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Mensch-Computer-Symbiose: Assistierende Technologien & Barrierefreiheit

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Mensch-Computer Symbiose. Assistierende Technologien und
Barrierefreiheit für Menschen mit Komplexer Behinderung
Klaus Miesenberger, Johannes-Kepler-Universität Linz, Institut Integriert Studieren
1.
Digitalisierung und Inklusion
Die Bedeutung neuer Technologien und Medien ist in das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft
durchgedrungen. Ob im wissenschaftlichen Diskurs oder im öffentlichen Boulevard, überall sind die
die Gesellschaft verändernden, disruptiven und zur Um- und Neugestaltung einladenden
Auswirkungen der digitalen Transformation präsent und brauchen hier nicht aufgegriffen werden.
1.1
Assistierende Technologien (ATs)
Mehr, unmittelbarer und vor allem früher wird Digitalisierung im Kontext von Behinderung,
Rehabilitation und Inklusion spürbar. Wie kaum eine andere Gruppe können Menschen mit
Behinderungen von Digitalisierung profitieren. Sie wurden und werden zu „early adpoters“ in der
Nutzung neuer digitaler Möglichkeiten, weil Digitalisierung für Menschen mit Behinderung oft die
erst- und einmalige Möglichkeit der selbstbestimmten Realisierung der Teilhabe eröffnet.
Digitalisierung wird für viele zum zentralen Werkzeug der Inklusion. So ist schnell eine breite, ständig
wachsende Vielfalt an digitalen Assistierenden Technologien (AT) verfügbar geworden, die Menschen
mit Behinderung den Zugriff auf ein und dieselben digitalen Systeme und damit die selbst Basis für
Teilhabe erlaubt. Ob Sehen, Hören, Motorik, Kognition oder Sprechen, ATs zeigen eine Vielfalt von
anpassbaren digitalen Technologien eigenständiger und selbstbestimmter Teilhabe auf. Die WHO
(2021) fasst mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit diese Vielfalt in mehr als 1000 Kategorien, was den Rahmen vorgibt für Sammlungen wie
Rehadat (www.rehadat.de), EASTIN (www.eastin.eu) oder Abledata (abledata.acl.gov).
Und man kann davon ausgehen, dass sich diese Entwicklung noch beschleunigen wird: Durchbrüche
in Micro- und Nanotechnologie erlauben, tief in organische und anorganische Strukturen, auch unsere
Körper, einzudringen, um vor Ort zu messen, zu bewerten und aktiv zu werden z.B. für Medikation
oder Funktionsunterstützung (z.B. für Cochlea- oder Retinaimplantate). Körpernahe und
köperunterstützende Robotik wie Exoskelette und cyber-physikalische Systeme helfen, physische und
kognitiven Fähigkeiten zu erweitern. (Miesenberger, 2017, 2018)
1.2
Mensch-Computer Schnittstelle (MCS) und Barrierefreiheit
Mit ATs diskutieren wir aber erst einen Teil digitaler Inklusion. Die besondere und umfassende
lebenspraktische Qualität der Digitalisierung und ihre revolutionäre inkludierende Wirkung für
Menschen mit Behinderung entfaltet sich durch die Tatsache, dass Digitalisierung ein allgemeines,
umfassendes gesellschaftliches Phänomen darstellt. Überall dort, wo Digitalisierung geschieht,
entstehen Anknüpfungspunkte für die Teilhabe an ein- und denselben Prozessen, an ein und derselben
digitalen Lebenswelt, in der wir alle leben. Der Konvergenzpunkt ist die Mensch-Computer
Schnittstelle (MCS), über die wir alle, ob am Desktop, auf den Mobilgeräten oder mit
Alltagsgegenständen, in die Standardoberflächen verbaut sind, die schier unendliche Vielfalt an digital
vernetzten Applikationen in allen Lebensbereichen nutzen. Und genau auf die MCS fokussieren die
Anforderungen der digitalen Barrierefreiheit im Sinne von wahrnehmbarer, verständlicher und
bedienbarer Interaktion (z.B. ISO 2008, W3C/WAI, 2021)
So wachen neben den Möglichkeiten der ATs auch die Möglichkeiten, mit immer mehr Bereichen
