210 Übersichtsarbeit Gibt es die Adaptive Thermogenese? Überlegungen zu „Sparstoffwechsel” und Energiebilanz M. J. Müller1; J. Enderle1; W. Braun1; M. Pourhassan1; A. Bosy-Westphal2 1Institut 2Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; für Ernährungsmedizin, Universität Hohenheim, Stuttgart Schlüsselwörter Keywords Energiebilanz, Energieverbrauch, Körperzusammensetzung, sympathisches Nervensystem, Schilddrüsenhormone, Leptin Energy balance, energy expenditure, body composition, sympathetic nervous system, thyroid hormones, leptin Zusammenfassung Summary Reduktionsdiäten und Gewichtsverlust bewirken eine Drosselung des zellulären Energieverbrauchs; diese wird als Adaptive Thermogenese (AT) bezeichnet. Bei kontrollierter Kalorienrestriktion erklärt die AT anteilig die nichtlineare Gewichtsabnahme. Vice versa begünstigt ein niedriger Energieverbrauch die Gewichtszunahme in der Ernährungstherapie von Patientinnen mit Anorexia nervosa. Das Ausmaß der AT beträgt etwa 100 kcal/Tag. Die AT ist reproduzierbar, die inter-individuelle Varianz der Stoffwechselanpassung ist allerdings hoch, während Gewichtsreduktion ist sie bei bis zu 60 % der Menschen nachweisbar. Die AT ist unabhängig von der Strategie der Gewichtsabnahme und innerhalb von drei Tagen Kalorienrestriktion messbar, während einer Diät und bei nachhaltiger Gewichtsreduktion bleibt sie erhalten. Nach Gewichtszunahme ist die AT jedoch innerhalb von zwei Wochen reversibel. Der Abfall der Insulinsekretion und die in „frühen” Stadien der Reduktionsdiät durch Mobilisation der hepatischen Glykogenspeicher erklärte negative Flüssigkeitsbilanz sind zur AT assoziiert. Demgegenüber zeigen die bei Gewichtsabnahme reduzierten Plasmaspiegel von Leptin und Triiodothyronin sowie die niedrige Aktivität des sympathischen Nervensystems eine Beziehung zum Erhalt des reduzierten Körpergewichts, nicht aber zur Regulation der Adaptiven Thermogenese. Caloric restriction (CR) and weight loss result in a decrease in cellular energy expenditure, i.e. the so-called adaptive thermogenesis (AT). During controlled CR AT adds to explain the non-linear weight loss. Vice versa AT may add to weight gain in feeding underweight patients with anorexia nervosa. AT is about 100 kcal/d, it is reproducible but the interindividual variance is high. During CR AT becomes measurable within three days and can be detected in up to 60 % of subjects. AT is independent of the weight loss strategy. AT persisted after stabilization of reduced body weight. With re-feeding AT is reversible within two weeks. During CR AT is associated with decreases in insulin secretion and negative fluid balance due to mobilization of hepatic glycogen. Negative energy balance associated decreases in plasma concentrations of leptin and tri-iodothyronine as well as reduced activity of the sympathetic nervous system reflect maintenance of reduced body weight rather than regulation of AT. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Manfred Müller Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Düsternbrooker Weg 15–17, D-24105 Kiel Tel. +49(0)431/8805670, Fax +49(0)431/8805679 E-Mail: mmueller@nutrfoodsc.uni-kiel.de Does adaptive thermogenesis exist? Thoughts on reduced metabolism and energy balance Adipositas 2015; 9: 210–216 Definition der Adaptiven Thermogenese Adaptive Thermogenese (AT) ist die von der Körpermasse und der Körperzusammensetzung unabhängige Anpassung von Wärmeproduktion und Energieverbrauch an Hunger, Diäten, sowie auch an Situationen wie Wachstum, Pubertät, Schwangerschaft und Stillperiode, Alter, Kälte, Stress und Krankheit. Diese metabolische Adaptation vollzieht sich in den verschiedenen Komponenten des Energieverbrauchs, d.h. dem Ruheenergieverbrauch (REE, Resting Energy Expenditure), der Nahrungs-induzierten Thermogenese (DIT, Diet-Induced Thermogenesis) und dem für körperliche Aktivität aufzuwendenden Energieverbrauch (AEE, Activity-related Energy Expenditure) (▶ Abb. 1). In der Praxis wird der gesamte Energieverbrauch pro Tag (TEE, Total Energy Expenditure) in den “REE-Anteil” (sog. resting-Komponente des TEE, beträgt 65–75 % des TEE) und den “nicht-REEAnteil” (sog. non-resting-Komponente des TEE, umfasst DIT + AEE) unterteilt. Die verschiedenen Komponenten des täglichen Energieverbrauchs werden differenziert und unabhängig voneinander reguliert, sie haben jeweils einen obligatorischen und einen fakultativen Anteil (20). Die sich aus der Körpermasse und den einzelnen Stoffwechselreaktionen in der Summe errechnenden „Kosten” entsprechen dem obligatorischen Anteil des Energieverbrauchs. Demgegenüber ist der fakultative Energieverbrauch variabel und wird z.B. im Falle der DIT durch die Aktivität des Sympathischen Nervensystems (SNS, Sympathetic Nervous System) erklärt (20). Anpassungen des Stoffwechsels z.B. an Ernährung oder moderates Absinken der Umgebungstemperatur betreffen die jeweils fakultativen Anteile des Energieverbrauchs. So gesehen gibt es verschiedene ATs, wel- © Schattauer 2015 Adipositas 4/2015 Downloaded from www.adipositas-journal.de on 2016-06-19 | IP: 178.63.86.160 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 211 M. Müller et al.: Gibt es die Adaptive Thermogenese? che den Komponenten des Energieverbrauchs zugeordnet und unterschiedlich reguliert werden. In ihrer ursprünglichen Definition ist die AT durch die „Massen-unabhängige” Drosselung des REE bei Kalorienrestriktion und Gewichtsabnahme definiert (14). Sie entspricht dem fakultativen Anteil des REE und umfasst Veränderungen der Stoffwechselaktivität und der metabolischen Effizienz. Die AT ist unabhängig von der zur Gewichtsabnahme verfolgten Strategie und wird ähnlich bei Reduktionsdiäten, Training, Reduktionsdiäten + Training, unter Pharmakotherapie der Adipositas und auch nach bariatrisch-chirurgischen Operationen beobachtet (13, 20, 22). Die fettfreie Masse (FFM) ist die entschei- dende Determinante des REE, sie erklärt bis zu 80 % seiner inter-individuellen Varianz (2). Gewichtsabnahme ist durch einen Verlust an Fettmasse und aber auch an FFM charakterisiert (4). Geschwindigkeit und Ausmaß der Gewichtsabnahme sowie die initiale Fettmasse bestimmen den Anteil der FFM am Gewichtsverlust. Die Abnahme der FFM geht mit der Drosselung des REE einher (14, 20). Allerdings übersteigt der Abfall des REE den sich rechnerisch aus der niedrigeren FFM ergebenden REE-Wert (14, 20). Neben der von der Gewichtsabnahme abhängigen Senkung des Energieverbrauchs ist auch die Stoffwechselrate pro kg FFM (=zellulärer Energieverbrauch) reduziert (21). Die AT entspricht der Drosselung des zellulären Energiever- Abb. 1 Komponenten des täglichen Energieverbrauchs und der Thermogenese. Alle einzelnen Komponenten sind sowohl durch einen obligatorischen als auch durch einen fakultativen Anteil charakterisiert. Der