakterisiert. Die Thermodynamik beschreibt die Energieänderung einer chemischen Reaktion, die
Kinetik hingegen beschäftigt sich mit der Reaktionsgeschwindigkeit. Die Thermodynamik macht
also nur eine Aussage über den Anfangs- und Endzustand einer Reaktion und die Kinetik beschreibt
den Weg, der dabei eingeschlagen wird. Diese beiden Konzepte dürfen absolut nicht verwechselt
werden!
7.2. Thermodynamik und Reaktionsgleichgewicht
In den vorherigen Kapiteln wurde manchmal der Begriff "Gleichgewicht" benützt, ohne dass er eindeutig definiert war. Dies ist das Ziel dieses Abschnittes.
Normalerweise sind Reaktionen in der organischen Chemie reversibel, das heisst, dass neben der
Umwandlung von Edukten in Produkte auch die Rückreaktion (Produkte zu Edukten) stattfinden
kann. Als Beispiel hierfür betrachte man die Reaktion zwischen Chlormethan und Hydroxidanionen:
HO– + CH3Cl
G° = –22 kcal/mol
CH3OH + Cl–
Die Reaktion endet nicht, wann alle die Chlormethan-Moleküle in Methanol umgewandelt sind,
sondern sie dauert fort, bis das Energieminimum erreicht wird. Die Verringerung der Energie des
Gesamtsystems ist die Triebkraft der Reaktion. Im Minimum sind noch alle vier Komponenten der
Reaktion vorhanden. Dieser Zustand wird thermodynamisches Gleichgewicht genannt. Die Lage
dieses Gleichgewichtes wird durch die Gleichgewichtskonstante K beschrieben, die das Verhältnis
von Produkten zu Edukten definiert:
c
K=
c
i
i
Produkte
i
Reaktanden
=
P1   P2   ...
E1   E 2   ...
1
1
2
2
i
wobei i die stöchiometrischen Koeffizienten der verschiedenen Verbindungen sind.
Im Fall der obigen Reaktion ist K = 1016, was die praktisch vollständige Umsetzung der Edukte entspricht. Das Vorhandensein eines Gleichgewichts wird durch doppelte Reaktionspfeile (
) angegeben.
Skript AC-OC I
107
Wenn die Gleichgewichtskonstante sehr gross ist, sagt man "die Reaktion läuft vollständig ab", oder
"das Gleichgewicht liegt vollständig auf der Seite der Produkte". Das ist dann der Fall, wenn im
Gleichgewicht weniger als 0.1% der Edukte vorhanden sind. Die Reaktion wird dann mit einem einfachen Pfeil (→) geschrieben. Beispiel.
Die Gleichgewichtskonstante kann auch mit Hilfe der freien Reaktionsenthalpie G° berechnet
werden,
G° = –R T ln K
wobei T die absolute Temperatur (in K) und R die universelle Gaskonstante (1.987 cal mol-1 K-1) ist.
Bei exergonischen Reaktionen (G° < 0) ist daher K > 1 und das Gleichgewicht liegt auf der Seite
der Produkte. Dagegen liegen bei endergonischen Reaktionen (G° > 0, K < 1) die Edukte im
Überschuss vor. Für G°  –4.1 kcal/mol läuft die Reaktion vollständig ab. Beispiel.
Mit folgender nützlicher Beziehung können Gleichgewichte einfach abgeschätzt werden:
log K = G° / 1.4
(bei 25 °C)
Somit wird für jede Änderung von G° um 1.4 kcal/mol die Gleichgewichtskonstante um den Faktor 10 verändert:
G°
K
0
1
–1.4
10
–2.8
100
–4.2
1000
–5.6
10000
–7.0
100000
Um die Gleichgewichtskonstante für nichtstandardisierte Zustände zu berechnen, muss die Temperaturabhängigkeit von G berücksichtigt werden (vgl. Kapitel 5.1.):
G = f(T) = H – T · S
Da H und S in erster Näherung temperaturunabhängig sind, darf man die Standardwerte H° und
S° auch bei anderen Temperaturen verwenden.
7.3. Reaktionskinetik
Obwohl die Reaktion zwischen Chlormethan und Hydroxydionen eine hohe Triebkraft (grosses negatives G) besitzt, läuft sie recht langsam ab. Nach zwei Tagen bei Raumtemperatur wird z. B. in
einer 0.05 M Lösung von CH3Cl in 0.1 M wässriger NaOH nur 10% Umsatz gefunden. Analog,
obwohl die Verbrennung von Cellulose energetisch sehr günstig ist, ist die Reaktion extrem langsam.
Diese Beobachtungen werden durch ein fundamentales Prinzip der Chemie erklärt: Die Energieänderung eines Systems während einer Reaktion erlaubt keine Aussagen über deren Geschwindigkeit.
Skript AC-OC I
108
7.3.1. Reaktionsgeschwindigkeit
Die Reaktionsgeschwindigkeit eines chemischen Systems ist proportional zur Konzentration der
Moleküle im System. Die Proportionalitätskonstante wird Geschwindigkeitskonstante k genannt.
Man unterscheidet grundsätzlich zwischen der Zahl an einem Schritt beteiligten Moleküle.
Kinetik erster Ordnung
Die einfachste Reaktion ist die Umwandlung eines Moleküls A in ein oder mehrere Produkte, wie z.
B. bei Konformationsänderungen oder bei dem radioaktiven Zerfall. Solche Reaktionen werden als
Reaktionen erster Ordnung oder unimolekulare Reaktionen bezeichnet. Die Geschwindigkeit
wird durch die folgende Gleichung, das Geschwindigkeitsgesetz, beschrieben ([A] ist die Konzentration von A):
d A 
= −k A 
dt
Nach Integration dieser Differentialgleichung erhält man den Konzentrationsverlauf in Abhängigkeit der Zeit ([A]0 ist die Anfangskonzentration):
ln A = −k  t + Konstante
A = A0 e −kt
In diesem Fall besitzt k die Einheit s-1 und man kann daraus eine Lebensdauer  berechnen,
 = 1/k
die die Zeit der Abnahme von [A] bis 1/e seines Anfangswerts beschreibt.
Reaktionen zweiter Ordnung
Reaktionen der Art
A + B → Produkte
werden Reaktionen zweiter Ordnung oder bimolekulare Reaktionen genannt und ihr Geschwindigkeitsgesetz lautet
d A  d B
=
= − k  A   B
dt
dt
k besitzt nun die Einheit M-1 s-1. Wenn die Konzentration einer Komponente sehr viel grösser als
diejenige der Zweiten ist ([B] » [A]), kann man eine Reaktion zweiter Ordnung als quasi erster
Ordnung betrachten. Da [B] praktisch konstant bleibt, wird eine neue Geschwindigkeitskonstante k'
= k[B] definiert und die Reaktionsgeschwindigkeit hängt dann effektiv nur von der Konzentration
von A ab.
Wenn A = B, wird das Geschwindigkeitsgesetz
Skript AC-OC I
109
d A 
2
= − k  A 
dt
und nach Integration bekommt man
1
1
−
= k t
A  A 0
Komplexere Kinetik
Die meisten Reaktionen folgen nicht den oben beschriebenen, einfachen Geschwindigkeitsgesetzen.
Auch im Fall von zwei aufeinanderfolgenden irreversiblen Reaktionen, wie z. B.
k
1
A ⎯⎯→
B
k
2
B + C ⎯⎯→
D
benötigt man für die Beschreibung des Geschwindigkeitsgesetzes die Lösung des Differentialgleichungssystems
 dD
= k 2 B  C

 dt

 dB = k A  − k B  C
1
2

 dt
Wenn k2 » k1 wird die Konzentration von B nicht gross werden ([B]  0). Diese Tatsache erlaubt die
steady-state-Näherung, die hilfreich für die Lösung des Systems ist:
Wenn [B]  0 dann ist
dB
= k1 A  − k 2 B C  0
dt
Es folgt daraus
B = k1 A 
k 2 C
dD 
= k A 
1
dt
Das Geschwindigkeitsgesetz ist daher gleich demjenigen der hypothetischen Reaktion erster Ordnung
k
1
A ⎯⎯→
D.
Im obigen Beispiel hat die Teilreaktion B + C → D keinen Einfluss auf die Reaktionsgeschwindigkeit. Sie wird durch die langsame Transformation A → B bestimmt. Die Beobachtung, dass verschiedene Reaktionsschritte die Geschwindigkeit einer Reaktion unterschiedlich beeinflussen, führt
Skript AC-OC I
110
zum Konzept des geschwindigkeitsbestimmenden Schritts. Damit ist derjenige Reaktionsschritt
gemeint, der die Geschwindigkeit der ganzen Reaktion bestimmt.
Man betrachtet jetzt ein System, in dem eine Verbindung A in Gleichgewicht mit B ist und B mit C
zu D reagiert:
A
B+C
k1
k-1
k2
B
D
Die Hin- und Rückreaktion besitzen unterschiedliche Reaktionsgeschwindigkeiten, die durch k1
bzw. k-1 bestimmt sind. Die Produktbildungsgeschwindigkeit ist gegeben durch
dD 
= k 2 B  C
dt
Wenn B als steady-state-Intermediat betrachtet wird, gilt:
dB
= k1 A  − k −1 B − k 2 B  C  0
dt
Nach Umformen bekommt man:
B =
k1 A 
k −1 + k 2 C
k k C
dD k1k 2 A  C
A
=
= 1 2
dt
k −1 + k 2 C k −1 + k 2 C
Wenn die Konzentration von C gross ist, wird die Produktbildungsgeschwindigkeit scheinbar erster
Ordnung in [A]. Mit der gemessenen Geschwindigkeitskonstante kgem ist:
dD
= k gem A 
dt
k gem =
1
k gem
=
k1k 2 C
k −1 + k 2 C
k −1 1
1

+
k1k 2 C k1
Eine lineare Regression von 1/kgem gegen 1/[C] erlaubt uns daher k1 (Achsenabschnitt) und das Verhältnis k-1/(k1·k2) (Steigung) zu berechnen.