unserer Umwelt interagieren zu können mittels Sensor- und Steuerungstechnologien, die in dem einen
Internet („Internet/Web of Things“) nahezu alle Bereiche unserer Lebenswelt verbinden und auch für
die Bedienung über ATs zugänglich machen. Nicht nur schwere, belastende und repetitive Aufgaben,
sondern auch zutiefst humane, emotionale, kognitive und kreative Aufgaben werden Gegenstand der
Unterstützung bzw. Automatisierung durch Künstliche Intelligenz. Virtuelle/angereicherte Realitäten,
ob visuell, auditiv oder haptisch realisiert, und 3D-Druck laden ein, neue Ideen und verbesserte
Konzepte für Partizipation zu entwickeln. (Miesenberger, 2017, 2018)
1.3
Zusammenspiel von AT/MCS/Barrierefreiheit/Digitalisierung als Basis der Inklusion
Dies macht es wert, die besonderen Eigenschaften der MCS, die ihren eigenen Erfolg befördern und
sie auch zu einem universellen Werkzeug der Inklusion machen, im Zusammenspiel von
AT/MCS/Barrierefreiheit/Digitalisierung genauer zu betrachten: (Miesenberger, 2015)
 Die MCS ist einfach. Sie verwendet eine sehr eingeschränkte Zahl an Elementen, oft
zusammengefasst mit als WIMP (windows, icons, menues, pointer) und erweitert durch SILK
(speech, images, language, knowledge). Diese Elemente werden von einer intuitiven und ebenfalls
sehr eingeschränkten Anzahl von Interaktionen (z.B. Point&Klick, Trag&Drop, Gesten, Hotkeys,
…) bedient. (z.B. Ko 2021) Diese einfache Basis an Elementen und Aktionen für die Realisierung
der MCS steht den EntwicklerInnen von Anwendungen in Form von Entwicklungs-Bibliotheken
(„Interface Libraries“) auf allen Plattformen zur Verfügung, mit der die Vielfalt von Ausformungen
der Bedienschnittstellen auf dieselbe einfache Art, mit denselben einfachen Elemente und
Aktionen, realisiert wird. Diese Reduzierung und Einfachheit steigert das Potential für Menschen
mit Behinderung, Anschluss zu finden: ATs und Barrierefreiheit können sich auf diese einfache
und in der Zahl begrenzte, überall wiederverwendete Basis als Ausgangspunkt für Partizipation und
Inklusion konzentrieren.
 Die MCS ist stabil. Die Konzepte und Grundlagen der MCS wurden bereits in den Anfängen der
Digitalisierung in den 1950er/1960er Jahren des letzten Jahrhunderts definiert1 und sind seither nur
in Details verändert worden. (z.B. Friedewald 1999, Ko 2021) “Companies like Apple, Microsoft,
and Google, have driven much of the engineering of user interfaces, deviating little from the
original visions.” Natürlich integriert die MCS beständig “new paradigms of interaction, including
the rapid proliferation of capacitive touch screens and gesture interaction in the early 2000's”, ohne
dabei die grundlengenden Konzepte zu verlassen. Dieser Blick zurück auf die Entwicklung dessen,
was heute so selbstverständlich geworden ist, zeigt: “One of the most remarkable things about this
history is how powerful one vision was to catalyze an entire world's experience with computers.”
(Ko, A. J., 2021) Mögen sich Art und Zahl der Endgeräte als ihre Ausgestaltung immer rasanter
ändern, die Grundprinzipien, Elemente und Aktionen der MCS bleiben stabil. Wäre dem nicht so
und müssten wir mit jeder neuen Anwendung und jedem neuen Gerät die MCS neu lernen, würden
NutzerInnen den schnellen Entwicklungen nicht folgen. So hat sich die MCS als neue
Kulturtechnik verankern können, die wir, einmal erlernt, immer und überall anwenden können.
Diese gilt in gleicher Weise für Menschen mit Behinderung, wenn sie mit oder ohne ATs ihre Form
der MCS realisieren. Auf diese Stabilität können wir, bei aller Schnelligkeit des digitalen Wandels
bauen und können eine verlässliche, überdauernde Basis für Interaktion, Kommunikation und
Teilhabe an der immer mehr digitalen Lebenswelt schaffen.
