User-ID: zumy1, 28.04.2022 09:53:46 Dokument EWS 2014 S. 129 Autor Walter Frenz Titel Ne bis in idem im Kartellrecht Seiten 129-132 Publikation Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Herausgeber Maria Wolfer ISSN 0938-3050 Verlag Deutscher Fachverlag GmbH Prof. Dr. jur. Walter Frenz, Maître en Droit Public, Aachen Ne bis in idem im Kartellrecht Das Doppelbestrafungsverbot gilt auch im Kartellrecht. Zudem sind gemäß dem historischen Tatbegriff des EGMR und den EuGH-Entscheidungen zum Schengen-Übereinkommen nach einer Ahndung weitere Bußgelder in der EU ausgeschlossen – nicht aber international. I. Anwendbarkeit Obwohl es sich bei Geldbußen gem. Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 und entsprechend einer festen Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union1 um verwaltungsrechtliche Sanktionen handelt, ist auf sie schon infolge ihrer Höhe der Grundsatz des Doppelbestrafungsverbots (ne bis in idem) anwendbar.2 Dieser Grundsatz besagt, dass ein Unternehmen wegen eines Wettbewerbsverstoßes, der bereits Gegenstand eines Verfahrens war und in dem das Unternehmen hierfür entweder sanktioniert oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, nicht erneut verurteilt oder verfolgt werden darf.3 Eine bloße Nichtigerklärung aus rein formalen Gründen ohne materielle Beurteilung des wettbewerbsrelevanten Sachverhalts steht allerdings einer Wiederaufnahme von Verfolgungsmaßnahmen nicht entgegen.4 Ein und dieselbe Verhaltensweise darf unabhängig davon zugleich mit einem Bußgeld und mit einem Zwangsgeld sanktioniert werden, ohne dass dies mit dem Grundsatz des Doppelbestrafungsverbots kollidiert. Dies ergibt sich aus dem Charakter des Zwangsgeldes als Bestandteil des Verwaltungszwangsverfahrens. 5 1 S. nur EuGH, 7. 1. 2004 – Rs. C-204/00 P u. a., Aalborg Portland u. a., Slg. 2004, I-123, Rn. 200: “reines Verwaltungsverfahren”, m. w. N. Vilsmeier, Tatsachenkontrolle und Beweisführung im EU-Kartellrecht auf dem Prüfstand der EMRK, 2013, S. 10 f. 2 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, § 21 Rn. 33; Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 7 Rn. 24 ff.; Frenz, Europarecht 2, 2006, Rn. 1593 ff. auch zum Folgenden. 3 EuGH, 15. 10. 2002 – Rs. C-238/99 P u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij u. a., Slg. 2002, I-8375, Rn. 61. 4 EuGH Rs. C-238 u. a./99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij (Fn. 3), Rn. 62. 5 Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 2), § 21 Rn. 2. Ausdruckseite 2 von 6 II. Ausschluss von weiteren Bußgeldern innerhalb der EU 1. Ansatz und Bedeutung a) Grundsätzlich parallele Anwendbarkeit von Art. 101, 102 AEUV und nationalem Wettbewerbsrecht Dass zwei Bußgeldverfahren aufeinandertreffen, ist nicht ausgeschlossen, wenn sie unterschiedlichen Zielen dienen und der Zuständigkeitsverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten entspringen.6 Nach Art. 3 VO (EG) Nr. 1/2003 ist dies in Abs. 3 explizit vorgesehen; er sichert allgemein nur die einheitliche Anwendung und Durchsetzung von Art. 101 f. AEUV und schließt in Abs. 2 nationales Wettbewerbsrecht lediglich insoweit aus, als es im Ergebnis nach dem Kartellverbot erlaubte Verhaltensweisen verbietet. Doppelverfahren und auch doppelte Bußgelder kommen bei einer solch formellen Betrachtung wegen der grundsätzlich parallelen Anwendbarkeit von Art. 101, 102 AEUV und nationalem