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Weiss2013 Article NutzungEinerMyoelektrischenUnt

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Originalien
Trauma Berufskrankh 2013 · 15:207–215
DOI 10.1007/s10039-013-1946-5
Online publiziert: 10. Mai 2013
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
T. Weiss1 · C. Dietrich1 · S. Preißler1 · H. Möbius1 · H. Gube2 · F. Torma3
W.H.R. Miltner1 · G. Hofmann2, 4
1 Biologische und Klinische Psychologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena
2 Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, BG-Kliniken Bergmannstrost Halle/Saale
3 Ingenieur- und Medienberatungsbüro Torma (IMBT), Kahla
4 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Jena
Nutzung einer myoelektrischen Unterarmprothese
mit Biofeedback
Reduktion von Phantomschmerz
und Erhöhung der Funktionalität
Hintergrund und Fragestellung
Phantomsensationen und unter ihnen besonders Phantomschmerzen stellen noch
immer ein medizinisches Mysterium dar.
So nehmen nahezu alle Patienten das amputierte Glied propriozeptiv und somatosensorisch wahr. Zudem berichtet ein
Großteil der Patienten über Bewegungen
im Phantomglied. Diese treten z. T. spontan auf, können aber auch mental initiiert
werden. Klinisch bedeutsamer sind Phantomschmerzen, unter denen die meisten
Amputierten leiden. Sie lassen sich oft
nicht zufriedenstellend therapieren, auch
wenn in der Literatur mehr als 60 Therapieansätze beschrieben sind [11, 25].
Pathophysiologie
Unserer Ansicht nach ist ein Grund für
die schlechten Therapieergebnisse darin zu sehen, dass Phantomschmerzen das
Resultat unterschiedlicher pathophysiologischer Mechanismen sein können, die
in bisherigen Therapieansätzen nicht differenziell berücksichtigt wurden. Dabei
kann man zwischen peripheren und zentralen Mechanismen unterscheiden.
Periphere Mechanismen
Sie können plausibel erklären, warum
Patienten mit Phantomschmerz oft über
Schmerz und Hypersensitivität in Reaktion auf Änderungen der Temperatur oder
des Luftdrucks, Vibration oder Berührung
am Stumpf berichten. Peripher vermittelt
ist sicher auch, dass leichtes Klopfen am
Stumpf die Schmerzwahrnehmung verstärken kann.
Jede Amputation stellt eine Axotomie
der afferenten Nerven dar. Axotomierte
afferente Nerven zeigen partiell eine retrograde Degeneration. Unmyelinisierte CFasern, die Temperatur und Nozizeption
vermitteln, sind hiervon besonders stark
betroffen. Ein Teil dieser Fasern scheint
amputationsinduziert unterzugehen, andere zeigen eine erhöhte Spontanaktivität
[18] und/oder erhöhte Erregbarkeit. Derartige Spontanentladungen könnten vom
Gehirn als Schmerz interpretiert und in
die amputierte Extremität projiziert werden. Sie stellen damit ein plausibles Erklärungsmodell für Phantomschmerz dar.
Neben den soeben genannten Reaktionen werden v. a. in unmyelinisierten Fasern ein Anschwellen der geschädigten
Nervenendigungen und ein regeneratives Aussprossen der geschädigten Neuronen berichtet. Dieser an sich sinnvolle
Mechanismus der Regeneration geschädigter Neuronen ist nach einer Amputation jedoch ineffektiv. Es können sich Neurome bilden, die oft ebenfalls eine spontane Aktivität aufweisen. Diese kann zudem durch mechanische oder chemische
Stimuli evoziert oder verstärkt werden
(s. Beispiel Beklopfen des Stumpfs). Ektope Entladungen von Stumpfneuromen
stellen somit ebenfalls eine Quelle für einen abnormen afferenten Input zum Zentralnervensystem und somit potenzielle
Auslöser für spontanen und/oder evozierten Phantomschmerz dar [10]. Zytokine, Amine und andere biologisch aktive
Substanzen können die neuronale Erregung bahnen [5].
Darüber hinaus können zwischen den
aussprossenden Axonen dysfunktionale Verbindungen, sog. Ephapsen, entstehen. Diese können ebenfalls zur Spontanaktivität der afferenten Nerven beitragen,
leicht vorstellbar ist das z. B. für die Verbindung zwischen einer sympathischen
und einer nozizeptiven Faser.
Eine anästhetische Blockade von
Neuromen oder der den Arm versorgenDie Studie zur myoelektrischen Prothese wurde
durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV FR 145 und FR 196) unterstützt.
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den Nerven führt oft zu einer vorübergehenden Reduktion des Phantomschmerzes, die bei manchen, jedoch nicht bei allen Patienten zu beobachten ist [3, 19, 20].
Birbaumer et al. [3] fanden bei 50% der
untersuchten Unterarmamputierten unter
Blockade des Plexus brachialis eine deutliche Reduktion der Phantomschmerzen
bis hin zur Schmerzfreiheit; bei den verbleibenden 50% müssen aber offenbar
mehr zentrale Faktoren zur Genese des
Phantomschmerzes beigetragen haben.
Für die Entstehung von Phantomschmerz können auch plastische Veränderungen innerhalb des gesamten Nervensystems bedeutsam sein. Tierexperimentell ließ sich nach Amputationen eine zentrale Übererregbarkeit im Rückenmark
bestätigen. Diese rekrutiert sich u. a. aus
einer reduzierten Aktivität verschiedener
inhibitorischer Interneuronenpopulationen, einer Reduktion von Opioidrezeptoren, erhöhter Spontanaktivität nozizeptiver Neuronen und einer Sensitivierung
im Rückenmark. So wird etwa die Aktivierung der Rückenmarkneuronen durch
den primären Neurotransmitter der afferenten Fasern, Glutamat, verstärkt. Zudem können auch auf Rückenmarkebene mechanosensitive Afferenzen funktionell mit nozizeptiven Neuronen verbunden werden. Dadurch können normalerweise nichtschmerzhafte mechanische Stimulationen der Peripherie zur Entstehung
von Phantomschmerzen beitragen.