jeweils fakultative Anteil erlaubt eine flexible metabolische Anpassung an z.B. Kalorienrestriktion, Schwangerschaft und Laktation, Umgebungstemperatur, Ernährung und körperliche Aktivität. Die Anpassung des Energieverbrauchs erfolgt Organ- und Gewebe-spezifisch. Der obligatorische Bedarf entspricht dem stöchiometrisch brauchs und wird weitläufig auch als „Sparstoffwechsel” bezeichnet. Ausmaß und Determinanten der Adaptiven Thermogenese Bei Nahrungskarenz und Diäten bestimmt die Höhe des Energiedefizits das Ausmaß der AT (12). Vor mehr als 60 Jahren hatten Ancel Keys und seine Mitarbeiter die Minnesota Starvation Study durchgeführt (14): 32 gesunde junge Männer wurden für 24 Wochen kontrolliert niedrig-kalorisch, d.h. bei einer Energiezufuhr von nur 50 % ihres Bedarfs ernährt. Das Körpergewicht der anhand der jeweils den Funktionen zugrundeliegenden Stoffwechselwegen errechneten Bedarf. Der obligatorische Energiebedarf beim Muskelzittern entspricht dem obligatorischen Energiebedarf bei körperlicher Arbeit. Abk.: REE= resting energy expenditure; DIT= diet-induced thermogenesis, auch TEF= thermic effect of food genannt; AEE= activity-related energy expenditure; NEAT= non-exercise activity energy expenditure; EAT= exercise-dependent energy expenditure; BAT= brown adipose tissue; WAT= white adipose tissue. Adipositas 4/2015 © Schattauer 2015 Downloaded from www.adipositas-journal.de on 2016-06-19 | IP: 178.63.86.160 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 212 M. Müller et al.: Gibt es die Adaptive Thermogenese? Probanden nahm um 16,8 kg oder 24 % des Ausgangsgewichts ab. Die Erfassung des REE erfolgte nach 4, 12 und 24 Wochen Unterernährung. Nach 24 Wochen war der REE um 39 % bzw. um 600 kcal/Tag gedrosselt, 35 % des Abfalls bzw. 200 kcal/Tag waren unabhängig von der gleichzeitigen Abnahme des Körpergewichts und entsprachen somit der AT. Neuere experimentelle Studien zeigten eine AT von 54 bzw. 137 kcal/Tag bei kalorienreduzierter Ernährung und Gewichtsabnahmen von 10 % bis 20 % (17, 22). Die systematische Analyse klinischer Untersuchungen ergab ein Ausmaß der AT von 126 kcal/Tag bei einem mittleren Gewichtsverlust von 9,4 kg (28). Die AT wird als ein auto-regulatorisches Phänomen verstanden und von mehreren Autoren durch eine verminderte SNS-Aktivität sowie niedrige Plasmakonzentrationen der Hormone Leptin und T3 (3,5,3’-Tri-iodothyronin) erklärt (5, 7, 9, 12, 13, 18, 23, 25, 27; ▶ Abb. 2). Diese Einschätzung beruht wesentlich auf der Beobachtung des bei Kalorienrestriktion zum Abfall des REEs parallelen Absinkens der Plasmaspiegel von Leptin und T3 und der Ausscheidung von Noradrenalin im Urin (20). Allerdings heben niedrig-dosierte Gaben von Leptin oder T3 oder auch adrenerg wirksamen Substanzen die Adaptation des REE im Hunger nicht auf (vergl. Diskussion in 22). Demgegenüber bewirkt die Substituti- Abb. 2 Hormonelle Adaptation an und Regulation von Ruheenergieverbrauch (REE, Resting Energy Expenditure) und Energiebilanz. Eine ausgeglichene Energiebilanz (=Energieverbrauch = Energieaufnahme) wird anhand der 450-Gerade abgebildet. Entlang dieser Gerade besteht ein Stoffwechselgleichgewicht, d.h. ein sog. steady state. Bei negativer Energiebilanz (= Energieverbrauch > Energieaufnahme) besteht ein sog. non-steady state. Der REE (absolut und bezogen auf die Fettfreie Masse, FFM) ist niedrig bzw. niedrig-normal. Die Spiegel von