Wenn aber k-1 » k2 ist, ist die Rückreaktion des Gleichgewichts schneller als die Reaktion zu D, d. h.
A und B liegen in einem sogenannten vorgelagerten Gleichgewicht vor. B ist nicht mehr ein
steady-state-Intermediat, da sich B anreichert und damit [B]  0. Im Gleichgewicht gilt:
Skript AC-OC I
111
k1 A  = k −1 B
dD k1k 2
A C = k gem A
=
dt
k −1
Bei grossem [C] wird die Reaktion in diesem Fall scheinbar erster Ordnung und erscheint kgem linear bezüglich [C].
Durch Änderung von [C] lässt sich somit ermitteln, welcher Reaktionsschritt die Kinetik bestimmt.
7.3.2. Aktivierungsenergie und Arrhenius-Gleichung
Die Aktivierungsenergie Ea ist die minimale Energie, die ein Molekül besitzen muss, um zu reagieren. Diese Barriere wird durch die destabilisierenden Kräfte erzeugt, die durch Annäherung der
Reaktionspartner oder durch Konformationsänderungen eintreten. In der folgenden Abbildung ist
das Reaktionsprofil einer exergonischen Reaktion dargestellt:
Obwohl E < 0 ist, findet keine Reaktion statt. Edukte und Produkte sind durch eine Energiebarriere getrennt. Entlang der Reaktionskoordinate erfolgen die geometrischen und elektronischen Änderungen, die notwendig sind, um A in B zu überführen. Die Zahl der Teilchen, die ausreichend Energie besitzen, um die Energiebarriere zu passieren, ist durch die Temperatur bestimmt (MaxwellBoltzmann-Verteilung):
Skript AC-OC I
112
Je höher die Temperatur ist, umso mehr Teilchen besitzen die benötigte Energie. Die Fläche unter
der Kurve bleibt stets konstant, da sie alle Teilchen im Reaktionsgefäss umfasst. Eine Faustregel
besagt, dass jede Erhöhung der Reaktionstemperatur um 10 K eine zwei bis dreifache Erhöhung der
Reaktionsgeschwindigkeit bewirkt. Bei Raumtemperatur besitzen Moleküle eine durchschnittliche
Energie von 0.6 kcal/mol.
Für das Beispiel
HO– + CH3Cl → CH3OH + Cl–
Ea beträgt 25 kcal/mol, was die niedrige Reaktionsgeschwindigkeit erklärt.
Die Temperaturabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit wird durch die Konstante k beschrieben. k ist mit Hilfe der Arrhenius-Gleichung berechenbar:
− Ea
k = A  e RT
wobei R die universelle Gaskonstante (1.987 cal mol-1 K-1) und T die absolute Temperatur ist.
Die Berechnung des Faktors A ist kompliziert und wird in späteren Vorlesungen ausführlich betrachtet. Der Faktor A ist eine temperaturabhängige Konstante, die weiter die Entropie des Systems
berücksichtigt.
Für eine unimolekulare Reaktion besitzt A die Einheit s-1. Sie darf die Streckschwingungsfrequenz
der zerbrechenden Bindung nicht überschreiten. Dies entspricht für gewöhnlich einer Frequenz von
A  1014 s-1.
Für bimolekulare Reaktionen muss A kleiner als die Diffusionsgeschwindigkeit der Edukte in der
Lösung sein. Für übliche organische Lösungsmittel gilt A  1010 M-1 s-1.
Die Arrhenius-Aktivierungsenergie für typische Reaktionen der organischen Chemie liegt gewöhnlich zwischen 0 und 100 kcal/mol. In einigen Fällen erhält man mit der Arrhenius-Gleichung negative Ea, was jedoch physikalisch nicht sinnvoll ist. Folglich beschreibt diese Gleichung die physikalische Wirklichkeit in diesen Fällen nicht ausreichend.
Skript AC-OC I
113
Mit Hilfe der Arrhenius-Gleichung und anderen Parametern, die nicht näher erklärt werden sollen,
kann die Geschwindigkeitskonstante einer Reaktion erster Ordnung bei verschiedenen Temperaturen und Energiebarrieren berechnet werden:
Ea / kcal mol-1
0
5
10
15
20
25
30
35
k / s-1 (298 K)
6.2·1012
1.9·109
4.7·105
1.2·102
3.7·10-2
9.5·10-6
2.2·10-9
6.0·10-13
t1/2 / s (†)
1.2·10-13
3.6·10-10
1.4·10-6
5.7·10-3
18
7.2·104
2.8·108
1.2·1012
k / s-1 (100 K)
2.1·1012
28
3.9·10-10
5·10-21
(†) Halbwertszeit, das heisst die Zeit, bis die Konzentration der Edukte auf die Hälfte der Anfangskonzentration abgesunken ist (t1/2 = ln
2 / k). Zum Vergleich: 1 Jahr  3·107 s; Alter der Erde  1017 s.
Die Arrheniusparameter Ea und A können mit Hilfe einer linearen Regression von ln k gegen 1/T
ermittelt werden:
ln k = ln A −
Ea 1

R T
Skript AC-OC I
114
LITERATUR
Allgemeine Bücher
-
-
CRC Handbook of Chemistry and Physics, CRC Press, Boca Raton.
L. Eberson, A. Senning, Organische Chemie 1, VCH Verlag, Weinheim, 1983 (Geht nicht
wesentlich weiter als die Vorlesung.)
H.-R. Christen, F. Vögtle, Grundlagen der organischen Chemie, O. Salle Verlag, Frankfurt,
1989. (Deckt den Stoff der ersten beiden Jahre gut ab.)
A. Streitwieser, C. H. Heathcock, E. M. Kosower, Organische Chemie, VCH Verlag, Weinheim, 1994. (Das wohl beste Lehrbuch der organischen Chemie, kann zu grossen Teilen der
Ausbildung in organischer Chemie herangezogen werden.)
D. W. Oxtoby, H. P. Gillis, N. H. Nachtrieb, Principles of Modern Chemistry, Saunders,
Fort Worth, 1999. (Enthalt eine ausführliche Beschreibung der physikalischen Teile dieser
Vorlesung.)
Nomenklatur
-
-
U. Bünzli-Trepp, Handbuch für die systematische Nomenklatur der organischen Chemie,
metallorganischen Chemie und Koordinationschemie, Logos Verlag, Berlin, 2001. (Ganz
aktuelles und vollständiges Buch, das die Nomenklaturregeln von IUPAC und Chemical
Abstracts beschreibt.)
Gesellschaft Deutscher Chemiker, IUPAC Nomenklatur der organischen Chemie, VCH Verlag, Weinheim, 1997.
R. Panico, W. H. Powell, J.-C. Richter, A Guide to IUPAC Nomenclature of Organic Compounds, Blackwell Scientific Publications, Oxford, 1993.
IUPAC, Nomenclature of Organic Chemistry, Sections A, B, C, D, E, F and H, Pergamon
Press, Oxford, 1979.
Klassische Strukturlehre
-
E. L. Eliel, S. H. Wilen, M. P. Doyle, Basic Organic Stereochemistry, Wiley, New York,
2001.
E. L. Eliel, S. H. Wilen, Organische Stereochemie, Wiley-VCH, Weinheim, 1998.
Skript AC-OC I
115
Quantenchemie
-
P. W. Atkins, Physical Chemistry, Oxford University Press, Oxford, 1998. (Sehr gutes Buch
für die physikalisch-chemischen Vorlesungen).
Organische Thermochemie
-
J. F. Liebman, A. Greenberg, Strained Organic Molecules, Academic Press, New York,
1978.
Konformationsanalyse
-
E. Juaristi, Conformational Behaviour Six-Membered Rings, VCH, New York, 1995.
H. Dodziuk, Modern Conformational Analysis, VCH, New York, 1995.
APPENDIX:
BEISPIELE,
BEMERKUNGEN,
VERTIEFUNGEN
Skript AC-OC I
118
1. Einführung
1.1. Vertiefung: Die Perkin-Geschichte
William Henry Perkin (1838–1907), ein englischer Student, wollte 1856 Chinin herstellen, das gegen Malaria aktiv ist.
Im Jahr 1856 war sehr wenig über organische Verbindungen bekannt. Die Strukturtheorie wurde
erst im Jahr 1858, zwei Jahre später, publiziert. Bekannt waren lediglich die Summenformeln, die
durch Verbrennung bestimmbar sind.
Perkin versuchte Chinin ausgehend von Anilin, ein damals neues Derivat aus Kohle, zu synthetisieren. Die Summenformel von Anilin würde in C7H7N bestimmt. Perkin schlug daher die folgende
Synthese vor:
C7H7N +
Anilin
C3H5I
+
H
?
C10H13N
Allyliodid
2 C10H13N
O
?