 Die MCS ist flexibel, anpassbar und personalisierbar. Die Stärken der MCS liegen in ihrer
Multimedialität („Output“) und Multimodalität („Input“). Inhalte können auf unterschiedliche
Weise medial präsentiert werden, die Präsentation kann flexibel an persönliche Bedürfnisse und
Wünsche angepasst werden, es kann zwischen Präsentationsformen gewechselt und es können
Präsentationsformen kombiniert werden, ob visuell, auditiv oder haptisch. Multimodalität erlaubt
es, die Bedienung der einfachen und stabilen MCS und damit die wachsende Vielfalt der
Anwendungen auf unterschiedlichste Weise, mit unterschiedlichsten Endgeräten zu realisieren. So
können die unterschiedlichsten Fähigkeiten und Fertigkeiten der NutzerInnen eingebunden werden
für eine nutzerInnenzentrierte Bedienung, dies sich an unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche und
Kontexte, wie auch die von Menschen mit Behinderungen, anpassen kann. Über Multimodalität
und Multimedialität wird die MCS offen für unterschiedlichsten Anforderung von Menschen mit
Behinderung. Ob adaptierte oder alternative Darstellung (visuell, auditiv, haptisch), ob Bedienung
mit Tastatur, Maus, alternativen Zeigegeräten, Gesten, Augen-/Kopfsteuerungen, Schalter und
Scanning Interfaces, Muskelsensoren bis hin zu Brain-Computer Interfaces (BCI): So individuell
die Fähigkeiten und Fertigkeiten der NutzerInnen sind, so flexibel kann die MCS realisiert werden.
Damit reduzieren sich, trotz der wachsenden Zahl der Anwendungsbereiche, Anzahl und
Komplexität der notwendigen ATs und fokussieren auf die eine digitale
AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung Interaktion. (z.B. Miesenberger 2013)
 Die MCS ist universell und standardisiert. Es sind nicht mehr nur die typischen Anwendungen der
Datenverarbeitung am Desktop Computer, die wir über die MCS erreichen. Überall, wo
1
) Der Titel des Beitrages „Mensch-Computer-Symbiose“ ist von einem der Pioniere der MCS entliehen: J.D. Licklieder,
Informatiker und Psychologe, hat diesen Begriff und das Konzept als Gegenpool zur Tendenz postuliert, dass Menschen sich
immer mehr den rigiden Anforderungen der sich ausbreitenden Technologie anpassen müssen, was zu Frust und Ineffizienz
führt. Er hat damit das Feld, das heute Bereiche wie MCS oder Human-Computer Interaction (HCI), Interface Design, User
Centered Design, Inclusive Design, Design for All, User Experience Design (US), etc. als Disziplin etabliert. (Wickipedia, 2021)
Digitalisierung geschieht und wo Interaktion notwendig wird, geschieht dies über die MCS. Alle
Geräte und Anwendungen, die früher proprietäre Schnittstellen hatten und vielleicht noch haben,
ob zu Hause, im Büro oder im öffentlichen Raum, bieten mehr und mehr als Alternative vernetzte,
standardisierte Schnittstellen zu den mobilen Endgeräten und zur MCS. (z.B. ISO 2019)
Entsprechend integriert sich die Anforderung der Barrierefreiheit an die MCS in den Kanon der
allgemeinen MCS Nutzbarkeits-Standards („Usability“), werden über Multimedialität und
Multimodalität Teil allgemeiner Anforderungen und verlieren ihren Nimbus des „Besondern“.
Alle Lebensbereiche, auch jene, die traditionell wegen vieler Barrieren und ihrer Starrheit
Ausgrenzungen beförderten, werden im Prozess der „disruptiven“ digitalen Neu- und Umgestaltung
durch Digitalisierung in Fluss gebracht und damit im Zusammenspiel von
AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung offener für Partizipation und Inklusion.