Wettbewerbsrecht weiterhin in Betracht. Die Verfahrenshäufung an sich verstößt danach nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem. Die zeitlich früher verhängte Sanktion war jedoch schon bislang aus Gründen der Billigkeit bei der Bemessung der später zu verhängenden Sanktion zu berücksichtigen.7 Dieses, vom EuGH bereits 1969 entwickelte Anrechnungsprinzip wird bis auf weiteres angewendet.8 b) Vom Anrechnungsprinzip zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem Indes wurden über Art. 3 VO (EG) Nr. 1/2003 europäische und nationale Wettbewerbsvorschriften parallel geschaltet und als einheitliches, notwendig aufeinander abgestimmtes System konzipiert, außer es handelt sich um einseitige unternehmerische Handlungen und damit den Bereich des EWS 2014 S. 129, 130 Art. 102 AEUV. Im Übrigen aber genügt von vornherein keine bloße Anrechnung nach Billigkeitsgesichtspunkten mehr, sondern es greift der Grundsatz ne bis in idem.9 Zwar ist nach Art. 50 EGRC der Grundsatz ne bis in idem für Straftaten grundrechtlich verankert. Angesichts der Höhe der verhängten Bußgelder werden aber auch Wettbewerbsverstöße jedenfalls in die Nähe gerückt: Der EGMR zog Art. 6 EMRK heran, 10 ebenso mittlerweile11 das EuG, 12 GAin Kokott fordert den notwendigen Nachweis der Schuld nach Art. 48 EGRC.13 Zudem ist der Grundsatz ne bis in idem fest als verfahrensrechtlicher Grundsatz gerade für Kartellbußgelder anerkannt.14 c) Fallallokation im Rahmen des ECN Folglich besteht ein Verfahrens- sowie ein Sanktionshemmnis. Es dürfen also nicht zwei Ermittlungsverfahren durchgeführt werden, und es darf im Gefolge einer nicht mehr anfechtbaren Entscheidung keine erneute Sanktion ausgesprochen werden.15 Regelmäßig werden aber innerhalb der EU die wettbewerbsrelevanten 6 Bereits EuGH, 13. 2. 1969 – Rs. 14/68, Walt Wilhelm, Slg. 1969, 1, Rn. 11; z. B. noch EuG, 9 7. 2003 – Rs. T223/00, Kyowa Hakko, Slg. 2003, II-2553, Rn. 98; EuGH, 9. 7. 2003 – Rs. T-224/00, Archer Daniels Midland, Slg. 2003, II-2597, Rn. 87. Das gilt nicht bei vollständiger Deckungsgleichheit von Sachverhalt und Zielrichtung, s. bereits EuGH, 5. 5. 1966 – Rs. 18/65 und 35/65, Gutmann, Slg. 1966, 153 (178), in anderem Zusammenhang. 7 Grundlegend EuGH Rs. 14/68, Walt Wilhelm (Fn. 6), Rn. 11; etwa auch EuG, 6. 4. 1995 – Rs. T-141/89, Tréfileurope, Slg. 1995, II-791, Rn. 191. 8 Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 2), § 21 Rn. 34 f.; s. etwa EuG, 29. 4. 2004 – Rs. T-236/01 u. a., Tokai Carbon u. a., Slg. 2004, II-1181, Rn. 134 ff. 9 Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht, 2. Aufl. 2009, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 11. 10 EGMR, 27. 9. 2011 – Nr. 43509/08, Menarini Diagnostics S.R.L./Italien. 11 S. etwa offen lassend noch EuG, 13. 1. 2004 – Rs. T-67/01, JCB Service, Slg. 2004, II-49, Rn. 36; m. N. bei Vilsmeier (Fn. 1), S. 11. 12 EuG, 13. 7. 2011 – Rs. T-138/07, Schindler u. a., Slg. 2011, II-4819, EWS 2011, 382, Rn. 49 ff. 13 GAin Kokott Rs. C-681/11, Schenker, Rn. 41. 14 EuGH Rs. C-204/00 P u. a., Aalborg u. a. (Fn. 1), Rn. 338; ebenso EuG Rs. T-236/01 u. a., Tokai Carbon u. a. (Fn. 8), Rn. 130. 