C20H24N2O2
Chinin
Perkin verwendete für den zweiten Schritt K2Cr2O7. Es war bekannt, dass diese Verbindung den
Gehalt von Sauerstoff in einem Molekül erhöht und denjenigen von Wasserstoff erniedrigt.
Heutzutage weißt man, dass eine solche Synthese sinnlos ist, da sie die Struktur der verschiedenen
Moleküle nicht berücksichtigt. Weiter war das damals verfügbare Anilin nicht rein, was zu einer
falschen Summenformel führte. Es ist daher für uns nicht überraschend, dass Perkin aus diesem
verunreinigten Anilin, Allyliodid und K2Cr2O7 ein ganz unerwartetes Endprodukt bekam:
Skript AC-OC I
119
NH2
NH2
NH2
CH3
Verbindungen
in der Anilinmischung
von Perkin
+
+
Anilin
CH3
K2Cr2O7 / H2SO4
N
H2N
N
N
H
+
H3C
N
H2N
N
CH3
N
H
HSO4
HSO4
Mauvein
Pseudomauvein
Nach Reinigung der Mischung isolierte er einen violetten Farbstoff, den er Mauvein nannte. Perkins
Mauvein war der erste künstliche Anilinfarbstoff, der beim Färben im Gegensatz zu den natürlichen
Farbstoffen leuchtend und dauerhaft gefärbte Stoffe ergab, die sich sehr bald grosser Beliebtheit
erfreuten. Ein Jahr später gründete er eine Fabrik in London. 1862 zog die Königin Viktoria eine
seidene Bekleidung an, die mit diesem synthetischen Farbstoff gefärbt wurde, wodurch die Farbstoffindustrie erfolgreich wurde. Diese Firma ist jetzt ein Teil der AstraZeneca.
Die Forschung auf dem Gebiet der Farbstoffe führte später zu derjenigen der synthetischen Parfums
und Aromen, Spreng- und Kunststoffe, und letztlich zu Arzneimittel und unzähligen anderen Stoffen. Das erste künstliche Antibiotikum (Sulfanilamid) wurde in den dreissiger Jahren in der Farbstoffindustrie entdeckt:
O
H2N
O
O
S
H2N
NH2
Sulfanilamid
OH
p-Aminobenzoesäure
Diese Verbindung ähnelt der Struktur der natürlich vorkommenden p-Aminobenzoesäure. Sie stört
daher der Stoffwechsel der letzteren, was zur Hemmung des Wachstums von unerwünschten Organismen führt.
Man kann sagen, dass die aktuelle chemische Industrie ihrem Ursprung in der Farbstoffchemie hat.
Weiter führte Perkin im Jahr 1904 das Konzept der Synthese als Strukturaufklärungsmethode ein.
Er wollte die Struktur von -Terpinol bestimmen, ein Naturstoff, der aus Kiefernnadelöl extrahiert
und als Desinfektionsmittel verwendet wurde. Er entwickelte dazu eine gezielte Synthese, die zur
vorgeschlagenen Struktur führte. Am Ende erhielt er eine Verbindung, die dieselben Eigenschaften
Skript AC-OC I
120
wie -Terpinol zeigte und konnte damit mit Hilfe der Synthese die Struktur des Wirkstoffes aufklären. In der folgenden Abbildung ist Perkins Synthese von -Terpinol gezeigt (Et = CH3CH2):
1) NaOEt
O 2) ICH2CH2CO2Et
N
O
3) NaOEt
4) ICH2CH2CO2Et
CO2Et CO2Et
H
CO2Et
H
H3C
O
Ac2O
CO2H CO2H
HCl / H2O
OH
1) HBr
2) Base
MeMgI
H
H
CO2H
HCl / EtOH
CO2H
H
CO2
CO2H
MeMgI
H
CO2Et
H
OH
-Terpinol
1.2. Vertiefung: Herstellung von Vanillin
Vanillin ist ein sehr wichtiges Gewürz, das eine breite Verwendung in der Nahrungsmittel- und Parfumindustrie gefunden hat. Es wird aus den Bohnen der Orchidee Vanilla fragrans gewonnen.
O
H
OCH3
OH
Vanillin
Diese Orchidee stammt ursprünglich aus Mexiko, wird aber heutzutage u. a. in Madagaskar gezüchtet. Die Bohnen dieser Pflanze enthalten aber kein Vanillin, sondern nur ein Vorläufer. Um diesen
Geschmackstoff herzustellen, müssen die Bohnen während 20 Tage geröstet und während 6 Monate
getrocknet werden. Ausgehend von 2400 Jahrestonnen Bohnen werden nur 40 Tonnen Vanillin gewonnen. Dieses langwierige Verfahren führt zum hohen Preis des natürlichen Vanillins von 2002000 $/kg in Abhängigkeit der Ernte. Nur Safran ist teurer.
Skript AC-OC I
121
Da Vanillin so wichtig ist, wurden zwei neue Methoden entwickelt, um es aus billigen Ausgangsmaterialien zu synthetisieren. Es kann aus Lignin, eine komplexe Mischung aus Holz, oder aus Eugenol (aus Nelkenöl) durch Oxidation hergestellt werden. Das auf diese Weise hergestellte Vanillin
besitzt selbstverständlich dieselben chemischen, physikalischen und organoleptischen Eigenschaften wie dasjenige aus den Orchideen. Der einzige wichtige Unterschied ist der Preis, der ca. 15$/kg
beträgt. Heutzutage stammt nur 5% des Vanillins aus den Bohnen.
Obwohl mit diesen drei Methoden dasselbe Molekül hergestellt wird (das Rösten der Bohnen produziert Vanillin durch Oxidation anderer Verbindungen) ist natürliches und künstliches Vanillin in
gesetzlicher Hinsicht nicht zu vergleichen. In einigen Staaten darf nur das Vanillin aus den Bohnen
als natürliches Vanillin verkauft werden. Die künstliche Herkunft des Produkts muss immer angegeben werden. Dies ist ein Nachteil für die Industrie, weil die Verbraucher die Produkte mit dem
natürlichen Vanillin bevorzugen und die Gewinnmarge kleiner wird.
Um die Quelle der Herkunft eindeutig zu identifizieren, verwendet der Gesetzgeber geringe Unterschiede, die es in den Isotopenverhältnissen von natürlichem und künstlichem Vanillin gibt. In der
Tat hängt das Isotopenverhältnis einer Pflanze von klimatischen Faktoren wie z. B. der Temperatur
ab. Eine Pflanze aus Madagaskar wird daher ein Isotopenverhältnis haben, der sich vom demjenigen
einer Pflanze aus Skandinavien unterscheidet. Das Vanillin wird nur dann als natürlich bezeichnet,
wenn sein Isotopenverhältnis in einem bestimmten Bereich liegt.
Da aber die Preisunterschiede von Vanillin so hoch sind, lohnt es sich heutzutage das Isotopenverhältnis während der Synthese aus Lignin und Eugenol zu kontrollieren, so dass es im gesetzlichen
Bereich liegt. Das so hergestellte Vanillin kann daher als natürliches Vanillin bezeichnet werden,
obwohl es nicht aus den Bohnen stammt.
Skript AC-OC I
122
2. Nomenklatur
2.1. Vertiefungen
Erlaubte Trivialnamen verzweigter Alkane
Kohlenwasserstoffe:
Isobutan
Isopentan
Neopentan
~
~
Isopropyl-
sec-Butyl-
Isopentyl-
~
~
~
Isobutyl-
~
~
Reste:
tert-Butyl-
tert-Pentyl-
Neopentyl-
Trivialnamen von ungesättigten Kohlenwasserstoffen und abgeleiteten Substituenten
Kohlenwasserstoffe:
C
Allen
(Propadien)
Isopren
(2-Methylbuta-1,3-dien)
Acetylen
(Ethin)
Reste:
~
~
Vinyl-
(Ethenyl-)
Allyl-
(Prop-2-enyl-)
Isopropenyl- (1-Methylethenyl-)
~
Skript AC-OC I
123
Alte Nomenklatur für zweiwertige Substituenten
Zweiwertige Reste, die aus zwei endständigen Bindungsstellen bestehen und als einwertige Substituenten dienen können, wurden durch das Suffix -ylen gekennzeichnet. Ausser dem Fall von –CH2–
CH2– (Ethylen-), wurden die anderen Substituenten als eine Kette von Methyleneinheiten aufgefasst
und durch ein multiplikatives Präfix + -methylen gekennzeichnet. Beispiele:
~
~
Ethylen-
~
~
~
Methylen-
~
Trimethylen-
~
~
Tetramethylen-
C
C
~
C
~ ~
Trivialnamen zweiwertiger Substituenten
Isopropyliden- (1-Methylethyliden-)
Vinyliden-
(Ethenyliden-)
Allenyliden-
(Propadienyliden-)
Trivialnamen der monocyclischen Benzolderivate und abgeleiteten Reste
Kohlenwasserstoffe:
C6H5 HC
Benzol*
Toluol*
m-Xylol**
(auch o- und p-Xylol)
Styrol*
Mesitylen**
CH C6H5
Stilben*
Cumol**
Fulven**
o-Cymol**
(auch m- und p-Cymol)
Skript AC-OC I
124
~
~
Reste:
~
~
~
~
o-Tolyl-**
(auch m- und p-Tolyl-)
Phenethyl-*
~
HC
Benzyliden-*
CH
Styryl-*
~
Benzyl-*
Phenyl-*
Cinnamyl-*
~
Benzhydryl-*
~
Trityl-*
Mesityl-**
*) Darf auch für am Ring substituierte Derivate angewendet werden.