1.4
Digitalisierung als Werkzeug der Inklusion
So ist es nicht zufällig, sondern notwendig und unumgänglich, dass Zugang zu ATs und digitale
Barrierefreiheit als Grundrecht eingefordert werden, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention
(United Nations, 2021) am eindringlichsten zum Ausdruck bringt, wenn sie in nahezu allen
Paragraphen auf ATs und digitale Barrierefreiheit referenziert. Entsprechend nachdrücklich ist die
Forderung, ATs und Barrierefreiheit in die alltägliche Praxis der Unterstützung und Förderung von
Menschen mit Behinderung aufzunehmen und Digitalisierung als Basis für eine neue und innovative
Praxis voran zu treiben. Natürlich sind AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung zuerst eine technische
Anforderung. Aber alle Standardanwendungen (z.B. Office und eLearning Produkte,
Kommunikationstools) inkludieren Werkzeuge der barrierefreien Gestaltung von Information,
Interaktion und Kommunikation, die es in der täglichen Praxis umzusetzen gilt. Diese Funktionen zur
Umsetzung der Barrierefreiheit sind im Kreis der SpezialistInnen für Inklusion viel zu wenig bekannt
und werden viel zu wenig genutzt. Trotz aller technischen Möglichkeiten, trotz des offensichtlichen
Potentials für Menschen mit Behinderung und den Sektor, trotz aller Gesetze und trotz der
offensichtlichen sozio-ökonomischen Notwendigkeit hinkt die Umsetzung hinterher. Die Forderung
Barrierefreiheit in der Gesellschaft umzusetzen, ist zuerst eine Anforderung an und eine
Herausforderung für den Sektor selbst: (Miesenberger, 2018)
1. Realisierung und Bereitstellung personalisierter ATs für den eigenständigen Zugriff auf die MCS
auf Basis von Assessment der je eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
2. Training für die Nutzung des Zusammenspiels von AT/MCS/Digitalisierung als zentrale
Kompetenz, grundlegende Kulturtechnik und Basis für die Inklusion, sowohl bei den NutzerInnen
als auch in Aus- und Weiterbildung des formell oder informell unterstützenden Umfeldes.
3. Barrierefreiheit der Digitalisierung im institutionellen und persönlichen Service-Umfeld unter dem
Primat des Einbezuges der Zielgruppen (NutzerInnenbeteiligung).
4. Realisierung, Umsetzung und Übernahme von Verantwortung für Barrierefreiheit im und über den
traditionellen institutionalisierten Bereich hinaus; Entwicklung der Umsetzung von Barrierefreiheit
als Geschäfts-/Kooperationsmodell mit Wirtschaft, Verwaltung, Kultur und Gesellschaft (z.B.
Consulting, Checks, Design), auch als Beschäftigungsfeld für Menschen mit Behinderungen.
5. Aufnahme und Professionalisierung von AT, Barrierefreiheit und Digitalisierung in die
strategische Entwicklung („Change Management“), ob in der Einrichtung oder auf Basis der
Kooperation mit externen PartnerInnen („du musst nicht alles selbst“), um nicht von den
Entwicklungen getrieben zu werden sondern die Entwicklungen mit allen Chancen und
Herausforderungen selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten.
6. Reflexion und Weiterentwicklung der Digitalisierung als Teil der psycho-sozialen, pädagogischen
Praxis unter Nutzung der Chancen und Vermeidung der allgemeinen und besonderen Gefahren der
Digitalisierung für Menschen mit Behinderung.
2.
Digitalisierung und Komplexe Behinderung
Aus obiger Diskussion können wir ableiten, dass das Zusammenspiel von
AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung die Grenzen dessen, was wir als komplexe oder schwere
Behinderung definieren, ständig verschiebt. Immer öfter wird, was lange als unüberwindbare Barriere,
nur in spezialisierten Umgebungen, oft ohne Anschluss an die allgemeine Lebenswelt organisierbar
und als nicht selbstgesteuert möglich erschien, Gegenstand innovativer sozio-technischer Lösungen.
2.1
Was ist hier komplex? Beispiel Unterstützte Kommunikation (UK)
Unterstützte Kommunikation (UK, z.B. Braun 2020) zeigt beispielhaft, wie eine als komplex
wahrgenommene Behinderungen durch digitale Technologie in der Praxis Möglichkeiten der
selbstgesteuerten Interaktion, Kommunikation und Partizipation schafft. Unterschiedliche, durchwegs
als „schwer“ wahrgenommene und oft mehrfache Behinderungen in Wahrnehmung, Motorik/Aktivität
und Kognition beeinträchtigen Sprachentwicklung, Sprachverstehen, Kommunikation und Teilhabe.
