Dr. Reinhard Marx Mainzer Landstr. 127a 60327 Frankfurt am Main T. 0049-69-24271734 F. 0049-69-24271735 Re.Marx@t-online.de www.ramarx.de Ausländer- und Asylrecht Grundlagen und Vertiefung 1 Gliederung: I. Arten der Aufenthaltstitel II. Duldung (§ 60a AufenthG) III. Erteilung des Aufenthaltstitels IV. Verlängerung des Aufenthaltstitels V. Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) VI. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a bis § 9 c AufenthG) B. Eilrechtsschutz gegen die Versagung die Versagungsverfügung I. Antrag auf Anorndung der aufschiebenden Wirkung des Widespruchs gegen die Versagungsverfügung nach § 80 nAbs. 5 VwGO II. Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VGO III. Hauptsacheverfahren C. Aufenthaltserlaubnis zwecks Erwerbstätigkeit I. Aufenthaltstitel zur Ausübung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit (§ 18 bis § 20 AufenthG) II. Türkische Arbeitnehmer III. Selbständige Erwerbstätigkeit (§ 21 AufenthG) D. Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung (§ 27 bis § 36 AufenthG) I. Allgemeine Voraussetzungen II. Ehegattennachzug zu ausländischen Stammberechtigten (§ 30 AufenthG) III. Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) IV. Familiennachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen (§ 29 Abs. 2 AufenthG) V. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) VI. Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis VII. Eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten (§ 31 AufenthG) VIII. Kindernachzug (§ 32 AufenthG) XI. Aufenthaltserlaubnis für den sorge- oder umgangsberechtigten Elternteil eines minderjährigen ledigen Kindes (§ 36, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) E. Ablauf des Asylverfahrens I. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge II. Ausländerbehörde III. Bundespolizei IV. Aufnahmeeinrichtung V. Einleitung des Asylvefahrens VI. Sachverhaltsaufklärung VII. Internationaler Schutz (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG) F. Aufenthaltsbeendigung I. Erlöschensgründe II. Auflösende Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) III. Nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) IV. Widerruf (§ 52 AufenthG) V. Rücknahme (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in Verb. mit § 48 VwVfG) VI. Nicht nur vorübergehende Ausreise VII. Ausweisung (§ 53 bis 56 AufenthG) G. Rechtsschutz im asylrechtlichen Hauptsacheverfahren I. Klageerhebung II. Eilrechtsschutz im Asylverfahren 3 4 4 23 28 38 40 40 50 52 52 53 65 67 70 70 92 94 94 95 96 96 108 113 117 117 119 119 119 120 134 140 143 143 144 145 147 147 149 151 170 170 179 2 I. Arten der Aufenthaltstitel § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zählt abschließend die Aufenthaltstitel auf: Aufenthaltserlaubnis (§ 7 AufenthG) Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) das Visum (§ 6 AufenthG) die Erlaubnis zum Daueraufenthalt (§ 9a AufenthG) Das Gesetz nennt die Aufenthaltserlaubnis: - zum Zwecke der Studienbewerbung und des Studiums (§ 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) - zum Zwecke der Teilnahme an Sprachkursen, die nicht der Studienvorbereitung dienen (§ 16 Abs. 5 AufenthG) - zum Zwecke des Schulbesuchs in Ausnahmefällen (§ 16 Abs. 5 AufenthG) - zum Zwecke der betrieblichen Aus- und Weiterbildung (§ 17 AufenthG) - zum Zwecke der Erwerbstätigkeit (Abschnitt 4) - aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen (Abschnitt 5) - zum Zwecke der Familienzusammenführung (Abschnitt 6). In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen im AufenthG nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden (§ 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Der Prüfung der einzelnen materiellen Voraussetzungen, unter denen ein Aufenthaltstitel erteilt werden kann, voran geht zunächst stets die formelle Prüfung. Jemand kann einen materiellen Anspruch haben, kann diesen aber unter Umständen nicht durchsetzen, weil Regelerteilungsgründe nicht oder Versagungsgründe vorliegen. Illustrativ hierfür sind etwa die Vorschriften gegen die Umgehung der Einreisevorschriften, die allerdings nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geheilt werden kann, sowie die Sperrwirkung der Ausweisung. Solange die Sperrwirkung nicht befristet worden ist, ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch dann gesperrt (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), wenn ein Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht. Deshalb ist stets eine sehr sorgfältige und präzise Prüfung der formellen Erteilungsvoraussetzungen geboten. Das AufenthG unterscheidet in Rechtsansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z.B. § 24 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2, § 26 Abs. 3, § 28 Abs. 1 Satz 1, § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 1, § 32 Abs. 1 bis 3, § 33, § 35, § 37 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AufenthG), in Regel- oder Sollansprüche (§ 25 Abs. 3 Satz 1, § 25 Abs. 5 Satz 2, § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und in Ermessenstatbestände. Ein Anspruch liegt vor, wenn die Ausländerbehörde nach einer Rechtsvorschrift eine gebundene Entscheidung zu treffen hat. In diesem Fall werden nach der auf die Regelerteilungs- und Versagungsgründe bezogenen formellen Prüfung lediglich die anspruchsbegründenden Voraussetzungen der Rechtsvorschrift geprüft und findet gegebenenfalls eine volle inhaltliche und rechtliche Kontrolle durch das Verwaltungsgericht statt. Nach überwiegender Auffassung liegt ein Anspruch auch dann vor, wenn das Gesetz einen Regelanspruch festlegt. Auch in diesem Fall ist „im Regelfall“ eine gebundene Entscheidung zu treffen, ohne dass Raum für eine Ermessensausübung besteht. Die Beurteilung, ob ein Regel- oder Ausnahmefall vorliegt, obliegt der Ausländerbehörde und unterliegt der uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Diese Grundsätze gelten auch für den Sollanspruch (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Auch in diesem Fall ist im Regelfall so zu verfahren, wie es das Gesetz bestimmt. Ob im atypischen Ausnahmefall im Anwendungsbereich der Norm und auf ihren Inhalt bezogen automatisch Ermessen auszuüben ist, ergibt sich jeweils aus dem materiellen Recht und der Systematik des Gesetzes. Bei dieser Beurteilung handelt es sich um die Auslegung einer Sollnorm. So wird etwa in den Nachzugsfällen, in denen ein gesetzlicher Anspruch vorliegt und zugleich eine atypische Fallkonstellation im Blick auf die Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG glaubhaft gemacht wird, nicht nach Ermessen entschieden. 3 Die Mehrzahl der Erteilungsgründe des AufenthG sind als Ermessensnormen ausgestaltet (vgl. z. B. § 16 bis § 21 AufenthG). Hier hat die Ausländerbehörde zunächst die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm zu ermitteln und anschließend im Rahmen der Ermessensausübung die maßgebenden öffentlichen und individuellen Belange und Interesse festzustellen, ihr Gewicht zu bestimmen und gegeneinander abzuwägen. Die gerichtliche Kontrolle ist auf Ermessensfehler (§ 114 VwGO), also Ermessensmangel, Ermessensfehlgebrauch oder Ermessensüberschreitung sowie auf die Überprüfung der tatsächlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm beschränkt. Eine Ermessensreduzierung (auf Null) ist nicht mit einem gesetzlichen Anspruch identisch. Sofern das Gesetz den Begriff des gesetzlichen Anspruchs verwendet (z.B: § 10 Abs. 1 AufenthG), ist die Ermessensreduzierung deshalb nicht eingeschlossen, wohl aber, wenn der Begriff Anspruch verwendet wird, wie etwa in § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt., § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), da nur eine Entscheidungsalternative besteht.1 II. Duldung (§ 60a AufenthG) Bei der Duldung handelt es sich um die „zeitweise Aussetzung der Abschiebung“ (§ 60a Abs. 2 AufenthG), also nicht um einen besonderen Aufenthaltstitel. Vielmehr dokumentiert die Duldung einen nicht rechtmäßigen Aufenthalt und beseitigt nicht die Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG. Allerdings ist der geduldete Aufenthalt als solcher nicht strafbar (vgl. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Wird die Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4 AufenthG) nicht als Ausweisersatz ausgestellt, erfüllt der Duldungsinhaber indes den Straftatbestand nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (vgl.§ 58 Nr. 2 AufenthV).2 Die Duldung erlischt mit der Ausreise (vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG). III. Erteilung des Aufenthaltstitels 1. Funktion des Prüfungsschemas Die Rechtsvorschriften über die Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels sollen sicherstellen, dass die Zuwanderung politisch gesteuert werden kann. In der Verwaltungspraxis kommt daher der strikten Einhaltung der entsprechenden Vorschriften für die Begründung und Fortführung eines rechtmäßigen Aufenthaltes eine besondere Funktion zu. Bei jedem ausländerrechtlichen Sachverhalt sind die Vorschriften über die Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels von Bedeutung. Da die Fallgestaltungen in ihrem zeitlichen Ablauf, ihrer faktischen Komplexität und ihrer materiell-rechtlichen Ausprägung häufig sehr kompliziert sind, empfiehlt sich für die anwaltliche Beratung und Vertretung die Verwendung eines Prüfungsschemas, wie es in Schaubild 1 graphisch dargestellt und in diesem Abschnitt im Einzelnen erläutert wird. Für die Bearbeitung ausländerrechtlicher Verfahren soll das Prüfungsschema dem Anwalt die rechtliche Durchdringung des zur Prüfung gestellten Sachverhalts erleichtern. Es empfiehlt sich deshalb, jeden ausländerrechtlichen Sachverhalt anhand dieses Schemas zu untersuchen. Wegen der sehr formalen und aufeinander abgestimmten Einreise- und Verlängerungsvorschriften kann die Verwendung des Prüfungsschemas einerseits dazu führen, dass erfolglose Prozesse vermieden werden und die Verhandlungslösung mit der Ausländerbehörde gesucht wird. Andererseits soll es dem Anwalt Hilfestellungen in den Fällen geben, in denen nicht zwingend Vorschriften der Durchführung des Verwaltungsverfahrens im Inland im Wege stehen. 1 A.A. Hans-Peter Welte, InfAuslR 2006, 50 (52). 4 2. Erlaubnisfreier und genehmigungsbedürftiger Aufenthalt a) Allgemeines Das AufenthG unterscheidet den erlaubnisfreien vom genehmigungsbedürftigen Aufenthalt. § 4 Abs. 1 AufenthG bekräftigt den traditionellen Erlaubnisvorbehalt, dass Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels bedürfen, sofern nicht durch Gemeinschaftsrecht, Assoziationsrecht zwischen der EWG und Türkei (vgl. § 4 Abs. 5 AufenthG) oder durch Rechtsverordnung ein Aufenthaltsrecht besteht. b) Erlaubnisfreier Aufenthalt Die AufenthV regelt im Abschnitt 2 die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels. Nach § 15 AufenthV richtet sich die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern für Kurzaufenthalte nach Gemeinschaftsrecht, insbesondere nach dem SDÜ. Dieses trägt der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes und insbesondere der EU-Visum-Verordnung Nr. 539/2001 (EUVisaVO) Rechnung. Die Verordnung bewirkt eine weitgehende Verdrängung des nationalen Rechts und regelt in § 1 Abs. 2, dass sichtvermerksfreie Drittstaatsangehörige (EUVisaVO Anhang II) für einen Aufenthalt, der drei Monate nicht überschreitet, nicht der Visumpflicht unterliegen. Zeitlich über diese Dauer hinausgehende Aufenthalte werden nicht von der Verordnung erfasst und unterliegen damit auch nicht dem gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang, sodass die nationalen Vorschriften des AufenthG sowie der AufenthV Anwendung finden. Allerdings regelt die Verordnung entsprechend der international üblichen Praxis nur die Einreise über die EU-Außengrenzen und nicht die Einreise über die EU-Binnengrenzen und nicht den Aufenthalt nach der Einreise. Der Aufenthalt nach dem Übertritt über eine EUAußengrenze wird vielmehr durch Art. 20 Abs. 1 SDÜ geregelt.3 Dieser macht das Recht sichtvermerksfreier Drittstaatsangehöriger auf Bewegungsfreiheit im gesamten SchengenRaum von den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a), c) bis e) SDÜ abhängig. Art. 20 SDÜ begründet somit im Blick auf die Aufenthaltsvoraussetzungen die notwendige Ergänzung zur EUVisaVO und deren Einreisebestimmungen. Art. 20 SDÜ und EUVisaVO zusammen gewährleisten damit, dass aus der Einreise über eine EU-Außengrenze und dem anschließenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ein rechtseinheitlicher Vorgang entstehen kann.4 Inzwischen wird sogar davon ausgegangen, dass Art. 20 SDÜ den Charakter von unmittelbar geltendem Unionsrecht aufweist und dementsprechend durch EUVisaVO, Visakodex und Art. 20 SDÜ ein verbindliches, in sich geschlossenes System der Sichtvermerksfreiheit von Drittstaatsangehörigen nach Anhang II der EUVisaVO bei Kurzaufenthalten begründen.5 Maßgebend für das den erlaubnisfreien Aufenthalt regelnde Gemeinschaftsrecht ist der Begriff des Kurzaufenthaltes. Ein Kurzaufenthalt ist nach § 1 Abs. 2 AufenthV ein Aufenthalt im gemeinsamen Gebiet der Schengen-Staaten von höchstens drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten vom Tag der ersten Einreise an.6 Nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ können sich sichtvermerksfreie Drittstaatsausländer im Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten frei bewegen, höchstens jedoch drei Monate innerhalb einer Frist von sechs Monaten vom Datum der ersten Einreise an. Nach Ablauf der Frist von 3 4 5 6 Westphal/Stoppa, InfAuslR 2001, 309 (309 f.), Ostgathe/Nowicke, ZAR 2005, 360. Ostgathe/ Nowicke, ZAR 2005, 360 (361 f.). Ostgathe/Nowicke, ZAR 2005, 362, mit Hinweisen. S. hierzu Ostgathe/ Nowicke, ZAR 2005, 360. 5 sechs Monaten können sie erneut die ihnen nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ zustehenden Rechte auf einen genehmigungsfreien Aufenthalt von drei Monaten innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten wahrnehmen. Für das Gemeinschaftsgebiet ordnet Art. 1 Abs. 2 EUVisaVO an, dass Staatsangehörige der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer von der Visumpflicht für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet, befreit sind. Maßgebend für die Frage der erlaubnisfreien Einreise ist danach die Liste in Anhang II der EUVisaVO. Diese Liste gilt sowohl für die EUVisaVO wie auch für Art. 20 Abs. 1 SDÜ. Die erlaubnisfreie Einreise wie auch der erlaubnisfreie Aufenthalt sind also zunächst davon abhängig, ob der Drittstaatsausländer auf der Anlage II der EUVisaVO verzeichnet ist. Darüber hinaus steht der Aufenthalt unter dem Vorbehalt, dass es sich um einen Kurzaufenthalt handelt. Nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ ist der Aufenthalt für drei Monate innerhalb von sechs Monaten erlaubt. Hingegen ist nach Art. 1 Abs. 2 EUVisaVO nur ein Aufenthalt von drei Monaten erlaubt. Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Während SDÜ und die EUVisaVO die Frage der Erwerbstätigkeit nicht regeln, bestimmt § 17 Abs. 1 AufenthV, dass die Befreiung entfällt, sofern im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Da nach § 17 Abs. 1 AufenthV „für die Einreise“ ein Aufenthaltstitel erforderlich ist, wenn die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit geplant ist, führt die bereits bei der Einreise bestehende Erwerbsabsicht zur unerlaubten Einreise. Lag die entsprechende Absicht bei der Einreise nicht nachweislich vor, führt dies allerdings nicht zu einer gleichsam rückwirkend unerlaubten Einreise. Konsequenz ist, dass der Betreffende wegen unerlaubter Einreise zurückgewiesen (§ 15 Abs. 1 AufenthG) und zurückgeschoben (§ 57 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) wird. Ihm kann mangels Vorliegens der entsprechenden Erteilungsvoraussetzungen kein Aufenthaltstitel erteilt werden (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann dieser Rechtsversagungsgrund jedoch beseitigt werden. c) Genehmigungsbedürftiger Aufenthalt Liegen die Voraussetzungen für einen erlaubnisfreien Aufenthalt nicht vor, bedürfen auch visumsfreie Drittstaatsausländer der Genehmigung der Einreise und des Aufenthalts. Beabsichtigen sie mithin einen längeren Aufenthalt oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, bedürfen ansonsten sichtvermerksfreie Drittstaatsausländer für die Einreise und den Aufenthalt einer behördlichen Genehmigung (vgl. auch Art. 4 Abs. 3 EUVisaVO). Darüber hinaus bedürfen visumpflichtige Drittstaatsausländer auch für einen Kurzaufenthalt der vorherigen Genehmigung (§ 4 Abs. 1 AufenthG, Art. 21 SDÜ, Art. 1 Abs. 1 EuVisaVO). Nach Art. 1 Abs. 1 der EUVisaVO benötigen die Drittstaatsausländer, die in Anhang I dieser Verordnung aufgeführt sind, beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten ein Visum. Eine Regelung, wonach im Anschluss an die Einreise auch für den Aufenthalt ein Aufenthaltstitel erforderlich ist, enthält die Visum-Verordnung nicht. Insoweit ist nationales Recht zu beachten. Danach fordert § 4 Abs. 1 AufenthG für den Aufenthalt den Besitz eines Aufenthaltstitels. d) Gegenstandsbereich des Aufenthaltstitels aa) Funktion des Aufenthaltszwecks Drittstaatsausländer bedürfen unabhängig davon, ob sie sichtvermerksfrei einreisen dürfen oder nicht, für einen längerfristigen Aufenthalt oder für einen Aufenthalt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit eines nationalen Aufenthaltstitels. Der Aufenthaltstitel wird zu den im AufenthG bezeichneten unterschiedlichen Aufenthaltszwecken (Kapitel 2 Abschnitt 3 bis 7) erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Das AufenthG allein enthält 54 unterschiedliche Aufenthaltszwecke (vgl. Nr. 7.1.1.1 bis Nr. 7.1.1.2 VAH), von denen zehn zu einer 6 Niederlassungserlaubnis führen können (Nr. 7.1.1.2 VAH) und die übrigen zu einer Aufenthaltserlaubnis. Der Zweck ist aus dem Aufenthaltstitel ersichtlich. Der Erteilungsgrund wird in das Klebeetikett eingetragen. Damit wird neben dem Erteilungsgrund auch Art und Umfang der Berechtigung zur Erwerbstätigkeit erkennbar (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Je nach dem verfolgten Aufenthaltszweck ergeben sich aus dem Aufenthaltstitel unterschiedliche Rechtsfolgen, etwa hinsichtlich der Möglichkeiten der Verfestigung, des Familiennachzugs, der Erwerbstätigkeit oder des Zugangs zu sozialen Leistungen. Die strikte Unterteilung der Aufenthaltstitel nach Aufenthaltszwecken schließt weder ein anfängliches noch ein späteres Überlagern oder Zusammentreffen mehrerer Aufenthaltszwecke aus.7 Zwar ist das Verhältnis mehrerer nacheinander oder gleichzeitig verfolgter Aufenthaltszwecke nicht allgemein geregelt. Sie schließen sich teilweise aus (§ 16 Abs. 2 AufenthG), sind jedoch teilweise auch nebeneinander zulässig (§ 16 Abs. 3 AufenthG). Teilweise werden mit dem Aufenthalt notwendigerweise zwei Zwecke, z.B. Familienzusammenführung oder Wiederkehr und Erwerbstätigkeit, verfolgt. Die Berufung auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat hingegen zur Folge, dass die Behörde lediglich einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach jeder in Betracht kommenden Vorschrift des 5. Abschnitts des Kapitels II des AufenthG prüfen darf.8 Hat der Antragsteller etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 oder Abs. 5 AufenthG beantragt und wird nachträglich eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG erlassen, ist bei noch anhängigem Antragsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob er auch die Voraussetzungen nach der Anordnung erfüllt. Demgemäß hat das Verwaltungsgericht den Anspruch im anhängigen Prozess nach allen in Betracht kommenden entsprechenden Vorschriften zu prüfen.9 Zu den humanitären vom Klagebegehren erfassten Aufenthaltszwecken gehört damit auch die Altfallregelung nach § 104a AufenthG.10 Das bedeutet aber nicht, dass die einzelnen im humanitären Abschnitt geregelten Aufenthaltserlaubnisse zwangsläufig immer einen einheitlichen, unteilbaren Streitgegenstand bilden. Insbesondere dann, wenn die Aufenthaltserlaubnis nach einer Anspruchsgrundlage weniger Rechte vermittelt als die übrigen Anspruchsgrundlagen, kann sie einen abtrennbaren, eigenständigen Streitgegenstand bilden.11 Der Antragsteller ist gehalten, sei es im Antragsverfahren gegenüber der deutschen Auslandsvertretung oder gegenüber der Ausländerbehörde den Erteilungsgrund präzis zu bezeichnen. Dieser bestimmt den Umfang der Prüfung. Der Antragsteller mag während des anhängigen Verfahrens die Angabe des Aufenthaltszwecks ändern. Ändert er den Aufenthaltszweck nach Erteilung des Aufenthaltstitels, liegt ein Zweckwechsel vor. Häufig mag darüber hinaus der Zweckwechsel während des Antragsverfahrens negative Auswirkungen auf die behördliche Entscheidung haben, so etwa, wenn anstelle des zunächst beantragten Visums zur Familienzusammenführung ein Visum zu Besuchszwecken beantragt wird. bb) Zweckwechsel Wird ein Aufenthaltstitel zu einem anderen Zweck, als der dem Aufenthaltstitel bislang zugrunde liegende, erteilt, handelt es sich um einen Zweckwechsel. Die Ausländerbehörde VG Köln, InfAuslR 2012, 183 (184), s. aber BVerwG, NVwZ-RR 2012, 44. BVerwGE 126, 192 (194 f.) = NVwZ 2006, 1418 = InfAuslR 2007, 4; OVG NW, InfAuslR 2007, 109 = AuAS 2007, 86. hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, S. 613. 9 OVG NW, InfAuslR 2007, 109 = AuAS 2007, 86; a.A. VG Frankfurt a.M., Urt. v. 2.2.2007 – 6 1326/06 (1). 10 BVerwGE 129, 226 (229) = InfAuslR 2008, 71 = AuAS 2008, 26 = ZAR 2008, 105; VGH BW, NVwZRR 2008, 730; BVerwG, InfAuslR 2011, 240 (242); a.A. OVG Hamburg, EZAR NF 98 Nr. 40. 11 BVerwG, InfAuslR 2011, 240 (241). 