Schilddrüsenhormonen (T3, Triiodothyronine), Leptin und Insulin sind reduziert, die Aktivität des sympathischen Nervensystems (SNS, Sympathetic Nervous System) ist abhängig von Energieaufnahme und körperlicher Aktivität unverändert oder niedrig. Dieses hormonelle „Muster“ spiegelt die Energiebilanz wider und intendiert den Erhalt des steady states. Bei positiver Energiebilanz (=Energieverbrauch < Energieaufnahme) ist der REE erhöht bzw. hoch-normal. Die Konzentrationen der anabol-wirksamen Hormone bzw. die SNS-Aktivität sind hoch. Teleologisch erlauben die Anpassungen des Stoffwechsels das Wiederreichen und letztlich den Erhalt einer ausgeglichenen Energiebilanz (=Energieverbrauch = Energieaufnahme). Dieses entspricht einem neuen Stoffwechselgleichgewicht (=steady state). on von Leptin während der Kalorienrestriktion einen Anstieg des “nicht-REE-Anteils” am Energieverbrauch (25, 27). Dem Fettgewebe wurde eine spezifische Rolle in der Regulation der Thermogenese zugeschrieben: Die Abnahme der Fettmasse “drosselt” den Energieverbrauch mit dem Ziel ihrer Wiederherstellung (8). Gleichzeitig werden das Hungergefühl und die Nahrungsaufnahme gesteigert, um eine Zunahme von Fettmasse und FFM zu erreichen. Dabei haben die Aufnahme von Energie und Makronährstoffen wiederum einen Effekt auf die Thermogenese (sic DIT), welcher aber unabhängig von der Fettmasse ist (8). Das hier kurz beschriebene Modell geht von der sog. set point-Theorie zur Regulation des Körpergewichtes aus und nimmt differenziert set points für die Fettmasse, die FFM und das Verhältnis von Fettmasse zur FFM an (8). Die Theorie des set points und auch die Autoregulation des Körpergewichtes durch das Fettgewebe sind aber durchaus strittig (19). Die mögliche Bedeutung verschiedener Fettdepots für die Regulation der Thermogenese wurde bisher am Menschen nicht untersucht. Unter thermoneutralen Bedingungen hat braunes Fettgewebe beim Menschen keine Bedeutung für die Thermogenese im Hungerzustand bzw. für die DIT (20). Die zellulären Grundlagen der AT im Hunger betreffen den Stoffwechsel von Leber, Herz, Nieren und Skelettmuskulatur. Der Abfall der Herzfrequenz, die Reduktion der glomerulären Filtrationsrate, die reduzierte Harnstoffproduktion und die im Hungerzustand niedrigere Körpertemperatur sind klinisch einfach erfassbare Korrelate der AT. Die Reduktion energieverbrauchender Prozesse wie Proteinsynthese, „sinnloser” Substratzyklen (z.B. das Rezyklieren von über die Lipolyse bereitgestellten Fettsäuren in Triglyzeride) und der Na+K+-ATPase erklären mehr als 50 % der AT (20). Eine Steigerung der metabolischen Effizienz ist durch eine Erhöhung der P:O-Ratio oder eine Verringerung des Proton-leaks denkbar. Sinnhaftigkeit der Adaptiven Thermogenese Teleologisch bedeutet die AT eine effizientere Nutzung von Energien, sie soll der © Schattauer 2015 Adipositas 4/2015 Downloaded from www.adipositas-journal.de on 2016-06-19 | IP: 178.63.86.160 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 213 M. Müller et al.: Gibt es die Adaptive Thermogenese? Konservierung von Körperenergie und der Protektion der Körpermasse dienen (9, 12, 18, 20, 27). Die AT erklärt die nicht-lineare Gewichtsabnahme unter Diäten (9, 20, 27). Die AT erscheint somit als eine Überlebensstrategie des Körpers. Sie wurde andererseits für die inter-individuelle Varianz der Gewichtsabnahme sowie das Scheitern der diätetischen Behandlung