**) Darf nur für unsubstituierte Verbindungen angewendet werden.
Trivialnamen verbrückter polycyclischer Alkane
1
7
2
8
2
6
7
1
9
7
6
8
3
10
5
Adamantan
1
4
4
3
5
2
Cuban
3
7a
6
1
2
6
5
4
5
Prisman
3a
3
4
Indan
Skript AC-OC I
125
Trivialnamen komplett durchkonjugierter polycyclischer Kohlenwasserstoffe
2
2
1
1
2
1
10
3
10
3
9
4
8
7
3
8
4
7
5
6
6
Aceanthrylen
8
9
4
7
Acenaphthylen
1
2
2
10
3
8
3
3
9
4
8
6
Azulen
4
7
6
6
7
Coronen
Chrysen
Fluoranthen
3
9
1
8
1
8
7
4
7
2
8
2
5
3
4
2
3
7
Fluoren
(9H-Isomer)
5
5
6
6
as-Indacen
s-Indacen
11
1
2
6
11
3
10
4
9
3
5
Inden
(1H-Isomer)
12
1
2
2
7
Naphthalin
3
1
10
3
9
4
9
5
8
4
4
5
8
8
6
Ovalen
5
6
7
7
Perylen
6
Phenalen
(1H-Isomer)
2
3
1
10
1
3
8
12
5
11
7
8
Phenanthren
9
Picen
4
5
6
2
1
7
1
2
9
14
8
3
8
13
9
7
4
6
5
Pyren
12
8
Pleiaden
3
10
5
10
7
10
9
2
10
11
Rubicen
6
3
13
4
11
6
5
1
4
13
12
6
16
14
3
1
4
7
15
2
14
2
9
3
4
2
12
7
4
5
1
14
13
1
6
7
8
5
2
1
6
3
9
5
8
5
7
2
10
4
2
4
Anthracen
10
9
6
4
1
11
1
10
1
12
5
5
Acephenanthrylen
12
8
3
5
6
11
7
2
6
8
5
1
9
7
4
12
5
11
10
6
9
8
7
Pyranthren
Skript AC-OC I
126
Geschlossene Ketten von o-verknüpften Benzolringen werden als Bi-, Tri-, Tetra-, Penta-, usw.
-phenylene bezeichnet.
Jeder Polycyclus besitzt eine eigene Priorität bezüglich der anderen. Vgl. IUPAC Nomenklatur der
Organischen Chemie, S. 199.
Trivialnamen heterocyclischer Substituenten
Furan
Piperidin
Morpholin
Pyridin
Chinolin
Isochinolin
Thiophen
→
→
→
→
→
→
→
FurylPiperidyl- (1-Piperidyl- darf auch Piperidino- geschrieben werden)
Morpholino- (nur statt Morpholin-4-yl-)
PyridylChinolylIsochinolylThienyl- (systematische Nomenklatur nicht erlaubt für dieses Substituent)
Die Trivialnamen Thenyl- ((2-Thienyl)methyl-) und Furfuryl- ((2-Furyl)methyl-) dürfen nicht mehr
benützt werden (H. A. Favre, K.-H. Hellwich, G.P. Moss, W. H. Powell, J. G. Traynham, Pure
Appl. Chem. 1999, 71,1327).
Hantzsch-Widman-System
Das Hantzsch-Widman-System (W. H. Powell, Pure Appl. Chem. 1983, 55, 409) wird benützt, um
Verbindungen mit drei- bis zehngliedrigen Heteromonocyclen mit einem oder mehreren Heteroatomen systematisch zu benennen. Die Heteroatome werden durch dieselben Präfixe der Austauschnomenklatur bezeichnet. Die Grösse und der Sättigungsgrad der Ringe werden durch spezielle Endbezeichnungen angegeben:
Ringglieder
3
4
5
6 (N, ...)
6 (O, S, ...)
6 (P, B, ...)
7
8
9
10
Maximal ungesättigt
-iren, -irin*
-et
-ol
-in
-in
-inin
-epin
-ocin
-onin
-ecin
Gesättigt
-iran, -iridin*
-etan, -etidin*
-olan, -olidin*
-inan
-an
-inan
-epan
-ocan
-onan
-ecan
*) Diese Suffixe werden nur im Fall von stickstoffhaltigen Heterocyclen aus historischen Gründen
bevorzugt verwendet.
Bei Heterocyclen mit mehreren Heteroatomen erfolgt die Bezifferung in der Weise, dass das ranghöchste Heteroatom den Lokanten 1 erhält. Innerhalb des Periodensystems haben dabei die Elemente der höchsten Gruppe und der niedrigsten Periode den Vorrang. Die Heteroatome werden in der
Reihenfolge abnehmender Priorität angeordnet. Wenn bei der Kombination zwei Vokale aufeinandertreffen, entfällt das endständige -a des Präfixes. Die Endsilben hängen von dem Heteroatom ab,
Skript AC-OC I
127
das die niedrigste Priorität besitzt. Die Lokanten müssen natürlich der Ordnung der Heteroatome
entsprechen und werden zusammen dem Namen vorangestellt. Partiell ungesättigte Heterocyclen
werden durch Verwendung des hydro-Präfixes benannt.
Beispiele:
H
B1
5
Borinan
O
O
N
3
B2
4
P
3
2
1,3,5,2-Oxadiazaborol
1
1
NH
2
P
N
4
1,2-Oxazinan
O
1
2,3-Dihydrophosphet
1
6
Phosphinin
1
N
5
2
5,6-Dihydro-1,4,2-oxathiazin
3
S
4
Weitere Nomenklaturtypen
Neben der substitutiven und der radikofunktionellen Nomenklatur, die gelernt werden müssen, gibt
es noch weitere Methoden, die in speziellen Fällen sehr hilfreich sind.
Additive Nomenklatur
Bei diesem Nomenklaturtyp wird eine Addition von Atomen oder Atomgruppen an die Stammverbindung vorgenommen. Die wichtigste Anwendung ist die Benennung hydrierter cyclischer Verbindungen, die in enger Beziehung zu einem völlig ungesättigten System stehen. Ein weiterer Fall
sind Aminoxide und Nitrone. Beispiele:
1,4,5,8-Tetrahydronaphthalin
O
N
N
O
Trimethylamin-N-oxid
(N-Benyliden)methylaminN-oxid
Subtraktive Nomenklatur
Man verwendet subtraktive Präfixe oder Suffixe, um die Entfernung von Atomen oder Atomgruppen aus einem trivialen oder systematischen Stammbegriff anzuzeigen. Die wichtigste Anwendung
bezieht sich auf die Entfernung von Wasserstoff (Präfix Dehydro-) was zu einem stärker ungesättigten System führt. Bei komplexen trivial benannten Naturstoffen werden manchmal Derivate mit
dem Präfix des- gekennzeichnet:
R2N-CH3
RCH2-OH
→
→
R2NH
RCH3
des-N-methyldesoxy-
Skript AC-OC I
128
Konjunktive Nomenklatur
Diese Nomenklatur wird selten benützt. Insbesondere acyclische Carbonsäuren, Aldehyde, Alkohole und Amine, die terminal einen cyclischen Substituenten tragen, werden dadurch benannt, indem
man den unveränderten Stammnamen des Cyclus mit dem unveränderten Namen der acyclischen
Komponente kombiniert:
OH
OH
O
Cyclohexanmethanol
(substitutiv: Cyclohexylmethanol)
2-Naphthalinessigsäure
(substitutiv: 2-Naphthylessigsäure)
Relative Priorität wichtiger funktioneller Gruppe
Im Folgenden sind einige wichtigen funktionellen Gruppen nach absteigender Priorität angeordnet
(R sind Reste, M ist ein beliebiges Metall, X ist ein Halogenid; C-Atome, die zwischen eckigen
Klammern stehen, sind im Stammnamen einbezogen):
Verbindungsklasse
Charakteristische
Gruppe
Präfix
Suffix
Freie Radikale
R·, RO·, …
---
z. B. -yl
Anionen*
R–, R2N–, …
---
-id
Kationen
–(NR3)+, R+, ...