7 8 7 prüft, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für den nunmehr geltend gemachten Erteilungsgrund vorliegen, keine Ausschlussgründe eingreifen und übt, soweit erforderlich, Ermessen aus. Gibt sie dem den Zweckwechsel erstrebenden Antrag statt, wird eine neue Aufenthaltserlaubnis erteilt. Im Falle der Versagung gilt die bisherige Aufenthaltserlaubnis bis zum Ablauf ihrer Geltungsdauer weiter (Nr. 7.1.2.2 Satz 1 bis 3 VAH). Ein Zweckwechsel ist grundsätzlich während des Studiums (§ 16 Abs. 2 AufenthG) sowie während einer betrieblichen Aus- oder Weiterbildung ausgeschlossen. Ein Zweckwechsel liegt auch vor, wenn zu dem bisherigen Aufenthaltszweck eine weiterer hinzutritt oder von mehreren einer wegfällt. Nach der Eheschließung eines Erwerbstätigen dient der Aufenthalt gleichzeitig zwei Zwecken. Nach der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft entfällt der Zweck der Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) oder er geht in ein selbständiges Aufenthaltsrecht über (§ 31 AufenthG). Einen Zweckwechsel stellt es nicht dar, wenn das zum Zwecke des Kindernachzugs ausgestellte Visum nach Einreise in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wird. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen Antrag auf Ersterteilung, sondern um einen Verlängerungsantrag.12 Die Berufung auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat jedoch zur Folge, dass die Behörde einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach jeder in Betracht kommenden Vorschrift des 5. Abschnitts des AufenthG zu prüfen hat. 13 Hat der Antragsteller etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 oder Abs. 5 AufenthG beantragt und wird nachträglich eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG erlassen, so ist bei noch anhängigem Antragsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob der Antragsteller auch die Voraussetzungen nach der Anordnung erfüllt. 3. Zeitpunkt des Antrags und der Behördenentscheidung a) Zweck des zweiten Prüfungsschritts Den ausländerrechtlichen Regelungen ist der Grundsatz zu entnehmen, dass der Aufenthaltstitel grundsätzlich vor der Einreise in Form des Sichtvermerks (Visums) zu beantragen ist. Lassen die Rechtsvorschriften die Antragstellung nach der Einreise nicht zu, ist der Antrag stets zwingend vor der Einreise zu stellen. Der zweite Prüfungsschritt hat den Zeitpunkt des Antrags, also die Frage zum Gegenstand, ob der Antrag vor oder nach der Einreise zu stellen ist. Dies darf nicht mit der Frage verwechselt werden, ob Einreise und Aufenthalt erlaubnisfrei sind. Wer etwa zu einem Kurzaufenthalt erlaubnisfrei einreisen darf, muss weder vor noch nach der Einreise einen Antrag stellen. Beabsichtigt er hingegen einen längerfristigen Aufenthalt oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, darf er grundsätzlich nicht erlaubnisfrei einreisen, sondern muss den Antrag vor der Einreise stellen. Einige Personengruppen können allerdings den Antrag nach der Einreise stellen. Sichtvermerkspflichtige Drittstaatsausländer müssen auch bei einem beabsichtigten Kurzaufenthalt den Antrag stets vor der Einreise stellen. Ein sichtvermerkspflichtiger Drittstaatsausländer, der ohne Visum einreist, reist illegal ein und erfüllt einen Ausweisungssowie einen Straftatbestand (§§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 AufenthG). Auch der weitere Aufenthalt kann ausweisungs- und strafrechtliche Konsequenzen haben (§§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 AufenthG). Ist der Antrag vor der Einreise zu stellen, sind Rechtsmittel gegen die Versagungsverfügung oder andere behördliche Maßnahmen regelmäßig erfolglos, wenn keine Heilungsmöglichkeiten über § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bestehen. 12 13 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726. BVerwG, NVwZ 2006, 1418; OVG NW, InfAuslR 2007, 109. 8 b) Antragstellung nach der Einreise Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Antrag nach der Einreise in das Bundesgebiet gestellt werden. Der Gesetzgeber hat diese Fälle in § 5 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 AufenthG sowie in § 39 bis § 41 AufenthV geregelt. c) Antragsbedürftigkeit des Verwaltungsverfahrens Die Gewährung des Aufenthaltstitels setzt einen Antrag voraus (mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt).14 Gegenstand des behördlichen Verfahrens bildet ein konkreter, auf einen bestimmten Aufenthaltszweck gerichteter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels.15 Der Antrag ist sowohl für die Ersterteilung wie für die Verlängerung des Aufenthaltstitels erforderlich (§§ 4 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1, 81 Abs. 4 AufenthG). Ergänzend ist die Vorschrift des § 22 Satz 2 Nr. 1 des VwVfG des jeweiligen Landes heranzuziehen. Insbesondere bei handschriftlichen Eintragungen des ausländischen Antragstellers auf den amtlichen Vordrucken muss die Behörde stets den wirklichen Sinn des Antragsbegehrens ermitteln. Das folgt aus der auch im öffentlichen Recht anzuwendenden Vorschrift des § 133 BGB, dem zufolge bei der Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdruckes zu haften ist. Die Behörde hat den Antragsteller zu diesem Zweck zu belehren, zu beraten und persönlich anzuhören (§§ 25, 28 VwVfG). Den Antragsteller treffen andererseits besondere Mitwirkungspflichten (vgl. § 82 AufenthG). d) Kein formelles Antragserfordernis Den Regelungen in §§ 4 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1, 80 Abs. 4, 81 AufenthG kann kein formelles Antragserfordernis entnommen werden. Nach der Verwaltungspraxis ist der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels dagegen durch Verwendung von Formblattmustern bei der Auslandsvertretung bzw. der zuständigen Ausländerbehörde zu stellen. Allein der persönlich in mündlicher oder schriftlicher Form oder schriftsätzlich durch den Rechtsanwalt gestellte Antrag wird regelmäßig ohne persönliche, formblattmäßige Antragstellung nicht bearbeitet. Die Rechtswirksamkeit des gestellten Antrags, insbesondere die Frage der Rechtzeitigkeit des gestellten Antrags für den Eintritt der Fiktionswirkungen nach § 81 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 AufenthG ist indes nicht von der Verwendung von Formblättern abhängig. Vielmehr hat die Behörde jedes irgendwie geäußerte schriftliche, mündliche oder sonstwie geäußerte Begehren als Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels zu behandeln, wenn sich hieraus mit hinreichender Klarheit ein Antragsbegehren ergibt. Die Verwendung von Vordrucken dient der effektiven Bearbeitung des Antrags und kann dem Antragsteller nachträglich im Rahmen seiner ihm nach § 82 AufenthG obliegenden Mitwirkungspflichten auferlegt werden. Jedenfalls wird durch das formlose Begehren rechtswirksam ein Antrag gestellt. d) Antrag vor der Einreise aa) Zuständige Behörde Der Antrag vor der Einreise ist bei der zuständigen diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretung (Auslandsvertretung), d.h. der Auslandsvertretung, in deren Amtsbezirk der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zu stellen (§ 71 Abs. 2 AufenthG). Es wird sich in aller Regel, muss aber nicht zwingend das Herkunftsland des Antragstellers, sein. Für die Erteilung von Schengen-Visa ist der Staat zuständig, in dem das Hauptreiseziel liegt (Art. 12 Abs. 2 Satz 1 SDÜ; Nr. II 1, 1.1). Für die Verlängerung eines Visums nach der Einreise ist 14 15 BVerwG, AuAS 1999, 218 (219). Richter, NVwZ 1999, 726. 9 die Ausländerbehörde zuständig (§ 6 Abs. 3 AufenthG). Unterhält die Bundesrepublik in einem Staat keine Auslandsvertretung oder kann sie vorübergehend keine Visa erteilen, richtet sich die Zuständigkeit für die Visaerteilung nach der Vertretungsregelung der Schengen-Staaten (Nr. 71.2.1. Satz 4 VAH). Die Antragstellung hat persönlich oder durch den legitimierten Vertreter zu erfolgen. Die Antragstellung setzt die Anwesenheit des Antragstellers im jeweiligen Staat voraus, sie kann aber bereits während des Besuchsaufenthaltes vom Bundesgebiet aus vorbereitet und begleitet werden. Die erforderliche persönliche Vorsprache bei der Botschaft ist in diesem Fall nach der Rückkehr in den Heimatstaat geboten. Die Zuständigkeit der Auslandsvertretung entfällt allerdings, wenn der Antragsteller mit dem Ziel in das Bundesgebiet eingereist ist, hier seinen Daueraufenthalt zu begründen.16 Das Visum kann mit Ermächtigung der zuständigen Auslandsvertretung oder des Auswärtigen Amtes ausnahmsweise auch von einer anderen als der für den gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers zuständigen Auslandsvertretung, zumeist also einer grenznahen Auslandsvertretung erteilt werden (Nr. 71.2.2 VAH). Das Auswärtige Amt kann auch durch Weisung nach § 71 Abs. 2 AufenthG eine örtlich unzuständige Auslandsvertretung ermächtigen, ein Visum zu erteilen. Allerdings enthält das geltende Recht über das frühere Recht (vgl. § 9 Abs. 1 AuslG 1990; § 9 Abs. 2 DVAuslG) weit hinausgehende Ausnahmen von der Anwendung der Voraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach kann ungeachtet der Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG der Aufenthaltstitel erteilt werden, wenn die Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). In der Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach der zweiten Alternative in besonders gelagerten Einzelfällen, in denen bisher eine grenznahe Auslandsvertretung zur Visumerteilung ermächtigt wurde, auf die Nachholung des Visumverfahrens verzichtet werden kann. Praxisrelevant ist insbesondere die Beantragung eines Schengenvisums zu Besuchszwecken. Das Verfahren richet sich nach dem Visakodex. Versagungsgrund ist hier das „Risiko der rechtswidrigen Einwanderung“: BVerwG, NVwZ 2011, 1201 und BVerwG, NVwZ 2012, 976, OVG Hamburg, AuAS 2013, 242 und OVG Hamburg, AuAS 2014, 256, BayVGH, InfAuslR 2013, 372. Sofern kein bloßer Kurzaufenthalt geplant ist, hat die Auslandsvertretung grundsätzlich die Zustimmung der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde einzuholen (§ 31 AufenthV). Die Auslandsvertretung entscheidet ungeachtet dessen in eigener Verantwortung über das Visum aufgrund der jeweils maßgebenden materiellen Vorschriften der §§ 5 ff. AufenthG. Die Zustimmung der Ausländerbehörde für einen Aufenthalt von länger als drei Monaten oder zu Erwerbszwecken ist zwingende Voraussetzung für die Erteilung des Visums. Wird sie verweigert, muss der Antrag abgelehnt werden.17 Andererseits liegt es im grundsätzlich weiten Ermessen der Auslandsvertretung, ob sie einen Sichtvermerk erteilt, auch wenn die Ausländerbehörde bereits zugestimmt hat.18 Die Auslandsvertretung muss nachträglich ihr bekannt werdende Tatsachen, welche die Ausländerbehörde noch nicht 16 OVG Berlin, InfAuslR 2004, 200 = AuAS 2004, 122. 17 BVerwG, InfAuslR 1990, 326 (327); Teipel, ZAR 1995, 163 (164). BVerwG, InfAuslR 1990, 326 (327). 18 10 kennt, berücksichtigen. Sie hat entweder die Ausländerbehörde erneut mit dem Vorgang zu befassen oder sie kann ihr Ermessen ohne erneute Beteiligung der Ausländerbehörde mit der Folge ausüben, dass der Antrag abgelehnt wird.19 Diese Rechtsprechung ist freilich auf Rechtsansprüche nicht anwendbar. Das Zustimmungsverfahren bleibt ein behördeninternes Verfahren, auch wenn in der Verwaltungspraxis die Einholung der Zustimmung oft vom Antragsteller selbst beantragt wird oder die Ausländerbehörde eine Vorabzustimmung erteilt oder versagt. Unterbleibt das vorgesehene Zustimmungsverfahren, kann es bis zur Klageerhebung nachgeholt werden. Weder die Zustimmung noch deren Versagung ist ein Verwaltungsakt und deshalb nicht selbständig anfechtbar. Es fehlt insoweit an der gebotenen Außenwirkung (§ 35 VwVfG). Im Verwaltungsprozess hat die obligatorische Mitwirkung der Ausländerbehörde nach § 31 AufenthV die notwendige Beiladung der entsprechenden Körperschaft zur Folge (§ 65 Abs. 2 VwGO). Die Zustimmung ist bis zur Visumerteilung rücknehmbar oder widerrufbar, falls die für sie maßgebenden Voraussetzungen nicht vorlagen oder nachträglich wegfallen. Nach diesem Zeitpunkt ist die Rücknahme ausgeschlossen. bb) Vorabzustimmungsverfahren Die Ausländerbehörde kann auf Antrag des einreisewilligen Antragstellers oder eines Dritten in dringenden Fällen, im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, eines öffentlichen Interesses oder im Falle des § 18 oder § 19 AufenthG der Visumerteilung vor der Beantragung des Visums bei der Auslandsvertretung zustimmen (Vorabzustimmung).20 In der Verwaltungspraxis wurde bereits früher von dieser Möglichkeit in den Fällen Gebrauch gemacht, in denen wegen der Anwendung zwingender Versagungsgründe der Antrag nicht im Bundesgebiet gestellt werden konnte. Aufgrund der Vorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wird die Bedeutung der Vorabzustimmung in der Praxis abnehmen. In der Verwaltungspraxis wurde die Praxis der Vorabzustimmung zunehmend restriktiver gehandhabt. Zunächst wurde früher lediglich bei Rechtsansprüchen von der Vorabzustimmung Gebrauch gemacht. Schließlich mussten für die Erteilung der Vorabzustimmung zusätzlich besondere humanitäre Gründe nachgewiesen werden. Nach dem Wortlaut des § 31 Abs. 3 AufenthV kann diese Verwaltungspraxis keinen Bestand mehr haben. Vielmehr ist eine großzügige Handhabung angezeigt. Regelmäßig erteilt die zuständige Auslandsvertretung nach Vorlage der Vorabzustimmung das Visum. Es bleibt aber eine Entscheidung der Auslandsvertretung (§ 71 Abs. 2 AufenthG). In seltenen Ausnahmefällen lehnt die Auslandsvertretung allerdings ungeachtet der Vorabzustimmung den Antrag ab. Der beratende Rechtsanwalt kann diese Fälle nicht vorhersehen. Er sollte sich dennoch auf das Verfahren der Vorabzustimmung einlassen und den Mandanten auf die regelmäßig lediglich theoretische Möglichkeit der deutschen Auslandsvertretung hinweisen, der Vorabzustimmung nicht Folge zu leisten. Muster: Antrag auf Erteilung der Vorabzustimmung (§ 31 Abs. 3 AufenthV) Landrat des Kreises… Ausländerbehörde Betr.: Erteilung der Vorabzustimmung 19 20 Oliver Maor, ZAR 2005, 185 (189). S. hierzu Teipel, ZAR 1995, 163 (164). 11 Sehr geehrte Damen und Herren, ich beziehe mich auf die Ihnen vorliegende Vollmacht sowie das mit Ihnen am … geführte fernmündliche Gespräch und beantrage, dem Antragsteller zum Zwecke der Visumerteilung gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG durch das deutsche Generalkonsulat in Istanbul eine Vorabzustimmung zu erteilen bzw. dem Generalkonsulat per Faxschreiben mitzuteilen, dass der Erteilung des Visums zugestimmt wird. cc) Rechtsmittel Wird das beantragte Visum abgelehnt, ist die Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Auswärtige Amt, zu richten. Ein Widerspruchsverfahren findet nicht statt. Zuständiges Verwaltungsgericht ist das Verwaltungsgericht Berlin (§ 52 Nr. 2 Satz 4 VwGO). Der Rechtsweg ist nur bei der Versagung eines nationalen Visums ausgeschlossen (§ 83 Satz 1 AufenthG). Interessengerecht ist die gerichtliche Auseinandersetzung über die Versagung eines Visums zu touristischen Zwecken ohnehin nicht. Hier kann der außerrechtliche Behelf der Remonstration erhoben werden, um von der Behörde die für die Versagung maßgebenden Gründe zu erfahren und durch sach- und fallbezogenen Gegenvortrag auf die behördliche Entscheidung Einfluss nehmen zu können Visumentscheidungen bedürfen der Schriftform (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Sie werden jedoch weder begründet noch mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen (§ 77 Abs. 2 AufenthG). In der Verwaltungspraxis wird teilweise eine kurze standardisierte Begründung gegeben. Der Antragsteller erfährt selten die maßgeblichen Versagungsgründe. Ist lediglich ein Besuchervisum beantragt worden, kann gegen die Versagung kein Rechtsmittel eingelegt werden (§ 83 Satz 1 AufenthG). Aus diesem Grund wird in der Verwaltungspraxis der außerrechtliche Rechtsbehelf der Remonstration erhoben. In der Verwaltungspraxis wird dem Bevollmächtigten im Beteiligungsverfahren nach § 31 AufenthV nach schriftlicher Zustimmung durch die zuständige Auslandsvertretung durch die Ausländerbehörde Akteneinsicht gewährt. Auf die Remonstration hin hat die Behörde die Gründe für die Ablehnung mitzuteilen. Da regelmäßig neue Gründe und Nachweise vorgelegt werden, kann die Remonstration auch als neuer Antrag behandelt werden. Durch Erhebung der Remonstration erfährt der Antragsteller die Ablehnungsgründe und kann im Rahmen des Remonstrationsverfahrens Gegenvorstellungen erheben. Ob der Bevollmächtigte in diesem Stadium des Verwaltungsverfahrens ein Akteneinsichtsrecht hat, ist umstritten. Ist die Visumentscheidung anfechtbar und entschließt der Antragsteller sich zur Klageerhebung, ist diese wegen der fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung innerhalb eines Jahres nach Zustellung zu erheben (vgl. § 58 Abs. 2 VwGO). Muster : Remonstration gegen die Versagung des Visums Botschaft der Bundesrepublik Deutschland – Visaabteilung – 12 Betr.: Sehr geehrte Damen und Herren, unter Vollmachtsvorlage bitte ich im Rahmen der Remonstration um Überprüfung Ihrer Verfügung vom sowie um Mitteilung der diese tragenden Gründe. Scheitern außergerichtliche Einigungsbemühungen in den Fallen eines beantragten Daueraufenthaltes, kann Verpflichtungsklage beim zuständigen Verwaltungsgericht Berlin gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben werden. Die angefochtene Verfügung ist die Versagungsentscheidung in Gestalt des Remonstrationsbescheides. Beim Remonstrationsbescheid handelt es sich nicht um einen Widerspruchsbescheid. Dieser ersetzt vielmehr die ursprüngliche Versagungsentscheidung. Das früher zuständige Obergericht hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dem Rechtssuchenden selbstredend auch im Falle der Visumversagung die Möglichkeit der Beantragung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO eröffnet wird.21 Muster: Verpflichtungsklage und einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO auf Erteilung des Visums An das Verwaltungsgericht Berlin Verpflichtungsklage und Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO der türkischen Staatsangehörigen – Klägerin/Antragstellerin – gegen die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch das Auswärtige Amt – Beklagte/Antragsgegnerin – wegen Visumserteilung Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich die Klage und werde beantragen: Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung der Verfügung des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland Izmir vom , zugestellt am , der Klägerin ein Visum zur Durchführung des Ehetermins vor dem Standesamt Frankfurt am Main am zu erteilen. Des Weiteren wird beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu verpflichten, zur Durchführung des Ehetermins vor dem Standesamt Frankfurt am Main am und ausschließlich auf diesen Zweck begrenzt ein Visum für die Dauer von einer Woche zu erteilen. 4. Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG) a) Funktion der Erteilungsvoraussetzungen Die Vorschrift des § 5 AufenthG fasst die Erteilungs- und Versagungsvorschriften der §§ 6–9 AuslG 1990 in vereinfachter Form zusammen. Die Differenzierung des früheren Rechtes in 21 OVG NW, Beschl. v. 28.7.1999–17 B 1409/99. 13 zwingende Versagungsgründe nach § 8 AuslG 1990 für Rechtsansprüche und in – bei Ermessenstatbeständen zusätzlich zu prüfenden – Regelversagungsgründen (§ 7 Abs. 2 AuslG 1990) hatte sich in der Praxis nicht bewährt. Daher unterscheidet § 5 AufenthG mit Ausnahme von Abs. 1 Nr. 3 nicht mehr danach, ob ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht oder nach Ermessen entschieden werden kann. In dieser Vorschrift werden die Erteilungsvoraussetzungen von grundlegendem staatlichen Interesse festgelegt. Abweichende Regelungen finden sich in § 5 Abs. 3 AufenthG und in den spezialgesetzlichen Erteilungsvorschriften. Während nach bisherigem Recht die Versagungsgründe regelmäßig zwingender Natur waren (vgl. §§ 8 Abs. 1, 17 Abs. 2, 24 Abs. 1 Nr. 6, 27 Abs. 1 Nr. 5 AuslG 1990), löst das geltende Recht diese Rigidität auf und legt in § 5 Abs. 1 AufenthG Regelerteilungsvoraussetzungen für alle Aufenthaltstitel und in § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG Erteilungsvoraussetzungen für die Aufenthaltserlaubnis und die Niederlassungserlaubnis fest. Zwar sind die Erteilungsgründe des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ebenso wie die des § 8 Abs. 1 AuslG 1990 zwingender Natur. Das Gesetz enthält jedoch in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG Ausnahmen hiervon. b) Begriff des Regelfalles Die Worte „in der Regel“ in § 5 Abs. 1 1. Hs. AufenthG stellen einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, dessen Anwendung durch die Behörde der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Danach beziehen sich die in § 5 Abs. 1 AufenthG genannten Gründe auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind durch einen „atypischen Geschehensablauf“ gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht des gesetzlichen Regelversagungsgrundes beseitigt.22 Danach liegt etwa dann ein Ausnahmefall vor, wenn der Versagung des Aufenthaltstitels höherrangiges Recht entgegensteht, insbesondere die Versagung mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Ehe und Familie, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) unvereinbar ist.23 c) Die einzelnen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG aa) Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG) Die Erteilung des Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Mit dieser Regel-Erteilungsvoraussetzung soll die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel verhindert werden. Zweck dieser Erteilungsvoraussetzung ist es daher, die öffentlichen Haushalte davor zu bewahren, den Lebensunterhalt eines Ausländers mit öffentlichen Mitteln sichern zu müssen.24 Der tatsächliche Bezug von Sozialleistungen stellt bereits einen Regelversagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Nr. 6 AufenthG dar. Der Sozialleistungsbezug des deutschen Ehegatten rechtfertigt allerdings nicht die Ausweisung nach § 55 Nr. 6 AufenthG und damit nicht die Annahme des Regelversagungsgrundes nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Dies mag anders sein, wenn der Sozialleistungsbezug des deutschen Ehepartners gerade auf der Unterhaltspflichtverletzung des ausländischen Ehepartners beruht.25 22 23 24 25 BVerwGE 94, 35 (43, 44) = EZAR 028 Nr. 2. BVerwGE 102, 12 (17) = InfAuslR 1997, 16; BVerwG, InfAuslR 1997, 240 (241); 1999, 332 (333). OVG Berlin, InfAuslR 2006, 277 (278). OVG NW, InfAuslR 1999, 67 (68). 