15 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1/2, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 243. Ausdruckseite 3 von 6 Fälle im Rahmen des Netzwerks zwischen Kommission und nationalen Kartellbehörden (European Competition Network – ECN) verteilt. Dabei wird eine Behörde bestimmt, welche “gut geeignet” ist und daher im Hinblick auf den Zweck des Wettbewerbsrechts den Fall am besten bearbeiten kann. Bei hinreichenden unionsrelevanten Auswirkungen ist ohnehin die Kommission zuständig; sie kann nach Art. 11 Abs. 6 VO (EG) Nr. 1/2003 Fälle an sich ziehen, so dass die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde entfällt. Damit wird der Ne-bis-in-idem-Grundsatz praktisch kaum relevant. 16 Hat die im Rahmen der Fallverteilung auf der Basis des Netzwerks zuständige Behörde Ermittlungen aufgenommen und je nach Ausgang eine Sanktion ausgesprochen, kann eine Behörde nur noch bei wesentlicher Änderung des Sachverhalts tätig werden.17 Praktisch kann dies relevant werden, wenn die Ahndung von Verstößen lediglich im Hinblick auf ein Territorium nicht mehr angemessen ist, 18 da sich die grenzüberschreitenden Auswirkungen erst im Nachhinein zeigten. Hat die Kommission allerdings die grenzüberschreitenden Auswirkungen erkannt und daher einen hinreichenden Unionsbezug festgestellt, insbesondere weil mehr als drei Mitgliedstaaten betroffen waren, kann und muss sie das Verfahren nach Art. 11 Abs. 6 VO (EG) Nr. 1/2003 an sich ziehen, so dass Probleme der Doppelbestrafung ausscheiden. 19 2. Identische Zuwiderhandlung als Voraussetzung Von vornherein setzt der Ne-bis-in-idem-Grundsatz voraus, dass es sich um dieselbe Zuwiderhandlung dreht.20 Damit müssen der Sachverhalt, die Person und das geschützte Rechtsgut identisch sein.21 Ist somit nicht der zugrunde liegende Lebenssachverhalt, sondern der Unrechtsgehalt der einschlägigen Vorschrift maßgeblich, kommen Mehrfachsanktionen in Betracht.22 Danach käme eine Doppelsanktion weiterhin dann in Frage, wenn nationales Wettbewerbsrecht neben dem Unionsrecht anwendbar ist, und zwar sowohl im Hinblick auf Art. 101 als auch auf Art. 102 AEUV.23 Allerdings muss dann das nationale Recht an ein anderes geschütztes Rechtsgut anknüpfen. Zudem verlangt Art. 3 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1/2003 eine inhaltliche Kohärenz der nationalen Wettbewerbsregeln mit dem EU-Wettbewerbsrecht. Nur für einseitige Handlungen und damit für Missbräuche erlaubt Art. 3 Abs. 2 Satz 2 VO (EG) Nr. 1/2003 strengere innerstaatliche Vorschriften. 3. Weiter Tatbegriff des EGMR a) Historischer Lebenssachverhalt Auch insoweit stellt sich die Frage, ob nicht der weite Tatbegriff des EGMR zu übernehmen ist, der auf den historischen Lebenssachverhalt abstellt und eine erneute Verfolgung auch dann ausschließt, wenn sich dieser Sachverhalt später in einem anderen Licht darstellt und einen anderen Tatbestand verletzt.24 Danach kann bei einem Bußgeld wegen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht nochmals ein Bußgeld wegen Art. 102 AEUV verhängt werden.25 Entscheidend ist dann nämlich, dass die konkreten Umstände unlösbar 16 Sura, in: Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 2, 11. Aufl. 2010, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 72. 17 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (Netzwerkbekanntmachung), ABl. 2004 C 101, S. 43, Rn. 19. 18 Sura, in: Langen/Bunte (Fn. 16), Art. 23 VO 1/2003 Rn. 72. 19 Sura, in: Langen/Bunte (Fn. 16), Art. 23 VO 1/2003 Rn. 72. 20 EuG, 20. 4. 1999 – Rs. T-305/94 u. a., LVM, Slg. 1999, II-931, Rn. 96 ff.; Schütz, in: Busche/Röhling (Hrsg.), Kölner Kommentar zum Kartellrecht, Bd. 2, 2014, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 53. 