2.1 Prüfen von Strukturen 2 Untersuchen von Strukturen und Funktionen des Bewegungssystems 2.1 Prüfen von Strukturen 2.1.1 Gelenkmessung nach der Neutral-Null-Methode Bärbel Trinkle Das Bewegungsausmaß eines Gelenks kann mithilfe eines Winkelmessers (Goniometer) gemessen werden. Synonyme für das Bewegungsausmaß in der Literatur sind Range of motion (ROM) und Joint range of motion (JROM). Die Neutral-Null-Methode ist standardisiert. Die Festlegung der Nullstellung eines Gelenks ermöglicht vergleichbare Ergebnisse. Sie ist als Neutral-Null-Stellung definiert und entspricht dem aufrechten Stand des Menschen (Abb. 2.1). Die Arme hängen seitlich 39 neben dem Körper, und Daumen, Füße, Knie sowie der Blick sind nach vorne gerichtet. Die Fuß- und Unterschenkellängsachsen bilden einen rechten Winkel, die Füße stehen im Hüftgelenkabstand. In dieser festgelegten Ausgangsstellung befinden sich die Gelenke in ihrer Nullstellung, aus der heraus die möglichen Bewegungsausschläge gemessen werden. Diese Haltung lässt sich auch auf andere AusgangsV stellungen übertragen (z. B. Rücken- , Seiten- oder Bauchlage). Bewegt wird stets der distale Gelenkpartner in einer der 3 definierten Körperebenen (Sagittal-, Frontal-, Transversalebene), während der proximale Gelenkpartner am Ort bleibt. Anlegen des Winkelmessers Der Drehpunkt des Winkelmessers wird in Höhe der Bewegungsachse, die beiden Schenkel entlang der virtuellen (gedachten) Knochenlängsachsen angelegt. Es ist wichtig, die anvisierten Bezugs- bzw. Distanzpunkte genau zu ertasten und zu markieren, um die Variabilität der Messergebnisse möglichst gering zu halten (Cabri 2001). Beispiele: 1. Messen der Flexion/Extension des Kniegelenks Drehpunkt des Winkelmessers lateral auf Mitte des Kniegelenks; Proximalen Schenkel entlang der Femurlängsachse mit Bezugspunkt Trochanter major; Distalen Schenkel entlang der Unterschenkellängsachse mit Bezugspunkt Malleolus lateralis. 2. Messen der Abduktion/Adduktion des Hüftgelenks Drehpunkt des Winkelmessers von ventral auf Mitte des Hüftgelenks; Proximalen Schenkel entlang der Verbindungslinie der Spina iliacae anteriores superiores; Distalen Schenkel entlang der Femurlängsachse mit Bezugspunkt Kniegelenkmitte. Den Winkelmesser exakt anlegen und Ausweichbewegungen des Patienten durch aktive bzw. passive Widerlagerung verhindern! Kann der Winkelmesser nicht über dem Gelenkmittelpunkt angelegt werden, lässt sich der Drehpunkt parallel verschieben (Abb. 2.2). Abb. 2.1 Neutral-Null-Stellung. aus: Hüter-Becker, Untersuchen in der Physiotherapie (ISBN 9783131368928) © 2011 Georg Thieme Verlag 2 2 40 2 Untersuchen von Strukturen und Funktionen des Bewegungssystems Für vergleichbare Messungen (z. B. bei Wiederholungen oder Therapeutenwechsel) und um Messfehler auszuschließen, müssen immer dieselben gut wahrnehmbaren Bezugs- bzw. Distanzpunkte oder Verbindungslinien zwischen 2 Körperpunkten anvisiert werden. Die gemessenen Werte werden notiert und mit den Normwerten verglichen (Tab. 2.1, Tab. 2.2, Tab. 2.3, Tab. 2.4, Tab. 2.5, Tab. 2.6, Tab. 2.7). Dokumentation des Messergebnisses Abb. 2.2 Messen der Rotation des Hüftgelenks bei 90° flektiertem Hüft- und Kniegelenk (Rotation in der Frontalebene). Der Drehpunkt des Winkelmessers liegt über dem Hüftgelenk, nach ventral parallel verschoben. Messen Gemessen werden aktives und/oder passives Bewegungsausmaß der möglichen Gelenkbewegung, wobei der distale Gelenkpartner sich möglichst weit zum proximalen Gelenkpartner hinbewegt. Kann der Patient die Bewegung aktiv und schmerzfrei durchführen, ist das der passiven Messung vorzuziehen, da er seine eigene Muskulatur einsetzt, um das Bewegungsausmaß voll auszuschöpfen. Bei der passiven Messung durch die Therapeutin wird außer der Winkelmessung die Qualität des Endgefühls bzw. des Bewegungsstopps (z. B. muskulär, kapsulär, knöchern) des untersuchten Gelenks mitbestimmt (Cabri 2001). Zur Analyse und Interpretation einer schmerzhaften bzw. nicht schmerzhaften Bewegungseinschränkung sowie bei Lähmungen