14 BVerwG, InfAuslR 2011, 182 – BVerwG, NVwZ-RR 2012, 330 - BVerwG, NVwZ-RR 2012, 333 - BVerwG, NVwZ 2013, 1339 –BVerwG, InfAuslR 2013, 364 bb) Geklärte Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1a AufenthG) Nach § 5 Abs. 1a AufenthG wird für die Erteilung des Aufenthaltstitels regelmäßig vorausgesetzt, dass die Identität des Antragstellers und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit geklärt ist. Identität und Staatsangehörigkeit sind im Regelfall durch die Vorlage eines gültigen Passes (§ 3 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nachzuweisen. Praktische Bedeutung hat dieser Regelerteilungsgrund vorrangig für die Erteilung des Aufenthaltstitels vor der Einreise. Da der Antragsteller nicht im Besitz eines Passes ist (s. aber Art. 28 StlÜb), greift § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG ein. Sowohl für die Erteilung wie für die Verlängerung des Aufenthaltstitels muss die Identität des Antragstellers geklärt sein. Ausnahmen können nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zugelassen werden.26 Die zweite Alternative der Vorschrift zielt auf Staatenlose. Sofern diese einen Reiseausweis eines anderen Staates, zumeist des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes, besitzen, muss dieser im Zeitpunkt der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels noch eine Rückkehrberechtigung enthalten. Die Staatenlosigkeit als solche stellt kein gegenüber der Ausländerbehörde feststellungsfähiges Rechtsverhältnis dar, weil sich aus dieser nicht unmittelbar Rechte und Pflichten des Antragstellers und der Behörde ergeben. Vielmehr stellt sie allein ein Tatbestandsmerkmal für unterschiedliche, sich aus verschiedenen Rechtsnormen ergebende Rechtsbeziehungen dar. Die Staatenlosigkeit kann zwar ein tatsächliches Abschiebungshindernis vermitteln, muss es aber etwa bei Übernahmebereitschaft eines anderen Staates nicht.27 Sofern ein gültiger Pass oder Passersatz nicht nachgewiesen werden kann, sind die Identität und Staatsangehörigkeit durch andere geeignete Mittel nachzuweisen (z.B. Geburtsurkunde, andere amtliche Dokumente). Als Drittstaatsangehörige sind auch Personen zu behandeln, bei denen noch nicht geklärt ist, ob sie Deutsche oder Unionsbürger sind (Nr. 5.1.1.3 Satz 3 VAH). Die zur Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit erforderlichen Maßnahmen nach § 49 Abs. 1 und 2 AufenthG veranlasst grundsätzlich die Ausländerbehörde (§ 71 Abs. 4 AufenthG). Eine Aufenthaltserlaubnis, die vom Antragsteller unter Angabe falscher Personalien erwirkt worden ist und die auf den falschen Namen lautet, ist jedenfalls dann nicht nach § 44 VwVfG nichtig, wenn sie mit einem Passfoto des Betroffenen verbunden und diesem zuzuordnen ist.28 cc) Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) Die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis setzt nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Es reicht die Erfüllung eines Ausweisungstatbestandes aus. Ob die Ausweisung im Einzelfall fehlerfrei verfügt werden könnte, ist hingegen unerheblich. Daher ist keine hypothetische Prüfung durchzuführen, ob der Antragsteller ausgewiesen werden könnte oder würde, und ob der Ausweisung Schutzvorschriften entgegenstehen. Bei der Feststellung, ob ein Ausweisungsgrund vorliegt, ist daher unbeachtlich, ob die Ausweisungsbeschränkungen des § 56 AufenthG gegeben sind (Nr. 5.1.2.1 VAH). Hat die Behörde aber bei einem Ausländer, der nach Art. 3 Abs. 3 ENA besonderen Ausweisungsschutz genießt, auf die Ausweisung verzichtet, kann sie sich nachträglich nicht auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen. 26 27 28 BVerwG, InfAuslR 2013, 324. OVG Hamburg, InfAuslR 2005, 311 VGH BW, AuAS 2004, 245 (246). 15 Grundsätzlich liegt nach Nr. 5.1.2.1 VAH auch dann ein Ausweisungsgrund vor, wenn das im EFA für den dort begünstigten Personenkreis geregelte Verbot der Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit vorliegt. Begründet wird dies damit, dass das EFA lediglich der Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit, nicht aber der Versagung der Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus diesem Grund entgegenstehe. Das geltende Recht weicht indes von der früheren Rechtslage ab. Nach der früheren Rechtslage lag ein Ausweisungsgrund vor, wenn der Unterhaltsberechtigte Sozialhilfe tatsächlich in Anspruch nahm oder – zwar nicht in Anspruch nahm, aber – in Anspruch nehmen musste (vgl. § 46 Nr. 6 AuslG 1990). Lag das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten unter der Grenze, die nach dem Regelsatz bei Berücksichtigung aller Unterhaltsberechtigten erreicht werden musste, lag ein Ausweisungsgrund vor, so dass die Aufenthaltsgenehmigung regelmäßig weder erteilt noch verlängert wurde. Nach geltendem Recht liegt nur noch dann ein Ausweisungsgrund vor, wenn ein Unterhaltsberechtigter tatsächlich Sozialhilfe in Anspruch nimmt (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Die zweite Alternative ist weggefallen, so dass ein zu geringes Einkommen bezogen auf alle Unterhaltsberechtigten dem Antragsteller nicht mehr entgegengehalten werden kann. Der Ausweisungsgrund muss jedoch noch aktuell vorliegen, darf also nicht verbraucht sein. Es muss dadurch also aktuell eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu befürchten sein (Nr. 5.1.2.2 (VAH). Je gewichtiger jedoch der Ausweisungsgrund ist, umso weniger strenge Voraussetzungen sind an die Prüfung des aktuellen Vorliegens einer Gefährdung zu stellen. Ausweisungsgründe nach § 53, § 54 und § 55 Nr. 1 bis 3 AufenthG liegen solange vor, wie eine Gefährdung fortbesteht. Längerfristige Obdachlosigkeit, Sozialhilfebezug und Inanspruchnahme von Erziehungshilfe (§ 55 Nr. 5 2. Alt., Nr. 6 und 7 AufenthG) können demgegenüber keine Grundlage für die Versagung bilden, wenn diese Umstände zwischenzeitlich weggefallen sind. Ein Ausweisungsgrund ist unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes auch dann unbeachtlich, wenn er aufgrund einer Zusicherung der Ausländerbehörde verbraucht ist (Nr. 5.1.2.2 VAH). Da es sich um einen Regelerteilungsgrund handelt, sind atypische Ausnahmefälle zu berücksichtigen. Dabei sind die Dauer der Aufenthaltszeit, in der keine Straftaten begangen wurden, im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer zu setzen. Ein langjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet und die damit regelmäßig einhergehende Integration kann unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine atypische Fallgestaltung in der Weise begründen, dass schutzwürdige Belange des Antragstellers im Bundesgebiet zu berücksichtigen sind und ein Aufenthaltstitel je nach dem Grad der Entfremdung vom Herkunftsland grundsätzlich nur noch zur Gefahrenabwehr aus wichtigem Grund versagt werden darf (Nr. 5.1.4.1 VAH). Hat der Antragsteller die Inanspruchnahme sozialhilferechtlicher Leistungen etwa wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit oder eines unverschuldeten Unfalls nicht zu vertreten und hält er sich seit vielen Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf, ist dieser Umstand insbesondere dann zu seinen Gunsten zu gewichten, wenn er aufgrund seiner Sondersituation dem deutschen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit einen ergänzenden Bezug von Leistungen nach SGB II oder SGB XII erforderlich macht ((Nr. 5.1.4.2 VAH). Dies gilt auch bei der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG (Nr. 5.1.4.2 VAH). Bei langjährigem Aufenthalt ist auch zu berücksichtigen, ob diese Leistungen nur in geringer Höhe oder nur für eine Übergangszeit in Anspruch genommen werden (Nr. 5.1.4.3 VAH). Bei Obdachlosigkeit kann eine Abweichung von der Regel gerechtfertigt sein, wenn es sich um einen Ausländer handelt, der zusammen mit seinen Familienangehörigen seit längerer Zeit im Bundesgebiet lebt, beschäftigt ist und folglich seine Existenzgrundlage und die seines 16 Ehegatten sowie seiner minderjährigen Kinder verlieren würde, wenn er mangels Aufenthaltstitel das Bundesgebiet verlassen müsste und ihm unter Berücksichtigung seines Lebensalters im Heimatstaat der Aufbau einer Existenzgrundlage nicht mehr ohne weiteres zumutbar wäre (Nr. 5.1.4.4 VAH). dd) Interessen der Bundesrepublik (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) Soweit kein Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, darf der Aufenthalt des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen oder gefährden. Für das Vorliegen eines Anspruchs kommt es nicht allein darauf an, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Anspruchsnorm erfüllt sind. Ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ist vielmehr grundsätzlich nicht gegeben, wenn trotz Vorliegens der anspruchsbegründenden Tatbestandsvoraussetzungen einer Anspruchsnorm eine der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen, z.B. die Sicherung des Lebensunterhalts, nicht vorliegen und hiervon nur nach behördlichem Ermessen abgewichen werden kann.29 In einem solchen Fall findet § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG mithin Anwendung. Der Regelversagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG stellt eine Art Auffangtatbestand für die Ermessensverwaltung dar. Die Ausländerbehörde hat unter Berücksichtigung des bisherigen Werdegangs des Antragstellers eine Prognoseentscheidung zu treffen Nr. 5.1.3.0, Satz 5 VAH). Der Begriff der Interessen der Bundesrepublik Deutschland umfasst in einem weiten Sinne sämtliche öffentlichen Interessen. Die Regelerteilungsvoraussetzung erfordert nicht die Beeinträchtigung eines „erheblichen“ öffentlichen Interesses. Eine Gefährdung öffentlicher Interessen ist anzunehmen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet öffentliche Interessen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beeinträchtigen wird (Nr. 5.1.3.0 VAH). Unverändert gehört das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Aufenthaltsrechts einschließlich der Einreisevorschriften zu den öffentlichen Interessen. Dieses Interesse ist verletzt, wenn der Antragsteller in das Bundesgebiet einreist und sich die Art des von ihm angestrebten und danach erteilten Aufenthaltstitels mit dem tatsächlich angestrebten Aufenthaltstitel oder – Zweck nicht deckt. Auch im Visumverfahren findet der Regelerteilungsgrund bereits im Stadium der Gefährdung Anwendung, ohne dass sich die Gefahr in einer tatsächlich feststehenden Interessenbeeinträchtigung verwirklicht haben muss (Nr. 5.1.3.1.1 VAH). ee) Einhaltung der Visumvorschriften § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestimmt als Voraussetzung für die Erteilung eines längerfristigen oder dauerhaften Aufenthaltstitels, dass das Visumverfahren nicht nur ordnungsgemäß, sondern auch unter vollständiger Angabe insbesondere des Aufenthaltszwecks durchgeführt worden ist. Mit § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird die Funktion des Visumverfahrens als wichtigstes Steuerungsinstrument der Zuwanderung gewährleistet (Nr. 5.2.1 VAH). Dieser Versagungsgrund trägt mithin dem öffentlichen Interesse Rechnung, die Einreise auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg zu steuern und zu kontrollieren. Dies verbietet es grundsätzlich, den ohne das ordnungsgemäße Visum begründeten Aufenthalt nachträglich im Wege der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu legalisieren. Im Blick auf die Ermessensverwaltung findet dieses öffentliche Interesse bereits und zusätzlich im Regelversagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG seinen Ausdruck. Die 29 OLG Sachsen, AuAS 2006, 242 (243). 17 Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt nur zum Tragen, wenn ein Visum erforderlich ist. Dies ist nicht der Fall, soweit der Antragsteller nach § 39 bis § 41 AufenthV den Aufenthaltstitel nach der Einreise einholen darf. Darüber hinaus sind die Ausnahmen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu beachten. Dem Antragsteller, der bereits eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und deren Verlängerung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Zweck begehrt, kann bei dieser Gelegenheit ein früherer Visumverstoß nicht mehr vorgehalten werden (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV). Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Niederlassungserlaubnis vorausgesetzt, dass die Einreise mit dem erforderlichen Visum erfolgte (Nr. 1) und die für die Erteilung des Visums maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht wurden (Nr. 2). Diese Vorschrift entspricht § 8 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG 1990. Die Versagungsgründe nach § 8 AuslG 1990 hatten zwingenden Charakter und standen der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung aus Rechtsgründen entgegen. Das galt nicht nur für Rechtsansprüche, sondern erst recht für Ermessensentscheidungen. An diese Rechtslage knüpft § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG an. Regelfall dieser Norm ist mithin, dass die Zustimmung der Ausländerbehörde nicht eingeholt wurde (vgl. § 31 AufenthV). Nach ihrem Zweck, eine wirksame Einreisekontrolle bereits vor der Einreise zu gewährleisten, erfasst die Norm indes auch den Fall, dass die Ausländerbehörde aufgrund der Angaben des Antragstellers im Visumantrag einem Visum zugestimmt hat, das den nach der Einreise hervorgetretenen Aufenthaltszweck gar nicht erlaubt (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Bei der Prüfung des Versagungsgrundes ist bezogen auf den konkreten Antrag stets die Frage zu beantworten, ob der Antragsteller ausnahmsweise den von ihm beantragten Aufenthaltstitel erst nach der Einreise einholen darf. Dies richtet sich nach § 39 bis § 41 AufenthG. In diesem Fall greift der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht ein. Ist dies nicht der Fall, liegt der besondere Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor, weil insoweit nach § 4 Abs. 1 AufenthG Sichtvermerkszwang besteht. Für den nunmehr beantragten Aufenthaltstitel fehlt das „erforderliche Visum“. Allerdings kann der Verstoß gegen den Versagungsgrund des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nach Maßgabe des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geheilt werden. BVerwG, NVwZ 2011, 495 und BVerwG, NVwZ 2011, 871 (zur Dänemark-Ehe) Hess.VGH, InfAuslR 2013, 370 (Kindeswohl) VGH BW, AuAS 2012, 258 (Pflegebedürftigkeit) VGH BW, AuAS 2011, 256 (Kindernachzug) OVG Hamburg, InfAuslR 2013, 71 (FamilienzusammenführungsRL) VG Berlin, NVwZ-RR 2012, 621 (Visakodex) ff) Passpflicht (§§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) Nach § 3 Abs. 1 AufenthG besteht Passpflicht, also die Pflicht zum Besitz eines gültigen und anerkannten Passes. Die Erfüllung dieser Pflicht erstreckt sich einerseits auf die Einreise (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und andererseits auf die Erteilung und Verlängerung eines Aufenthaltstitels (§ 5 Abs. 1 Nr. 4, § 8 Abs. 1 AufenthG). Pass ist ein Ausweisdokument, das als Identitätsnachweis dient und zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt. Die andauernde Geltungsdauer des Passes und die Rückkehrberechtigung sind danach zentrale Erteilungsvoraussetzungen. Die Geltungsdauer des Passes ist für die Festsetzung der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels maßgebend. Auf § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG beruht der 18 Grundsatz, dass die Geltungsdauer des befristeten Aufenthaltstitels nicht die Gültigkeitsdauer des Passes überschreiten darf. Zum Reisedokument nach § 5 AufentV s. BVerwG, InfAuslR 2011, 339). Die Passpflicht besteht unabhängig von der Pflicht zur Mitführung des Passes oder Passersatzes beim Grenzübertritt (§ 13 Abs. 1 AufenthG) und den ausweisrechtlichen Pflichten nach § 48 AufenthG, § 56, § 57 AufenthV. Durch den Besitz eines gültigen Passes wird den Behörden die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) sowie die Rückkehrberechtigung seines Inhabers ohne weiteres ermöglicht. Ein gültiger Pass, den ein Staat an seine Angehörigen ausstellt, beinhaltet die völkerrechtlich verbindliche Erklärung des ausstellenden Staates, dass der Inhaber sein Staatsangehöriger ist (Nr. 3..0.8 VAH). Diesen Staat trifft deshalb nach allgemeinem Völkerrecht gegenüber dem Aufenthaltsstaat eine Verpflichtung auf Rückübernahme des Passinhabers. Da ausschließlich der Staat, dessen Staatsangehörigkeit ein Ausländer besitzt, rechtlich zur Feststellung der Namensführung berechtigt ist, gilt der in einem solchen Pass eingetragene Name des Inhabers als rechtlich verbindlich festgestellt. Aufgrund dessen erübrigt sich eine Identitätsfeststellung nach § 49 AufenthG (Nr. 3.0.8 VAH). Stellt hingegen ein Staat einen Passersatz an eine Person aus, die dieser nicht als eigenen Staatsangehörigen in Anspruch nimmt, wird die Feststellungsbefugnis zur Namensführung nicht ausgeübt, sondern nur der Inhaber bezeichnet. Wie weit die Indizwirkung der Eintragungen im Passersatz reicht, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab (Nr. 3.0.9 VAH). Der Regelerteilungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG erfordert, dass der Antragsteller passpflichtig ist und weder einen Pass noch einen Passersatz besitzt. Er betrifft also nicht die nach §§ 5 ff. AufenthV von der Passpflicht befreiten Personen. Ausländer, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG von der Anwendung des AufenthG ausgenommen sind, unterliegen gemäß § 8 FreizügG/EU nur einer dort geregelten Ausweispflicht. Ein Verstoß gegen diese führt für sich allein nicht zu einer die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahme. Die Passpflicht erstreckt sich nicht auf die Ausländer, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG von der Anwendung des AufenthG ausgenommen sind. Ein Verstoß gegen die Passpflicht ist nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG strafbewehrt. Ein Verstoß gegen die Passpflicht liegt nicht vor, wenn der Pass in Verwahrung genommen wird (Nr. 3.1.4 VAH). Verstößt ein Unionsbürger gegen die Passpflicht, handelt er lediglich ordnungswidrig (vgl. § 10 FreizügG/EU). Ein Verstoß gegen die Pass- und Visumpflicht liegt nicht vor, wenn der Ausländer einen gültigen Aufenthaltstitel besitzt, aus einem seiner Natur nach lediglich vorübergehenden Grund mit einem gültigen Pass das Bundesgebiet verlässt, diesen im Ausland verliert und innerhalb der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels mit einem neuen Pass in das Bundesgebiet einreist (Nr. 3.0.3 VAH). Es ist jedoch § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zu berücksichtigen. ff) Versagungsgrund nach § 5 Abs. 4 AufenthG Der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 4 AufenthG findet Anwendung, wenn ein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 oder Nr. 5a AufenthG vorliegt. Der Versagungsgrund gilt uneingeschränkt sowohl für Aufenthaltstitel, die im Ermessenswege erteilt werden können, wie auch für solche, auf die ein gesetzlicher Anspruch besteht (Nr. 5.4.2 VAH). Ebenso wie bei § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist es nicht erforderlich, dass der Antragsteller auch ermessensfehlerfrei ausgewiesen werden könnte. Insoweit wird auf die entsprechenden Ausführungen zum Regelerteilungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verwiesen. Der Aufenthaltstitel ist nach § 5 Abs. 4 AufenthG zu versagen, wenn die Voraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG erfüllt sind. Danach reichen Tatsachen aus, welche die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Antragsteller einer Vereinigung angehört, die den Terrorismus 19 unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Versagung indes nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründet. Mit dem Hinweis auf „sicherheitsgefährdendes Handeln“ in § 5 Abs. 4 Satz 2 AufenthG hat der Gesetzgeber für die Rechtsanwendung hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er keinen substanzlosen Unterstützungsbegriff schaffen wollte, sondern einen an schwerwiegende Straftaten und darauf beruhender individueller Verantwortlichkeit ausgerichteten Handlungsbegriff. Die Definition des Befreiungstatbestandes ist deshalb bereits bei der Auslegung und Anwendung des Versagungsgrundes erheblich. Durch den Verweis auf § 54 Nr. 5a AufenthG knüpft der Gesetzgeber an die Vorgängervorschrift des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG 1990 an, die durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz mit Wirkung zum 1. Januar 2002 eingeführt worden war, um die Einreise von Personen zu verhindern, die terroristische oder gewaltbereite Aktivitäten begehen oder unterstützen. Dieser Versagungsgrund bezweckt die „Abwehr von Sicherheitsgefährdungen durch Gewaltanwendung“. Schutzgut ist „insbesondere auch die Fähigkeit des Staates, Beeinträchtigungen und Störungen seiner Sicherheit nach innen und außen abzuwehren.