Digitalisierung unterstützt und fördert durch
 Präsentation mittels Symbolsystemen und multimedialer, adaptierter, anreichender und
übersetzender Informationsdarstellung (z.B. visuell, auditiv, haptisch),
 Sensorik zum Erkennen und Nutzen körpereigener intentionaler Ausdrucks-, Aktivitäts-,
Interaktions- und Kommunikationsformen (z.B. Augenbewegungen, Gestik, Mimik,
Bewegungsmuster, Laute),
 Aktorik, zum Nutzen und Umsetzen der durch Sensorik erkannten Intention zur Steuerung
lebensweltlicher Prozesse, primär und zuerst über die einfache MCS,
eine Erweiterung des Möglichkeitsraumes selbstgesteuerter Teilhabe.
Dies verschiebt in Anbetracht vieler Beispiele der erfolgreichen Teilnahme von Menschen mit
Behinderung mittels UK in verschiedensten Bereichen der Gesellschaft bis hin zur Wissenschaft das
Verständnis von „Schwere“ einer Behinderung. In Anbetracht der entstehenden digitalen soziotechnischen Möglichkeiten und ihrer disruptiven Wirkung in der Neu- und Umgestaltung
gesellschaftlicher Zusammenhänge hat Paul Watzlawick (90, S.48) schon sehr früh allgemein
konstatiert, dass die Konzepte von normal und abnormal und damit auch, wie ich ergänzen möchte,
von behindert oder nicht-behindert, immer mehr „ihren Sinn als Eigenschaften von Individuen“
verlieren. Sie erscheinen immer mehr als Folgen des allgemeinen sozio-technischen Handelns und
damit des historischen Zustandes der Gesellschaft in der (digitalen) Ausgestaltung einer be- oder
enthindernden Lebenswelt. Dies greift in die „Tiefengrammatik des lebensweltlichen Hintergrundes
ein und verschiebt paradigmatische Sichtweisen, ja verändert Modelle der Weltauslegung.“
[Habermas, S. 45] Dies kann am Beispiel von UK beispielhaft nachvollzogen werden und manifestiert
sich als politisch-rechtlich in der UN-Konvention (United Nations, 2021).
Dies ist Ausdruck des neuen emanzipatorisch-politischen Selbstverständnisses sich selbst
vertretender Menschen mit Behinderung („Man ist nicht, man wird behindert.“), die mit dem
Zusammenspiel von AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung ein immer besser werdendes,
universelles Werkzeug an der Hand haben. Die „disruptive“ Wucht der Digitalisierung, die alle
Lebensbereiche erfasst und eine umfassende Transformation der Gesellschaft in Gang gesetzt hat,
bringt starre und lange als unveränderbar wahrgenommene gesellschaftliche Strukturen, wie auch
Behinderung und ihre Institutionalisierungen, in Fluss. Damit erscheint immer öfter und immer mehr
dort, wo Zugang und Nutzung des Zusammenspiels von AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung
gelingt, nicht mehr Behinderung selbst als „schwer“ oder „komplex“, sondern die Herausforderung
einer technischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umsetzung von Inklusion im Kontext
einer allgemein offenen und demokratischen Gesellschaft.
2.2. MCS als Konvergenzpunkt der Schwere von Behinderung
So können wir, obiger Diskussion folgend, wichtige Aspekte von „Schwere“ und „Komplexität“ von
Behinderung mit der Möglichkeit der Anbindung an die MCS verorten. Dort, wo der Zugang zur MCS
nicht oder nur begrenzt gelingt, scheint die Nutzung der Digitalisierung für selbstbestimmte Teilhabe
in der digitalen Lebenswelt begrenzt. In Erweiterung des von Heidegger (2007) beschriebenen „in der
Sprache-Seins“ als Ausgangspunkt des „in der Welt-Seins“ und der Teilhabe können wir mit „in der
MCS-Sein“ eine neue Grenze festmachen. Gelingt der eigenständige Zugang zur MCS über das
Zusammenspiel von AT/MCS/Barrierefreiheit/Digitalisierung, kann Sprache und Teilhabe auf
unterschiedlichste Art und Weise realisiert werden. Gelingt dies nicht, bleibt die MCS eine Grenze für
selbstbestimmte Teilhabe in der digitalen Lebenswelt.2
Die Einfachheit der MCS in obiger Diskussion weiterführend könne wir zwei basale Fähigkeiten als
Voraussetzung für die Selbstbestimmtheit an der MCS konkretisieren (z.B. Lüke 2015):
Es sei festgestellt, dass Selbstbestimmung und Teilhabe im sozialen Kontext natürlich immer unabhängig von Technologie
möglich ist. Aber wo die MCS nicht selbständig genutzt werden kann, bleibt dies eingebunden in das stützende soziale
Umfeld von persönlicher Assistenz und vermittels sozial-organisatorischer Settings.