z. B. -io-
z. B. -ium
Carbonsäuren
–C(=O)OH
–[C](=O)OH
Carboxy-
-carbonsäure
-säure
Sulfonsäuren
–S(=O)2OH
Sulfo-
-sulfonsäure
Sulfinsäuren
–S(=O)OH
Sulfino-
-sulfinsäure
Sulfensäuren
–SOH
Sulfeno-
-sulfensäure
Boronsäuren
–B(OH)2
Borono-
-boronsäure
Carbonsäuresalze
–C(=O)OM
–[C](=O)OM
M-carboxylato-
M -carboxylat
M -oat
Sulfonsäuresalze
–S(=O)2OM
M-sulfonato-
M -sulfonat
Sulfinsäuresalze
–S(=O)OM
M-sulfinato-
M -sulfinat
Sulfensäuresalze
–SOM
M-sulfenato-
M -sulfenat
Carbonsäureanhydride
–C(=O)OC(=O)–
---
-säure…säureanhydrid
-säureanhydrid
Skript AC-OC I
129
Carbonsäureester
–C(=O)OR
–[C](=O)OR
…yloxycarbonyl---
-yl…carboxylat
-yl…oat
Sulfonsäureester
–S(=O)2OR
-yloxysulfonyl-
-yl…sulfonat
Sulfinsäureester
–S(=O)OR
-yloxysulfinyl-
-yl…sulfinat
Sulfensäureester
–SOR
-yloxysulfenyl-
-yl…sulfenat
---
-olacton
-carbolacton
---
-sulton
O
Lactone**
O
R
O
O
S
Sultone**
O
R
Carbonsäurehalogenide
–C(=O)X
–[C](=O)X
Halogencarbonyl-
-carbonylhalogenid
-oylhalogenid
Sulfonsäurehalogenide
–S(=O)2X
Halogensulfonyl-
-sulfonylhalogenid
Sulfinsäurehalogenide
–S(=O)X
Halogensulfinyl-
-sulfinylhalogenid
Sulfensäurehalogenide
–SX
Halogensulfenyl-
-sulfenylhalogenid
Carbonsäureamide
–C(=O)NH2
–[C](=O)NH2
Carbamoyl---
-carboxamid
-amid
Sulfonsäureamide
–S(=O)2NH2
Sulfamoyl-
-sulfonamid
Sulfinsäureamide
–S(=O)NH2
Sulfinamoyl-
-sulfinamid
Sulfensäureamide
–SNH2
Sulfenamoyl-
-sulfenamid
---
-lactam
---
-lactim
---
-dicarboximid
-imid
---
-carbohydrazid
O
Lactame**
NH
R
Lactime**
O
H
N
O
Carbonsäureimide**
R
Carbonsäurehydrazide
–C(=O)-NH-NH2
Skript AC-OC I
130
–[C](=O)-NH-NH2
-hydrazid
Hydroxamsäure
–C(=O)-NH-OH
–[C](=O)-NH-OH
---
-carbohydroxamsäure
-hydroxamsäure
Amidine
–C(=NH)NH2
–[C](=NH)NH2
Carbamimidoyl---
-carboximidamid
-imidamid
Nitrile
–CN
–[C]N
Cyan-
-carbonitril
-nitril
Aldehyde
–C(=O)H
–[C](=O)H
FormylOxo-
-carbaldehyd
-al
Thioaldehyde
–C(=S)H
–[C](=S)H
ThioformylThioxo-
-carbothioaldehyd
-thial
Ketone
>C=O
Oxo-
-on
Thioketone
>C=S
Thioxo-
-thion
Acetale
>C(OR)(OR')
…yloxy…yloxy-
-al…yl…ylacetal
-on…yl…ylacetal
Oxime
>C=N-OH
Hydroxyimino-
-aloxim
-onoxim
Hydrazone
>C=N-NH2
Hydrazono-
-alhydrazon
-onhydrazon
Azine
>C=N-N=C<
Azinodi-
-ylidenhydrazon
Alkohole, Phenole
–OH
Hydroxy-
-ol
Thiole
–SH
Sulfanyl-
-thiol
Alkoholate, Phenolate
–OM
M-oxido-
M -olat
Amine
–NH2
Amino-
-amin
Hydroxylamine
–NH-OH
Hydroxylamino-
-N-…hydroxylamin
Imine
>C=NH
Imino-
-imin
*) Ausser Anionen von Säuren, Alkoholen, Thiole, Selenole und Tellorole.
**) Diese Verbindungen werden immer häufiger mit der Austauschnomenklatur benannt.
Skript AC-OC I
131
Wichtige charakteristische Gruppe, die nur als Präfix auftreten
C-Atome, die zwischen eckigen Klammern stehen, sind im Stammnamen einbezogen.
Charakteristische
Gruppe
–F
–Cl
–Br
–I
–ClO
–ClO2
–ClO3
–IO
–IO2
–SR
–S(=O)R
–S(=O)2R
>C(SR)2
Fluor-
Charakteristische
Gruppe
–NH-NH2
ChlorBromIodChlorosylChlorylPerchlorylIodosylIodyl…ylsulfanyl…ylsulfinyl…ylsulfonylDi-…ylthio-
–N3
=N2
–NC
–NO
–NO2
–OCN
–NCO
–SCN
–NCS
–OR
–OOH
–OOR
Präfix
Präfix
Hydrazino- oder DiazanylAzidoDiazoIsocyanNitrosoNitroCyanatIsocyanatThiocyanatIsothiocyanat…yloxyHydroperoxy…ylperoxy-
O
S
~~
Epithio-
~ ~
~~
~ ~
[C] [C]
[C] [C]
Epoxy-
Radikofunktionelle Verbindungsnamen
C-Atome, die zwischen eckigen Klammern stehen, sind im Stammnamen einbezogen.
Charakteristische Gruppe
–C(=O)OR
Halogenide in Säurederivaten
(z. B. R[C](=O)X, RS(=O)2X)
–CN;–NC
–OCN; –NCO
–SCN; –NCS
>C=O; >C=S
>C=C=O
–OH; –SH
–OOH; –SSxSH
–O–; –O-O–
–S–; –S-S–
–S(=O)–; –S(=O)2–
Halogenide; –N3
–NH2, –NH–, >N–
–NH-NH2
–NH-OH
–N=C=N–
Radikofunktioneller Verbindungsname
-ester
-fluorid, -chlorid, -bromid, -iodid
-cyanid; -isocyanid
-cyanat; -isocyanat
-thiocyanat; -isothiocyanat
-keton; -thioketon
-keten
-alkohol; -hydrosulfid
-hydroperoxid; -hydropolysulfid (oder hydropolysulfan)
-ether (oder –oxid); -peroxid
-sulfid; -disulfid
-sulfoxid; -sulfon
-fluorid, -chlorid, -bromid, -iodid; -azid
-amin
-hydrazin
-hydroxylamin
-carbodiimid
Skript AC-OC I
132
Wichtige zugelassene Trivialnamen für Carbonsäuren
Neben Ameisensäure, Essigsäure und Benzoesäure sind weitere Trivialnamen für Carbonsäuren erlaubt. Darunter sind z. B. die Aminosäuren, die eine zentrale Rolle in der Biochemie spielen. Weitere häufig verwendete Trivialnamen sind im Folgenden wiedergegeben. Obwohl sie noch zugelassen
sind, ist es nicht empfohlen, sie zu benützen.
Verbindung
n-C2H5-COOH
n-C3H7-COOH
n-C4H9-COOH
tert-C4H9-COOH
n-C5H11-COOH
n-C11H23-COOH
n-C15H31-COOH
n-C17H35-COOH
H2C=CH-COOH
Säure
Propionsäure
Buttersäure
Valeriansäure
Pivalinsäure
Capronsäure
Laurinsäure
Palmitinsäure
Stearinsäure
Acrylsäure
Crotonsäure
Rest
PropionylButyrylValerylPivaloylCaproylLauroylPalmitoylStearoylAcryloylCrotonoyl-
Anion
Propionat
Butyrat
Vallerat
Pivalat
Caproat
Laurat
Palmitat
Stearat
Acrylat
Crotonat
Zimtsäure
Cinnamoyl-
Cinnamat
HCC-COOH
Propiolsäure
Propioyl-
Propiolat
HOOC-COOH
HOOC-CH2-COOH
HOOC-(CH2)2-COOH
HOOC-(CH2)3-COOH
Oxalsäure
Malonsäure
Bernsteinsäure
Glutarsäure
OxalylMaloylSuccinylGlutaryl-
Oxalat
Malonat
Succinat
Glutarat
Maleinsäure
Maleoyl-
Maleat
Fumarsäure
Fumaroyl-
Fumarat
COOH
COOH
HOOC
COOH
HOOC
COOH
Viele Carbonsäurederivate besitzen eigene Trivialnamen. Für weitere Beispiele siehe IUPAC Nomenklatur der organischen Chemie.
Skript AC-OC I
133
2.2. Beispiele
Triviale und systematische Namen
Die systematischen Namen können rasch kompliziert werden und sehr oft werden noch die Trivialnamen benützt. Im Folgenden sind die trivialen und systematischen Namen zweier gewöhnlicher
Verbindungen geschrieben (die Bedeutung aller Symbole und Silben wird am Ende dieser Vorlesung klar sein):
NH2
N
N
N
N
HO
O
OH
H
(-)-Menthol
(1R,2S,5R)-2-Isopropyl5-methylcyclohexanol
H
H
OH
H
H
Adenosin
2-(6-Aminopurin-9-yl)-5hydroxymethyltetrahydrofuran-3,4-diol
Beispiele unverzweigter gesättigter Ketten und daraus abgeleiteter Reste
n-C45H92
n-C81H164
CH3–
CH3CH2–
CH3(CH2)10CH2–
Pentatetracontan
Henoctacontan
MethylEthylDodecyl-
Beispiel systematischer Namen eines verzweigten Alkans
Als Beispiel der Anwendung der Nomenklaturregeln für verzweigte Alkane betrachte man die folgende Verbindung:
Regel (2) bestimmt die Hauptkette eindeutig. Da sie zehn C-Atome enthält, ist die Verbindung ein
Derivat des Decans. Zwei Lokantensätze sind möglich: Nummerierung von links oder von rechts.
Im ersten Fall hätten die Substituenten die Lokanten 3,5,5,8, im zweiten Fall 3,6,6,8. Der richtige
Lokantensatz ist daher von links nach rechts. Es sind zwei Arten von Substituenten vorhanden:
Skript AC-OC I
134
Dreimal Ethyl und einmal Methyl. Der systematische Name der Verbindung ist also 3,5,5-Triethyl8-methyldecan.