von Patienten mit Adipositas verantwortlich gemacht (28). In einer klinischen Untersuchung zur diätetischen Gewichtsreduktion konnten 38 % der Differenz zwischen der aufgrund des Energiedefizits errechneten und der tatsächlich gemessenen Gewichtsabnahme durch die AT erklärt werden; 14 % wurden durch den höheren Fettanteil am Gewichtsverlust und fast 50 % durch mangelnde compliance der PatientInnen erklärt (10). Vice versa ist die Drosselung des Energieverbrauchs bei Gewichtsreduktion ein mögliches Risiko für eine anschließende Gewichtszunahme (30, 31, 33). In der Tat ist das Ausmaß der AT zur Höhe der Energieaufnahme korreliert (12). Die AT wurde auch im Zusammenhang mit der Idee eines sog. thrifty genotype zur Erklärung der inter-individuellen Varianz von Gewichtsveränderungen diskutiert (24). Sie ist Teil moderner Konzepte von Bioenergetics und so Ziel von zukünftiger Pharmakotherapie und personalisierter Behandlung der Adipositas (9, 32). Fragen und (neue) Antworten Obwohl die AT seit mehr als 60 Jahren bekannt ist und sowohl tierexperimentell als auch in Humanstudien intensiv beforscht wurde, gibt bis heute noch eine Reihe offener Fragen und Probleme. 1. Es war lange unklar, zu welchem Zeitpunkt der Gewichtsabnahme die AT auftritt und ob die negative Energiebilanz oder die Gewichtsabnahme die AT bestimmen. In verschiedenen Studien wurde die AT nach einem Monat (14), zwei Wochen (17) oder auch 24 Stunden Kalorienrestriktion (34) beobachtet. Unter kontrollierten Bedingungen der Kalorienrestriktion wurde die AT schon während der frühen „Hungerphase“ nachgewiesen und ist nach 3 Tagen Ka- Abb. 3 Reduktion des Ruheenergieverbrauchs (REE= Resting Energy Expenditure, absolut bzw. adjustiert für die Fettfreie Masse [FFM]) bei 32 gesunden und normalgewichtigen Männern während einer dreiwöchigen Phase von kontrollierter Kalorienrestriktion (CR= Caloric Restriction) bei einer Energiezufuhr von –50 % des individuell gemessenen Energieverbrauchs. Daten aus Referenz 22. Die Ergebnisse sind für die einzelnen Wochen jeweils als Veränderung gegenüber dem letzten Tag der Vorwoche dargestellt. Die Adaptation des REE vollzieht sich in der ersten Woche von CR. Demgegenüber finden sich während der 2. und der 3. Woche nur noch geringfügige Veränderungen. lorienrestriktion messbar (22). Adhärenz der Probanden vorausgesetzt, bleibt die AT dann über die gesamte Dauer der Kalorienrestriktion (d.h. auch bei weiterer Gewichtsabnahme) nahezu unverändert bestehen (22; ▶ Abb. 3). Die AT wird auch bei geringem Gewichtsverlust und negativer Energiebilanz manifest (13). Bei anschließender Ernährung ist die AT innerhalb von zwei Wochen reversibel (22). Ist der Behandlungserfolg aber nachhaltig (wie z.B. nach bariatrischchirurgischen Eingriffen), so ist die AT (zumindest während Beobachtungszeiträumen von bis zu 1 Jahr) persistent (5, 26). Die vorliegenden Ergebnisse sprechen eher dafür, dass die negative Energiebilanz die AT bestimmt. 2. Die AT wurde nicht in allen klinischen und experimentellen Studien gleichermaßen beobachtet, nur 24–50 % der PatientInnen hatten eine AT (vergl. 