21 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 15), Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 244 unter Verweis u. a. auf EuGH Rs. C-204 u. a./00 P, Aalborg (Fn. 14), Rn. 138; auch EuGH, 29. 6. 2006 – Rs. C-308/04 P, SGL Carbon, Slg. 2006, I-5977, Rn. 26. 22 Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht, 2. Aufl. 2009, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 11. 23 Schütz, in: Busche/Röhling (Fn. 20), Art. 23 VO 1/2003 Rn. 53. 24 EGMR, 29. 5. 2001 – Nr. 37 950/97, Franz Fischer/Österreich, ÖJZ 2001, 657 (658). Für eine Übertragung in das EU-Kartellordnungswidrigkeitenrecht Wilz, The Principle of Ne Bis in Idem in EC Antitrust Enforcement: A Legal and Economic Analysis, World Competition 26 (2003), 131 (134 ff.); Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 15), Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 244 mit Fn. 707 gegen EuG Rs. T-236/01 u.a, Tokai Carbon (Fn. 8), Rn. 135. 25 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 15), Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 245; Lampert/Niejahr/Kübler/Weidenbach, EG-Kartellverordnung, 2004, Art. 23 Rn. 467; Roesen, Mehrfache Sanktionen im internationalen und europäischen Kartellrecht, 2009, S. 172 ff. Ausdruckseite 4 von 6 miteinander verbunden sind und daher eine identische materielle Tat bilden, nicht notwendig hingegen eine normative, so dass das geschützte Rechtsgut unbeachtlich ist.26 Wenn Wettbewerbsbehörden gleichwohl parallel tätig werden, ohne dass das nationale Wettbewerbsrecht sich im erfassten Sachverhalt unterscheidet, liegt ein Anwendungsfall des Grundsatzes ne bis in idem jedenfalls auf der Basis des materiellen Tatbegriffs vor. Das ist selbst dann der Fall, wenn das nationale Recht gar keine wettbewerblichen Zwecke verfolgt, sondern andere, wie etwa strafrechtliche, indes an denselben Sachverhalt im Sinne des historischen Lebenssachverhalts EWS 2014 S. 129, 131 und nicht des normativen Tatbegriffs anknüpft. Insoweit ist ebenfalls das Zusammenwachsen der europäischen Rechtsordnung in den Blick zu nehmen. Kartellfragen sollen in erster Linie nach Wettbewerbsrecht gelöst werden. b) Anrechnung von Sanktionen nach anders gelagertem nationalem Recht Jedenfalls sind Sanktionen, die nach anders gelagertem nationalen Recht bereits ergriffen wurden, wie etwa strafrechtliche Sanktionen, durchaus anzurechnen. Durch sie wurde gleichfalls vorangegangenes Tun geahndet. Damit greift zumindest der allgemeine Billigkeitsgedanke, um Geldbußen entsprechend anzurechnen.27 Umgekehrt ist dann überhaupt keine Sanktionierung mehr auf nationaler Ebene möglich, wenn die Kommission oder eine andere Wettbewerbsbehörde wettbewerbliche Sanktionen festgelegt hat. Bei konsequenter Verfolgung des Tatbegriffs im Sinne des historischen Lebenssachverhaltes kann auch nicht eine höhere Sanktion später festgelegt werden, wenn sich im Nachhinein zeigt, dass tatsächliche Umstände nicht vollständig bei der erstmaligen Festsetzung der Geldbuße berücksichtigt wurden. Das gilt insbesondere dann, wenn sich hinterher noch zusätzliche wettbewerbswidrige Handlungen oder Auswirkungen etwa eines permanenten Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht zeigen. Entsprechendes gilt für Einzelakte, wenn ein fortgesetztes wettbewerbswidriges Verhalten vorliegt.28 Somit kann die Kommission auch nicht später eine zusätzliche Geldbuße festlegen, nachdem eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Kartellverstoß ermittelt und sanktioniert hat, der sich lediglich auf ihr Territorium erstreckte; es ist dann irrelevant, wenn sich im Nachhinein zeigt, dass sich der Kartellrechtsverstoß in mehreren Mitgliedstaaten auswirkte. 