Weiteres Beispiel:
4-Ethyl-5-methyloctan
(nicht 5-Ethyl-4-methyloctan,
Seitenkätten in äquivalenten Positionen)
Beispiele zur Verwendung von Klammern und multiplikativen Präfixen
5-(1,2-Dimethylpropyl)nonan
5,6-Bis(1,2-dimethylpropyl)decan
n-C6H13
5-(2-Ethylbutyl)-3,3-dimethyldecan
(nicht 5-(2,2-Dimethylbutyl)-3-ethyldecan,
Regel (4))
7-(1,2-Dimethylpentyl)-5-ethyltridecan
Beispiel zur Verwendung der Präfixe iso-, sec-, tert- und neo-
4-tert-Butyl-3-methyloctan
4-Isopropyl-3-methyloctan
Skript AC-OC I
135
Beispiele für systematische Namen einiger ungesättigten Kohlenwasserstoffe
~
CH
~CH
C
H2
~
CH
~
Propan-1,1,2,3-tetrayl-
CH
C
H
~
Beispiele mehrwertiger Reste
Prop-2-en-1,1,3-triyl-
Beispiele einiger mehrwertigen Reste
~ ~
Zweiwertige Reste die durch Doppelbindungen an der Hauptkette gebunden sind:
Methyliden- (alt: Methylen-)
~
Ethyliden2-Methylbutyliden-
~
~
Dreiwertige Reste:
MethylidinPropylidin-
Skript AC-OC I
136
Komplexere Substituenten:
~
~
~
~
HC CH
~
~
~
Pent-2-en-1,1,1-triyl-5-ylidin-
Pentan-3-yl-1-yliden-5-ylidin-
Nomenklatur monocyclischer Verbindungen und Reste
Beispiele monocyclischer Verbindungen:
Cyclopropan
Methylcyclodecan
Cyclohexan
Cyclohexa-1,3-dien
1-tert-Butylcyclohexa-1,4-dien
Cyclopenten
12-Methylencyclohexadeca-1,3-dien-7-in
Beispiele monocyclischer Reste:
~
~
~
~
Cyclobutyl-
Cyclopent-3-en-1,2-diyl-
Cyclohexyliden-
Beispiele für kettensubstituierte Ringsysteme
1-Ethyl-3-methylbenzol
1-Phenyl-2-(m-tolyl)ethan
Skript AC-OC I
137
Beispiele polyzyklischer verbrückter Verbindungen
Beispiele für Derivate verbrückter polycyclischer Verbindungen
2
12
1
13
8
Bicyclo[2.2.1]hept-2-en
Bicyclo[6.4.1]tridec-1(13)-en
Nomenklatur nicht vollständig ungesättigter Polycyclen
1-Methyl1,2,3,4-tetrahydronaphthalin
(alt: Tetralin)
Decahydronaphthalin
(alt: Decalin)
1-Methyliden1,2,4b,8a-tetrahydrophenanthrene
Skript AC-OC I
138
Das multiplikative Präfix von hydro- muss für die alphabetische Aufzählung berücksichtigt werden.
Die Hydro-Präfixe werden im Namen beibehalten, auch wenn eines oder mehrere der beigeführten
H-Atome nachträglich durch andere Substituenten ersetzt werden.
Beispiele monospirocyclischer Verbindungen
Spiro[3.3]heptan
Spiro[2.4]heptan
Spiro[3.5]nona-1,5,7-trien
Beispiele über Einfachbindungen gebundener Ringe
1,1'-Bicyclobutyl
3,4'-Dimethyl-1,1'-biphenyl
Bi(cyclobut-2-en-1-yl)
1,2'-Binaphtyl
(oder 1,2'-Binaphthalin)
1,1'-Biphenyl
Bi(bicyclo[2.2.1]hept-5-en-2-yl)
(oder 5,5'-Bibicyclo[2.2.1]hept-2-en)
Verschiedene Nummerierungsregeln!
Beispiele für Nomenklatur durch Doppelbindungen verbundener Verbindungen
Skript AC-OC I
139
Beispiele der Nomenklatur von Verbindungen, die mehrere miteinander verbundene Ringe enthalten
1
1,1':3',1''-Tercyclopentan
1'
1''
3'
1
1'''
3
3'''
5''
5'
3'
3''
3,3':5',3'':5'',3'''-Quatercyclopenten
1''
1'
1,1':4',1''-Triphenyl
Beispiele der Nomenklatur miteinander verbundener Ringe, die unterschiedlich
sind
1-Cyclobutylnaphthalin
4-Cyclopentyl-4'cyclopropylbiphenyl
Cyclopropylidencyclohexan
Beispiele zur Verwendung der a-Nomenklatur
O
1-Oxa-11-azonia-6,7-diphosphacyclopentadecan
H2N
HP
PH
N
1,8-Diazabicyclo[5.4.0]undec-7-en
N
Skript AC-OC I
140
H
B
9-Borabicyclo[3.3.1]nonan
S
S
N
O
6-Oxa-1,9-dithia-3-azaspiro[4.4]non-2-en
N
Si
9-Aza-4a-silaphenanthren
Beispiele radikofunktioneller Nomenklatur
n-C5H11-COF
H3C-CN
H3C-CO-C2H5
H3C-O-CH3
(H3C)2SO
Hexanoylfluorid
Methylcyanid
Ethylmethylketon
Dimethylether
Dimethylsulfoxid
Skript AC-OC I
141
3. Klassische Strukturlehre
3.1. Vertiefungen
Natürlich vorkommende Zucker
Geschichtlicher Überblick
Der Zucker ist mit der Kulturgeschichte der Menschheit eng verbunden. Die ältesten süssen, zuckerhaltigen Nahrungsmittel, die den Menschen zur Verfügung standen, waren der Bienenhonig
und süsse Pflanzensäfte. Der Honig ist vermutlich bereits in vorgeschichtlicher Zeit ein beliebtes
Genussmittel gewesen. Später wurde er durch den zuckerhaltigen Zellsaft des Zuckerrohrs (wird in
tropischen Ländern angebaut) zurückgedrängt. Erst sehr viel später kam die Zuckergewinnung aus
der Zuckerrübe (wird in gemässigten Klimazonen angebaut) hinzu.
Die Araber brachten das Zuckerrohr nach Europa, und um 750 n. Chr. wurde es auf Sizilien und in
Spanien kultiviert. Der Anbau des Rohrs erreichte hier bald eine grosse Blüte. Um 1000 n. Chr.
wurden bereits einige 10000 t Rohr verarbeitet. Er diente allerdings mehr als Luxusartikel oder
Arzneimittel.
Die Zuckerrübe hat dagegen erst verhältnismässig spät als Rohstoffquelle für die Zuckergewinnung
Bedeutung erlangt. Im Jahre 1801 errichtete der Berliner Chemiker und Akademiedirektor A. S.
Margraf mit Unterstützung von König Friedrich Wilhelm III von Preussen die erste Rübenzuckerfabrik der Welt in Cunern in Schlesien.
Starken Auftrieb erfuhr kurze Zeit später die junge Zuckerindustrie durch die 1806 von Napoleon
verhängte Kontinentalsperre, wodurch der Import von Rohrrohzucker (Kolonialzucker) zu den Raffinerien der mitteleuropäischen Hafenstädte verhindert wurde.
Die Fabrikationsprozesse für die Herstellung von Zucker gehören zu den am längsten bekannten
und am sorgfältigsten studierten Vorgängen der chemischen Industrie. Die Weltjahresproduktion
liegt zurzeit bei über 108 t!
100 g Saccharose enthalten 410 Kilokalorien. Zucker zeichnet sich über seinen Nähr- und Genusswert hinaus durch leichte Verdaulichkeit und schnelle Resorbierbarkeit im menschlichen Organismus aus. Der Prokopfverbrauch pro Jahr beläuft sich in der Schweiz auf etwa 30 kg.
Glucose
D-Glucose (Dextrose, Traubenzucker) ist in fast allen süssen Früchten (meist mit D-Fructose zur
Saccharose verbunden) verbreitet, besonders in Weintrauben, woher auch der Name Traubenzucker
stammt. D-Glucose ist auch am Aufbau von Polysacchariden beteiligt (Cellulose → Pergamentpapier-Poster, Stärke → Enzym-Poster) und kann aus diesen durch Hydrolyse mit Hilfe von Säuren
oder Enzymen gewonnen werden. Die Spaltung von Stärke in ihre Glucosebausteine durch im Speichel vorhandene Enzyme ist dafür verantwortlich, dass Stärke nach etwa 1-2 min süss schmeckt.
Durch Mikroorganismen kann Glucose zu Ethanol, Essig-, Milch- oder Buttersäure vergoren werden.
Fructose
D-Fructose (Laevulose, Fruchtzucker) ist die wichtigste Ketohexose unter den natürlich vorkommenden Zuckerarten. In freier Form findet sie sich neben der D-Glucose in vielen süssen Früchten
und im Honig. Als Bestandteil von Di- und Oligosacchariden finden wir die Fructose u. a. in Saccharose und Raffinose. Ausserdem enthalten viele stärkeähnliche Polysaccharide (Polyfructosane)
des Pflanzenreichs wie Inulin als Baustein fast ausschliesslich D-Fructose.
Skript AC-OC I
142
Mannose
D-Mannose kommt in der Natur z. T. frei, häufig jedoch gebunden in Form der Mannane, z. B. in
der Steinnuss und in Johannisbrotsamen, vor. Es wird ein süss-bitterer Geschmack berichtet. Für
Bienen ist Mannose giftig.