“ Der Verdacht der Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung, einer Beteiligung an Gewalttätigkeiten bei Verfolgung politischer Ziele oder eines öffentlichen Aufrufs zur Gewaltanwendung reicht nicht aus, selbst wenn die Annahme sich auf Tatsachen stützt. Nach § 73 Abs. 2 Satz 1 AufenthG können die Ausländerbehörden vor der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels die bei ihr gespeicherten personenbezogenen Daten an die dort bezeichneten Sicherheitsbehörden übermitteln. Nach Nr. 73.2.1 VAH enthält diese Vorschrift darüber hinaus auch eine Rechtsgrundlage für Anfragen der Ausländerbehörden bei den Sicherheitsbehörden. Ebenso wie vor der Visumerteilung müsse auch vor aufenthaltsrechtlich wichtigen Entscheidungen die Möglichkeit gegeben sein, das Wissen aller mit der Bekämpfung des Terrorismus befassten staatlichen Stellen für die Feststellung des Versagungsgrundes nach § 5 Abs. 4 AufenthG heranzuziehen. Für eine Regelanfrage in Ansehung bestimmter Herkunftsländer stellt die Vorschrift indes keine Rechtsgrundlage dar. Dagegen spricht bereits der Gesetzeswortlaut („können“). Es muss daher für die Übermittlung wie für die Anfrage ein konkreter Anlass bestehen. In begründeten Fällen können Ausnahmen vom Versagungsgrund des § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zugelassen werden (§ 5 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die Ausnahmevorschrift bezieht sich auf beide Fallvarianten des § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG und setzt voraus, dass die Antragsteller sich gegenüber den zuständigen Behörden offenbart und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand nimmt. Insoweit obliegt die Beurteilung den Sicherheitsbehörden. gg) Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) Ausweisung und Abschiebung bewirken ein Einreise- und Aufenthaltsverbot (gesetzliche Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Das gilt auch für Maßnahmen nach altem Recht (vgl. § 102 Abs. 1 AufenthG). Sie führen zudem zu einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS (Art. 96 Abs. 3 SDÜ) und bewirken damit eine Einreisesperre für das gesamte Gebiet der Schengen-Staaten. Die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung betreffen auch Gemeinschaftsangehörige. Es liegt daher ein zwingender 20 Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) vor, der durch antragsgemäße Befristung aufgehoben werden kann (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Ausnahmen sind nach §§ 23a Abs. 1 Satz 1, 25 Abs. 1–5 AufenthG zulässig. Der Zweck der Sperrwirkung, eine effektive Kontrolle der Wiedereinreise sicherzustellen, wird insbesondere an der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG deutlich. Während nach der früheren Rechtsprechung des BVerwG eine der Ausweisung beigefügte Frist bereits vor 30 der Ausreise ablaufen konnte, sodass ohne zwischenzeitliche Ausreise der Aufenthalt legalisiert werden konnte, beginnt nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Frist erst mit dem Tag der Ausreise oder Abschiebung zu laufen,31 sdass eine Ausweisung nicht durch Befristung des Versagungsgrundes während des Inlandsaufenthaltes unterlaufen werden kann. Ist der Antragsteller indes erneut eingereist, bedarf es für den Fristbeginn nicht der erneuten Ausreise.32 Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts darf die Aufhebung der Sperrwirkung nicht von der Ausreise abhängig gemacht werden.33 Die Sperrwirkung der Ausweisung tritt unmittelbar kraft Gesetzes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) ein. Umstritten ist, ob für den Eintritt der Sperrwirkung der Ausweisung Vollziehbarkeit vorauszusetzen ist. Bei der Abschiebung tritt die Sperrwirkung mit dem tatsächlichen Vollzug ein. Die Abschiebungsandrohung reicht nicht. hh) Sperrwirkung des abgelehnten Asylantrags (§ 10 Abs. 3 AufenthG) § 10 Abs. 3 AufenthG legt eine abgestufte Sperrwirkung fest: Ist der Asylantrag unanfechtbar abgelehnt oder vom Antragsteller zurückgenommen worden, darf vor der Ausreise nur nach dem humanitären Vorschriften (§ 22 bis § 26 AufenthG) ein Aufenthaltstitel erteilt werden, d.h. der Zugang zu anderen Aufenthaltstiteln ist versperrt. Ist hingegen der Aufenthaltstitel nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt worden, darf überhaupt kein Aufenthaltstitel erteilt werden, d.h. es findet nicht lediglich eine eingeschränkte, sondern eine absolute Sperrwirkung Anwendung. § 10 Abs. 3 AufenthG bezweckt, dass Antragsteller, deren Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, nur eingeschränkt die Möglichkeit erhalten, einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Die eingeschränkte wie absolute Sperrwirkung findet für den Fall des Verzichts (§ 14a Abs. 3 AsylVfG) sowie in den Fällen, in denen ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), keine Anwendung. Die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hindert auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 bis § 26 AufenthG. Dies ist, wie der Vergleich zwischen § 23a Abs. 1 Satz 1 und § 25 Abs. 5 AufenthG verdeutlicht, ungereimt. Während über die 30 BVerwGE 60, 284 (285); 69, 137 (141). 31 32 OVG Bremen, InfAuslR 1998, 442 (443); VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (434). OVG Hamburg, InfAuslR 1992, 250 (251); BVerwG, InfAuslR 2000, 176 (180) = AuAS 2000, 74. 33 Vgl. auch EuGH, NJW 1983, 1250 (1251). 21 Aufenthaltserlaubnis nach § 23a AufenthG in Abweichung von allen gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen entschieden wird, ist etwa den Sollansprüchen nach § 25 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 Satz 2 AufenthG die Sperrwirkung entgegenzuhalten. Dadurch wird ein rechtmäßiger Aufenthalt unmöglich gemacht. Der Bescheid des Bundesamtes muss ausdrücklich auf die Norm des § 30 Abs. 3 AsylVfG verweisen. Eine qualifizierte Asylablehnung nach § 30 Abs. 1 und 2 AsylVfG begründet nur die eingeschränkte Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Nicht durchdacht erscheint, dass der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eines Kind, dessen Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird, die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auch dann entgegenzuhalten ist, wenn der Antrag der Eltern bzw. des personensorgeberechtigten Elternteil nicht gesperrt wird. Lässt der asylrechtliche Statusbescheid die maßgebliche Rechtsgrundlage der qualifizierten Asylablehnung offen, kann die Ausländerbehörde dem Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht die absolute Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG entgegenhalten. In diesem Fall findet aber die eingeschränkte Sperrwirkung Anwendung, d.h. der Aufenthaltstitel darf nur nach Maßgabe des humanitären Abschnitts des AufenthG erteilt werden. Wird ein Klageverfahren durchgeführt und die Klage abgewiesen, kann die absolute Sperrwirkung keine Anwendung finden. Das Verwaltungsgericht prüft nämlich im Hauptsacheverfahren nicht die Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils. Jedenfalls in den Fällen, in denen im Eilrechtsschutzverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wird, liegt dem die gerichtliche Einschätzung zugrunde, dass die Voraussetzungen für das Offensichtlichkeitsurteil nicht vorliegen. Die absolute Sperrwirkung findet deshalb keine Anwendung. Hat der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z. B. § 28 Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG), ist über diesen durch die Ausländerbehörde eine Entscheidung herbeizuführen. Die Sperrwirkung findet weder in der eingeschränkten noch in der absoluten Form Anwendung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Der Ermessensreduzierung auf Null ist dem Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht rechtlich gleichgestellt.34 Dafür spricht, dass § 10 Abs. 1 AufenthG den Begriff „gesetzlicher Anspruch“, § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG hingegen den Begriff „Anspruch auf Erteilung“ verwendet. Die Rechtsprechung des BVerwG hatte sich zunächst nur im Blick auf gesetzliche Ansprüche gegen die Einbeziehung der Ermessensreduktion gewandt.35 Im Blick auf § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990, der ebenfalls den Begriff „Anspruch auf Erteilung“ verwendet, hat das BVerwG sich indes ebenfalls gegen die Einbeziehung der „Ermessensreduzierung auf Null“ ausgesprochen. Es hat dies damit begründet, die Ermessensreduzierung begründe keinen gesetzlichen Anspruch. Insoweit gelte nichts anderes als in den Fällen eines gesetzlichen Anspruchs.36 Im Falle eines „Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels“ (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG) steht damit § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei krankheitsbedingten oder sonstigen Härtegründen der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. In diesem Falle kann der Antrag im Bundesgebiet bearbeitet werden (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG). Im Falle BVerwGE 132, 382 (390) = InfAuslR 2009, 224; VG Freiburg, InfAuslR 2005,388 (390), für den gleich gelagerten Fall des § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG; wohl auch Klaus Dienelt, ZAR 206, 120 (122 f.); so auch Nieders.MdI, Informations- und Schulungsmaterial zum ZuwG, August 2004, S. 19; dagegen Frank Wenger, Kommentar zum ZuwG, § 10 AufenthG Rdn. 5.; Nr. 10.3.1 VAH, anders jedoch Nr. 5.2.3 VAH. Nr. 10.3.1 VAH; offen gelassen Jochen Zühlke, ZAR 2006, 280.. 35 BVerwGE 101, 265 (271) = EZAR 011 Nr. 9 = InfAuslR 1997, 21; BVerwG, NVwZ-RR 2004, 687 = EZAR 017 Nr. 21. 36 BVerwG, NVwZ-RR 2004, 687 (688). 34 22 eines Ermessenstatbestandes (z. B. § 16 Abs. 4, 30 Abs. 2, § 32 Abs. 4 AufenthG) muss der Antragsteller indes ausreisen und ein Visumverfahren durchführen. Im Hinblick auf Art. 15, 18 und 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist die Anwendung der Sperrwirkung unvereinbar mit Gemeinschaftsrecht. Dementsprechend wird nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG die Sperrwirkung durchbrochen, wenn der Antragsteller den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG für subsidiär Schutzberechtigte anstrebt. Die obergerichtliche Rechtsprechung ging unter Hinweis auf den Sollcharakter des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG von einem strikten Rechtsanspruch im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG aus, sofern es der Ausländerbehörde nicht ausnahmsweise gelang, eine atypische Interessenlage darzulegen.37 § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG macht im Hinblick auf § 25 Abs. 3 AufenthG eine derartige Einschränkung nicht. Sie wäre auch mit Art. 15, 18 und 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG unvereinbar. Im Hinblick auf § 25 Abs. 5 AufenthG ist die Anwendung der Sperrwirkung jedenfalls insoweit ungereimt, soweit dringende inlandsbezogene Härtegründe für die Entscheidung maßgebend sind. IV. Verlängerung des Aufenthaltstitels 1. Fortbestand der Ersterteilungsvoraussetzungen (§ 8 Abs. 1 AufenthG) Bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels geht es um die weitere Aufenthaltsgewährung im Anschluss an einen genehmigten Aufenthalt ohne Wechsel des Aufenthaltstitels. Dabei gelten nach § 8 Abs. 1 AufenthG bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels im Rechts- wie im Ermessensbereich grundsätzlich dieselben Rechtsvorschriften wie bei der Ersterteilung. Es sind aber gesetzliche Erleichterungen zu berücksichtigen. Eine Zweckänderung wird nicht als Verlängerungs-, sondern als Erstantrag mit allen verfahrensrechtlichen Konsequenzen behandelt. Einen Zweckwechsel stellt es aber nicht dar, wenn das zum Zweck des Kindernachzugs ausgestellte Visum nach Einreise in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wird. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen Antrag auf Ersterteilung, sondern um einen Verlängerungsantrag.38 Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis befreit von den aufgezeigten verfahrensrechtlichen Einschränkungen. Der befristete Aufenthaltstitel darf hingegen nur für einen Zeitraum erteilt werden, für den die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen und gesetzliche Versagungsgründe nicht gegeben sind. Daher ist die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels stets abhängig von der Geltungsdauer des Reiseausweises (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Die Geltungsdauer der Verlängerung ist grundsätzlich so zu bestimmen, dass sie am Tage nach dem Ablauf der Geltungsdauer der bisherigen Geltungsdauer beginnt. Das gilt auch dann, wenn die Behörde erst zu einem späteren Zeitpunkt über die Verlängerung der Geltungsdauer entscheidet (Nr. 8.1.4 Satz 1 und 2 VAH). Erfüllt der Antragsteller die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis, soll die Ausländerbehörde ihn auf die Möglichkeit der Antragstellung hinweisen (§ 82 Abs. 3 AufenthG). Werden die entsprechenden Nachweise nicht vorgelegt, darf die Aufenthaltserlaubnis befristet verlängert werden (Nr. 8.1.3 VAH). Eine zu einem früheren Aufenthaltstitel erteilte Zustimmung der Arbeitsverwaltung zu einer Beschäftigung gilt im Rahmen ihrer zeitlichen Begrenzung fort, sofern das Beschäftigungsverhältnis andauert (§ 14 Abs. 2 BeschVerfV). Die Behörde hat vor der Verlängerung insbesondere den Zweck nach Kapitel 2 Abschnitt 3, 4, 5 oder 6 des AufenthG, die Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründe nach §§ 5 Abs. 2 Satz 1 und 10 AufenthG zu prüfen. Bei der Verlängerung findet die Sperrwirkung nach 37 38 Hess.VGH, U. v. 1. 9. 2006 – 9 UE 1650/06. Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726. 23 § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG keine Anwendung, weil diese bereits vor der Ersterteilung zwingend zu beseitigen war. Die Gewährung eines befristeten Aufenthaltsrechts im Rahmen der Ermessensverwaltung gibt dem Antragsteller zwar grundsätzlich keinen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Über die Verlängerung ist jedoch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes zu entscheiden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass während des bisherigen Aufenthaltes schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Bindungen zum Bundesgebiet entstanden sein können. In solchen Fällen ist im Rahmen einer Güter- und Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beendigung des Aufenthaltes zumutbar ist (z.B. Dauer des Aufenthalts, Grad der Verwurzelung, beanstandungsfreier Aufenthalt) und sind darüber hinaus auch die in § 55 Abs. 3 AufenthG bezeichneten Belange zu berücksichtigen. Nicht um die Verlängerung des bisherigen Aufenthaltstitels, sondern um die Beantragung eines neuen Aufenthaltstitels handelt es sich, wenn der Antragsteller die Verlängerung zu einem anderen Aufenthaltszweck beantragt.39 Ein Übergang vom Deutschkurs zum Überbrückungsstudium und Studium beinhaltet indes keinen Wechsel des Aufenthaltszwecks. Ist die Verlängerung des Aufenthaltstitels nicht ausgeschlossen worden (vgl. § 8 Abs. 2 AufenthG), kann die Zweckänderung nach Ermessen genehmigt werden. Dabei können auch im Gesetz nicht vorgesehene Aufenthaltszwecke berücksichtigt werden (§ 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Für die Prüfungsphase findet die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG Anwendung. Nach § 8 Abs. 3 AufenthG hat die Ausländerbehörde die Verletzung der nach § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG bestehenden Pflicht zur Teilnahme am Integrationskurs bei der Verlängerungsentscheidung zu berücksichtigen. Die Gründe, aus denen die Verpflichtung hervorgeht, sind aktenkundig zu machen. Der Erlass eines gesonderten Bescheides über die Teilnahmeverpflichtung ist nicht erforderlich, da die Behörde lediglich eine bereits bestehende Pflicht rein verwaltungstechnisch berücksichtigt und keine eigenständige Regelung – auch nicht in Form eines feststellenden Verwaltungsaktes – trifft (Nr. 8.3.2 VAH). Auf die nicht ordnungsgemäßen Teilnahme kann etwa durch die Bestimmung einer kürzeren Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Verlängerungsentscheidung reagiert werden (Nr. 8.3.5 VAH). Gegen die Versagung der Verlängerung dürfte regelmäßig der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sprechen. Die Verlängerungsversagung ist ausgeschlossen, wenn auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ein Rechtsanspruch besteht (s. aber § 8 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). § 8 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bestimmt, dass bei einer im behördlichen Ermessen stehenden Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis die „wiederholte und gröbliche Verletzung“ der Teilnahmepflicht der Antrag abgelehnt werden soll. Unter diesen Voraussetzungen kann die Aufenthaltserlaubnis auch dann versagt werden, wenn ein Anspruch auf Verlängerung lediglich nach dem AufenthG besteht. Im Hinblick auf Asylberechtigte, Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte steht dem Art. 24 RL 2004/83/EG entgegen, weil dort eine derartige Einschränkung nicht gemacht wird. Dies gilt auch die Familienangehörigen dieses Personkreises (vgl. Art. 23 RL 2004/83/EG). Es muss sich um eine gröbliche Verletzung der Teilnahmepflicht handeln. Gröblich ist mehr als „grobe Fahrlässigkeit“ (vgl. hierzu § 20 Abs. 2 Satz 1, § 22 Abs. 3 Satz 2, § 23 Abs. 2 Satz 39 OVG NW, EZAR 014 Nr. 11; OVG NW, InfAuslR 2001, 212 = AuAS 2001, 86. 24 1 AsylVfG). Der Gesetzgeber hat bewusst den Begriff „grobe Fahrlässigkeit“ nicht verwendet, weil ihm dies angesichts der gravierenden Folgen einer Versagungsentscheidung nicht als verhältnismäßig erscheint. Der Betroffene muss also bewusst und gewollt sowie in Kenntnis seiner entsprechenden Teilnahmeverpflichtung und darüber hinaus nach den erkennbaren Umständen auch in einer Weise gegen seine Verpflichtung verstoßen, dass der Vorwurf der gröblichen Pflichtverletzung berechtigt ist. Dies setzt voraus, dass er zuvor durch die Behörde auf den Umfang seiner Verpflichtung und die Folgen einer Pflichtverletzung hingewiesen worden ist. Aus den Gesamtverhalten des Betroffenen muss erkennbar sein, dass er sich uneinsichtig, beharrlich, hartnäckig und wiederholt geweigert hat, der Teilnahmeverpflichtung nachzukommen. 2. Ausnahmen vom Erfordernis der Ersterteilungsvoraussetzungen Der Grundsatz, dass bei der Verlängerung dieselben Vorschriften wie bei der Ersterteilung zu beachten sind, findet etwa dann keine Anwendung, wenn ungeachtet der Einreise ohne erforderliches Visum ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist.40 Ebenso ist im Rahmen der Verlängerung des Aufenthaltstitels der Rückgriff auf einen Ausweisungsgrund unzulässig, wenn dieser bei der Ersterteilung oder vorangegangenen Verlängerungsentscheidung der Behörde bekannt war und nicht zuungunsten des Antragstellers gewertet wurde. 41 Sieht die Behörde im Rahmen des § 5 Abs. 3 AufenthG von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ab, kann sie darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender Ausweisungsgründe, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen Verfahrens sind, möglich ist (§ 5 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Macht die Ausländerbehörde in derartigen Fällen nach Verfahrensabschluss nicht unverzüglich von den Ausweisungsmöglichkeiten Gebrauch, kann sie die entsprechenden Ausweisungsgründe nicht dem Verlängerungsantrag entgegenhalten. Darüber hinaus macht das Gesetz einige bedeutsame Ausnahmen: Bei Ehegatten kann die Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltssicherungserfordernis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und vom Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) verlängert werden (§ 30 Abs. 3 AufenthG). Es dürfen aber ernsthafte Bemühungen um die Sicherstellung des Lebensunterhaltes gefordert werden. Die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist anwendbar. Bei Kindern kann die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Niederlassungserlaubnis noch nicht vorliegen (§ 34 Abs. 3 AufenthG). Demgegenüber bestimmte früher § 20 Abs. 4 AuslG 1990, dass die Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhalts- und Wohnraumerfordernis zu verlängern ist. In der Verwaltungspraxis wurde indessen bei Sozialhilfebedürftigkeit regelmäßig die Verlängerung versagt (vgl. Nr. 20.6.2.3 AuslG-VwV). Das geltende Recht wandelt den Rechtsanspruch auf Verlängerung in einen Ermessenstatbestand um. Die Altergrenzen nach § 32 Abs. 1 bis 4 AufenthG sind bei der Verlängerung nicht mehr zu berücksichtigen.42 Solange kein eigenständiges Aufenthaltsrecht besteht (§ 34 Abs. 2 AufenthG), setzt die Verlängerung die Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft mit mindestens einem Elternteil voraus. Bei Wegfall des Zwecks (§ 27 Abs. 1 AufenthG) wegen der Ausreise der 40 41 VGH BW, InfAuslR 1995, 104 (105); VGH BW, InfAuslR 1988, 471 (472). Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5. 42 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726. 25 Eltern ist die Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 37 AufenthG zu verlängern (§ 34 Abs. 2 Satz 2 AuslG). Sind beide Elternteile nach Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels verstorben, kommt eine Verlängerung nach § 34 AufenthG nicht in Betracht. Im Falle der Aufnahme bei oder der Betreuung durch Verwandte kommt aber wohl eine Lösung nach § 36 AufenthG in Betracht. Solange die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG nicht gegeben sind, kann die Aufenthaltserlaubnis bei Volljährigen nach Ermessen unter Berücksichtigung der Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG verlängert werden. 