4. Divergierender Territorialbezug Eine andere Begründung dafür, dass nationale Behörden weiterhin Sanktionen ergreifen können, sind Wettbewerbsverstöße auf verschiedenen Territorien. Dann kommt allerdings eine Sanktionierung nur in Betracht, wenn die wettbewerblichen Auswirkungen lediglich auf anderen Territorien sanktioniert wurden, nicht hingegen auf dem eigenen. Hier soll jede Wettbewerbsbehörde die Wettbewerbsverstöße auf dem eigenen Territorium ahnden können. 29 Allerdings stellt sich das Problem, dass wettbewerbliche Auswirkungen vielfach auch in anderen Mitgliedstaaten auftreten. Wenn dann eine Schwerpunktbearbeitung durch eine Wettbewerbsbehörde erfolgt, sind auch extraterritoriale Auswirkungen mit erfasst.30 Weitergehend handelt es sich regelmäßig um denselben Sachverhalt, der nur auf einem Territorium stattfand, aber in andere Mitgliedstaaten ausstrahlt. Dann sind auch diese Auswirkungen in andere Mitgliedstaaten auf diesen einen Sachverhalt zurückzuführen. Nach dem Tatbegriff im Sinne des historischen Lebenssachverhaltes ist damit die vollständige Tat abgedeckt. Dementsprechend ist eine Sanktionierung gesperrt.31 Es kommt daher überhaupt nicht darauf 26 EuGH, 9. 3. 2006 – Rs. C-436/04, van Esbroeck, Slg. 2006, I-2333, Rn. 36 im Hinblick auf Art. 54 SchengenDurchführungsübereinkommen; allerdings ist die Union nicht Vertragspartei, Schütz, in: Busche/Röhling (Fn. 20), Art. 23 VO 1/2003 Rn. 53. Dies ändert aber nichts an seiner großen praktischen Bedeutung für die EU; dazu Frenz, Europarecht 6, 2010, Rn. 2723 ff. S. ebenfalls zu Schengen EuGH, 28. 9. 2006 – Rs. C-467/04, Gasparini u. a., Slg. 2006, I-9199; EuGH, 28. 9. 2006 – Rs. C-150/05, van Straaten, Slg. 2006, I-9327. 27 Sura, in: Langen/Bunte (Fn. 16), Art. 23 VO 1/2003 Rn. 70 a. E. unter Verweis auf bereits EuGH Rs. 14/68, Walt Wilhelm (Fn. 6), Rn. 11; EuG Rs. T-141/89, Tréfileurope (Fn. 7), Rn. 191; EuG, 6. 4. 1995 – Rs. T-149/89, Sotralentz, Slg. 1995, II-1127, Rn. 29. 28 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 15), Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 247. 29 Sura, in: Langen/Bunte (Fn. 16), Art. 23 VO 1/2003, Rn. 71. 30 S. Klees, WuW 2006, 1222 (1227) für eine entsprechende Befugnis. 31 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 15), Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 258. Ausdruckseite 5 von 6 an, ob die nationalen Kartellbehörden nur die Auswirkungen auf ihr Gebiet oder auch in andere Mitgliedstaaten berücksichtigt haben. Eine andere Frage ist, ob durch die Auswirkungen auf anderen Märkten und die damit verbundenen stärkeren wettbewerbsschädlichen Auswirkungen auf mehreren Gebieten nicht auch die Bußgeldhöhe steigen muss, zeigen diese Folgen doch die entsprechende bedeutende Stellung der gegen das Wettbewerbsrecht verstoßenden Unternehmen. Das ist aber eine Frage der Bemessung des Kartellbußgeldes und nicht der Entscheidung, ob der Fall nochmals aufgegriffen werden darf. 5. Formfehler Um eine Abgrenzung des historischen Lebenssachverhaltes handelt es