2)
a) Nutzung ikonischer, symbolischer Repräsentation und Muster in der visuellen, auditiven,
haptischen, oder anders sensorischen Wahrnehmung. Darin bezieht und basiert die MCS die
Interaktion auf angeborene und von frühesten Lebensmonaten an bzw. schon im Mutterleib
verfügbare Fähigkeiten des Zuganges zur Welt.
b) Nutzung deiktisch-zeigender intentionaler Handlungen, die in frühen Lebensmonaten als
vorsprachliche Form der Kommunikation entwickelt werden.
Wir können durchaus in diesem Zurückgreifen und Reduzieren der grundlegenden Anforderungen
der Interaktion auf diese basalen, vorsprachlichen Fähigkeiten an der MCS einen zentralen Grund für
ihre oben beschriebenen Qualitäten identifizieren, die den breiten, globalen Erfolg und ihre
inkludierende Wirkung ermöglichen. Und daher finden wir hier auch eine Grenze für
Selbstbestimmtheit, „Schwere“ und „Komplexität“ von Behinderung im digitalen Kontext. Auf diesen
beiden grundlegenden Fähigkeiten und der Entwicklung eines nutzbaren Umgangs mit ihnen können
Wege selbstgesteuerter Teilhabe an der digitale Lebenswelt über die Anbindung an das
Zusammenspiel von AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung realisiert werden. Die Erwartung und
das Versprechen der Digitalisierung werden für immer mehr „komplexe“ Behinderungen erfüllbar,
wenn die Rahmenbedingungen entlang der oben diskutierte sechs Anforderung realisiert werden.
2.3 Anknüpfungspunkte der Digitalisierung für Menschen mit komplexer Behinderung
Auch bei in diesem Sinne komplex/schwer bleibender Behinderung spielen digitale Möglichkeiten
eine wichtige unterstützende Rolle. Menschen sind nicht solitäre, auf sich gestellte, sondern soziale
Wesen. Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit sind eingebunden in einen Kontext der Symbiose von
Individuum und betreuendem Umfeld (z.B. Wieczorek 2018, Braun 2020) zu diskutieren, wo
wiederum Digitalisierung und damit das Zusammenspiel von AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung
Thema wird. Der Raster für die Einschätzung und Unterstützung von Interaktion und Kommunikation
schwerbehinderter Menschen im betreuenden Umfeld (Leber 2009, Weid-Goldschmidt 2013, Braun
2020) erlaubt praxisnah „symbiotische“ Ansatzpunkte für digitale Unterstützung zu identifizieren:
1. Ich: Nicht-intentionale, selbstbezogenen Aktivität
2. Ich und Du / Ich und die Dinge: Intentionale Handlung
3. Ich und Du und die Dinge: Intentionale vorsymbolische Kommunikation
4. Ich und Du und die Dinge und ein Symbol: Symbolische Kommunikation
Die Ermöglichung und die Stabilisierung dieses Prozesses erlauben im positiven Fall die
Realisierung von vor-symbolischer, symbolischer bis hin zu verbaler Sprache und die Anbindung an
geteiltes Weltwissen sowie selbstgesteuerte Nutzung von, Umgang mit und Beitrag zu ihm. In diesem
Raster lassen sich zumindest vier grundlegende Rollen der Digitalisierung erkennen:
a) Emphatisches Beobachten - Sensorik: Die Unterstützung und das Gelingen von eigenständiger
Interaktion und Kommunikation und darüber der Anschluss an gemeinsames Weltwissen sowie
Teilhabe basiert auf der Sensibilität und der Fähigkeit des Erkennens von Aktivität,
Aktion/Reaktion und Intention. Zentral ist dabei das emphatische Beobachten der Person durch das
Umfeld, um individuelle Möglichkeiten des Kompetenzaufbaus zu finden. Was digitale
Technologie gut, genau, geplant und ausdauernd kann, ist mittels Sensorik Muster von Aktion,
Reaktion und Intention zu erkennen und dabei, heute auch mittels lernender Systeme und
Künstlicher Intelligenz, mittels daten-/evidenzbasierter Unterstützung und (Teil-)Automatisierung
der Mustererkennung diese Symbiose zu begleiten. Dies hat notwendig auf der Erfahrung und
eingebunden in unterstützende Diagnostik, Assessment und Betreuung vor sich zu gehen. So kann
das, was das betreuende Umfeld emphatisch beobachtet oder der Zielgruppe geboten ist (z.B.