3. Rechtzeitige Antragstellung Wesentlich für die Aufenthaltsverfestigung ist die rechtzeitige Antragstellung, da andernfalls der für die Verfestigung erforderliche ununterbrochene rechtmäßige Aufenthalt unterbrochen wird (s. aber § 26 Abs. 4 AufenthG). Fraglich ist, ob die verspätete Antragstellung die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unterbricht. Nach § 81 Abs. 4 AufenthG wird auch im Falle der verspäteten Antragstellung vom Zeitpunkt der Antragstellung an die Erlaubnisfiktion begründet. Dies spricht dafür, dass keine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit eintritt. Unklar ist, ob die Rechtsprechung des BVerwG auch diesen Fall einschließt, da sie nur die Verlängerung eines längerfristigen Visums als nationale Aufenthaltserlaubnis betrifft.43 Jedenfalls kann die Behörde über § 85 AufenthG die Unterbrechung heilen. Stellt der Antragsteller am Tag nach Ablauf der Geltungsdauer den Verlängerungsantrag, tritt keine Unterbrechung ein, da der Antrag auf den Beginn des Tages zurückwirkt. 44 Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Da es sich indes um ein gesetzliches Aufenthaltsrecht handelt, hat die Geltungsdauer der Bescheinigung keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des verfahrensabhängigen Aufenthaltrechtes. Beantragt der Antragsteller deshalb verspätet die Verlängerung der Geltungsdauer der Bescheinigung, ist dies insoweit unschädlich (vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). Erst mit Bekanntgabe der Versagungsverfügung wird die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts unterbrochen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Im Falle der verspäteten Antragstellung bleibt es aber bei der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes. Unterbrechungen bis zu einem Jahr können indes außer Betracht bleiben (vgl. § 85 AufenthG). Wird die Behördenentscheidung durch die Behörde selbst oder durch das Gericht aufgehoben, tritt keine Unterbrechung ein (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Auch hier kann im Falle des verspäteten Antrags § 85 AufenthG weiterhelfen. 4. Ausschluss der Verlängerung (§ 8 Abs. 2 AufenthG) § 8 Abs. 2 AufenthG eröffnet der Ausländerbehörde die Möglichkeit, die Verlängerung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis durch eine Nebenbestimmung (§ 36 VwVfG) auszuschließen. Dies betrifft z.B. kurzfristige Arbeitsverhältnisse, bei denen eine Verfestigung nicht zulässig ist (Saisonarbeitnehmer, Werkvertragsarbeitnehmer), oder Aufenthalte aufgrund spezifischer Postgraduiertenprogramme der Entwicklungszusammenarbeit, bei denen die Geförderten sich verpflichtet haben, nach Abschluss der Hochschulförderung zurückzukehren. Auf diese Weise soll die Ausländerbehörde von vornherein Klarheit über die fehlende Perspektive der Aufenthaltsverfestigung schaffen (Nr. 8.2.1 AufenthG-VwV). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt entgegen Nr. 8.2.2 AufenthG-VwV nicht kraft Gesetzes ein. § 8 Abs. 2 AufenthG ist auch keine Nebenbestimmung (so Nr. 8.2.3 AufenthG-VwV), sondern 43 BVerwGE 140, 64 = InfAuslR 2011, 373 = NVwZ 2011, 1340 = AuAS 2011, 373; ausf. unter B I 1. OVG Hamburg, InfAuslR 2000, 71 (72); a.A. OVG NW, InfAuslR 1999, 451 (452); OVG NW, InfAuslR 2000, 115 (116); s. auch OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 106 = AuAS 2004, 61. 44 26 eine materielle Rechtsgrundlage für die Sperrung der Verfestigung. Hat die Behörde die Form der auflösenden Bedingung gewählt, erlischt die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis unabhängig von § 8 Abs. 2 AufenthG mit Eintritt der auflösenden Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). § 8 Abs. 2 AufenthG gibt der Ausländerbehörde vielmehr die Möglichkeit, von vornherein den Zugang zur Verfestigung zu sperren. Stellt der Antragsteller gleichwohl den Verlängerungsantrag, greifen die Wirkungen des § 81 Abs. 4 AufenthG ein. In der Sache steht der Verlängerung der Geltungsdauer allerdings der Hinweis auf die Nichtverlängerbarkeit bei der Ersterteilung entgegen. Erweist sich im Nachhinein, dass die Behörde den Hinweis auf die Nichtverlängerbarkeit nicht hätte geben dürfen, steht § 8 Abs. 2 AufenthG der Verlängerung nicht entgegen. 5. Geltungsdauer des Aufenthaltstitel Der erstmals erteilte Aufenthaltstitel wird grundsätzlich befristet erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Ausnahmen gelten für hoch qualifizierte Ausländer, denen unter den Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 AufenthG bereits bei der Einreise eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann. Für die Gestaltung der Befristung der Aufenthaltserlaubnis ist der beabsichtigte Aufenthaltszweck maßgebend (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Grundsätzlich wird die bisherige Verwaltungspraxis wohl fortgeführt werden, wonach die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels zunächst auf zwei Jahre, in besonders gelagerten Fällen auf ein Jahr befristet wird, bis nach Ablauf von fünf Jahren des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis der Anspruch auf die Erteilung des Niederlassungserlaubnis entsteht (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Das Gesetz gibt für besondere Fallgruppen bestimmte Fristen vor: So kann nach Abschluss des Studiums die Aufenthaltserlaubnis bis zu einem Jahr verlängert werden (§ 16 Abs. 4 AufenthG). Das eigenständige Aufenthaltsrecht des Ehegatten entsteht zunächst für die Dauer eines Jahres (§ 31 Abs. 1 AufenthG). Bei selbständig Erwerbstätigen wird die Aufenthaltserlaubnis auf längstens drei Jahre befristet (§ 21 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Anschließend entsteht unter den Voraussetzungen des § 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ein Anspruch auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis. Die Aufenthaltserlaubnis kann in der Regel nicht verlängert werden, wenn die zuständige Behörde dies bei einem seiner Zweckbestimmung nach nur vorübergehenden Aufenthalt bei der Erteilung oder der zuletzt erfolgten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen hat (§ 8 Abs. 2 AufenthG). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt kraft Gesetzes ein. § 8 Abs. 2 AufenthG hat im früheren Recht keine direkte Entsprechung. Sie dürfte sich aber im Wesentlichen auf Fälle beziehen, in denen nach früherem Recht eine Aufenthaltsbewilligung (§ 28 AuslG 1990) erteilt wurde. Sie soll dementsprechend bei kurzfristigen Aufenthalten, bei denen eine Aufenthaltsverfestigung nicht beabsichtigt ist, oder bei Aufenthalten aufgrund spezifischer Postgraduiertenprogramme der Entwicklungszusammenarbeit, bei denen sich die Geförderten verpflichtet haben, nach Abschluss der Hochschulfortbildung zurückzukehren, Anwendung finden. Studenten haben demgegenüber nach Abschluss des Studiums unter den Voraussetzungen des § 16 Abs. 4 AufenthG grundsätzlich die Möglichkeit, innerhalb eines Jahres einen Arbeitsplatz zu suchen und anschließend den Aufenthalt zu verfestigen. Zwar kann die Behörde die Nichtverlängerbarkeit auch erst bei der Verlängerungsentscheidung anordnen. Es muss sich aber um Fälle handeln, in denen für die Beteiligten von Anfang an der nur vorübergehende Zweck des Aufenthaltes klar war. Andernfalls wäre eine derartige Praxis mit dem verfassungskräftigen Grundsatz des Vertrauensschutzes kaum vereinbar. Die Nichtverlängerbarkeit wird durch Nebenbestimmung angeordnet (§ 12 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt nach der gesetzlichen Begründung 27 kraft Gesetzes ein. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Fristsetzung ist eine Nebenbestimmung im Sinne von § 36 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG. Die Form der auflösenden Bedingung ist auf Fristsetzungen nicht anwendbar. Ist die Frist abgelaufen und hat der Betroffene rechtzeitig den Verlängerungsantrag gestellt, gilt der Aufenthalt zunächst als rechtmäßig fort (§ vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). § 8 Abs. 2 AufenthG ordnet an, dass nach Fristablauf in der Regel die Nichtverlängerbarkeit eintritt. Das Gesetz geht damit selbst davon aus, dass die Nichtverlängerbarkeit nicht kraft Gesetzes eintritt. Vielmehr wird der Behörde für den Regelfall die Möglichkeit der Versagung eingeräumt. Damit wird dem Antragsteller allerdings nicht der Rechtsschutz genommen. Nach § 26 Abs. 2 AufenthG darf die Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind. V. Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) 1. Funktion der Niederlassungserlaubnis Das AufenthG wandelt die Verfestigungsregelungen des alten Rechts grundlegend um. Das geltende Recht kennt nur noch die Aufenthaltserlaubnis und die Niederlassungserlaubnis. Neu hinzugekommen ist aufgrund der Umsetzung der Richtlinie 2003/109/EG die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG nach §§ 9a ff. AufenthG, die gegenüber der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG weitergehende Recht im Gemeinschaftsgebiet und auch einen stärkeren Ausweisungsschutz vermittelt. Grundsätzlich können alle Aufenthaltstitel des AufenthG in das Verfestigungsstadium gelangen, wenn nicht im Einzelfall die Aufenthaltserlaubnis entsprechend ihrer Zweckbestimmung nur einen vorübergehenden Aufenthalt zulässt (§§ 8 Abs. 2, 26 Abs. 2 AufenthG). Darüber hinaus erlaubte das alte Recht nicht den direkten Sprung in die Verfestigung. Vielmehr setzte die stärkste Verfestigungsform, die Aufenthaltsberechtigung, regelmäßig einen achtjährigen Besitz der Aufenthaltserlaubnis voraus (vgl. § 27 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1990). Nunmehr erlaubt § 19 Abs. 1 AufenthG, Hochqualifizierten unmittelbar zu Beginn des Aufenthalts im Bundesgebiet die Niederlassungserlaubnis zu erteilen, vermittelt den besonderen Ausweisungsschutz aber erst nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im Grundsatz setzt die höchste Verfestigungsstufe indes den fünfjährigen Besitz der Aufenthaltserlaubnis voraus (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Sämtliche Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis müssen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen.45 Die Niederlassungserlaubnis fasst die früheren Verfestigungsstufen „unbefristete Aufenthaltserlaubnis“ (§ 24 AuslG 1990) und „Aufenthaltsberechtigung“ (§ 27 AuslG 1990) zusammen und regelt einen einheitlichen Verfestigungstitel, der grundsätzlich nach fünf Jahren Besitz der Aufenthaltserlaubnis unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG auf Antrag erworben wird. Das frühere Stufensystem ist damit aufgehoben. Die Niederlassungserlaubnis gilt unbefristet. Die Geltungsdauer ist damit nicht begrenzt und kann auch nicht durch nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) befristet werden. Ebenso wenig dürfen der Niederlassungserlaubnis zwecks Befristung aufschiebende oder auflösende Bedingungen beigegeben werden, da die Anordnung von Nebenbestimmungen grundsätzlich unzulässig ist (§ 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung jeder nichtselbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeit (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt., § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs. AufenthG) und darf mit 45 BVerwG, InfAuslR 2002, 281 (282). 28 Ausnahme eines Verbotes bzw. einer Beschränkung der politischen Betätigung nach § 47 AufenthG (§ 9 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) und einer wohnsitzbeschränkenden Auflage im Falle des § 23 Abs. 2 Satz 2 AufenthG grundsätzlich nicht mit Nebenbestimmungen versehen werden, es sei denn, das AufenthG ordnet diese ausdrücklich an (§ 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis verleiht immer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht (Nr. 9.1.1 Satz 3 VAH). Damit löst sich die Akzessorietät des bisherigen Aufenthaltstitels auf. § 8 Abs. 1 AufenthG ist nicht mehr anwendbar. Unklar ist allerdings, ob die Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG ein dauerhaftes eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt oder konzeptionell an den asylrechtlichen Status gebunden bleibt. Der Fortfall der Erteilungsvoraussetzungen führt nicht zur Zurückstufung zur befristeten Aufenthaltserlaubnis. Vielmehr kann die Niederlassungserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des § 52 AufenthG widerrufen werden. Der Wegfall der Erteilungsvoraussetzungen ist kein Widerrufsgrund. Die Erlöschensgründe des § 51 AufenthG gelten allerdings auch für die Niederlassungserlaubnis. Durch Ausweisung (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) erlischt danach die Niederlassungserlaubnis. Es ist allerdings der erhöhte Ausweisungsschutz zu beachten (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Wer einen längeren, sechs Monate übersteigenden Auslandsaufenthalt beabsichtigt und nicht die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 AufenthG erfüllt, muss zur Vermeidung des Verlusts des Aufenthaltsrechts den Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 7AufenthG stellen, auf den er einen Sollanspruch hat (§ 51 Abs. 4 AufenthG). Gegen derartige Verlustfolgen schützt letztendlich nur die Einbürgerung. Andererseits setzt die Einbürgerung kein Stufenverhältnis dergestalt voraus, dass vor der Einbürgerung zunächst eine Niederlassungserlaubnis erworben werden müsste (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG). Die Niederlassungserlaubnis wird zumeist aufgrund eines gesetzlich geregelten Rechtsanspruchs erworben. In einigen Sonderfällen steht ihre Erteilung im behördlichen Ermessen (§ 19, § 21 Abs. 4 Satz 2, § 26 Abs. 4 AufenthG). In allen Fällen sind die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG neben den spezifischen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG zu erfüllen. Für Flüchtlinge, Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte greift jedoch die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein. Von den allgemeinen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG werden in einer Reihe von Fällen bedeutsame Ausnahmen von den einzelnen Voraussetzungen oder insgesamt (vgl. z.B. § 26 Abs. 3 AufenthG) zugelassen. 2. Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis (§ 9 Abs. 2 bis 4 AufenthG a) Allgemeines Die in § 9 Abs. 2 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen sind zusätzlich zu den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG zu prüfen. Anders als § 5 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthG erkennt § 9 Abs. 2 AufenthG keine atypischen Ausnahmesituationen an, lässt jedoch bedeutsame Ausnahmen im Blick auf einzelne Voraussetzungen kraft Gesetzes zu (§ 19, § 21 Abs. 4, § 23 Abs. 2, § 28 Abs. 2, § 35, § 38 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis richtet sich in diesen Fällen ausschließlich nach den dort genannten Voraussetzungen und den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5. § 9 Abs. 2 AufenthG ist hingegen auf die Sonderfälle nicht anwendbar (Nr. 9.1.2 Satz 2 und 3 AufenthG-VwV).. Für die unbefristete Aufenthaltserlaubnis des alten Rechts hatte das BVerwG entschieden, es bestehe nicht lediglich ein Anspruch auf Erteilung „zu einem beliebigen Zeitpunkt“, sondern 29 auch auf Legalisierung des aufenthaltsrechtlichen Status für die Vergangenheit. 46 Daher konnte ein Antragsteller, der auf seinen Antrag eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung für die Zukunft erhalten hatte, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die unbefristete Erlaubnis auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hatte.47 An dieser Rechtsprechung ist auch für die Niederlassungserlaubnis festzuhalten. Notfalls ist für den Fall, dass über den rechtzeitig mit den gesetzlich geforderten Nachweisen gestellten Antrag nicht unverzüglich entschieden worden ist, auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis ex tunc zu klagen.48 Die rückwirkende Erteilung hat zur Folge, dass der Antragsteller so zu behandeln ist, dass er seit dem Zeitpunkt der Rückwirkung im Besitz der Niederlassungserlaubnis ist. b) Besitz der Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) Grundlegende Voraussetzung für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis ist der ununterbrochene Besitz der Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren. Hochqualifizierten kann von vornherein eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden (§ 19 Abs. 1 AufenthG). Für Asylberechtigte und Flüchtlinge, selbständig Erwerbstätige sowie deutsch-verheiratete Antragsteller reicht der dreijährige Besitz der Aufenthaltserlaubnis aus. Dabei wird im ersten Fall vorausgesetzt, dass das Bundesamt mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme nicht vorliegen (§§ 26 Abs. 3, 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Für die anderen Personen, die aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis besitzen (vgl. § 25 Abs. 3 und 5 AufenthG), sind sieben Jahre Besitz der Aufenthaltserlaubnis gefordert (§ 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Insoweit sind die Anrechnungsregeln des § 26 Abs. 4 Satz 2 und § 102 Abs. 2 AufenthG zu beachten. Bei mehreren Asylverfahren wird nur die Dauer des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unmittelbar vorangegangenen Asylverfahrens berücksichtigt. Im Zeitpunkt der Entscheidung muss der Besitz der Aufenthaltserlaubnis noch andauern. Gefordert wird ein ununterbrochener Besitz von fünf Jahren. § 85 AufenthG findet auch im Rahmen des § 9 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG Anwendung.49 Damit wird allerdings nicht die zeitliche Lücke, die durch die kurzfristige Unterbrechung entstanden ist, angerechnet Denn angerechnet werden können nur rechtmäßige Aufenthaltszeiten. Nicht unterbrochen wird der Besitz der Aufenthaltserlaubnis bei rechtzeitiger Verlängerung der Geltungsdauer wegen der Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG. Im Falle der Versagung der Verlängerung der Geltungsdauer tritt dann keine Unterbrechung ein, wenn die Behörde von sich aus oder aufgrund gerichtlicher Verpflichtung die Geltungsdauer verlängert (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Zeiten des Besitzes eines nationalen Visums werden angerechnet (§ 6 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Unterbrochen wird der Besitz der Aufenthaltserlaubnis durch einen Auslandsaufenthalt, der nach Maßgabe des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt. Reist der Betroffene erneut ein und erhält er eine Aufenthaltserlaubnis, werden auf den anschließend gestellten Antrag auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis die Zeit des früheren Besitzes der Aufenthaltserlaubnis oder 46 BVerwG, NVwZ 1996, 1225 (1226) = EZAR 017 Nr. 9; BVerwG, NVwZ 1998, 191 (192) = EZAR 015 Nr. 15; BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485; ebenso Richter, NVwZ 1999, 726 (727); dagegen Renner, NVwZ 1993, 729 (733). 47 BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485 (486). 48 BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485 (486). 30 Niederlassungserlaubnis, wenn der Antragsteller im Zeitpunkt der Ausreise im Besitz einer Niederlassungserlaubnis war, abzüglich der Zeit der dazwischen liegenden Auslandsaufenthalte, die zum Erlöschen der Niederlassungserlaubnis führten, angerechnet. Angerechnet werden höchstens vier Jahre (§ 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Ist die Zeit des Auslandsaufenthaltes länger als die Voraufenthaltszeit, werden danach keine Zeiten angerechnet (Nr. 9.4.3.1 Satz 3 VAH). Ist für die Erlangung der Niederlassungserlaubnis eine kürzere Dauer als fünf Jahre erforderlich, kann bei entsprechend langer Voraufenthaltszeit bereits unmittelbar nach der Einreise die Niederlassungserlaubnis erteilt werden (Nr. 9.4.3.1 Satz 4 VAH). Führt der Auslandsaufenthalt nicht zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts, werden höchstens sechs Monate für jeden Auslandsaufenthalt, der nicht zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führte, angerechnet (§ 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG). Die Anrechnung ist nur möglich, wenn der Antragsteller während des Auslandsaufenthaltes im Besitz der Aufenthaltserlaubnis war. War die Aufenthaltserlaubnis während des Auslandsaufenthaltes wegen Ablauf der Geltungsdauer erloschen, kann die Zeit danach nicht angerechnet werden (Nr. 9.4.2 VAH). Daraus folgt, dass ein nur vorübergehender Auslandsaufenthalt, der nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder Nr. 7 AufenthG zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt, auf die erforderliche Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG angerechnet wird. Läuft während eines derartigen Auslandsaufenthaltes, der als solcher nicht zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt, die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis ab, wird die Zeit danach nicht angerechnet. Die Behörde kann aber nach § 85 AufenthG die Unterbrechung heilen, sodass die Zeit ab Verlängerung der Geltungsdauer berücksichtigt wird. Den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis stehen diejenigen Zeiten gleich, in denen der Antragsteller zwar keinen Aufenthaltstitel besessen, aber nach der von der Ausländerbehörde oder dem Verwaltungsgericht inzident vorzunehmenden Prüfung einen Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis gehabt hat.50 Nicht angerechnet werden Zeiten der Untersuchungshaft und anschließenden Strafhaft, der fiktiven Abschiebungsaussetzung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG und der Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Demgegenüber sind nach § 85 AufenthG außer Betracht gebliebene Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unschädlich, d.h., diese Zeiten sind auf die geforderte Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis anzurechnen. Auf die Art und Rechtsgrundlage der Aufenthaltserlaubnis kommt es grundsätzlich nicht an. Für generelle Ausnahmen fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmungen. Deshalb eröffnet eine nach dem AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis unabhängig von dem ihr zugrunde liegenden Erteilungsgrund den Zugang zur Verfestigung. Für die Aufenthaltsbefugnis enthalten § 26 Abs. 4, § 102 Abs. 2, § 104 Abs. 2 AufenthG spezielle Übergangsregelungen. Daraus folgt, dass Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbefugnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht berücksichtigt werden können, da die Verfestigung insoweit über § 26 Abs. 4 AufenthG speziell geregelt wird. Unklar war, ob Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbewilligung vor dem 31. Dezember 2004 angerechnet werden können. Die Verwaltungspraxis lehnte dies bislang ab. Der Gesetzgeber hatte zwar zunächst lediglich für die Fortgeltung der Aufenthaltsbewilligung über § 101 Abs. 2 AufenthG eine Übergangsregelung getroffen. Daraus konnten keine Anhaltspunkte für die Anrechnung bei der Verfestigung entnommen werden. Die frühere Rechtsprechung hatte 50 BVerwGE 118, 166 (169), mit Verweis auf BVerwGE 115, 352 (356). 