sich nicht, wenn eine Bußgeldentscheidung wegen eines Formfehlers für nichtig erklärt worden ist. Dann kann eine zweite Entscheidung erlassen werden, wodurch dieser Verstoß neutralisiert wird.32 Etwas anderes gilt aber, wenn zugleich über materiell-rechtliche Klagegründe befunden wurde.33 Die bloße Nichtanwendung einer Vorschrift in Kenntnis der Tat ist hingegen unbeachtlich und rechtfertigt keinen neuen Bußgeldbescheid.34 Auch eine nicht ausreichende Beweisführung hindert einen neuen Bußgeldbeschluss, wenn deshalb die erste Entscheidung für nichtig erklärt wurde.35 III. Keine Anrechnung außerhalb der EU verhängter Bußgelder Parallel zu nationalen und EU-Verfahren können auch unterschiedliche Rechtsordnungen außerhalb der EU eingreifen. Haben sie nicht dasselbe Schutzziel, ergeben sich nach der Konzeption des Gerichtshofs der EU insoweit keine Überschneidungen. Das gilt für Verfahren vor der Kommission und vor amerikanischen oder kanadischen Behörden, die gar nicht auf den Schutz des Wettbewerbs in der EU zielen. Schon deshalb greift daher der Ne-bis-in-idem-Grundsatz insoweit nicht ein.36 Allerdings stellt sich die Frage einer Anrechnung von in anderen Staaten verhängten Bußgeldern.37 Das gilt zumal vor dem Hintergrund des historischen Tatbegriffs des EGMR, der das geschützte Rechtsgut unbeachtlich sein lässt.38 Dass sich bei international tätigen Unternehmen Wettbewerbsverstöße auf verschiedenen Märkten auswirken, liegt an der Verflochtenheit der globalen Wirtschaftsbeziehungen. Deren Folge ist eine Vervielfältigung der Auswirkungen. Die Wechselbeziehung und das Zusammenwachsen der europäischen Märkte als ein Ansatzpunkt des Walt-Wilhelm-Urteils39 ist mittlerweile im Weltmaßstab zu beobachten, so EWS 2014 S. 129, 132 dass eine Erweiterung jedenfalls der Anrechnung von Bußgeldern geboten sein könnte.40 Jedoch vervielfältigen sich damit gleichzeitig auch die Wettbewerbsbeeinträchtigungen. Zudem stellt der EuGH auf das “besondere(n) System der Zuständigkeitsverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten auf kartellrechtlichem Gebiet” ab, 41 welches in dieser Form keineswegs weltweit etabliert ist, mithin nicht allgemein besteht. Dieses spezifisch für die EU entwickelte System der Zuständigkeitsverteilung bedingt mittlerweile auch einen engen Informationsaustausch und lässt die beteiligten Behörden insgesamt “zusammenrücken”. Somit bestehen gute Einblicke in das unterschiedliche Vorgehen. Diese Übersicht fehlt hingegen bei Bußgeldverhängungen von Kartellbehörden aus anderen Staaten. Die Kommission müsste in diesen Fällen 32 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 15), Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 248. 33 EuGH Rs. C-238 99 P u. a., LVM (Fn. 3), Rn. 61 f.in Bestätigung von EuG Rs. T-305 u. a./94, LVM (Fn. 20), Rn. 98. 34 Kuck, WuW 2002, 689 (690). 35 Jedenfalls fehlt es dann an der ausreichenden gesetzlichen Grundlage, Immenga/Mestmäcker (Fn. 15), Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 248 mit Fn. 722. 36 EuG Rs. T-236/01 u. a (Fn. 8), Tokai Carbon, Rn. 134 ff.; Frenz, Europarecht 2, 2006, Rn. 1595 ff. auch zum Folgenden. 37 Ausführlich abl. EuG Rs. T-223/00, Kyowa Hakko (Fn. 6), Rn. 99; EuGH Rs. T-224/00, Archer Daniels Midland (Fn. 6), Rn. 88 ff.; offen hingegen noch EuGH, 14. 12. 1972 – Rs. 7/72, Boehringer, Slg. 1972, 1281, Rn. 3. 38 S.o. II. 3. 39 EuGH Rs. 14/68, Walt Wilhelm (Fn. 6), Rn. 11. 