Zentrale Mechanismen
Neben den beschriebenen peripheren
Mechanismen wurden tierexperimentell
Veränderungen nach Amputationen auch
in den Schaltstationen der sog. Neuromatrix des Schmerzes [12] nachgewiesen,
im Hirnstamm, im Thalamus und in verschiedenen Gebieten des Kortex (Übersicht bei Flor et al. [10]). Tierexperimentelle thalamische Einzelzellableitungen,
aber auch thalamische Stimulation bei
amputierten Patienten zeigten, dass sich
auf diesem Niveau die rezeptiven Felder
ändern. Es besteht zudem der Verdacht,
dass die zentralen Veränderungen mit
Fortdauer der chronischen Schmerzen
immer stärker in den Vordergrund treten
[1, 10, 28]. Dies würde auch erklären, warum die bisherigen Therapieerfolge so gering ausfallen.
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Eine besondere Rolle für die Entstehung und/oder die Pathogenese von
Phantomschmerz scheint die kortikale Reorganisation zu spielen. Tierexperimentell konnte gezeigt werden [16], dass
eine funktionelle Reorganisation im primären somatosensorischen Kortex S1 auftritt. Das Repräsentationsareal der amputierten Gliedmaße wird durch benachbarte Repräsentationsgebiete okkupiert. In
einer Studie korrelierte das Ausmaß der
funktionellen Reorganisation in S1 bei Patienten extrem stark mit dem empfundenen Phantomschmerz (r=0,93; [8]). Weitere Studien belegten auch in anderen kortikalen Strukturen (etwa im sekundär somatosensorischen oder im primären motorischen Kortex; [15]) eine funktionelle
Reorganisation. Inzwischen wurde auch
gezeigt, dass sich die graue Substanz des
Gehirns bei Patienten mit starkem Phantomschmerz in Strukturen des sensomotorischen Kortex der amputierten Extremität verringert. Im anterioren Cingulum,
einer wesentlichen Struktur für die affektive (Schmerz-)Verarbeitung, nimmt sie
hingegen zu [21].
Hypothese zur Genese
und Aufrechterhaltung
von Phantomschmerz
Aufgrund der vorgenannten Ergebnisse
wurde folgende Hypothese aufgestellt [10]:
Vor, während und/oder als Folge der Amputation werden ein somatosensorisches
bzw. ein Schmerzgedächtnis mit neuronalem Substrat auf verschiedenen neuronalen Ebenen etabliert. Hierbei scheint
der primäre somatosensorische Kortex S1
eine besondere Rolle zu spielen. Eine Folge der Deafferenzierung stellt die Okkupation der deafferenzierten Repräsentation durch somatotop benachbart liegende Repräsentationen dar, ein Prozess, der
auch als Versklavung bezeichnet wird. Die
spätere Aktivierung von Neuronen dieser
benachbarten Region kann nun auch Neuronen der deafferenzierten Repräsentation aktivieren, die Teil des Schmerznetzwerks bzw. Schmerzgedächtnisnetzwerks
sind und damit Phantomschmerzen auslösen.
Neue Therapieansätze
Aus der Hypothese der Genese von Phantomschmerz lassen sich neue Ideen zur
besseren Behandlung ableiten. Dies ist
unbedingt erforderlich, da die bisherigen
Behandlungserfolge nicht optimal sind.
In einer Befragung von etwa 5000 Betroffenen [25] berichteten weniger als 1%
der Patienten über eine permanente oder
wenigstens lang andauernde substanzielle Reduktion ihres Phantomschmerzes.
Auch aktuelle Studien skizzieren ein ähnliches Bild [11]. Zu diesem doch unbefriedigenden Zustand tragen verschiedene
Faktoren bei:
1.An der Genese und Aufrechterhaltung von Phantomschmerzen sind offenbar diverse Mechanismen beteiligt,
die zum Großteil noch nicht komplett
verstanden sind.
2.Es existieren kaum systematische,
gut kontrollierte Studien zur Therapie von Phantomschmerz, was wissenschaftlich fundierte Schlussfolgerungen erschwert.
3.Die Möglichkeiten der Einflussnahme
auf die maladaptive Reorganisation in
zentralen Strukturen sind bislang bestenfalls in Ansätzen erschlossen.
Die schlechten Therapieerfolge förderten insbesondere in den letzten Jahren
die Einsicht, dass die Rolle zentraler Mechanismen bei der Genese und Aufrechterhaltung von Phantomschmerzen unterschätzt wurde und dass zentralnervöse
Mechanismen in der Therapie Berücksichtigung finden sollten.
In einem kürzlich erschienenen Artikel
[29] wurde ausführlich darauf eingegangen, dass die kortikale Organisation in S1
nicht nur durch Amputationen verändert
werden kann, sondern dass auch somatosensorisches Training von deutlichen
Veränderungen der funktionellen Organisation der beübten Extremität gefolgt
sein kann. Kurz zusammengefasst kann
man festhalten, dass eine massive, möglichst (aber nicht zwingend) verhaltensrelevante Stimulation zu einer Ausweitung
bzw. Vergrößerung der kortikalen Repräsentation führt. Wenn also Training mit
einer Ausdehnung kortikaler Repräsentationen einhergeht, andererseits Amputationen zu deren Einengung und zur Über-
Zusammenfassung · Abstract
nahme der Repräsentation durch benachbarte Regionen führen, liegt es nahe, Stimulation, Training und Lernprozesse einzusetzen, um die maladaptive funktionelle
Plastizität in S1 (und anderen Strukturen)
wieder zurückzudrängen.
Diese Idee ist nicht ganz neu. Einen ersten überzeugenden Beleg für die Korrektheit dieser These erbrachte die Arbeitsgruppe um Herta Flor. Flor et al. [9] behandelten eine Gruppe von Patienten mit
Phantomschmerzen mittels eines somatosensorischen Diskriminationstrainings.
Dafür wurden Stimulationselektroden in
der Stumpfregion appliziert; die Patienten
hatten innerhalb von 2 Wochen bei einem
Training von 90 min täglich die Lokalisation und die Frequenz unterschiedlicher
Stimulationen an den Elektroden zu diskriminieren. Neben einem Anstieg der
Diskriminationsfähigkeit insgesamt sowie
der 2-Punkt-Diskriminationsfähigkeit im
trainierten Areal fanden sich bei den Patienten auch signifikante Abnahmen des
Phantomschmerzes bei gleichzeitiger Reduktion der funktionellen Reorganisation in S1. In eine ähnliche Richtung lassen sich auch Befunde bei Trägern funktioneller Armprothesen interpretieren. So
klagen Patienten mit Sauerbruch-Prothese
weniger über Phantomschmerzen als Patienten mit kosmetischen Prothesen [4, 33].