20). Die quantitativen Angaben zur AT sind uneinheitlich, sie betrug zwischen 100 und 500 kcal/Tag (15, 16, 20, 22). Im Vergleich der Ergebnisse gibt es zahlreiche klinische und weitgehend unkon- trollierte Studien zur Gewichtsreduktion von PatientInnen mit Adipositas (1, 3, 5, 10, 15, 16, 25, 29–31, 33), während bisher nur wenige experimentelle und kontrollierte Untersuchungen zur Adaptation des Energieverbrauchs bei Kalorienrestriktion am Menschen durchgeführt worden sind (13, 14, 17, 22, 25, 26, 34). Auch in experimentellen Untersuchungen ist die inter-individuelle Varianz in Energieverbrauch und Körperzusammensetzung hoch, 60 % der gesunden Probanden zeigen eine AT (22): Diese ist aber intra-individuell reproduzierbar und beträgt etwa 100 kcal/Tag (22). Die in einigen Studien beobachteten hohen AT-Werte (15, 16) erklären sich durch eine fehlerhafte Adjustierung des REE um die FFM, welche auch die Zusammensetzung der FFM berücksichtigen muss (2). Der Verlust von Fettmasse verändert die relativen Anteile der inneren Organe (Gehirn, Leber, Herz, Nieren) an der FFM (1–4, 22). Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Beziehung zwischen REE und FFM und somit die Berechnung der AT (2, Adipositas 4/2015 © Schattauer 2015 Downloaded from www.adipositas-journal.de on 2016-06-19 | IP: 178.63.86.160 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 214 M. Müller et al.: Gibt es die Adaptive Thermogenese? 22). Ganzkörper-MRT-Untersuchungen zeigen, dass die Abnahme von Gewicht und Fettmasse auch Organmassen von Skelettmuskel, Leber und Nieren betrifft (1, 3, 22). Nehmen schlanke Männer unter kontrollierter Kalorienrestriktion 6 kg ab, so werden 30 % der AT durch die veränderte Zusammensetzung der FFM erklärt (22). Die „wahre“ AT (d.h. die wirklich von der FFM und deren Zusammensetzung unabhängige Drosselung des zellulären Energieverbrauchs) beträgt so „nur“ 70 kcal/Tag (22). Bei extrem Adipösen und starkem Gewichtsverlust (von z.B. 30 kg) sind die Veränderungen in der FFM-Zusammensetzung ausgeprägter, sodass die ausschließlich anhand von FFM-Adjustierung berechnete AT die „wahre” AT nicht abbildet (23). 3. Ancel Keys hatte die AT anhand des REE definiert (14). In neueren Arbeiten wurde das Konzept der AT auch auf den „nicht-REE-Anteil“ des täglichen Energieverbrauchs erweitert (▶ Abb. 1; 8, 12, 17, 20, 25–27). Nach Gewichtsreduktion und anschließender Stabilisierung wurde die AT von einigen Autoren lediglich im „nicht-REE-Anteil” gefunden (17, 25, 27). Kalorienrestriktion vermindert sowohl den REE als auch die energetischen „Kosten” für körperliche Aktivität (14, 22, 25), während sich keine Effekte auf die Nahrungs-induzierte Thermogenese finden (22, 25). 4. Während Reduktionsdiäten und Gewichtsabnahme bei PatientInnen mit Adipositas sind die Plasmaspiegel von T3 und Leptin niedrig, die Aktivität des SNS ist reduziert. Dieses Hormonmuster wurde zur Erklärung der AT herangezogen (5, 8, 9, 12, 13, 17, 18, 25–27). Allerdings fanden sich sowohl in klinischen Untersuchungen zur Gewichtsreduktion adipöser PatientInnen (15, 16) als auch in einer kontrollierten Ernährungsstudie (22) keine Beziehungen zwischen der AT und T3, Leptin bzw. der SNS-Aktivität. Demgegenüber zeigte sich zum Zeitpunkt der Manifestation (nach drei Tagen kontrollierter Kalorienrestriktion) eine Beziehung zwischen der AT und dem Abfall der Insulinsekretion, welche wiederum zur Stoffwechselumstellung (Entleerung der hepatischen Glykogenspeicher sowie Anstieg der Lipidoxidation) und der negativen Flüssigkeitsbilanz assoziiert ist (22). Im Hinblick auf die von der Anpassung des zellulären Energieverbrauchs betroffenen Körperfunktionen erklären die Drosselung von Herzfrequenz, Körpertemperatur und glomerulärer Filtrationsrate etwa 50 % der AT, der Rest ist heute noch unklar (22). Die AT ist somit Ausdruck der Anpassung von Stoffwechsel und Organfunktionen in der frühen Hungerphase (6). 