Snözelen, Lamers 2001) erweitert und flexibler (z.B. Zeit, Ort, Betreuende) gestalte werden.
Sprachliche und lautende Äußerungen, Gesten/Bewegungen, aber auch sonst schwer oder nicht
nutzbare (Re)Aktionen wie inner-/äußerlich nicht erkennbare Muskelaktivität, neurale Aktivierung
bis zu Brain-Computer Interfaces (BCI), Bio-feedback (z.B. Hautwiederstand) oder, wie schon für
UK genutzt, intendierte und nicht-intendierte (reagierende, vorbewusste) Augenbewegungen (z.B.
Pölzer 2017) können erkannt werden, um aus Mustern, die bisher zufällig erschienen oder auch
nicht zugänglich waren, Aktivität und Intention zu erkennen und im positiven Fall als Basis für
Interaktion und Kommunikation zu entwickeln. Die Vielfalt der Sensorik für Möglichkeiten einer
symbiotischen Ergänzung des emphatischen Beobachtens erscheint als ein in Wissenschaft und
Praxis für schwere/komplexe Behinderung wenig berücksichtigtes Feld zu sein. Sensor-
Frameworks, wie das vom Autor mitentwickelte AsTeRICS System (Asistive Technology Rapid
Integration and Construction Set, www.asterics.eu, Miesenberger 2013) versuchen die Vielfalt der
Sensorik und ihrer Kombination („Sensor-Slam“) für die AT/MCS/Barrierefreiheit/Digitalisierung
nutzbar zu machen. Dies soll emphatisches Beobachten, Analyse und Erkennen von Intention in
der Symbiose unterstützen, erweitern, optimieren und datenbasiert objektivieren. Zentral ist dabei,
die Nutzung auf eine von PraktikerInnen im Alltag durchführbare Ebene zu bringen und für Ausund Weiterbildung im sozial-pädagogischen Bereich nutzbar zu machen. (Miesenberger 2017)
b) Multimodale Aktion/Reaktion - Aktorik: Mit Sensorik gestützter Beobachtung finden wir im
positiven Fall selbstgesteuerte, (vor)bewusste individuelle Muster von intentionaler Aktion und
Reaktion. Dies ist die oben beschriebene minimale Voraussetzung für deiktische („binäre“)
Entscheidungen für die Anbindung an die MCS. So entstehen personalisierte ATs als Alternativen
oder Ergänzungen für Touch, Maus, Binärschalter, Gesten, Muskelsensoren, BCI, etc.. Dieses
symbiotisch weiter zu entwickelnde Reservoir intentionaler Aktivität wird über die Chance der
Anbindung an die Flexibilität des Zusammenspiels von AT/Barrierefreiheit/MCS/Digitalisierung
für vorsprachliche und sprachliche Kommunikation als auch selbstbestimmte Teilhabe verfügbar.
Die Anbindung intentionalen Handelns an die breite Palette der Aktorik über die MCS (Computer
Applikationen, Smart Environment, Spielzeug, Internet of Things, …) eröffnet Möglichkeiten für
die symbiotische Förderung in den vier Phasen des Rasters. Der AsTeRICS Framework
(Miesenberger 2013) integriert eine Vielfalt von Prozessoren, um sensorisch gemessene
intentionale Handlungsmuster über MCS mittels Aktorik zu selbstbestimmter Aktion zu verbinden.
c) Multimediale Präsentation – Information und Kommunikation: Der Aufbau der Beziehung zum Du
und zu den Dingen verlangt vom betreuenden Umfeld eine angepasste, personalisierte Präsentation
von (wieder)erkennbaren, wiederholbaren und Aufmerksamkeit (Stimuli) erregenden Mustern.