Hier korrelierte die Abnahme des Phantomschmerzes mit der Dauer des Tragens
der funktionellen Sauerbruch-Prothese
[31, 34]. Lotze et al. [14] konnten für myoelektrische Prothesen zusätzlich belegen,
dass mit diesen versorgte Patienten ohne
Phantomschmerz auch keine signifikante
Reorganisation in S1 aufwiesen.
Die dargelegten Daten verleiteten uns
dazu, zu postulieren, dass ein somatosensorisches Diskriminationstraining wirkungsvoll mit dem Benutzen funktioneller Armprothesen verbunden werden könnte. Hierzu entwickelten wir eine
elektrokutane Stimulationsmethode [35].
Nachdem die Stimulationsmuster entsprechend wissenschaftlicher Erkenntnisse an Gesunden optimiert worden waren [27], wurde diese Stimulationsmethode in die Funktion einer myoelektrischen
Unterarmprothese integriert. Der Nutzer
der modifizierten funktionellen Unterarmprothese erhält nun über konkrete elektrokutane Stimulationsmuster am
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Nutzung einer myoelektrischen Unterarmprothese
mit Biofeedback. Reduktion von Phantomschmerz
und Erhöhung der Funktionalität
Zusammenfassung
Hintergrund. Phantomschmerzen (PS)
gehören zu den schwierig therapierbaren
Schmerzen. Es wurde geprüft, ob mittels Prothesen mit somatosensorischem Feedback
eine Reduktion der PS und eine Verbesserung
der Funktionalität erreichbar sind.
Patienten und Methoden. Nach Unterarmamputation prothesenversorgte Patienten (n=18) wurden mit Prothesen mit somatosensorischem Feedback ausgestattet und über 14 Tage an dieser trainiert. PS
und Funktionalität wurden als Zielparameter getestet.
Ergebnisse. PS waren signifikant (im Mittel um 31%) reduziert, und die Funktionalität,
getestet mittels Zielerreichungsskala, war signifikant (im Mittel um 75%) verbessert.
Schlussfolgerung. Prothesen mit sensorischem Feedback ermöglichen eine Reduktion von Phantomschmerz und eine erhöhte
Funktionalität. Sie werden für den Alltagseinsatz empfohlen.
Schlüsselwörter
Phantomschmerz · Prothese · Elektrokutane
Stimulation · Funktionalität · Amputation
Use of a myoelectric prosthesis with biofeedback.
Reduction of phantom limb pain and increase in functionality
Abstract
Background. Phantom limb pain (PLP) is a
pain syndrome that is difficult to treat. We investigated whether the use of a prosthesis
with somatosensory feedback is able to reduce PLP and to increase the functionality of
the prosthesis.
Patients and methods. A total of 18 patients
after amputations of the forearm equipped
with prostheses received training for 14 days
on the prostheses with somatosensory feedback. PLP and functionality were recorded.
Results. PLP was significantly reduced
(on average by 31%). Functionality which
Oberarm eine Rückmeldung darüber, wie
viel Kraft die Prothesenhand beim Greifen aufbringt.
Eine solche Anordnung einer Biofeedbackprothese kombiniert 3 Behandlungsaspekte, die sich, wie bereits angedeutet, in einzelnen Studien als wirkungsvoll
gegen Phantomschmerzen herausstellten:
1.Die Biofeedbackprothese erfordert
eine bewusste sensorische Diskrimination taktiler Reize im Stumpfbereich, deren Nutzung sich bereits als
effizient zur Behandlung von Phantomschmerz erwies [9].
2.Für die Nutzung funktioneller Prothesen an sich existieren bereits Hinweise auf eine Reduktion von Phantomschmerz [14, 15, 32].
was evaluated using a goal attainment
scale improved significantly (on average
by 75%).
Conclusion. Prostheses with somatosensory
feedback reduce PLP and increase functionality of the prosthesis. They are recommended
for everyday use.
Keywords
Phantom limb pain · Prosthesis ·
Electrocutaneous stimulation · Functionality ·
Amputation
3.Der Patient erhält eine Rückmeldung
über die Stärke der Griffkraft der Prothesenhand. Somit ist dieses Feedback
verhaltensrelevant, was somatosensorisches Lernen erleichtert und theoretisch dazu beitragen kann, Inhalte des
sog. Schmerzgedächtnisses nachhaltig
positiv umzustrukturieren.
Primäres Ziel der Untersuchungen war
somit der Nachweis der Reduktion von
Phantomschmerz durch die Nutzung
von Prothesen mit somatosensorischem
Feedback. Sekundäres Ziel war die Verbesserung der Funktionalität der Prothese durch das Feedback.
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der Prothese zu nutzen. Es handelt sich also um einen geschlossenen Feedbackkreis
(. Abb. 1). Die Griffkraft kann willkürlich durch den Patienten feiner gesteuert
werden.
Durch minimale Anpassung in der
entwickelten Software ist zudem eine Graduierung der Rückmeldung in Abhängigkeit der Sensitivität und der Bedürfnisse
des Patienten (etwa unterschiedliche Alltagstätigkeiten, z. B. für höhere feinmechanische Aufgaben) möglich.
Training mit der Prothese
Abb. 1 8 Funktionsweise der Feedbackprothese, a Messung der Griffstärke durch Sensoren in der
Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger, b Umwandlung der Druckinformationen in verschiedene elektrische Reizmuster durch einen Mikroprozessor, c Applikation der Reizmuster auf die Haut des
Oberarms über 6 Elektroden, d,e Patient lernt, Rückmeldung zu interpretieren (d) und für motorische
Steuerung der Prothese zu nutzen (e), f durch Lernprozess feiner ansteuerbare Griffstärke; Bewegung
der Prothesenhand durch einen über am Stumpf kutan abgeleitete Muskelpotenziale gesteuerten
Motor. (Aus [6], S. 98, mit freundl. Genehmigung von Elsevier)
Patienten und Material
Funktionsprinzip der Prothese
. Abb. 1 zeigt das Funktionsprinzip der
von uns entwickelten Prothese mit somatosensorischem Feedback. Für das Projekt nutzten wir kommerzielle myoelektrische Unterarmprothesen, mit denen die
Patienten bereits ausgestattet waren, bevor
sie bei uns vorstellig wurden.