5. In Ancel Keys Experiment war die AT zu einer Hyperphagie und disproportionalen Zunahmen von Fettmasse und viszeralem Fett im Anschluss an die Kalorienrestriktion assoziiert (7, 9, 14). Ähnliche Befunde fanden sich bei Behandlung von PatientInnen mit Anorexia nervosa (11). Dieses Phänomen wurde als „catch up fat“- oder „fat overshooting“-Phänomen beschrieben (7–9). Da das Ausmaß der AT invers zur Fettoxidation korreliert ist, könnte sie die Speicherung von Lipiden im Fettgewebe begünstigen, während gelichzeitig die Glukoseoxidation erhöht ist (13, 22). Bei moderatem Gewichtsverlust von 6 kg und einer FFM-Abnahme von 3,4 kg entsprachen aber die in einem Zeitraum von zwei Wochen an die Gewichtsabnahme anschließende „WiederErnährung“ beobachteten Zunahmen von Gewicht, Fettmasse und FFM den vorher beobachteten Abnahmen (22). In dem Beobachtungszeitraum wurden keine disproportionale Zunahme von viszeralem oder auch Leber-Fett beobachtet (22). Fazit Unter kontrollierten Ernährungsbedingungen ist die AT bei 60 % der Probanden messbar, sie ist reproduzierbar und stellt eine physiologische Adaptation an eine negative Energiebilanz dar. Allerdings ist die Drosselung des Energieverbrauchs gering, sie beträgt etwa 100 kcal/Tag. Ihre Bedeutung für die Konservierung von Körpergewicht erscheint kurz- und mittelfristig eher gering. Während 50–100 Tagen einer konsequent durchgeführten Reduktionsdiät könnte eine AT von 100 kcal/Tag rechnerisch den Erhalt von 1 kg Körpergewicht erklären. Angesichts des Ausmaßes der AT mag deren hohe inter-individuelle Varianz anteilig auch durch die methodischen Probleme der Erfassung von Energieverbrauch und Körperzusammensetzung erklärt werden. Hinweise auf mögliche genetische Grundlagen der AT sind derzeit rein hypothetisch. Die aktuellen Vorstellungen zur Regulation der AT durch Leptin, T3 und das SNS sind fragwürdig (18, 20). Die bisher beschrieben Beziehungen zwischen dem Energieverbrauch und den genannten Hormonen beruhen wesentlich auf Untersuchungen, welche erst nach Gewichtsreduktion und bei dann wieder stabilem Körpergewicht durchgeführt worden waren (5, 25, 27). In dieser Situation ist aber eine weitgehenden Adaptation an das verringerte Körpergewicht bereits erreicht worden. Dieser Zeitpunkt bildet naturgemäß nicht die Regulation des Energiestoffwechsels bei negativer Energiebilanz ab. Auch wurde in einigen klinischen Untersuchungen zur Gewichtsreduktion adipöser Patienten keine Beziehung zwischen AT und den PlasmaLeptin gefunden (15, 16, 22). Demgegenüber ist die bei negativer Energiebilanz verminderte Insulinsekretion eng zum Auftreten der AT assoziiert (22). Vor einer Diät und bei stabilem Körpergewicht befindet sich der Stoffwechsel in einem sog. steady state. Die in ▶ Abb. 2 genannten endokrinen Determinanten des Energieverbrauchs dienen dem Erhalt dieses steady states. Gewichtsabnahme bedeutet eine Störung des steady state, es besteht ein sog. „non-steady state“: Die Glykogenspeicher in der Leber werden mobilisiert, die Flüssigkeitsbilanz ist negativ, die Lipolyse zur endogenen Bereitstellung von Energieträgern ist noch nicht vollständig aktiviert und das Gehirn muss um die Bereitstellung von Energie in