Saccharose
Saccharose (Haushaltszucker, Rübenzucker, Rohrzucker, Sucrose) ist ein nichtreduzierendes Disaccharid, das durch Säuren oder Enzyme (Invertase) leicht in die Bausteine D-Glucose und DFructose gespalten wird. Das Gemisch wird Invertzucker genannt. Saccharose ist in zahlreichen
Pflanzen in kleinen Mengen anzutreffen, z. B. im Süssmais oder der Zuckerhirse, in Früchten, Samen und Baumsäften. Grössere Zuckergehalte finden sich fast nur im Zuckerrohr und in der Zuckerrübe.
Relative Süsswerte bei 25°C:
Saccharose
D-Glucose
D-Fructose
D-Mannose
100
69
114
59
M,P-Nomenklatur für Moleküle mit Chiralitätsachse
Die Spezifikation der Chiralität von Verbindungen mit einer Chiralitätsachse kann auch mit Hilfe
des Torsionswinkels zwischen den Bezugsgruppen erfolgen. Die Bezugsgruppen sind die am
nächsten beieinanderliegenden, direkt an Atome in der Achse gebundenen Atome.
Man legt zunächst die Prioritäten der Bezugsgruppen wie im Falle des gestreckten Tetraeders fest.
Als nächstes betrachtet man den Diederwinkel wxyz, wobei die Positionen w und z jeweils den Bezugsatomen höchster Priorität am nächsten bzw. am entfernsten Ende der Chiralitätsachse entsprechen. Ist dieser Diederwinkel positiv, so erhält die Struktur den Deskriptor P (plus); ist er negativ,
so erhält sie den Deskriptor M (minus).
O2N
z
Cl
x
w
Br
z
y
y
HOOC
x
w
M
(M)-2'-Brom-6'-chlor-6-nitrobiphenyl-2-carbonsäure
Skript AC-OC I
143
3.2. Flussdiagramm zur Bestimmung der Punktgruppe
†
† Drehachsen Cm, die in der(den) Hauptdrehachse(n) Cn (n > m) enthalten sind, werden hier nicht
gezählt.
Skript AC-OC I
144
3.3. Beispiele
Beispiele von Resonanzstrukturen
Nitrat NO3–
Experimentell sind alle N–O-Bindungen gleich:
–
O
–
–
O
–
O
–
N
–
N
O–
–
–
–
–
O–
–
–O
–
–
N
–
–O
–
–
O
–
–
–
–O
Diazomethan CH2N2
H
H
C
N
H
N
H
C
N
N
–
N
–
–
–
N
–
–
C
–
H
H
wenig wichtig
(Oktettregel nicht
erfüllt)
wenig wichtig
(Ladung auf C)
wichtig
Aceton CH3COCH3
H3C
H3C
C
–
H3C
am bedeutendsten
H3C
wichtig
(gute Ladungstrennung,
Sextett am C)
O
–
–
H3C
H3C
–
C O
–
–
C O
unwichtig
(schlechte Ladungstrennung,
Sextett am O)
Acetamid CH3CONH2
H
CH3
N C
H
–
–
H –
CH3
N C
–
H
–O
wenig wichtig
(Sextett am C)
–
–O
wichtig
–
H –
CH3
N C
H
O
–
sehr wichtig
Dimethylsulfon CH3SO2CH3
S
–
–O
CH3
H3C
S
O
–
CH3
H3C
S
O
–
–
–
–
H3C
–
–
–O
CH3
–
O
–
–
S
–
–
H3C
–
O
–
O
–
–
–
O
CH3
Skript AC-OC I
145
Beispiele zur Verwendung des R,S-Systems
O
2
Cl
4
H
HO
1
(S)-1-Chlor-1-Iodethan
2
H
4
H
I
3
H3C
2
C
CH2OH
1
3
(R)-Glyzerinaldehyd
D-(+)-Glyzerinaldehyd
COOH
O
1
4
H
HO
3
3
1
OH
H
4
2
H3C
3
2
4
COOH
H3C
3
2
(R,R)-Weinsäure
F HO
1
1
OH
H4
(2S,4S)-4-Fluor-2-hydroxy4-methylhexansäure
Beispiele zur Verwendung des E,Z-Systems
1
1
Cl
2
2
H2
Cl
2
Cl
1
3
1
4H
(Z)-3-Methylhex-3-en
1
CH3
CH3
2
(E,R)-1,4-Dichlor-3-(2-chlorethyl)2-methylpent-2-en
Skript AC-OC I
146
Beispiele zur Bestimmung der Punktgruppe
Olefine:
v
H
C
C
i
H
H
H
C2
Hauptachse
v
C2'
h
1 C2, 2 C2', 1 h, 2 v, i
C2'
D2h
Nebenachsen
H
H
H
Cl
H
Cl
H
Cl

C2
1
H
Cs
C2
H
Cl
1 C2, 2 v
C2v
Cl
H
Cl
Cl
C2
H
1 C2, 2 v
C2v
1 C2, 1 h
C2h
Tetraedrische Moleküle:

H
Cl
H
H
H
Cl
Cl
Cl
H
Td
C3
H
C2
H
Cl
Cl
H
H
Br
1 C3, 3 v
C3v
1 C2, 2 v
C2v
1
Cs
I
H
Cl
Br
Kein Symmetrieelement (C1)
chirales Zentrum
Skript AC-OC I
147
Cubanderivate:
Cl
1 C3, 3 C2', 3 v
D3d
Oh
Cl
Cl
Cl
1 C3, 3 v
C3v
C3
Cl
1 C2, 2 v
C2v
C2
Cl
1 C2, 2 v
C2v
Cl
C2
Allenderivate:
C 2'
H
H
C2
S4
C
C
H
C
H
H
H
H
1 C2, 2 v, 2 C2', 1 S4
H
H
C2'
D2d
H
C
C
F
H
C
H
Cs
C
C
F
H
C
F
C2 chiral
Beispiele zum Zusammenhang zwischen Symmetrie und Chiralität
H
CH3
Cl
*
H
*
H
*
H3C
Cl
C2
*
H
*
H

H3C
Cl
H
*
i
*
H
*
CH3
Cl
C2
H
*
H
Cl
H3C
H
*
H
*
*
H
CH3
Cl
chirale Moleküle, C2-Symmetrie
achirales (meso) Molekül, Ci-Symmetrie
Skript AC-OC I
148
Topizität
H
H
C
H
H2
C
Cl
C
H
alle H homotop
H
H1/H2 verschieden
H1/H3 verschieden
H2/H3 diastereotop
OH
H3C
CH3
H2
H/H enantiotop
Cl
C
H1
H3
H
H
C
H3
H
C
Cl
H/H homotop
Cl/Cl homotop
H1
OH
COOH
H1/H2 verschieden
H1/H3 verschieden
H2/H3 diastereotop
Skript AC-OC I
149
4. Quantenchemie
4.1. Vertiefungen
Quantenphysik
Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden einige physikalischen Beobachtungen gemacht, die nicht im
Rahmen der klassischen Physik erklärbar waren. Sie führten zur Entwicklung einer neuen Physik,
die als Quantenphysik bezeichnet wurde. Eines der revolutionierenden Konzepte war, dass einige
Grössen gequantelt sind: z. B. ein Teilchen darf nicht beliebige Werte für Position und Geschwindigkeit annehmen. Es sind nur bestimmte Werte erlaubt. Weiter wurde auch bewiesen, dass einige
Grössen nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit bestimmt werden können: z. B. kann man
nicht gleichzeitig die exakte Position und Geschwindigkeit eines Teilchens kennen. Für eine ausführlichere Betrachtung dieses Thema siehe z. B. P. W. Atkins, Physical Chemistry, Kap. 11-12.
De Broglie Gleichung
Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Zweifel über die wirkliche Natur der Elementarteilchen. In
der Tat treten Elektronen, Protonen, Photonen, u. a. als klassische Teilchen oder Wellen je nach Experiment. Es wurde deshalb das Konzept von Welle-Teilchen-Dualismus eingeführt. 1924 zeigte
De Broglie, dass jedem Teilchen auch eine Welle mit der Wellenlänge 
=
h
mv
zugeordnet werden kann (h ist die Planck Konstante, m die Masse und v die Geschwindigkeit). Da
diese Wellenlänge für makroskopische Körper praktisch Null ist, dieses Dualismus ist nur für mikroskopische Teilchen wie Elektronen und Atomkerne relevant. Für eine ausführlichere Betrachtung
dieses Thema siehe z. B. P. W. Atkins, Physical Chemistry, Kap. 11.
Nomenklatur der Orbitalquantenzahlen
Aus historischen Gründen wird die Orbitalquantenzahl normalerweise nicht durch Zahlen, sondern
durch Buchstaben beschrieben:
l
Symbol
0
s
1
p
2
d
3
f
4
g
5
h
...
...
Die ersten vier Abkürzungen stammen aus der Sonnespektroskopie und bedeuten sharp (s), principal (p), diffuse (d) und fine (f).
Skript AC-OC I
150
Energie der Schalen
Die relative Energie zwischen den Schalen wird durch die folgende Beziehung beschrieben:
1 

E  IP 1 − 2 
 n 
wo IP die Ionisierungspotential eines Elektrons des 1s-Orbitals ist.