Voraussetzung für eine Modifikation
der Armprothese zu einer Biofeedbackprothese war, dass die patienteneigene
Prothese bereits über Sensoren zur Messung der Griffkraft (im Bügel der Hand,
beispielsweise: SensorSpeed, Otto Bock)
verfügte. Üblicherweise werden die Sensoren eingesetzt, um bei Veränderungen der Daten, etwa beim Gleiten eines
Glases aus der Hand, ein automatisches
Nachregulieren der Griffkraft, unabhängig von der myoelektrischen Steuerung,
zu initiieren. Wir brachen diese automatische Regulation auf: Die Werte der Sensoren werden in der Biofeedbackprothese
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entsprechend der vorhandenen Kräfte an
den Sensoren des Handbügels in ein von
der Griffkraft abhängiges Stimulationsmuster umgesetzt. Der Steuerungsbefehl
für das zu applizierende Stimulationsmuster wird mittels sicherer Funkübertragung
auf ein sog. Oberarmmodul (OAM) übertragen und in eine elektrokutane Stimulation umgewandelt (. Abb. 1). Somit
kann der Nutzer einer Biofeedbackprothese selbst die Informationen der Sensoren zur Steuerung der Prothese verarbeiten und nutzen. Die Stimulation erfolgt
bewusst am betroffenen Oberarm. Auf
diese Weise sollte die funktionelle Retroreorganisation in S1 gefördert werden.
Unter Retroreorganisation verstehen wir
dabei die Rückführung der maladaptiven
funktionellen Reorganisation in S1, wie
sie in der Einleitung beschrieben wurde,
in eine Organisation, die dem Ausgangszustand näher kommt.
Im Rahmen eines 14-tägigen Trainings
kann der Phantomschmerzpatient und
Prothesennutzer lernen, die Stimulationsmuster auszuwerten und zur Ansteuerung
Das Training orientiert sich an der Bewegungsinduktionstherapie für motorische Störungen nach einem Schlaganfall
von Miltner et al. [17], die in Erweiterung
des Konzepts der CI-Therapie (CI: „con­
straint-induced movement“) und ForcedUse-Konzeption nach Taub [2] in der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten inzwischen exzellent und vielfach bewährt
ist [2, 17, 24]. Analog zum CI-Konzept
übten die Patienten systematisch über
2 Arbeitswochen den Gebrauch der Prothesenhand für täglich durchschnittlich
4 h. Neben positiver Rückmeldung bei
Gebrauch der Prothesenhand wurde die
Nutzung der gesunden Extremität eingeschränkt.
Zu Beginn einer Trainingseinheit wurde die Biofeedbackprothese angelegt. In
einem nächsten Schritt wurden das graduelle Öffnen und Schließen der Prothesenhand mit verschieden harten und weichen Gegenständen geübt, danach wurde
zu komplexeren Handlungen übergegangen. Im zweiten Teil einer täglichen Trainingseinheit wurden konkrete Alltagsaufgaben, deren Bewältigung vom Patienten
vor Beginn des Trainings als wünschenswert eingeschätzt worden war, trainiert.
Diese beinhalteten beispielsweise das Aufschneiden und Schmieren von Brötchen,
das Schälen von Obst und Gemüse, das
Einpacken eines Geschenks oder das Halten fragiler und weicher Gegenstände wie
Plastikbecher, Sektgläser, Wasserflaschen
oder einer Zahnpastatube.
. Abb. 2 zeigt typische Übungssituationen.
Tab. 1
Demografische und klinische Eigenschaften der Stichprobe
Eigenschaften
Anzahl (Männer/Frauen)
Alter (Jahre)
Seite der Amputation R/L
Zeit seit Amputation (Monate)
Alter (Jahre) zum Zeitpunkt der Amputation
Händigkeit vor der Amputation R/L
Traumatische Amputation Ja/Nein
BDI
NWC
Mittelwert
18 (16/2)
46,7
12/6
148,2
34,2
18/0
17/1
9,2
10,6
Standardabweichung
12,9
170,8
13,0
8,3
5,8
BDI Becks Depressionsinventar, L links, NWC Anzahl der schmerzbeschreibenden Worte, angekreuzt im zweiten
Teil des McGill-Schmerzfragebogens zur Beschreibung des Phantomschmerzes zu Beginn der Untersuchung, R
rechts
Probanden
Insgesamt nahmen 18 Personen an dem
beschriebenen 2-wöchigen Training zur
Verbesserung der Nutzung einer Biofeedbackprothese teil. Das mittlere Alter belief sich auf 46 Jahre, die seit der Amputation verstrichene Zeit betrug zwischen
2 und 603 Monaten. Mit Ausnahme eines
Patienten (Tumor) erfolgten die Amputationen unfallbedingt. Weitere Daten zur
Stichprobe finden sich in . Tab. 1.
Zielparameter und Testung
Erfassung von Phantomschmerz
Ein Ziel der Untersuchung war die Reduktion von Phantomschmerzen. Deshalb wurde der Phantomschmerz mit
verschiedenen Schmerzskalen an 2 Messzeitpunkten vor Beginn des Trainings (1.
und 2. Voruntersuchung), nach Beendigung des Trainings (1. Nachuntersuchung,
post) sowie 6 Monate nach Abschluss des
Trainings (2. Nachuntersuchung) eruiert.
Der zeitliche Abstand der beiden Voruntersuchungen (Wartezeit) glich dem zeitlichen Abstand zwischen der 2. Voruntersuchung und der 1. Nachuntersuchung
(Trainingszeit).