31 entscheidungserheblich darauf abgestellt, ob der Antragsteller im Zeitpunkt der Behördenentscheidung im Besitz einer verlängerungsfähigen Aufenthaltserlaubnis war. Unter dieser Voraussetzung wurden auch Zeiten einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 4 AAV angerechnet, obwohl nach § 4 Abs. 6 AAV die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis gesperrt war. Als maßgebend für die Anrechung wurde angesehen, dass „eine Aufenthaltsverfestigung durch jede Eingliederung des Ausländers in das wirtschaftliche und soziale Leben der Bundesrepublik Deutschland“ eintrete. Die für die Fünfjahresfrist maßgebende „Integrationskomponente“ werde auch dadurch erfüllt, dass der Betroffene sich zunächst nur befristet im Bundesgebiet hätte aufhalten dürfen. Eine Unterscheidung nach verschiedenen Aufenthaltszwecken sei mithin nicht geboten.51 Dies spricht dafür, alle Formen der früheren Aufenthaltsgenehmigung bei der Anrechnung unter der Voraussetzung zu berücksichtigen, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Entscheidung im Besitz einer verlängerungsfähigen Aufenthaltsgenehmigung war. Nunmehr hat der Gesetzgeber indes bestimmt, dass die Zeit eines rechtmäßigen Aufenthaltes zum Studium oder zur Ausbildung nur zur Hälfte angerechnet wird (§ 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG). Ursprünglich ließen sich dem AufenthG keine Regelungen entnehmen, die eine Berücksichtigung der Aufenthaltserlaubnis nach § 16 AufenthG im Rahmen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ausschlossen.52 Die Vorschrift des § 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG ist so gefasst, dass er sowohl die Aufenthaltsbeweilligung des § 28 AuslG 1990 wie auch die Aufenthaltserlaubnis nach § 17, § 17 AufenthG erfasst. Sicherung des Lebensunterhalts (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 in Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG) Der Gesetzgeber erachtet die Unterhaltssicherung für derart zentral, dass er dieses Erfordernis wiederholt, obwohl bereits § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG dies verlangt und bei der Entscheidung über die Niederlassungserlaubnis die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen ohnehin zu beachten sind. Maßgebend für den Begriff der Unterhaltssicherung ist die Legaldefinition in § 2 Abs. 3 AufenthG. Für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können, entfällt die Nachweispflicht (§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG). c) d) Kein Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) Grundsätzlich sind zusätzlich zu den besonderen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu berücksichtigen. Daher ist bei der Entscheidung über die Niederlassungserlaubnis auch zu prüfen, ob der Antragsteller für seine Familienangehörigen oder für sonstige Haushaltsangehörige Sozialleistungen in Anspruch nimmt (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 in Verb. mit § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Dabei hat die Ausländerbehörde aber zusätzlich zu prüfen, ob der Sozialleistungsbezug von Familienangehörigen den mit dem abstrakten Regelerteilungsgrund verbundenen Zweck überhaupt berührt. Das kommt dann in Betracht, wenn die begehrte Aufenthaltsverfestigung auch tatsächlich die mit dem Regelerteilungsgrund geschützten fiskalischen Interessen der Bundesrepublik beeinträchtigt. Das ist regelmäßig und typischerweise der Fall, wenn der Ehegatte und die minderjährigen ledigen Kinder des Antragstellers Sozialleistung beziehen, weil deren aufenthaltsrechtlicher Status mit dem Aufenthaltsrecht des Vaters und Ehemannes 51 52 Nieders.OVG, AuAS 2002, 26 (27). Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 14; a.A. Nr. 9.2.1.2 VAH. 32 zusammenhängt und nach § 9 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verfestigt wird, falls diesem ein Niederlassungserlaubnis erteilt wird.53 Eine in diesen Fällen mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis notwendigerweise verbundene „Verfestigung“ auch des Sozialleistungsbezugs der Familienangehörigen widerspricht den fiskalischen Interessen der Bundesrepublik. Das muss für alle Fallkonstellationen gelten, in denen die Aufenthaltsverfestigung zugleich Auswirkungen auf die Aufenthaltsrechte von Familienangehörige und andere Personen hat, deren Sozialhilfebezug sich der Antragsteller im Sinne eines abstrakten Regelerteilungsgrundes entgegen halten lassen muss. In allen anderen Fällen jedoch, in denen der aufenthaltsrechtliche Status dieses Personenkreises – und damit auch der den ausländerrechtlichen Anforderungen zuwiderlaufende Sozialleistungsbezug – von der Rechtsstellung des Antragstellers unabhängig ist, werden die fiskalischen Interessen der Bundesrepublik tatsächlich nicht nachteilig betroffen und steht eine teleologische Auslegung der Berücksichtigung des Sozialleistungsbezugs entgegen.54 Das gilt beispielsweise auch, wenn ein deutscher Familienangehöriger des Antragstellers Sozialleistungen in Anspruch nimmt. Unter solchen Umständen kann der nach dem abstrakten Gesetzeswortlaut vorliegende Ausweisungsgrund des „Sozialleistungsbezugs“ in seiner Funktion als Regelerteilungsgrund einer Aufenthaltsverfestigung nicht entgegenstehen. Leiten die ausländischen Eltern ihr Aufenthaltsrecht in keiner Weise von dem Antragsteller ab und hat die Erteilung der Niederlassungserlaubnis weder auf das Aufenthaltsrecht der Eltern des Antragstellers noch auf deren Sozialleistungsbezug Auswirkungen, hat die dem Antragsteller erteilte Niederlassungserlaubnis keine rechtlich oder tatsächlich erhebliche Rückwirkung auf die Situation der Eltern.55 e) Altersvorsorge (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) aa) Anwendungsbereich der Vorschrift § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG lehnt sich an § 27 Abs. 2 Nr. 3 AuslG 1990 an. Neu ist die Anrechnungsregel nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 2. Hs. AufenthG. Im Gesamtergebnis bedeutet diese Regelung aber eine Verschärfung der Verfestigungsregelungen. Da die Zwischenstufe der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis abgeschafft worden ist, für die das Erfordernis der Altersvorsorge nicht galt, wird den Antragstellern, die keine 60 Monate Pflichtbeiträge oder vergleichbare Aufwendungen nachweisen können, die Verfestigung verweigert mit der Folge, dass bis zum Nachweis der Altersvorsorge bei jeder Verlängerung die Ersterteilungsvoraussetzungen nachgewiesen werden müssen (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG). Da der Einbürgerungsanspruch nicht den Nachweis der Altersvorsorge voraussetzt (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG), kann anstelle der Niederlassungserlaubnis die Einbürgerung beantragt Für Asylberechtigte und Flüchtlinge sowie selbständig Erwerbstätige gilt dieses Erfordernis nicht (vgl. § 26 Abs. 3, § 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Antragsteller, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis waren, müssen nicht den Nachweis der Altersvorsorge erbringen (§ 104 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies gilt auch für Antragsteller, die sich in einer Ausbildung befinden, die zu einem anerkannten schulischen oder beruflichen Bildungsabschluss führt (§ 9 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Maßgebend ist, dass die Schulausbildung mit einem Abschluss endet. Deshalb wird auch der Besuch der Berufsfachschule berücksichtigt, nicht aber ein Praktikum, Volontariat oder 53 54 55 BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142). BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142). BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142 f.). 33 Berufsvorbereitungsmaßnahmen. Die Ausbildung muss sich allgemein für den Abschluss eignen und das Erreichen des Abschlusses darf nicht von vornherein unmöglich sein. Es ist aber keine individuelle Erfolgsprognose anzustellen. Ebenso entfällt die Nachweispflicht für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können (§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG). bb) Umfang der Altersvorsorge Die Versorgung im Alter braucht anders als der laufende Unterhalt nicht gesichert sein. Anwartschaften müssen aber in der vorgeschriebenen Form und Höhe nachgewiesen werden. Die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG geforderten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung ergeben eine Anwartschaft auf Leistungen bei Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit sowie Erreichen des Rentenalters. Die ersatzweise zugelassene private Vorsorge muss nach Art und Höhe ähnliche Leistungen gewährleisten. „Vergleichbar“ sind alle Werte. Die private Altersvorsorge muss nach den gegenwärtigen Verhältnissen und Berechnungsmethoden Bezüge erwarten lassen, die ähnlich wie die gesetzliche Rente dem bisherigen Lebenszuschnitt angemessen sind. Die weitere Entrichtung von Beiträgen wird unterstellt, indes nicht verlangt und geprüft. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung führen zum Erwerb eines Anspruchs auf Rente, einerseits für den Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben mit Erreichen der entsprechenden Altersgrenze sowie andererseits im Falle eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben infolge Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Diese beiden Ansprüche bilden den Maßstab für die Vergleichbarkeit der gesetzlichen mit der privaten Altervorsorge (Nr. 9.3.2.1 Satz 4 VAH). Der Nachweis von Aufwendungen für einen Anspruch auf Versicherungsleistungen, die denen aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar sind, setzt nicht voraus, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis einen Versorgungsanspruch erworben hat, der den Lebensunterhalt ausreichend sichert. Entscheidend ist, ob unter der Voraussetzung, dass die private Altersvorsorge weitergeführt wird, Ansprüche in gleicher Höhe erworben werden, wie sie entstehen würden. wenn der Antragsteller sechzig Monatsbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hätte und künftig weitere Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten würde (Nr. 9.2.3.1 Satz 1 und 2 VAH). Ist der Rentenfall bereits eingetreten, kommt es nur auf die Entrichtung der Beiträge für 60 Monate in der Vergangenheit an. Die Höhe der tatsächlichen Rentenleistungen hat allerdings für die Sicherung des Lebensunterhalts Bedeutung. Grundlage für die Ermittlung sowohl im Blick auf die gesetzliche wie auch auf die private Altersvorsorge ist ein Einkommen, mit dem der Lebensunterhalt des Antragstellers gesichert ist (Nr. 9.2.3.1 Satz 5 VAH). Danach reicht es für den Nachweis der Altersvorsorge aus, dass der Antragsteller im fraglichen Zeitraum ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ausgeübt hat, dessen monatliche Einkünfte oberhalb des sozialhilferechtlichen Regelsatzes liegen. Entsprechendes gilt für die private Altersvorsorge. Anzurechnen sind Zeiten der Kinderbetreuung und der häuslichen Pflege. Voraussetzung ist, dass Ausfallzeiten aufgrund einer Erwerbstätigkeit oder aus sonstigen Gründen versicherungsrechtlich überhaupt anzusetzen sind. Rentenrechtliche Zeiten, die allein durch Kindererziehung angerechnet werden, genügen dann nicht, wenn überhaupt keine Versicherungsansprüche aufgrund eigener Beitragsleistungen im Rahmen einer Erwerbstätigkeit erlangt werden, weil der Antragsteller niemals im Inland aufgrund einer Erwerbstätigkeit Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder an berufsständische Versorgungseinrichtungen entrichtet hat oder entsprechend in geeigneter Weise privat Vorsorge getroffen hat (Nr. 9.2.3.2 VAH). 34 f) Straffällige Antragsteller (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) Der Erteilung der Niederlassungserlaubnis dürfen keine Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unter Berücksichtigung der Schwere oder der Art des Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder eine vom Antragsteller ausgehende Gefahr entgegenstehen. Abzuwägen sind diese Gründe mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts und den im Bundesgebiet bestehenden Bindungen. Damit hat der Gesetzgeber die früheren klaren Regelungen durch eine offene Klausel ersetzt. Es besteht allerdings die Gefahr, dass nunmehr die Ausländerbehörden sich von den früheren Maßstäben lösen werden und auch bei lediglich geringfügiger Straffälligkeit die Niederlassungserlaubnis versagen werden. Dies wäre mit dem Zweck der Neuregelung aber nicht vereinbar. Der Gesetzgeber begründet die neue offene Klausel mit den früheren Unklarheiten. Mit der früheren Regelung habe ein Signal gesetzt werden sollen, dass „erhebliche Straftaten“ den Zugang zur Verfestigung sperrten. Neben der Berücksichtigungsregel bezogen auf geringfügige Straftaten hätte allerdings noch der Regelerteilungsgrund des Vorliegens eines Ausweisungsgrundes geprüft werden müssen. Das Vorhandensein von Ausweisungsgründen hätte danach in der Regel und erhebliche Straftaten oberhalb der in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG a.F. aufgezeigten Grenze stets der Erteilung der Niederlassungserlaubnis entgegengestanden. Anforderungen, die für jede Aufenthaltserlaubnis gegolten hätten, hätten erst recht für die Niederlassungserlaubnis Anwendung finden müssen. Dem habe indes die Rechtsprechung entgegengestanden. Nunmehr werde nach dem Vorbild der Daueraufenthaltsrichtlinie anstelle eines starren Kriteriums eine Abwägung vorgeschrieben. Dadurch würde die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG der nach § 9a AufenthG angeglichen. g) Ordnungsgemäße Beschäftigung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) Arbeitnehmer müssen den Nachweis führen, dass ihre Beschäftigung erlaubt ist. § 18 AufenthG regelt die entsprechenden Voraussetzungen. Arbeitnehmer müssen über einen Aufenthaltstitel verfügen, der ihnen die Beschäftigung erlaubt (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Erlaubnis muss unbefristet (z.B. aufgrund einer Vorschrift des AufenthG oder aufgrund des § 46 Abs. 2 BeschV oder § 9 BeschVerfV) vorliegen. Arbeitnehmer im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG ist jeder, der eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 2 AufenthG ausübt. Für Ehegatten und Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft genügt es, wenn einer der Partner diese Voraussetzung erfüllt (§§ 9 Abs. 3 Satz 1, 27 Abs. 2 AufenthG). Zwar verweist § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG. Das Erfordernis der ordnungsgemäßen Beschäftigung gilt jedoch nur, soweit die an einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung leidenden Antragsteller Arbeitnehmer sind. Diese Auslegung des Gesetzes liegt in der Ratio der Ausnahmeregelungen für diesen Personenkreis. h) Sonstige Berufsausübungserlaubnisse (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG) Wie § 24 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 verlangt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG, dass der Antragsteller im Besitz der sonstigen für eine dauerhafte Beschäftigung erforderlichen Erlaubnisse ist. Diese Regelung betrifft selbständig erwerbstätige Antragsteller (vgl. auch § 21 AufenthG). Sofern in diesem Zusammenhang für die Ausübung bestimmter Berufe besondere Erlaubnisse (z.B. Notare, Rechtsanwälte, Ärzte, Heilpraktiker, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker, gewerberechtliche Eraubnisse) vorgeschrieben sind, ist der entsprechende Nachweis zu führen. Die Antragsteller müssen danach im Besitz der jeweils erforderlichen besonderen Berufsausübungserlaubnisse für eine dauernde Tätigkeit sein. Einer Dauererlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit steht es gleich, wenn die Berufsausübung wie etwa im Einzelhandel ohne Genehmigung erlaubt ist. Die Berufsausübungserlaubnis muss dem Antragsteller eine dauerhafte Berufsausübung erlauben. Ungeachtet einer etwaigen 35 Befristung liegt eine Erlaubnis zur dauernden Berufsausübung vor, wenn durch die Befristung lediglich bezweckt wird, die Berufstauglichkeit erneut zu prüfen (Nr. 9.2.6.2 Satz 1 VAH). Einer Dauererlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit steht es gleich, wenn die Berufsausübung wie etwa im Einzelhandel ohne Genehmigung erlaubt ist (Nr. 9.2.6.2 Satz 2 VAH). Für Ehegatten und Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft genügt es, wenn einer der Partner diese Voraussetzung erfüllt (§§ 9 Abs. 3 Satz 1, 27 Abs. 2 AufenthG). Zwar wird in § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG hingewiesen. Den Nachweis sonstiger Berufsausübungserlaubnisse haben jedoch nur die an einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung leidenden Antragsteller zu erbringen, die einer entsprechenden Erwerbstätigkeit nachgehen. Diese Auslegung des Gesetzes liegt in der Ratio der Ausnahmeregelungen für diesen Personenkreis. i) Sprachliche Integrationsvoraussetzungen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG) Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG setzt die Erteilung der Niederlassungserlaubnis voraus, dass der Antragsteller „über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt“. Die Neuregelung bedeutet eine gravierende Verschärfung gegenüber dem alten Recht. Danach setzte die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Antragsteller über Deutschkenntnisse verfügte, die eine mündliche Verständigung auf einfache Art ermöglichten (vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990). Für die Aufenthaltsberechtigung wurden keine weiteren Voraussetzungen gefordert. Dazu wurde allgemein die persönliche Vorsprache bei der Behörde verlangt (§ 70 Abs. 4 Satz 1 AuslG 1990). Der Antragsteller brauchte die deutsche Sprache weder zu beherrschen noch Deutsch lesen oder schreiben können. Vorausgesetzt wurde allerdings, dass sich der Antragsteller im Alltagsleben ohne nennenswerte Schwierigkeiten verständigen konnte. Eine schriftliche Sprachprüfung war nicht zulässig. Nunmehr verlangt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG den Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse und gleicht damit die Nachweispflichten den entsprechenden Voraussetzungen im Einbürgerungsverfahren an (§ 11 Nr. 1 StAG). Die Fähigkeit, sich auf einfache Weise mündlich verständigen zu können, reicht nicht aus.185 Der Gesetzgeber bewertet ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache als „wesentliche Integrationsvoraussetzung“ und als Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Danach liegen ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vor, wenn sich der Antragsteller im täglichen Leben einschließlich der Kontakte mit Behörden in seiner deutschen Umgebung sprachlich zurechtzufinden vermag und mit ihm ein seinem Alter und Bildungsstand entsprechendes Gespräch geführt werden kann. Dazu gehört nach § 3 Abs. 2 IntV auch, dass der Antragsteller einen deutschsprachigen Text des alltäglichen Lebens lesen, verstehen und die wesentlichen Inhalte mündlich wiedergeben kann (Leseprobe). Ein Text des täglichen Lebens ist z.B. ein Zeitungsartikel oder eine Werbebroschüre. Die Definition des zu fordernden Sprachniveaus orientiert sich an dem gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und wird auf der Stufe B 1 der selbständigen Sprachanwendung festgelegt (Nr. 9.2.7 Satz 6 AufenthG) Die Leseprobe wird durch das Zeugnis über den erfolgreichen Abschluss eines Integrationskurses ersetzt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 43–45 AufenthG). Allerdings haben nur nach dem In-Kraft-Treten des AufenthG erstmals einreisende Antragsteller Anspruch auf 36 Teilnahme am Integrationskurs (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Bei den anderen Antragstellern wird wie im Einbürgerungsverfahren eine Leseprobe durchgeführt werden. Ist vor dem 1. Januar 2005 ein Antrag auf Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (§§ 24 ff. AuslG 1990) oder Aufenthaltsberechtigung (§ 27 AuslG 1990) gestellt worden, reicht der Nachweis aus, dass die Verständigung in deutscher Sprache mündlich auf einfache Art (vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990) möglich ist (vgl. § 104 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im Falle der Entscheidung gilt der Aufenthaltstitel als Niederlassungserlaubnis (§ 104 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 101 Abs. 1 AufenthG). Ebenso reicht bei den Antragstellern, die am 1.1.2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, die Fähigkeit aus, sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen zu können (§ 104 Abs. 2 AufenthG). Darüber hinaus wird von der erhöhten Sprachkompetenz abgesehen, wenn der Antragsteller sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann und zugleich entweder nur einen geringen Integrationsbedarf hat (§ 44a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG) oder dessen Teilnahme am Integrationskurs auf Dauer unmöglich oder unzumutbar ist (§ 44a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG). Eine zwingende Ausnahmeregelung enthält § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung ausreichende Sprachkenntnisse nicht nachweisen können. Die Art der Krankheit oder Behinderung muss ursächlich für die fehlende Sprachkompetenz sein. Dieser Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass auch behinderten Antragstellern eine Aufenthaltsverfestigung möglich sein muss. In der Gesetzesbegründung wird darauf hingewiesen, dass insoweit Fälle vorkommen, in denen auch durch die sinnvolle Berücksichtigung der spezifischen Einschränkungen bei Art und Inhalt der Prüfungen nicht geholfen werden könne, weil Behinderte überhaupt nicht in der Lage seien, Deutsch zu sprechen oder Kenntnisse der deutschen Gesellschaft zu erwerben. Im Übrigen kann zur Vermeidung einer Härte eine Ausnahme zugelassen werden (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Eine Härte kann z.B. vorliegen, wenn eine körperliche, geistige oder seelische Erkrankung oder Behinderung die Erfüllung oder Voraussetzung zwar nicht unmöglich macht, aber dauerhaft wesentlich erschwert, wenn der Antragsteller bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war, wenn wegen der Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen der Besuch eines Integrationskurses auf Dauer unmöglich oder unzumutbar war. In Betracht kommen auch Fälle nach § 44a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG, in denen sich der Antragsteller nicht auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann, sodass die Ausnahmeregelung nach § 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG nicht greift. Aus den geltend gemachten nachzuweisenden Gründen muss sich unmittelbar nachvollziehen lassen, dass im Einzelfall eine Erschwernis vorliegt (Nr. 9.2.10.2 VAH). Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AufenthG) Der Nachweis wird durch Vorlage des Zeugnisses über den erfolgreichen Abschluss eines Integrationskurses geführt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Allerdings haben nur nach dem InKraft-Treten des AufenthG erstmals einreisende Antragsteller Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs (§ 44 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Unklar ist, welche Nachweiserfordernisse im Blick auf die anderen Antragsteller bestehen. Auch hier gelten die zwingenden und die nach Ermessen anzuwendenden Ausnahmeregelungen des § 9 Abs. 2 Satz 3–5 AufenthG). Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG nachgewiesen, wenn ein Integrationskurs erfolgreich abgeschlossen wurde. Zur Teilnahme an einem Integrationskurs berechtigt sind jedoch nur die Antragsteller, die erstmals eine Aufenthaltserlaubnis zu den in § 44 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bezeichneten Zwecken oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG erhalten. Damit j) 37 entfällt die Berechtigung für die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes rechtmäßig im Bundesgebiet lebenden Ausländer. Für die Niederlassung reicht deshalb die Verständigung in deutscher Sprache mündlich auf einfache Art aus, wenn wegen erkennbar geringen Integrationsbedarfs (§ 44 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG) oder wegen Nachweises der Teilnahme an vergleichbaren Bildungsangeboten im Bundesgebiet (§ 44a Abs. 2 Nr. 2 AufenthG) kein Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs besteht (§ 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG). Darüber hinaus findet auf alle Antragsteller, die am 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, der herabgestufte Maßstab Anwendung (§ 104 Abs. 2 AufenthG). Deutsch-verheiratete Antragsteller erhalten die Niederlassungserlaubnis abweichend von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG, wenn sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können (§ 28 Abs. 2 Satz 1 2. Hs. AufenthG). Eine zwingende Ausnahmeregelung enthält § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung ausreichende Sprachkenntnisse nicht nachweisen können. Im Übrigen kann zur Vermeidung einer Härte eine Ausnahme zugelassen werden (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Die Ausländerbehörde kann den Antragsteller jedoch unter den Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zur Teilnahme am Integrationskurs auffordern und von der erfolgreichen Teilnahme die Erteilung der Niederlassungserlaubnis abhängig machen. In den Fällen der zwingenden Ausnahmeregelungen der Vorschriften der §§ 9 Abs. 2 Satz 3, 26 Abs. 3, 28 Abs. 2 Satz 1 2. Hs. und 104 Abs. 2 AufenthG hat die Behörde die Aufforderung zu unterlassen und die Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Im Übrigen bleibt abzuwarten, wie das Spannungsverhältnis zwischen der humanitären Härteregelung nach § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG und der Aufforderungsmöglichkeit nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sich in der Verwaltungspraxis gestalten wird. Dies wird sicherlich auch von den verfügbaren und zumutbar erreichbaren Kursplätzen abhängen (§ vgl. § 44a Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 1. Hs. AufenthG). Geht die Ausländerbehörde nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor und kommt der Antragsteller aus von ihm zu vertretenden Gründen seiner Verpflichtung, am Integrationskurs teilzunehmen, nicht nach, hat dies nicht nur eine zehnprozentige Leistungsverkürzung zur Folge (§ 44a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Vielmehr wird in diesem Fall die Niederlassungserlaubnis nicht erteilt und kann auch die Verlängerung der befristeten Aufenthaltserlaubnis versagt werden (§ 44a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 3 AufenthG). Die Behörde hat den Antragsteller auf diese Folgen seiner verschuldeten Nichtteilnahme hinzuweisen (§ 44a Abs. 3 Satz 1 1. Hs. AufenthG). k) Wohnraumerfordernis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 i.V.m. § 2 Abs. 4 AufenthG) 38 Der Antragsteller hat den Nachweis zu führen, dass er über ausreichenden Wohnraum für sich und seine Familienangehörigen verfügt (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 AufenthG). Als ausreichender Wohnraum wird nicht mehr gefordert als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung. Der Wohnraum ist nicht ausreichend, wenn er den auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften hinsichtlich Beschaffenheit und Belegung nicht genügt (§ 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG). Es bleibt damit bei der bisherigen Verwaltungspraxis. Danach muss der Wohnraum einer menschenwürdigen Unterbringung dienen. Eine abgeschlossene Wohnung wird aber nicht verlangt. Eine Gemeinschafts- oder Obdachlosenunterkunft hat allerdings lediglich den Zweck, vorübergehend Abhilfe zu schaffen und wird deshalb als nicht ausreichend angesehen. Eine abgeschlossene Wohnung mit Küche, Bad und WC wird in der Verwaltungspraxis stets als ausreichend angesehen, wenn für jede Person über sechs Jahre zwölf Quadratmeter und für jede Person unter sechs Jahre zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen. Eine Unterschreitung der maßgeblichen Wohnungsgröße um bis zu 10 % ist unschädlich. Kinder unter zwei Jahren werden nicht berücksichtigt (§ 2 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Der Wohnraum insgesamt ist maßgebend. Alle in der Wohnung dauerhaft in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Angehörigen sind in Betracht zu ziehen. Zu berücksichtigen sind nur die tatsächlich mit dem Antragsteller zusammenlebenden Familienangehörigen, nicht jedoch der getrennt lebende Ehegatte sowie das volljährige Kind mit eigener Wohnung. Die Nachweispflicht entfällt für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können (§ 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Dies hat der Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich geregelt, dürfte aber in der Ratio der Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG liegen. l) Anfrage bei den Sicherheitsbehörden bei konkreten Zweifeln (§ 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) Nach § 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG haben die Ausländerbehörden die bei ihnen gespeicherten personenbezogenen Daten an den BND, den MAD, das Zollkriminalamt, an das Landesamt für Verfassungsschutz, das Landeskriminalamt oder die zuständigen Behörden der Polizei zu übermitteln, wenn dies zur Feststellung von Versagungsgründen gemäß § 5 Abs. 4 AufenthG oder zur Prüfung von Sicherheitsbedenken geboten ist. Nach Nr. 73.2.2 VAH ist diese Vorschrift so zu verstehen, dass vor der Erteilung der Niederlassungserlaubnis zwingend die Nachfrage durchzuführen ist. Diese Interpretation des § 72 Abs. 2 Satz 2 AufenthG steht mit dem Gesetzeswortlaut nicht im Einklang. Danach muss die Datenübermittlung geboten sein. Hätte der Gesetzgeber die Regelanfrage einführen wollen, hätte er dies deutlich z.B. durch Verwendung der Formulierung „in der Regel“ oder durch eine zwingende Anweisung wie in § 37 Abs. 2 StAG für die Einbürgerungsbehörden angeordnet. Der Wortlaut von § 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG lässt nur die Auslegung zu, dass konkrete Anhaltspunkte die Anfrage rechtfertigen müssen. Konkrete Anhaltspunkte können nicht aus der bloßen Staatsangehörigkeit des Antragstellers erschlossen werden. VI. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a bis § 9c AufenthG) Mit § 9a bis § 9c AufenthG werden die Vorgaben der Richtlinie 2003/109/EG (Daueraufenthaltsrichtlinie), insbesondere die in Art. 4 bis 8 RL 2003/109/EG enthaltenen . 39 Regelungen, umgesetzt. Neben der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG wird mit § 9a AufenthG die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten eingeführt, die bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen erteilt wird. In die Aufenthaltstitel von Drittstaatsangehörigen, welche im Bundesgebiet diese Rechtsstellung besitzen, ist die Bezeichnung „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ einzutragen (vgl. auch § 2 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, Art. 8 Abs. 3 Satz 3 RL 2003/109/EG). Die Daueraufenthaltsrichtlinie führt mit dem Titel „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ einen europäischen Aufenthaltstitel ein.56 Während einerseits Drittstaatsangehörigen, welche den Titel „Erlaubnis zum DaueraufenthaltEG“ im Bundesgebiet erworben haben, damit Mobilität im Gemeinschaftsgebiet vermittelt wird, wird andererseits langfristig Aufenthaltsberechtigten, denen in einem anderen Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilt wurde, nach § 38a AufenthG im Bundesgebiet Mobilität nach Maßgabe der Bestimmungen in Kapitel III der Richtlinie 2003/109/EG gewährt. VII. Humanitäre Aufenthaltstitel (§ 22 bis 26 AufenthG) Die einzelnen Ansprüche sind in §§ 22 ff. AufenthG geregelt. BVerwGE 140, 332 (Niederlassungserlaubnis) VGH BW, NVwZ-RR 2014, 73 (Niederlassungserlaubnis und Abschiebungsverbote) Nieders.OVG, AuAS 2013, 14 (zu § 25 Abs. 3 AufenthG) BVerwGE 126, 192 = NVwZ 2006, 1418 und OVG Bremen, InfAuslR 2012, 211/OVG Bremen, InfAuslR, InfAuslR 2011, 379/BayVGH, InfAuslR 2013, 28 OVG Bremen, InfAuslR 2013, 427 (zu § 25 Abs. 5 AufenthG). BVerwGE 126, 192 = NVwZ 2006, 1418 und OVG Bremen, InfAuslR 2012, 211/OVG Bremen, InfAuslR, InfAuslR 2011, 379 (alle zu „faktischen Inländern“ im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK/§ 25 Anbs. 5 AufenthG) B. Eilrechtsschutz gegen Versagungsverfügung I. Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Versagungsverfügung nach § 80 Abs. 5 VwGO 1. Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags a) Verfahrensrechtliche Funktion des Antrags auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels Das vorläufige Rechtsschutzsystem im Blick auf die Erteilung und Verlängerung eines Aufenthaltstitels beruht auf den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG näher beschriebenen aufenthaltsrechtlichen Wirkungen des verwaltungsrechtlichen Antrags. Dementsprechend beurteilt sich insbesondere auch die Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags nach Maßgabe dieser Wirkungen. Obwohl im Ausgangspunkt ein Verpflichtungsbegehren, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO das richtige Rechtsmittel, weil dem Antragsteller durch die behördliche Antragsversagung die Vergünstigung der bis dahin bestehenden Aussetzungsoder Erlaubnisfiktion entzogen wird.57 Diese Wirkung lebt nicht wieder auf. Deshalb bezieht 56 Christoph Hauschild, ZAR 2003, 350 (353). 57 Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1992, 168; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87; Hess.VGH, NVwZ 2006, 111, VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (61); beide für § 81 Abs. 4 AufenthG. 40 der Eilrechtsschutz sich nach Wegfall der aufschiebenden Wirkung (§ 84 Abs. 1 AufenthG) nur auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht. An der Zuordnung zum Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ändert dies nichts.58 Daher kann nach übereinstimmender Ansicht nur dann, wenn der Antragsteller noch im Besitz des fiktiven Aussetzungs- oder Aufenthaltsrechtes ist, vorläufiger Rechtsschutz durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels und auf Aussetzung der Vollziehbarkeit erreicht werden.59 Daher ist im Rahmen der Zulässigkeit stets zu prüfen, ob der verwaltungsrechtliche Ersterteilungs- oder Verlängerungsantrag aufenthaltsrechtliche Wirkungen ausgelöst hat. Anders als das frühere Recht, das in Duldungsfiktion (§ 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990) und in Erlaubnisfiktion (§ 69 Abs. 3 AuslG 1990) unterschied und zwischen dem Antrag auf Ersterteilung und Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung keinen Unterschied machte (vgl. § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG 1990), unterscheidet das geltende Recht bei der Erlaubnisfiktion zwischen dem Antrag auf Ersterteilung (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) und dem Antrag auf Verlängerungsentscheidung oder Zweckänderung (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Beim Antrag auf Ersterteilung differenziert das Gesetz zwischen dem während des rechtmäßigen Aufenthaltes gestellten Antrag, der die Erlaubnisfiktion begründet (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG), und dem verspätet gestellten Antrag, durch den die Aussetzungsfiktion bewirkt wird (§ 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Eine derartige Unterscheidung wird beim Verlängerungsantrag nur eingeschränkt gemacht. Vielmehr begründen nur die rechtzeitig gestellten Verlängerungsanträge, die verspätet gestellten hingegen nur zur Vermeidung einer unbilligen Härte die Fortgeltungsfiktion (§ 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). b) Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 3 AufenthG) Beantragt ein Antragsteller, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels, gilt sein Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Voraussetzungen für die Begründung der Erlaubnisfiktion sind damit die rechtmäßige Einreise und der rechtmäßige Aufenthalt sowie der fehlende Besitz eines Aufenthaltstitels. Erfasst werden damit ausschließlich die Fälle nach § 15 bis § 30 AufenthV. Der mit einem Visum einreisende Antragsteller, das einen dauerhaften Aufenthalt erlaubt, reist hingegen mit einem Aufenthaltstitel ein. Der anschließend im Inland gestellte Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels ist rechtlich ein Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels bzw. auf Zweckänderung, welcher die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG auslöst. Da der Gesetzgeber das Visum ausdrücklich als Aufenthaltstitel bezeichnet, ist in diesem Fall in der Antrag stellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ein Verlängerungsantrag zu sehen (vgl. auch § 39 Nr. 1 AufenthV). Auch der sichtvermerkspflichtige Drittstaatsausländer, der mit einem Besuchervisum einreist, reist mit einem Aufenthaltstitel ein (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). In diesem Fall löst unabhängig von den damit verbundenen materiellen Folgen der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zunächst die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG aus. Es handelt sich um einen Antrag auf Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels (Zweckänderung). Nach § 81 Abs. 4 AufenthG werden beide Anträge einheitlichen Rechtswirkungen unterworfen. Der Gesetzgeber wollte mit den Neuregelungen bewusst die überdifferenzierten Regelungen des früheren Rechts aufheben. Die Fälle, in denen ein Aufenthaltstitel nach der Einreise eingeholt werden kann, sind in § 39 bis 41 AufenthV geregelt. Danach handelt es Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90. Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; 22 Nr. 5; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5; Hess. VGH, InfAuslR 1999, 189 (190); VGH BW, EZAR 024 Nr. 7; VGH BW, InfAuslR 1992, 168; 1992, 352; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); OVG Hamburg, NVwZ-RR 1996, 709; OVG NW, EZAR 030 Nr. 2; OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 51; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 50. 58 59 41 sich um Antragsteller, die ohne ein Visum einreisen und nach der Einreise den Antrag stellen dürfen. Der Streit in der früheren Rechtsprechung, ob die Einreise ohne das erforderliche Visum unerlaubt ist und deshalb keine Erlaubnisfiktion begründet, ist nach geltendem Recht überholt. Die Wirkungen eines derartigen Antrags regelt § 81 Abs. 4 AufenthG. Der Gesetzgeber will, dass allen Antragstellern, die ohne Visum rechtmäßig einreisen und anschließend den Antrag auf Ersterteilung des Aufenthaltstitels stellen dürfen, unabhängig von ihren subjektiven Vorstellungen bei der Einreise hinsichtlich ihres weiteren Aufenthaltes, die Erlaubnisfiktion zugute kommt. Insbesondere visumfreie Drittstaatsausländer nach Anhang II der EUVisaVO reisen rechtmäßig ein, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen. Für den Eintritt der Fiktionswirkung ist allein maßgebend, dass der Antragsteller sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Dies ist für die Geltungsdauer des visumfreien Aufenthaltes (vgl. Art. 20 SDÜ) der Fall. Im Übrigen ist der Antrag „unverzüglich“ (vgl. § 81 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), also ohne schuldhaftes Verzögern, zu stellen. Für die Fälle des § 41 Abs. 1 und 2 AufenthV ist der Antrag innerhalb von drei Monaten nach der Einreise zu beantragen (§ 41 Abs. 3 AufenthV). Wird der Antrag verspätet gestellt, greift die Aussetzungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ein. Der Aufenthalt gilt bis zur behördlichen Entscheidung als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Der Eintritt der Fiktionswirkung ist nicht davon abhängig, dass der Antrag bei der für den Antragsteller örtlich zuständigen Ausländerbehörde gestellt wird.60 Im zeitlichen Rahmen ihrer Geltung ist die Erlaubnisfiktion räumlich unbeschränkt und berechtigt den Antragsteller zur Wiedereinreise. Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Die Geltungsdauer der Bescheinigung hat keinen Einfluss auf den kraft Gesetzes bis zur behördlichen Entscheidung (vgl. § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) als erlaubt geltenden Aufenthalt. Vielmehr hat die Bescheinigung lediglich deklaratorische Funktion.61 Versäumt der Antragsteller innerhalb des zeitlichen Rahmens der Erlaubnisfiktion die Beantragung der Verlängerung der Fiktionsbescheinigung, ist dies ohne Einfluss auf die Rechtmäßigkeit seines Aufenthaltes. Die Fiktionswirkung ist antragsbezogen. Entscheidet die Ausländerbehörde nicht über den Antrag und lehnt stattdessen einen zu einem früheren Zeitpunkt gestellten Antrag ab, beseitigt dies nicht die eingetretene Fiktionswirkung.62 Wird der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels abgelehnt, wird dem Antragsteller damit eine ihn aufenthaltsrechtlich begünstigende Position genommen, so dass er den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen kann. Fraglich ist, ob die Behörde dem visumfrei einreisenden Drittstaatsausländer in materiell-rechtlicher Hinsicht die Umgehung der Visumvorschriften entgegenhalten darf. Verfahrensrechtlich ist ihr dies wegen der eindeutigen Regelung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erlaubt. Materiell-rechtlich kann sie nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorgehen und nach Ermessen entscheiden, ob der Verweis auf das Visumverfahren angemessen ist. Von § 81 Abs. 3 AufenthG nicht erfasst sind Antragsteller, die unerlaubt eingereist, z. B. sichtvermerkspflichtige Drittstaatsangehörige ohne Sichtvermerk, oder aufgrund eines vollziehbaren Verwaltungsaktes ausreisepflichtig sind, weil in diesen Fällen kein rechtmäßiger Aufenthalt (§ 81 Abs. 3 AufenthG), aber auch kein Aufenthaltstitel (§ 81 Abs. 4 AufenthG) vorliegt. Der Fall, dass der Antragsteller nach der Ablehnung seines Antrages vor der Ausreise einen weiteren, den früheren Antrag bloß wiederholenden Antrag stellt (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AuslG 1990), fällt nicht unter den Schutzgehalt der 60 61 62 OVG NW, InfAuslR 2001, 515 (516). OVG Bremen, InfAuslR 2004, 154 (155); s. auch VG Potsdam, AuAS 2004, 54. VG Aachen, InfAuslR 2001, 22. 