Durch Wiederholbarkeit und Konstanz in der Präsentation entsteht die Verlässlichkeit und das
Vertrauen für intentionale, auf sich (Ich) und die Umwelt (Dinge) bezogene Aktivität. Durch
Multimedialität digitaler Systeme erweitert sich dieser Möglichkeitsraum. Das Potential der
Medienvielfalt als auch der Medien/Stimuli-Konstanz bei medienübergreifender Flexibilität
(konstante Muster im Medienwechsel) und immer besser werdende medienübergreifende
Übersetzung/Präsentation und Anreicherung (VR/AR) ist heute Teil des Allgemeinwissens. Dies
beschränkt sich nicht nur auf das Visuelle, sondern bindet Auditives, Haptisches und
Olfaktorisches ein. Das garantiert noch nicht einen stabilen Aufbau der Beziehung zum Du, zu den
Dingen und den Anschluss an Sprache und Welt, aber dies lädt ein und verlangt, neue Konzepte
und Modelle in den vier Phasen des Rasters zu versuchen. Einen einfachen Ansatz könnte der vom
Autor mitentwickelte Easy Reading Framework sein (www.easyreading.eu), der es erlaubt,
unabhängig von technischem Wissen, digitale Information am digitalen Original auf
unterschiedlichste Weise zu präsentieren und zu personalisieren. Dies wurde noch nicht versucht
für basale Förderung, zeigt aber Perspektiven, vor allem dort, wo die Anbindung an das
Weltwissen (Wieczorek 2018) möglich erscheint. Mittels eigener Symbole/Bilder, globaler
Symbolsysteme (www.globalsymbols.com, Chaohai 2020) und durch Anbindung/Übersetzung in
Verbalsprachen gelingt vielleicht öfter der Zugang zum digitalen Kosmos.
d) Organisation und Management: Digitale Systeme unterstützen das Anordnen von singulären
symbolischen Repräsentationen zu komplexeren Kontexten mit Syntax (Zeichenvorrat und Regeln
der Wortbildung), Semantik (Bedeutung im Betreuungskontext und Anbindung an Weltwissen)
und Pragmatik des Alltags (z.B. Ablauf, Konstanz, Kommunikationsstrukturen, Prozessplanung, durchführung und -dokumentation). Die Anforderungen und oft auch die Überforderung der Praxis
sollte durch die Nutzung von Organisations- und Managementsystemen unterstützt werden können,
vor allem auch in Bezug auf Dokumentation, Auswertung, Wiederholung, Planung und in der
Kooperation mehrerer Bezugspersonen bis hin zu institutionsübergreifender Zusammenarbeit bzw.
leichteren Übergängen zwischen Einrichtungen. Die Entwicklung persönlicher digitaler Profile
(„ePortfolios“), in die die Dokumentation der Entwicklung eingehen kann und so einfacher und
abgestimmter mit den NutzerInnen mitgehen kann, erscheint als geradezu notwendige AT.
Damit haben wir erst einen Rahmen für die Entwicklung innovativer Konzepte, in die sich
Digitalisierung örtlich und zeitlich symbiotisch einbinden und so Weiterentwicklung von Betreuungsund Förderungskonzepten unterstützen kann. Bei komplexen Behinderungen gilt ganz besonders, dass
es keine vorgefertigten AT und Barrierefreiheits-Lösungen geben kann, sondern erst in der Symbiose
von Zielgruppe, betreuendem Umfeld und Digitalisierung personalisiert entwickelt werden können:
AT ist nicht einfach ein Produkt, sondern ein symbiotischer Prozess. Entsprechend dürfen wir nicht
vorgefertigte Produkte erwarten, sondern nur flexible technische Rahmen, die wir in der jeweiligen
Situation anpassen und adaptieren (z.B. AsTeRICS, Easy Reading) können. Innovation kann nur als
Teil der Praxis entstehen und so gelten noch einmal mehr die oben formulierten Anforderungen,
Digitalisierung professionell in die Praxis zu integrieren. Es ist damit vorerst wieder nur das
Versprechen und die Hoffnung, mit digitaler Unterstützung vielleicht leichter und besser den
Möglichkeitsraum selbstbestimmter Teilhabe behutsam zu erweitern und vorzudringen in die
unmittelbare Umgebung, hinein in den Raum, in die Einrichtung / das Haus und in die Nachbarschaft.
Dann findet man öfter und besser selbstgesteuert Anschluss an den (digitalen, barrierefreien) Alltag
und Weltwissen, um die Grenzen der „Schwere“ in der Symbiose weiter zu verschieben.
3.
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