Die Patienten schätzten zur 1. Nachuntersuchung die subjektiv wahrgenommene Veränderung der Phantomschmerzen während der letzten 10 Trainingstage
auf einer 2-poligen, 10 cm langen visuellen
Analogskala (VAS) mit den Endpunkten
stark reduziert (0 cm) vs. stark erhöht (bei
10 cm) sowie einem Ankerpunkt unverändert (bei 5 cm) ein. Diese Variable wird im
Folgenden als VASVeränderung bezeichnet.
Außerdem wurden die Patienten zu
jedem Messzeitpunkt gebeten, die Stärke ihres aktuellen Phantomschmerzes auf
einer ebenfalls 10 cm langen VAS (VASaktuell, [23]) einzuschätzen. Die VAS gilt
als valides und reliables Maß zur Messung von Schmerzintensität [7]. Der linke Randpunkt (0 cm) beschreibt dabei gar
keinen Schmerz, der rechte Randpunkt
bei 10 cm den schlimmsten Schmerz, den
man sich vorstellen kann.
Die Schmerzqualität wurde mit Hilfe einer deutschen Version des McGillSchmerzfragebogens erfasst [22]. Dieser gilt als reliables, valides und änderungssensitives Maß zu deren Messung
[7]. Dabei soll der Schmerz, der am Tag
der Befragung empfunden wird, anhand
einer Eigenschaftswörterliste genau beschrieben werden. Die 60 Eigenschaftswörter sind in 20 Gruppen angeordnet.
Trifft kein Wort einer Gruppe zu, soll diese übersprungen werden. Treffen mehrere
Wörter einer Gruppe zu, soll nur das zutreffendste Wort pro Gruppe ausgewählt
werden. Zur Beurteilung der Schmerzqualität wurden die Anzahl („number
of words“: NWC) sowie die gewichteten
Summen der ausgewählten Eigenschaftswörter für verschiedene Dimensionen der
Schmerzbeschreibung berechnet [“pain
rating index total“ (PRIT), „pain rating index sensory“ (PRIS) und „pain rating index affective“ (PRIA)].
Erfassung der Funktionalität
der Prothese
Ein weiteres Ziel der Untersuchung war
die Verbesserung der Funktionalität der
Prothese.
Zielerreichung. Ein wesentlicher Bestandteil des Trainings war das praktische
Arbeiten an selbst gestellten Zielen. Dabei wurde der Patient vor dem Training
zu seinen umsetzbaren Zielen und Wünschen befragt. Auf dieser Basis wurden gemeinsam mit dem Übungsleiter vor dem
ersten Trainingstag bis zu 5 Alltagsziele
formuliert, an denen an den Trainingstagen intensiv gearbeitet wurde („goal attainment scaling“: GAS, [13]). Zu diesen
Alltagsaufgaben zählten z. B. das Schälen
von Obst und Gemüse, das Aufschneiden
und Schmieren von Brötchen, das Auftragen von Zahnpasta auf die Zahnbürste oder das Greifen dünner Kunststoffbecher und -flaschen (. Abb. 2).
Die Fähigkeit, diese motorischen Aufgaben mit Hilfe der Prothese auszuführen, wurde am ersten Tag sowie am letzten Trainingstag erfasst. Am letzten Trainingstag wurde der Grad der Zielerreichung jedes Alltagsziels sowohl vom Probanden selbst als auch vom Übungsleiter eingeschätzt. Dazu wurde eine 6-stufige Skala verwendet (6: Ziel zu 100% erreicht; 5: Ziel zu 75% erreicht; 4: Ziel zu
50% erreicht; 3: Ziel zu 25% erreicht; 2:
Ausgangszustand beibehalten; 1: Verschlechterung). Die Angaben des Patienten zur Erreichung eines jeden Ziels wurden zu einem Durchschnittswert für alle vom Probanden eingeschätzten Ziele
verrechnet. Dieser wird im Folgenden als
GAS bezeichnet.
Interview zur subjektiven Erfahrung.
Um die subjektive Erfahrung im Umgang
mit der Biofeedbackprothese besser abzubilden, wurde im Anschluss an das Training ein halbstandardisiertes Interview
durchgeführt. Während desselben wurde
der Patient aufgefordert, das Training im
Allgemeinen, den Umgang mit der motorischen Ansteuerung der Biofeedbackprothese und den Nutzen der somatosensorischen Rückmeldung einzuschätzen und
anzugeben, ob es zu Generalisierungseffekten hinsichtlich der Nutzung der eigenen Prothese kam. Zusätzlich wurden die
Patienten gefragt, ob sie ihre herkömmliche Prothese oder die Trainingsprothese
bevorzugen würden.
Im Folgenden beschränken wir uns
hauptsächlich auf den Nutzen des somatosensorischen Feedbacks.
Trauma und Berufskrankheit 3 · 2013
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Originalien
Interview zur Handhabung. Neben den
genannten Funktionalitätsmaßen wurden die Patienten nach jeweils einer Trainingsstunde gebeten, 3 Aussagen zur Prothesenhandhabung einzuschätzen:
1.„Mir gelingt die muskuläre Ansteuerung der Prothese gut.“
2.„Ich kann die sensorische Rückmeldung gut interpretieren und bewerten.“
3.„Ich fühle mich sicher im Umgang
mit der Prothese.“
Abb. 2 8 Feedbackanordnung am Patienten (oben links) und typische Trainingssituationen
Abb. 3 9 Steckbretttest
Steckbretttest. Um neben den individuellen Funktionalitätsmaßen auch zwischen den Patienten vergleichbare Funktionalitätsmaße zu erhalten, wurde bei
jedem Patienten ein standardisierter
Test durchgeführt, der sog. Steckbretttest (. Abb. 3). Auf einem genormten
Blatt, das direkt vor dem Probanden am
Tisch befestigt wurde, wurde ein Steckbrett mit 5×5 Vertiefungen aufgelegt. Der
Versuchsleiter stellte bei rechtsamputierten Personen oben rechts (bei Linksamputierten oben links) an einer auf dem
genormten Blatt eingezeichneten Position Holzzylinder auf, die der Proband in-
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Trauma und Berufskrankheit 3 · 2013
nerhalb 1 min, von links beginnend (bei
linksamputierten Personen von rechts beginnend), in das Brett stecken sollte. Nach
1 min wurde die Menge korrekt positionierter Figuren notiert. Umgekippte, aber
im Steckbrett platzierte Figuren wurden
mit je einem halben Punkt bewertet. Sollte innerhalb der Minute eine der Figuren
beim Versuch, sie zu positionieren, oder
bevor sie platziert wurde, umgefallen sein,
wurde diese erneut aufgestellt, und der
Patient gebeten, es weiter zu versuchen,
bis die Minute abgelaufen war.