Form von Glukose „kämpfen“ (6). Die vom Abfall des Insulinspiegels und der Entleerung der Glykogenspeicher in der Leber abhängige AT ist dann ein (vielleicht auch eher hilfloser) Versuch der Anpassung an den aktuellen „Stress“. Ob es sich bei der AT nun um einen aktiv gesteuerten Prozess oder eine © Schattauer 2015 Adipositas 4/2015 Downloaded from www.adipositas-journal.de on 2016-06-19 | IP: 178.63.86.160 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 215 M. Müller et al.: Gibt es die Adaptive Thermogenese? passive Adaptation handelt, wissen wir nicht. Die biologische Regulation durch Leptin, T3 und auch das SNS dient dem Wiedererreichen eines steady states und dem Erhalt des reduzierten Körpergewichts. Möglicherweise unterscheiden sich PatientInnen mit Adipositas in der Regulation des steady states und/oder auch in dem Ausmaß des non-steady states bei Gewichtsabnahme, die inter-individuelle Varianz der AT ist hoch. Der Einfluss von Alter und Krankheit auf die AT ist bisher nicht untersucht worden. Vielleicht trägt die Varianz in der AT auch (gering) anteilig zur Varianz der Gewichtsabnahme von PatientInnen mit Adipositas bei. Allerdings gibt es für diese Idee keine wirklich „harte“ Evidenz. Kontrollierte Untersuchungen können die inter-individuelle Varianz der Gewichtsabnahme (und auch -zunahme bei an die Kalorienrestriktion anschließender Ernährung) unter Hinzuziehung zahlreicher biologischer Charakteristika nicht gut erklären. Das spricht dafür, dass das Energiedefizit selbst der stärkste und andere mögliche Determinanten überdeckende Einflussfaktor ist. Wenn das so ist, wäre der Gewichtserhalt (oder eben dessen Scheitern) nach diätetischer Gewichtsreduktion trivial, d.h. einfach durch die unterschiedliche Adhärenz der PatientInnen erklärt. Moderne Konzepte von Bioenergetics und Genetik (= die Suche nach dem thrifty genotype) würden sich dann also im Dunstkreis von Spekulationen bewegen, die nicht wirklich weiterhelfen. Danksagung Förderung durch BMBF Kompetenznetz Adipositas und Referenzzentrum Körperzusammensetzung (BMBF 01EA1336; 01GI1125). Interessenkonflikte Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen. Literatur 1. Bosy-Westphal A, Kossel E, Goele K, et al. Contribution of individual organ mass loss to weight loss-associated decline in resting energy expenditure. Am J Clin Nutr 2009; 90: 993–1001. 2. Bosy-Westphal A, Braun W, et al. Issues in characterizing resting energy expenditure in obesity and after weight loss. Front Physiol 2013; 25: 47. 3. Bosy-Westphal A, Schautz B, Lagerpusch M, et al. Effect of weight loss and regain on adipose tissue distribution, composition of lean mass and resting energy expenditure in young overweight and obese adults. Int J Obes. 2013; 37: 1371–1377. 4. Bosy-Westphal A, Kahlhöfer J, et al. Deep body composition phenotyping during weight cycling: relevance to metabolic efficiency and metabolic risk. Obes Rev 2015; 16 Suppl 1: 36–44. 5. Butte NF, Brandt ML, et al. Energetic adaptations persist after bariatric surgery in severely obese adolescents. Obesity 2015; 23: 591–601. 6. Cahill GF Jr. Starvation in man. New Engl J Med 1970; 282: 668–675. 7. Dulloo AG1, Jacquet J, Girardier L Autoregulation of body composition during weight recovery in human: the Minnesota Experiment revisited. Int J Obes 1996; 20: 393–405. 8. Dulloo AG, Jacquet J. 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