Pauliprinzip
Das Pauliprinzip besagt, dass zwei Elektronen im selben Atom nicht durch dieselben vier Quantenzahlen beschrieben werden können. Da es im Fall von Elektronen nur zwei Werte für s gibt, kann
daher ein Orbital nur von zwei Elektronen mit antiparallelem Spin besetzt werden.
Elektronenkonfigurationen
In der folgenden Abbildung sind die Elektronenkonfigurationen der Elemente der ersten und zweiten Periode angegeben:
2p
2p
2p
2p
2p
2s
2s
2s
2s
2s
1s
1s
1s
1s
1s
Li: 1s22s1
Be: 1s22s2
B: 1s22s22p1
H: 1s1
He: 1s2
2p
2p
2p
2p
2p
2s
2s
2s
2s
2s
1s
1s
1s
1s
1s
C: 1s22s22p2
N: 1s22s22p3
O: 1s22s22p4
F: 1s22s22p5
Ne: 1s22s22p6
Nichtbindende Orbitale
In einigen Fällen können die Wechselwirkungen zwischen Atomorbitalen aus geometrischen Gründen nicht zu stabilisierenden oder destabilisierenden Wechselwirkungen führen. Z. B. im Fall des
linearen Wassers ist die bindende Wechselwirkung zwischen einem H-1s-Orbital und dem Teil des
Skript AC-OC I
151
p-Orbitals gleicher Vorzeichen vollständig durch die antibindende Wechselwirkung mit dem anderen Lappen kompensiert:
Es ist daher, wie wenn es keine Wechselwirkung gäbe.
Hybridatomorbitalmodell für Ethen und Ethin
Ethen besitzt zwei sp2-hybridisierte C-Atome. Die sechs Hybridatomorbitale werden benützt, um
die C-H- und C-C--Bindungen zu erzeugen. Jedes C-Atom besitzt daneben noch ein p-Orbital, das
zur Bildung der C-C--Bindung führt:
Auf ähnlicher Weise können die zwei senkrechten p-Orbitale eines sp hybridisierten Atoms Dreifachbindungen erzeugen:
Inversion des N-Atoms
Obwohl ein N-Atom mit drei verschiedenen Substituenten theoretisch chiral sein sollte, ist es praktisch unmöglich die reinen Stereoisomere zu erhalten. Das sp3-hybridisierte Atom ist nicht imstande, eine bestimmte Konfiguration zu erhalten. In der Tat kann das N-Atom kontinuierlich zwischen
den beiden Isomeren durch ein sp2-Zentrum oszillieren:
152
Skript AC-OC I
Die Inversionsbarriere beträgt nur 6-10 kcal/mol, was 106-108 Inversionen pro Sekunde entspricht.
-Carotin
-Carotin besitzt elf durchkonjugierte Doppelbindungen. Die Frequenz des Lichtes, das notwendig
ist, um ein Elektron des HOMO in das LUMO anzuregen, liegt im sichtbaren Bereich und -Carotin
ist deswegen farbig. Die meisten Farbstoffe besitzen solche konjugierten Systeme (vgl. Perkins Geschichte).
Frost-Muslin-Diagramme
Mit einer einfachen geometrischen Konstruktion (Frost-Muslin-Diagramm) können die Energien
der Molekülorbitale monozyklischer -Systeme ermittelt werden, wenn diese die Struktur eines regulären Polygons besitzen. Dazu zeichnet man ein Kreis mit dem Radius 2 dessen Zentrum als 
bezeichnet wird. Dann wird darin das Polygon mit einer Spitze nach unten eingezeichnet. Die Energieniveaus sind dann die Projektionen der Ecken des Polygons auf die vertikale Achse. Im Folgenden sind die Orbitalenergien von Benzol und Cyclopentadienylradikal gezeigt:
Skript AC-OC I
153
Beispiele aromatischer Moleküle
Naphthalin
Anthracen
[18]Annulen
[n]Annulene sind n-gliedrige, zyklisch konjugierte Monocyclen.
Cyclooctatetraen
Skript AC-OC I
154
5. Thermochemie
5.1. Thermodynamischen Daten
Atomisierungsenthalpien
Die Atomisierungsenthalpie ist die Energie, die notwendig ist, um gasförmige Atome aus den Elementen herzustellen. Z. B. gilt
C (Graphit) → C (g)
½ H2 (g) → H (g)
Hf° = 171 kcal/mol
Hf° = 52 kcal/mol
Bildungsenthalpien einiger einfachen Verbindungen
Verbindung
CH (g)
CH2 (g)
CH3 (g)
CH4 (g)
C2H2 (g)
C2H4 (g)
C2H6 (g)
C3H6 (g)
C3H8 (g)
C4H6 (g, trans-Butadien)
Hf°
/ kcal mol
142
92
34
–18
54
13
–20
5
–25
26
-1
Verbindung
C4H8 (g, But-1-en)
C4H8 (g, cis-But-2-en)
C4H8 (g, trans-But-2-en)
n-C4H10 (g)
iso-C4H10 (g)
C60 (g)
CO (g)
CO2 (g)
H2O (g)
H2O (l)
Hf°
/ kcal mol-1
0
2
3
–30
–32
575
–26
–94
–58
–68
Viele weitere Bildungsenthalpien können z. B. in CRC Handbook of Chemistry and Physics gefunden werden.
Skript AC-OC I
155
6. Konformationsanalyse
6.1. Wie man ein Cyclohexanderivat zeichnet
Um Cyclohexanderivate akkurat zu zeichnen, ist die folgende Prozedur sehr nützlich.
1. Man zeichnet ein breites V:
2. Darunter wird ein breites, umgekehrtes und leicht verschobenes V hinzufügt:
3. Die zwei V werden verknüpft:
4. Die axialen Substituenten werden durch vertikale Segmente zum Cyclohexanring verknüpft:
5.
Die äquatorialen Substituenten sind durch Segmente dargestellt, die parallel zu den Ringbindungen sein müssen:
Skript AC-OC I
156
6.2. Thermodynamischen Daten
Standardbildungsenthalpien der verschieden Isomere von Dimethylcyclohexan
Anzahl gau- Destabilisierung Hf°(flüssig)
Hf°(gas)
-1
che-WW *
/ kcal mol-1 **
/ kcal mol
/ kcal mol-1
1,1-Dimethylcyclohexan
2+0
1.7
–52.3
–43.3
cis-1,2-Dimethylcyclohexan
2+1
2.6
–50.6
–41.2
trans-1,2-Dimethylcyclohexan
0+1
0.9
–52.2
–43.0
cis-1,3-Dimethylcyclohexan
0+0
0
–53.3
–44.2
trans-1,3-Dimethylcyclohexan
2+0
1.7
–51.6
–42.2
cis-1,4-Dimethylcyclohexan
2+0
1.7
–51.5
–42.2
trans-1,4-Dimethylcyclohexan
0+0
0
–53.2
–44.1
E. Prosen, W. Johnson, F. Rossini. Journal of Research, Research Paper RP1821, Vol. 39, 1947,
173-175
*) Anzahl der gauche-Wechselwirkungen (1,3-diaxialen Wechselwirkungen) + Anzahl Me/Me
gauche-Wechselwirkungen im stabilsten Konformer.
**) Theoretische Destabilisierung des Moleküls durch die Anwesenheit von gaucheWechselwirkungen (1,3-diaxiale Wechselwirkung (entspricht 2 x gauche-Wechselwirkung) =
1.7 kcal/mol; Me/Me gauche-Wechselwirkung = 0.9 kcal/mol).
Verbindung
Skript AC-OC I
157
7. Chemische Reaktionslehre
7.1. Numerische Beispiele
Beispiel zur Verwendung der Gleichgewichtskonstante
Man betrachte die folgende Reaktion in Wasser bei 25°C:
HO– + CH3Cl
CH3OH + Cl–
Wenn die Anfangskonzentrationen [CH3Cl]0 = 0.1 M und [NaOH]0 = 0.2 M sind, ist ihre Konzentration im Gleichgewicht [CH3Cl] = (0.1 – x) M und [NaOH] = (0.2 – x) M, wobei x die Konzentration der Moleküle ist, die die Reaktion vollzogen haben. Analog gilt im Gleichgewicht [CH3OH] =
[Cl–] = x M.
Da die stöchiometrischen Koeffizienten aller Verbindungen 1 betragen, ist die folgende Gleichung
gültig:

CH 3 OH  Cl – 
( x)  ( x)
K=
=
= 1016
–
CH3 Cl HO  (0.1 − x)(0.2 − x)
Durch Lösen dieser Gleichung bekommt man für x die Werte 0.1 und 0.2. Da maximal 0.1 M von
CH3Cl reagiert haben können, hat man in Gleichgewicht die folgenden Konzentrationen: [CH3Cl] 
0.0 M; [NaOH] = 0.1 M; [CH3OH] = 0.1 M und [Cl–] = 0.1 M.
Beispiel zur Berechnung der Gleichgewichtskonstante
Man betrachte die folgende Reaktion in Wasser bei 25°C:
Gf°:
HO– (aq) + CH3Cl (aq)
–37.58
–13.72
CH3OH (aq) + Cl– (aq)
–41.90
–31.36 kcal/mol
Die freie Reaktionsenthalpie ist daher
Gf°(CH3OH) + Gf°(Cl–) – Gf°(HO–) – Gf°(CH3Cl) =
= –41.90 – 31.36 – (–37.58) – (–13.72) = –21.96 kcal/mol
was einer Gleichgewichtskonstante
K =e
entspricht.
−
G
RT
 1016
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