Die Bewertungen wurden jeweils auf
einer 5-stufigen Likert-Skala vorgenommen, deren Stufungen lauteten:
Feindeutig zutreffend,
Feher zutreffend,
Fweder zutreffend noch nicht zutreffend,
Feher nicht zutreffend,
Feindeutig nicht zutreffend.
Außerdem wurden die Aufgaben notiert,
die besonders schwer fielen, ebenso diejenigen, die sehr gut beherrscht wurden.
Um abzubilden, ob das somatosensorische Feedback im Laufe des Trainings
gelernt und genutzt werden kann, wurde
eine Differenzvariable für die Antworten,
die am letzten vs. am ersten Trainingstag
auf das zweite Item („Ich kann die sensorische Rückmeldung gut interpretieren
und bewerten.“) gegeben wurden, gebildet. Diese Differenzvariable wurde in Bezug zu VASVeränderung gesetzt, um den Zusammenhang zwischen der Veränderung
der Nutzbarkeit der somatosensorischen
Rückmeldung und der wahrgenommenen
Veränderung der Phantomschmerzen
(VASVeränderung) abzubilden.
Datenanalyse. Sie erfolgte mit IBM SPSS
Statistics 19 (IBM Corporation, NY, USA).
Zunächst wurde auf Normalverteilung getestet. Bei deren Vorliegen wurden t-Tests
zur Bewertung signifikanter Veränderungen herangezogen. Konnte eine Normalverteilung nicht angenommen werden,
wurde der Rangsummentest von Wilcoxon angewendet. Das Signifikanzniveau
war auf 5% festgelegt.
Die Effektivität des Trainings wurde unter Anwendung einer „serial gatekeeping procedure“ [26] beurteilt, einem
Korrekurverfahren für multiple Analy-
sen in klinischen Untersuchungen. Dabei
wird zunächst eine Reihenfolge der Hypothesentestung spezifiziert, die dann sequenziell getestet wird. Sekundäre Hypothesen können nur getestet werden, wenn
die vorhergehende 0-Hypothese zurückgewiesen wurde. Aufgrund der streng hierarchischen Vorgehensweise kann ein unkorrigiertes Signifiganzniveau für jede Sequenz der Hypothesentestung angesetzt
werden.
Als primäre Zielparameter waren
Fdie subjektiv wahrgenommene Reduktion der Phantomschmerzen während des Trainings (VASVeränderung)
und
Fdie Reduktion der aktuellen Phantomschmerzintensität (VASaktuell) definiert.
Als sekundäre Zielparameter wurden, entsprechend der Empfehlungen [26],
Fdie Verbesserung der Schmerzqualität, wie sie mittels NWC, PRIT, PRIS
und PRIA des McGill-Schmerzfragebogens gemessen wird,
Fdie Verbesserung der motorischen
Funktionalität in Alltagsaufgaben, wie
sie mittels der GAS gemessen wurde,
sowie
Fdie Verbesserung der motorischen
Funktionalität im Steckbretttest festgelegt.
Für die wiederholt erfassten Parameter
VASaktuell, PRIT, PRIS und PRIA wurde
die Veränderung während der Trainingszeit mit der beobachteten Veränderung in
der Wartezeit verglichen. Wies dieser Vergleich für eine Variable statistisch bedeutsame Ergebnisse über das 14-tägige Training auf, wurde diese Variable auf Langzeiteffekte getestet.
Ergebnisse
Phantomschmerz
Die Patienten berichteten über eine während des Trainings wahrgenomme Verminderung der Phantomschmerzen auf
der VASVeränderung von im Durchschnitt
31,4%, für die einzelnen Teilnehmer lag
diese innerhalb dieses Zeitraums zwischen 0 und 92% [VASVeränderung: Mittelwert −17,5%; Minimum 0%; Maximum
−92%; Z=−3,3 (Z: Testwert des WilcoxonTests); p<0,05, Bonferroni-korrigiert].
Kein Patient berichtete über eine länger
andauernde Erhöhung von Phantomschmerz. Neben der wahrgenommenen
Reduktion von Phantomschmerzen während der Nutzung der Biofeedbackprothese trat bei 2 Personen während mancher
Trainingseinheiten (maximal 2), vermutlich durch längere Belastung des Stumpfs
während des Trainings, eine Zunahme
der Stumpf- und Phantomschmerzen auf,
die der bei leichteren Übungen deutlich
wahrgenommenen Verminderung der
Phantomschmerzen in den ersten Trainingstagen teilweise entgegenwirkte. Der
schmerzreduzierende Effekt der Nutzung
der Biofeedbackprothese überwog jedoch
in jedem Fall deutlich die Beschwerden,
die bei intensiver Prothesennutzung auftraten.
Darüber hinaus zeigte die VASaktuell
während des Trainings (Mittelwert −5,0;
Standardabweichung 9,4; Minimum
−31,4; Maximum 5,2) eine im Vergleich
zur Wartezeit signifikante Reduktion der
Phantomschmerzen [t(16)=−2,3; p<0,05,
Bonferroni-korrigiert].
Die Anzahl schmerzbeschreibender Eigenschaftswörter (NWC) reduzierte sich
in der Trainingszeit signifikant gegenüber
der Wartezeit bei Patienten, die zur ersten Voruntersuchung durchgängige Phantomschmerzen von mehr als 20% auf der
VASaktuell angegeben hatten [NWC: Mittelwert −3,1; Standardabweichung 4,4;
t(8)=−2,1; p<0,05]. Die Schmerzverminderung war bei allen betrachteten Indikatoren des McGill-Schmerzfragebogens zu beobachten [PRIT: Mittelwert
−9,3; Standardabweichung 8,3, t(8)=−3,4;
p<0,05; PRIS: Mittelwert −5,9; Standardabweichung 6,3; t(8)=−2,8; p<0,05; PRIA:
Mittelwert −2; Standardabweichung 2,4;
t(8)=−2,502; p<0,05]. Bezüglich der gesamten Patientengruppe war festzustellen,
dass die Phantomschmerzen umso stärker reduziert wurden, je höher sie zu Beginn des Trainings waren (rPRIT Diff=0,69;
r2=0,48; df=17; p<0,05).