ist die Differenzierung zwischen dem passiven und aktiven Bewegungsausmaß unerlässlich. Die Notation (Dokumentation) des Messergebnisses muss für fachkundige Dritte schnell nachvollziehbar sein. Um die Bewertung und die Verlaufskontrolle zu erleichtern, erfolgt sie immer in derselben Reihenfolge. Vorgehensweise Benennen des Gelenks (z. B. Kniegelenk). Angeben der Bewegungsrichtungen des Gelenks in einer Ebene und um eine Bewegungsachse (z. B. Flexion/Extension). Der Messwert versteht sich ohne Angabe der Maßeinheit immer in Grad. Notieren der gemessenen Bewegungsausschläge in der genannten Reihenfolge. Lässt sich die Nullstellung erreichen, wird die 0 zwischen den gemessenen Werten notiert. Lässt sich die Nullstellung nicht erreichen, wird die 0 bei der Bewegungsrichtung eingetragen, in die kein Bewegungsausschlag möglich ist. Die gemessenen Werte werden durch Schrägstriche getrennt. Extremitätengelenke immer im Seitenvergleich messen! Beispiele: 1. Frei bewegliches Kniegelenk: Flexion/Extension rechts 130/0/0, links 130/0/0 Die Nullstellung wird erreicht. In den Kniegelenken sind endgradige Bewegungen möglich. 2. Beugekontraktur im rechten Kniegelenk: Flexion/Extension rechts 130/20/0, links 130/0/0 Das Streckdefizit von 20° wird in der 0°-Spalte dokumentiert. Dies drückt aus, dass sich die Nullstellung des Gelenks nicht erreichen lässt. 3. Kontraktur im rechten Kniegelenk: Flexion/Extension rechts 30/30/0, links 130/0/0 Ist das Gelenk kontrakt, wird die vorhandene Gelenkstellung 2-mal angegeben. aus: Hüter-Becker, Untersuchen in der Physiotherapie (ISBN 9783131368928) © 2011 Georg Thieme Verlag 2.1 Prüfen von Strukturen 41 Normwerte und Prozedere des Messens Folgende Tabellen zeigen die Normwerte (Hepp, Debrunner 2004), beschreiben das Anlegen des Winkelmessers und weisen auf Besonderheiten hin. Auf den nachfolgenden Seiten zeigen Fotos beispielhaft Messungen (S. 45ff). Tabelle 2.1 Normwerte der Bewegungen des Hüftgelenks nach Neutral-Null (Dp = Drehpunkt, PZ = proximaler Zeiger, DZ = distaler Zeiger) Bewegungen Normwerte Ausgangsstellung Anlegen des Winkelmessers und Besonderheiten (Abb. 2.3a–e) Flexion/Extension 130/0/12 RL SL Abduktion/Adduktion 40/0/30 RL Dp: Hüftgelenkmitte PZ: Verbindungslinie der Spinae DZ: Femurlängsachse/Kniegelenkmitte Transversale Abduktion/Adduktion 80/0/20 RL Dp: Hüftgelenkmitte projiziert auf Verbindungslinie der Spinae PZ: Verbindungslinie der Spinae DZ: Femurlängsachse/Kniegelenkmitte Innen-/Außenrotation aus der Nullstellung des Hüftgelenks 40/0/30 RL DP: Hüftgelenkmitte projiziert auf Fußsohle Mitte Ferse PZ: Verbindungslinie der Spinae DZ: – Beuge-/Streckachse des Kniegelenks oder – entlang der anatomische Fußlängsachse (bei stabilisierter Dorsalextension im oberen Sprunggelenk) Innen-/Außenrotation bei 90° Knieflexion 40/0/30 BL DP: Hüftgelenkmitte projiziert auf Kniegelenkmitte PZ: Verbindungslinie der Spinae DZ: Unterschenkellängsachse/Sprunggelenkmitte Innen-/Außenrotation bei 90° Hüft- und Knieflexion 30/0/50 RL Sitz DP: Hüftgelenkmitte projiziert auf Kniegelenkmitte PZ: Verbindungslinie der Spinae DZ: Unterschenkellängsachse/Sprunggelenkmitte Normal bewegliche LWS: – Dp: projiziert auf Höhe des Trochanter major – PZ: Körperlängsachse bei beweglicher flexorisch eingestellter LWS durch den Thomas-Handgriff – DZ: Femurlängsachse/Kniegelenkmitte Bedingt durch die Lordosestellung der LWS liegt die funktionelle Nullstellung des Hüftgelenks bei ca. 12° Flexion. Der Thomas-Handgriff (endgradige Flexion bei leichter Außenrotation des Gegenbeins) bewegt das Becken weiterlaufend im Hüftgelenk um ca. 12° extensorisch → Flexion der LWS. Bleibt der Oberschenkel des zu messenden Hüftgelenks auf der Unterlage liegen, ist eine Extension im Hüftgelenk von 12° möglich. Unbewegliche LWS: – Dp: s. o. – PZ: Beckenlängsachse (höchster Punkt der Crista iliaca zum Tuber ischiadicum) – DZ: Femurlängsachse/Kniegelenkmitte aus: Hüter-Becker, Untersuchen in der Physiotherapie (ISBN 9783131368928) © 2011 Georg Thieme Verlag 2