40 Dafür Eilmansberger, EWS 2004, 49 (54. 41 EuGH Rs. 14/68, Walt Wilhelm (Fn. 6), Rn. 11. Dannecker/Biermann, in: Ausdruckseite 6 von 6 immer genau untersuchen, auf welche Wettbewerbsverstöße und -auswirkungen sich das bisherige Bußgeld bezieht. Das kann sehr schwierig sein, zumal wenn eine ausführliche Begründung fehlt. Jedenfalls werden regelmäßig nicht sämtliche weltweiten Auswirkungen erfasst sein.42 Infolge der Divergenzen in den unterschiedlichen Kartellrechtsordnungen werden auch die wettbewerbsrelevanten Handlungen eher selten vollständig deckungsgleich erfasst sein; vielfach werden unterschiedliche Aspekte herausgegriffen, bewertet und in ihren Auswirkungen untersucht. Das gilt schon vom Ausgangspunkt her, wenn die Verhaltensweisen sich in den verschiedenen Gebieten unterschiedlich darstellen – und sei es nur bezogen auf den Zweck und den geographischen Schwerpunkt.43 So wird “die Tat” nur territorial begrenzt erfasst. Diese Zerstückelung der wettbewerbsrelevanten Auswirkungen stellt den historischen Tatbegriff international in Frage. Das spricht dafür, jede Kartellbehörde das für die Auswirkungen auf ihrem Territorium adäquate Bußgeld festsetzen zu lassen. Formal lässt sich diese separate Bußfeldfestsetzung dadurch erreichen, dass dieselbe Sache (idem) nur vorliegt und bereits sanktioniert ist, wenn die wettbewerbsschädlichen Auswirkungen auf demselben Gebiet erfasst sind. Ansonsten können parallele Verfahren eingeleitet werden, ohne auf andere Bußgeldfestsetzungen Rücksicht nehmen zu müssen. Die Billigkeit und die Verhältnismäßigkeit44 sind dadurch gewahrt, dass wettbewerbsschädliche Auswirkungen auf mehreren Gebieten entstanden sind und weltweit operierende Konzerne eine tendenziell stärkere Macht haben, den freien Wettbewerb zu beeinträchtigen. Das Korrelat dazu ist auch eine besondere Verantwortung. Wird diese verletzt, rechtfertigt dies insgesamt höhere Bußgelder. Diese schrecken zudem ab, Wettbewerbsverstöße zu begehen und haben damit positive Wirkungen für die Wettbewerbsfreiheit. IV. Fazit Bei einer formellen Sicht lässt Art. 3 VO (EG) Nr. 1/2003 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU parallele Bußgeldverfahren in Kartellsachen zu und verlangt nur eine Anrechnung von Sanktionen. Ein Verfahrens- und Sanktionshindernis nach dem Grundsatz ne bis in idem folgt hingegen aus dem Zusammenwachsen als einheitliches, aufeinander abgestimmtes Wettbewerbssystem mit Aufgabenverteilung nach der Netzwerkbekanntmachung. Daran fehlt es auf internationaler Ebene, so dass dort auch eine Anrechnung unterbleiben kann. Wegen der dort territorial geteilten Betrachtung der wettbewerbsrelevanten Auswirkungen kann zudem der weite historische Tatbegriff unter Ausblendung des geschützten Rechtsgutes nicht greifen. EU-weit führt er hingegen zu einem umfassenden Verfolgungs- und Ahndungshindernis, falls erst einmal ein Bußgeld verhängt ist – wenn auch aufgrund andersartiger Tatbestände (Art. 101 statt 102 AEUV) – oder wegen mangelnder Beweisführung aufgehoben ist – nicht aber bei bloßen Formfehlern. 42 S. EuG Rs. T-224/00, Archer Daniels Midland (Fn. 6), Rn. 103. 43 So der Ansatz von EuGH, 14. 12. 1972 – Rs. 7/72, Boehringer, Slg. 1972, 1281, Rn. 4, der daher die Frage des ne bis in idem im Hinblick auf Sanktionen von Drittstaaten nicht weiter untersuchte. 44 Darauf abstellend Eilmansberger, EWS 2004, 49 (53 f.).