Die beobachtete Reduktion der Phantomschmerzintensität (VASaktuell) blieb
nicht bis zum Zeitpunkt der zweiten
Nachuntersuchung, 6 Monate nach Beendigung des Trainings, erhalten. Zu dieser Zeit waren die Patienten wieder mit
eigener funktioneller Prothese ohne somatosensorisches Feedback ausgestattet.
Für die Indikatoren der Schmerzqualität
verblieb eine signifikante Reduktion der
NWC gegenüber der Wartezeit [NWC:
Mittelwert −4,3; Standardabweichung 6,7;
t(8)=−1,9; p<0,05].
Funktionalität
Parallel zu den Veränderungen in der
Schmerzwahrnehmung ging die Nutzung der Biofeedbackprothese mit einer
verbesserten Funktionalität des betroffenen Arms in Alltagsaufgaben (GAS: Mittelwert 75%; Minimum 50%; Maximum
100%; Z=3,5; p<0,05; Bonferroni-korrigiert), wie beispielsweise dem Schälen
von Obst und Gemüse, dem Aufschneiden und Schmieren von Brötchen oder
dem Greifen dünner Kunststoffbecher
und -flaschen, einher.
Wie sich im halbstandardisierten Interview herausstellte, war für die Patienten besonders der Zugewinn an Funktionalität der Prothese bedeutsam. Die
Biofeedbackprothese ermöglichte zunehmend zielgerichtetes Greifen fragiler und
weicher Objekte wie beispielsweise eines
Plastikbechers oder von Weintrauben.
Außerdem waren Bewegungen, die eine
Abstimmung der erzeugten Kraft durch
die Prothesenhand erfordern, verbessert,
wie es sich beim Umgang mit Knetmasse
und Zahnpastatuben äußerte.
Im Steckbretttest zeigte sich, dass die
Biofeedbackprothese im Laufe des Trainings zuverlässiger und zügiger bedient werden konnte [Steckbretttest:
MTEnde-T1=8,3; Standardabweichung 5,5;
t(16)=6,2; p<0,05; Bonferroni-korrigiert].
Beziehung zwischen
Phantomschmerzreduktion
und Feedback
Die subjektiv wahrgenommene Verminderung von Phantomschmerzen im Trainingszeitraum war umso stärker, je besser
die Trainingsteilnehmer das somatosensorische Feedback zu interpretieren lernten
(rs=−0,425; rs2=18%; p<0,05; . Abb. 4).
Im Rahmen einer Nachbefragung äußerten die meisten Probanden, dass ihnen
die Verbesserung der Funktionalität mindestens ebenso wichtig wie die Reduktion
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Originalien
∆ Phantomschmerzen in %
0
–20
–40
–60
–80
Patienten
Korrelation
–100
–1
0
1
2
∆ Nutzbarkeit der sensorischen Rückmeldung
des Phantomschmerzes war. Patienten berichteten im Rahmen eines halbstandardisierten Interviews, das nach Abschluss des
Trainings geführt wurde, dass sie eine somatosensorische Rückmeldung der Griffstärke in ihrer eigenen Prothese begrüßen würden, weil dies u. a. mehr Komfort
und eine Entlastung des visuellen Systems bedeute. Gerade das sensible Halten
von Mandarinen, Weintrauben, Plastikbechern und Ähnliches erbringe im Alltag einen enormen Gewinn an Lebensqualität. Nahezu jeder Patient wünschte,
trotz der noch großen Stimulationseinheit am Oberarm, mit einem derartigen
System im Alltag ausgestattet zu werden.
Derzeit ist dies aus versicherungsrechtlichen Gründen jedoch leider nicht dauerhaft möglich.
Diskussion
Ausgehend von Überlegungen zur zentralen Reorganisation nach Amputationen
wurde eine Prothese entwickelt und erprobt, die Elemente von Diskriminationstraining am Stumpf, Prothesennutzung
und somatosensorischem Feedback über
die Greiffunktionen der Hand vereint. Als
wesentliche Ergebnisse des hier dargestellten Ansatzes fanden wir eine positive Beeinflussung von Phantomschmerzen im
Sinne einer Reduktion bei gleichzeitig erhöhter Funktionalität der Prothese mit somatosensorischem Feedback.
Für die Untersuchung war die Veränderung des Phantomschmerzes der
primäre Zielparameter. Während eines
14-tägigen Trainings konnte eine Reduk-
214 |
Trauma und Berufskrankheit 3 · 2013
3
Abb. 4 9 Zusammenhang zwischen
der wahrgenommenen Veränderung der
Phantomschmerzen während des Trainings (Ordinate) und
der wahrgenommenen Verbesserung der
Nutzbarkeit der somatosensorischen
Rückmeldung (Abszisse) am letzten im
Vergleich zum ersten
Trainingstag
tion desselben von bis zu 92% retrospektiv verzeichnet werden. Dieses Ergebnis
ist bemerkenswert, wenn man bedenkt,
dass alle Patienten bereits vor dem Training mit einer myoelektrischen Prothese
versorgt waren.
Phantomschmerz kann durch funktionelle Prothesen beeinflusst werden, wie
mehrfach in der Literatur gezeigt wurde
[14, 32]. So wiesen Weiss et al. [32] nach,
dass Träger von Sauerbruch-Prothesen offenbar seltener und mit geringerer Intensität unter Phantomschmerz leiden. Die­
se verminderte Schmerzstärke bei Trägern funktioneller Prothesen geht offenbar mit einer reduzierten funktionelle Reorganisation im somatosensorischen [14]
und im motorischen Kortex [15] einher.
In einer Abschätzung der Reduktion von
Phantomschmerz konnte eine Abnahme
von etwa 0,5 Einheiten pro Jahr durch das
langfristige Tragen von funktionellen Prothesen gefunden werden [30, 31, 34]. Berücksichtigt man diese Daten zusammen
mit der Tatsache, dass alle unsere Patienten Träger funktioneller Prothesen waren, imponiert die Reduktion des Phantomschmerzes in kurzer Zeit (14 Tagen)
besonders.
Hinsichtlich der Abschätzung des Effekts der einzelnen Komponenten lässt
sich aufgrund der vorgenannten Überlegung zunächst festhalten, dass der Einfluss des Tragens einer funktionellen Prothese auf die Reduktion von Phantomschmerz durch eine Kopplung mit somatosensorischem Diskriminationstraining
und somatosensorischem Feedback gesteigert werden kann. Die absolute Re-
duktion des Phantomschmerzes auf der
VASaktuell innerhalb von 14 Tagen Training mit etwa 1,5 Punkten liegt nahezu
3-fach höher als die mittlere Abnahme
pro Jahr bei der Nutzung funktioneller
Prothesen [34]. Somit scheint der Nutzen der beiden anderen Komponenten,
(somato)sensorische Diskrimination und
(somato)sensorisches Feedback, höher als
der durch die Nutzung funktioneller Prothesen an sich. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Kalkulationen
für die Reduktion auf längerfristigen und
retrospektiven Daten beruhen. Weiterhin
ist davon auszugehen, dass die Reduktion möglicherweise keinen linearen Verlauf nimmt. Insofern könnte sie bei beginnender Nutzung funktioneller Prothesen
ggf. auch höher sein. Hier könnten weitere
Daten bei enger Erfassung von Phantomschmerzen bei Patienten, die neu mit einer funktionellen Prothese versorgt wurden, hilfreich sein. Zudem ist es derzeit
nicht möglich, die separaten Effekte von
Diskriminationstraining und Feedback
abzuschätzen. Wir glauben, dass Letzteres, also die somatosensorischen Informationen, die am Stumpf übermittelt werden, wesentlich zur Reduktion des Phantomschmerzes beiträgt. Dennoch erwies
sich auch das somatosensorische Diskriminationstraining als sehr erfolgreich in
der Phantomschmerzverminderung mit
gleichzeitiger Retroreorganisation im somatosensorischen Kortex [9]. Eine Abschätzung separater Effekte kann bei Nutzung beider Verfahren an ein und demselben Patienten gelingen.
Überraschend war der erhebliche Anstieg der berichteten Funktionalität der
Prothese durch das somatosensorische
Feedback. Interessanterweise war diese Veränderung in den Patientenberichten noch bedeutsamer als die Reduktion
des Phantomschmerzes. Dies könnte einerseits daran liegen, dass die berichteten
Phantomschmerzen im Mittel vergleichsweise moderat ausfielen. Hier könnte das
vorherige Tragen der funktionellen Prothesen bereits einen Einfluss auf die Daten zu Beginn des Trainings gehabt haben.
Andererseits rangiert der Wunsch nach
Feedback aus der Prothese in der Liste von
Verbesserungswünschen der Patienten
weit oben. In unserer Studie konnten wir
belegen, dass die Realisierung eines Feed-
back technisch möglich und für den Patienten extrem nützlich ist. Aus unserer
Sicht sollte dabei möglichst das somatosensorische System genutzt werden. Das
visuelle oder auditive System sind u. E.
nicht so empfehlenswert, weil sie wahrscheinlich zu Beeinträchtigungen der
Orientierung und/oder Kommunikation
während der Nutzung der Prothese führen würden.
Limitierend für die weitere Untersuchung ist bislang, dass die Nutzung dieser neuartigen Prothese auf den Laborversuch beschränkt bleiben musste. Leider gelang es trotz Verhandlungen mit
dem Hersteller der Prothesen nicht, eine
Möglichkeit zur Feldnutzung zu erproben. Hier stehen versicherungsrechtliche
Probleme, wie Garantieleistungen, CEZertifizierung und Ähnliches, im Vordergrund. Nahezu alle Patienten wünschten
im Abschlussgespräch die Ausstattung
mit einer myoelektrischen Prothese mit
somatosensorischem Feedback. Aufgrund
der dargelegten versicherungsrechtlichen
Probleme konnten lediglich 2 Personen in
ihrer häuslichen Umgebung mit unserem
Modell ausgestattet werden. Diese waren
mit einer Ersatzprothese (nach 5 Jahren
Nutzung der vorherigen Prothese) versorgt worden und erhielten dann ihr altes
Modell mit unserer Umgestaltung.
Zusammenfassend kann festgehalten
werden, dass ein 14-tägiges Training an
funktionellen, myoelektrischen Prothesen mit somatosensorischem Feedback
bei Patienten mit Unterarmamputationen mit einer deutlichen Reduktion ihres
Phantomschmerzes einherging. Zusätzlich wurde die Funktionalität der Prothese nachhaltig verbessert, was sich insbesondere beim Greifen von fragilen Gegenständen bemerkbar machte und von den
Patienten als wesentliche Verbesserung
der Prothese gewertet wurde. Es bleibt zu
zeigen, dass diese Art von Therapie dauerhaften Erfolg hinsichtlich der Reduktion
von Phantomschmerz zeigt.
Fazit für die Praxis
Funktionelle, myoelektrische Prothesen
mit somatosensorischem Feedback bei
Patienten mit Unterarmamputationen
erlauben eine deutliche Reduktion von
Phantomschmerz bei gleichzeitiger Verbesserung der Funktionalität der Prothese. Dies wird besonders beim Greifen von
fragilen Gegenständen bedeutsam.
Wir empfehlen solche Prothesen daher
für den Alltagseinsatz.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. T. Weiss
Biologische und Klinische Psychologie,
Friedrich-Schiller-Universität Jena,
Am Steiger 3, H. 1, 07743 Jena
thomas.weiss@uni-jena.de
Danksagung. Teile der Ergebnisse wurden maßgeblich mit Hilfe verschiedener Mitarbeiter des Lehrstuhls für Biologische und Klinische Psychologie erbracht, von denen Herrn Dipl.-Ing. Holger Hecht und
Frau Dr. Katrin Walter-Walsh besonderer Dank gebührt.
Dank für die orthopädische Anpassung der Armprothesen gebührt außerdem Armin Perlich sowie Ricardo
Schmidt von REHA aktiv 2000 GmbH.
Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor
gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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