42 Erlaubnisfiktion (Nr. 81.3.4 VAH). Bei einem bloß wiederholenden Antrag kann daher die Fiktionsbescheinigung nicht ausgestellt werden. c) Antrag auf Verlängerung oder Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 4 AufenthG) aa) Funktion der Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG Nach § 81 Abs. 4 AufenthG gilt der bisherige Aufenthalt des Antragstellers vom Zeitpunkt des Ablaufs der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels bis zur ausländerbehördlichen Entscheidung als fortbestehend. Die Vorschrift geht davon aus, dass für den Eintritt der Fiktionswirkung der Besitz eines Aufenthaltstitels maßgebend ist. Dies folgt aus der Formulierung „seines Aufenthaltstitels“ und „bisheriger Aufenthaltstitel“. Wer ohne Aufenthaltstitel, etwa als sichtvermerksfreier Drittstaatsausländer, erlaubnisfrei einreisen darf, dessen Antrag entfaltet eine der in § 81 Abs. 3 AufenthG geregelten Fiktionswirkungen. Wer mit Aufenthaltstitel einreist und anschließend den Antrag stellt, kann sich auf die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG berufen. Wer ohne Erlaubnis und ohne Aufenthaltstitel einreist, reist illegal ein. Der nachträglich gestellte Antrag entfaltet keine Fiktionswirkung. Unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und § 39 Nr. 5 AufenthV kann die Ausländerbehörde jedoch über diesen Antrag entscheiden. Der Wortlaut des § 81 Abs. 4 stellt allein auf den Besitz des Aufenthaltstitels ab, unterscheidet damit nicht zwischen dem Visum zu Besuchszwecken und dem Visum zu einem längerfristigen Aufenthalt. Auch der Antrag des Antragstellers, der zwar mit einem Visum, jedoch nicht mit dem für den angestrebten Aufenthaltszweck erforderlichen Visum (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 31 AufenthV) einreist, entfaltet die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AuslG. Zwar ist die Einreise mangels erforderlichen Aufenthaltstitels unerlaubt (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Der Gesetzeswortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG ist indes eindeutig. Der Eintritt der Fiktionswirkung ist allein davon abhängig, dass der Antragsteller mit einem Aufenthaltstitel eingereist ist und anschließend dessen Verlängerung oder Zweckänderung beantragt.63 Damit ist die frühere Rechtsprechung überholt, die verneinte, dass der im Bundesgebiet zu einem anderen Aufenthaltszweck gestellte Antrag die Erlaubnisfiktion auslöste.64 Die Rechtsprechung berief sich auf den Ausschlussgrund der unerlaubten Einreise (§ 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990), der auch auf die Erlaubnisfiktion Anwendung fand (vgl. § 69 Abs. 3 Satz 3 AuslG 1990). Demgegenüber verbietet der eindeutige Wortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG eine derart einschränkende Auslegung. Der Gesetzgeber hat für diese Fälle jedoch das Verteilungsverfahren nach § 15a AufenthG eingeführt. Der Gesetzgeber erachtet die Einführung der bloßen Erlaubnisfiktion in den Fällen des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht für ausreichend, da damit insbesondere die Frage der Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit offen bliebe. Durch die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG gilt vielmehr der bisherige Aufenthaltstitel mit allen sich daran anschließenden Rechtswirkungen bis zur behördlichen Entscheidung als fortbestehend (Nr. 814.1 VAH). Eine Erlaubnisfiktion wäre in diesen Fällen nicht ausreichend, da damit insbesondere die Frage der Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit offen bliebe. Sonderregelungen, die diese Frage im sozialrechtlichen Bereich punktuell klären müssten, werden hierdurch entbehrlich. Vielmehr ist die Frage damit für das gesamte Sozialrecht geklärt (Nr. 81.4.1 S. 2 und 3 VAH). 63 Hess.VGH, NVwZ 2006, 111 (111 f.) = InfAuslR 2005, 304 = EZAR 28 Nr. 1 = AuAS 2005, 134. Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67 (69); Hess. VGH, InfAusR 1993, 71 (72 f.); Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 18; OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12; OVG NW, NVwZ 1991, 910; OVG NW, InfAuslR 1991, 232; OVG NW, InfAuslR 1994, 138; OVG SH, InfAuslR 1992, 125; a.A. Nr. 58.1.1.3.2 AuslG-VwV; Hofmann, InfAuslR 1991, 351; Ott, ZAR 1994, 76 (78 f.); Pfaff, ZAR 1992, 117 (120); Hailbronner, AuslR, § 58 AuslG Rn 18; offen gelassen BVerwGE 100, 287 (290) = NVwZ 1997, 189 = InfAuslR 1996, 294. 64 43 Der Aufenthaltstitel bleibt fiktiv, mit dem aktuellen Inhalt, auch hinsichtlich etwaiger Beschränkungen bestehen und ist daher Veränderungen ebenso zugänglich wie zuvor. So sind z.B. nachträgliche Nebenbestimmungen nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zulässig. bb) Anwendungsbereich der Fortgeltungsfiktion Die Wirkungen der Fortgeltungsfiktion treten nicht nur im Falle der beantragten Verlängerung des bisherigen Aufenthaltstitels, sondern auch bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Zweck ein. Entweder soll die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels ohne Veränderung des Erteilungsgrundes verlängert (Verlängerung) oder es soll der Erteilungsgrund verändert (Zweckänderung) werden. Ein Wechsel des Aufenthaltstitels findet einerseits bei einer Änderung des Erteilungsgrundes, aber auch bei einem Formwechsel, z.B. vom Visum zur Aufenthaltserlaubnis oder von der Aufenthaltserlaubnis zur Niederlassungserlaubnis statt. Durch Gesetzesänderung entfällt in den Fällen des § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG die Fiktionswirkung. Der Eilrechtsschutz richtet sich daher nicht mehr nach § 80 Abs. 5, sondern nach § 123 VwGO.65 Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Da es sich indes um ein gesetzliches Aufenthaltsrecht handelt, hat die Geltungsdauer der lediglich deklaratorischen Bescheinigung keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des verfahrensabhängigen Aufenthaltrechtes. Beantragt der Antragsteller deshalb verspätet die Verlängerung der Geltungsdauer der rechtzeitig beantragten Bescheinigung, ist dies insoweit unschädlich (vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). Erst mit Bekanntgabe der Versagungsverfügung wird die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts unterbrochen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Wird dem Antrag stattgegeben, erhält der Antragsteller den neuen Aufenthaltstitel mit den dazu gehörigen Berechtigungen oder wird der Aufenthaltstitel mit den bestehenden Berechtigungen verlängert. In beiden Fällen ist keine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit eingetreten. Die Fortgeltungsfiktion hat zur Folge, dass der Antragsteller so behandelt wird, als bestehe der Aufenthaltstitel mit den konkreten Nebenbestimmungen auch hinsichtlich der Erwerbstätigkeit fort. Bei einem Verlängerungsantrag ändert sich die Rechtsstellung damit nicht und setzt diese sich bei einer Antragsstattgabe ohne Veränderung fort. Begehrt der Antragsteller hingegen einen anderen Aufenthaltstitel, so gilt der bisherige Aufenthaltstitel bis zu Bescheidung über den Antrag auch dann fort, wenn der Antragsteller ihn tatsächlich wegen Veränderung der Verhältnisse nicht nutzen kann, z.B. nach Verlust des Arbeitsplatzes und der Aussicht auf eine andere Stelle oder nach Beendigung einer Ausbildung und bei Aussicht auf eine Anstellung. Den erst beantragten Titel mit seinen Berechtigungen besitzt der Antragsteller erst nach Antragsstattgabe. cc) Verspätete Antragstellung Im Falle der verspäteten Antragstellung bleibt es aber bei der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes. Umstritten war, ob der verspätete Antrag nach § 81 Abs. 4 AufenthG die Fortgeltungsfiktion auslöst. Dies ist nunmehr durch § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG geklärt. Das heißt, nach verspäteter Antragstellung findet die Fiktion der Rechtmäßigkeit wieder Anwendung66 und damit auch der Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO. Angerechnet wird der unterbrochene Zeitraum nicht. Damit dürfte wohl die frühere Rechtsprechung überholt sein. Durch Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels wird der Aufenthalt unrechtmäßig (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die frühere Rechtsprechung wollte die Probleme erheblich befristeter Verlängerungsanträg in den Fällen 65 66 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2014, 157. Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139). 44 lösen, in denen die beantragte Verlängerung noch einen unmittelbaren Bezug zum abgelaufenen Aufenthaltstitel hatte. Danach durfte die Verspätung nur so geringfügig sein, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels und der Antragstellung gewahrt war.67 Ein Antrag auf Verlängerung, der erst Wochen oder sogar Monate nach Ablauf des ursprünglichen Titels gestellt wird, wäre dann ein Antrag auf Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels.68 Weder die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG noch die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG kann bei verspäteter Antragstellung durch einen Wiedereinsetzungsantrag erlangt werden. 69 Das BVerwG hat jedoch noch vor der Einfügung von Satz 2 in § 81 Abs. 4 AufenthG entschieden, dass der verspätete Antrag keine Fiktionswirkung auslöst.70 In materiell-rechtlicher Sicht tritt keine Unterbrechung ein, wenn die Behördenentscheidung durch die Behörde selbst oder durch das Gericht aufgehoben wird (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Im Falle des verspäteten Antrags hilft § 85 AufenthG weiter. Danach können Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes bis zu einem Jahr außer Betracht bleiben. Dies hatte die frühere Rechtsprechung im Hinblick auf den verspäteten Antrag unter Bezugnahme auf die identische Vorschrift des § 97 AuslG 1990 entschieden.71 Nach den Verwaltungsvorschriften kann säumigen Antragstellern für die Fälle, in denen die verspätete Antragstellung aus bloßer Nachlässigkeit und nur mit einer kurzen Zeitüberschreitung erfolgt, in entsprechender Anwendung des § 81 Abs. 5 AufenthG eine Fiktionsbescheinigung mit der Rechtsfolge des § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt werden. Der Antragsteller habe dazu Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen, die belegen, warum ihm eine rechtzeitige Antragstellung nicht möglich war. Damit könnten die vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Rechtsfolgen eines sofortigen Beschäftigungsverbotes in den Fällen vermieden werden, in denen bereits eine längerfristige Zustimmung zur Beschäftigung erteilt worden sei, also nur der aufenthaltsrechtliche Teil des Aufenthaltstitels eine kürzere Befristung enthielt, oder in den Fällen, in denen z.B. nach § 9 BeschVerfV (Vorbeschäftigungszeiten/längerfristiger Voraufenthalt) ohne Arbeitsmarktprüfung (nur „Lohnprüfung“) eine Zustimmung zur Fortsetzung der bisher ausgeübten Beschäftigung erfolgen könne (Nr. 81.4.2.3 AufenthG-VwV). Zu Recht wird gegen diese Lösung auf die Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG hingewiesen. Die Fiktionsbescheinigung ist unmittelbare Folge der gesetzlichen Regelung und hat deshalb rein deklaratorischen Charakter. Ihr Eintritt ISTnicht von der Ausübung behördlichen Ermessens abhängig.72 Dogmatisch überzeugender ist deshalb die Lösung über die Rückwirkung verspäteter Anträge. Die Rückwirkung verspäteter Anträge widerspricht nicht dem Wortlaut des Gesetzes, ist gesetzessystematisch (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) wie auch insbesondere durch eine zweckgerichtete Auslegung gefordert. Ist der Betroffene im Besitz einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 haben Aufenthaltserlaubnis (§ 4 Abs. 5 AufenthG) wie Beschäftigungserlaubnis lediglich deklaratorische Funktion. Bei geringfügigen Zuwiderhandlungen gegen verfahrensrechtliche Obliegenheiten dürfen die Mitgliedstaaten keine unverhältnismäßigen 67 OVG NW, InfAuslR 2006, 448 (449 f.) = AuAS 2006, 143. Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139). 69 OVG NW, AuAS 2006, 143. 70 BVerwGE 140, 64 = InfAuslR 2011, 373 = NVwZ 2011, 1340 = AuAS 2011, 373; Nieders.OVG, NVwZ-RR 2010, 903 (904). 71 Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 16; Hess. VGH, InfAuslR 1996, 133 (134); Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (428); a.A. OVG NW, AuAS 2006, 143; s. auch BVerwG, InfAuslR 1997, 391 (394). 72 Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139). 68 45 Sanktionen treffen, welche eine Beeinträchtigung der assoziationsrechtlichen Rechtsstellung zur Folge hätte.73 Auf eine verspätete Antragstellung kann es deshalb nicht ankommen. dd) Ausschluss der Fortgeltungsfiktion Ist der Antragsteller bereits ausgewiesen oder aufgrund eines sonstigen Verwaltungsaktes ausreisepflichtig geworden und noch nicht ausgereist, ist mit Bekanntgabe des entsprechenden Verwaltungsaktes die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes erloschen (vgl. § 51 Abs. 1 AufenthG). Damit kann der bisherige Aufenthaltstitel die von § 81 Abs. 4 AufenthG vorausgesetzte Möglichkeit der Begründung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht mehr vermitteln. Das gilt auch, wenn der Antragsteller nach der Ablehnung seines Antrags und vor der Ausreise einen neuen Antrag stellt. Mit der Versagungsverfügung endet die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG und der Antragsteller wird ausreisepflichtig (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG), so dass dem nachträglich vor der Ausreise gestellten Antrag keine verfahrensrechtlichen Wirkungen mehr zukommen können. Der Fall, dass der Antragsteller nach der Ablehnung seines Antrages vor der Ausreise einen weiteren, den früheren Antrag bloß wiederholenden Antrag stellt (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AuslG 1990), fällt damit nicht unter den Schutzgehalt der Fortgeltungsfiktion (Nr. 81.3.4 VAH). Bei einem bloß wiederholenden Antrag kann daher die Fiktionsbescheinigung nicht ausgestellt werden. e) Form des Eilrechtsschutzantrags (§ 80 Abs. 5 VwGO) Gegen die behördliche Versagung der beantragten Ersterteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels ist vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Denn durch die Verfügung wird dem Antragsteller – wie ausgeführt – die Vergünstigung der bis dahin bestehenden Aussetzungs- oder Erlaubnisfiktion entzogen.74 Da der Rechtsbehelf keinen Suspensiveffekt entfaltet (vgl. § 84 Abs. 1 AufenthG), kann der Gefahr der Vollziehung für den Fall, dass die Behörde die bundesweit üblichen Stillhalteabkommen75 nicht einhalten will, mit einem Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses begegnet werden. Muster : Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Versagungsverfügung An das Verwaltungsgericht Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO des türkischen Staatsangehörigen – Antragsteller – gegen den Oberstadtdirektor – Antragsgegner – wegen Ausländerrecht Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis anzuordnen. Zugleich wird beantragt, 73 OVG NW, InfAuslR 2007, 96 (97); VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2007, 202. Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1992, 168; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87. 74 75 46 dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt ist (Stillhaltezusage). f) Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses Es ist in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt, dass im Eilrechtsschutzverfahren eine Zwischenentscheidung beantragt werden kann, mit dem Ziel, bis zur endgültigen Eilrechtsentscheidung eine befristete vorläufige Aussetzung des angefochtenen Verwaltungsaktes zu erlassen.76 Im Ausländerrecht kann daher der Antrag gestellt werden, der Behörde aufzugeben, bis zur gerichtlichen Entscheidung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.77 Der Antrag ist zulässig, wenn auf andere Weise der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderte wirksame Rechtsschutz nicht gewährleistet ist. Materielle Voraussetzung ist, dass nicht eine offensichtliche Aussichtslosigkeit des Eilrechtsschutzantrags zu bejahen ist und dem Antragsteller ein Sicherungsbedürfnis zur Seite steht.78 Das Sicherungsbedürfnis ist zu bejahen, wenn zu befürchten ist, dass die Behörde vor dem gerichtlichen Eilrechtsbeschluss vollendete Tatsachen schaffen wird.79 Die in der Praxis regelmäßig üblichen Stillhalteabkommen80 sind nicht bindend und stehen der Zulässigkeit des Hängebeschlusses nicht entgegen, wenn dargelegt wird, dass die Ausländerbehörde in Abweichung von einer derartigen Praxis die Vollziehung eingeleitet hat. Hat die oberste Landesbehörde einen generellen Hinweis an die untergeordneten Behörden gegeben, dem zufolge keine Verpflichtung besteht, ohne entsprechenden gerichtlichen Beschluss von der Abschiebung abzusehen, ist es Zweck einer gerichtlichen vorläufigen Regelung, eventuell für den endgültigen Beschluss noch fehlende Sachverhaltsumstände aufzuklären oder die rechtliche Problematik aufzuarbeiten.81 Auch im Verfahren vor dem Beschwerdegericht besteht eine derartige gerichtliche Befugnis. 82 Lassen sich die Erfolgsaussichten des Eilrechtsschutzantrags ohne nähere Aufklärung des Gesundheitszustandes des Antragstellers nicht beurteilen und ist wegen Überlastung der Gesundheitsämter die Durchführung eines Untersuchungstermins nicht absehbar, bedarf es allerdings keines Hängebeschlusses. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in diesem Fall in der Sache zu entscheiden.83 Hat der Antragsteller ärztliche Atteste vorgelegt, die seine Reiseunfähigkeit bescheinigen oder eine schwerwiegende gesundheitliche Erkrankung belegen, ist dem Antrag daher auch ohne amtsärztliche Bestätigung stattzugeben. Muster : Antrag auf Erlass eines „Hängebeschlusses“ An das Verwaltungsgericht 76 OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479; OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391; OVG SA, InfAuslR 1999, 344; OVG SA, InfAuslR 2005, 421Schoch, in: Schoch/Schmitt-Aßmann/Pfitzner, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 242 ff.; Redeker/v. Oertzen, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 54. 77 OVG SA, InfAuslR 1999, 344. 78 OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391; OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479. 79 OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391. 80 OVG Hamburg, NVwZ-RR 1999, 73.. 81 OVG SA, InfAuslR 1999, 344. OVG SA, InfAuslR 1999, 344; a.A. Schoch, in: Schoch/Schmitt-Aßmann/Pfitzner, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 243. 83 OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479. 82 47 Antrag auf Erlass eines „Hängebeschlusses“ des türkischen Staatsangehörigen – Antragsteller – gegen den Oberstadtdirektor – Antragsgegner – wegen Ausländerrecht Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, bis zur endgültigen Entscheidung über den am gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO – Az. – die Behörde einstweilen zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. Zugleich wird beantragt, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt ist (Stillhaltezusage). Der Antragsteller hat beim beschließenden Verwaltungsgericht Eilrechtsschutz gegen die ihm drohende Abschiebung durch den Antragsgegner beantragt. Ich verweise auf das Verfahren . Die Behörde hat telefonisch ausdrücklich erklärt, sie werde ungeachtet des anhängigen Verfahrens die Abschiebung vollziehen. Der Antragsteller ist schwer traumatisiert. Ich verweise auf die im Eilrechtsschutzverfahren eingereichten zahlreichen psychiatrischen und psychologischen Atteste. Die Behörde wendet ein, ohne amtsärztliche Bestätigung erkenne sie das vorgebrachte Abschiebungshindernis nicht an. Eine Untersuchung beim städtischen Gesundheitsamt werde wegen Überlastung indes erst in zwei Monaten durchgeführt. Solange sei ein Zuwarten angesichts des öffentlichen Vollzugsinteresses nicht zumutbar. Sollte das Verwaltungsgericht sich ungeachtet der zahlreichen vorgelegten Atteste nicht zu einer Entscheidung in der Sache in der Lage sehen, besteht Anspruch auf Erlass einer Zwischenentscheidung. 2. Begründetheit des Antrags a) Unionsrecht Der Widerspruch eines Unionsbürgers wie der des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten hat nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung.§ 84 Abs. 1 AufenthG findet keine Anwendung (§ 11 Abs. 1 Satz 1FreizügG/EU).84 Dies gilt nicht bei der Verlustfeststellung (§ 6 in Verb. mit § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU). Ebenso begründet die Versagung der deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis eines türkischen Assoziationsberechtigten nach § 4 Abs. 5 AufenthG keine vollziehbare Ausreisepflicht. Es bedarf daher im Falle der Versagungsverfügung keines Eilrechtsschutzes. Dies kann durch entsprechenden Feststellungsantrag im Eilrechtsschutzverfahren festgestellt werden.85 Zwar bedürfen Unionsbürger für die Einreise und für den Aufenthalt keines Visums. Die Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, bedürfen nach deutschem Recht indes eines Visums, sofern dies durch Rechtsvorschriften vorgesehen ist (§ 2 Abs. 4 FreizügG/EU). Demgegenüber hat der EuGH zwar das Recht der Mitgliedstaaten anerkannt, von mit einem Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen für die Einreise den Besitz eines Visums 84 85 S. hierzu auch VG Potsdam, InfAuslR 2004, 57. VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2007, 202; ebenso OVG NW, InfAuslR 2007, 96 (97). 48 zu fordern. In Anbetracht der Bedeutung, die das Unionsrecht dem Schutz des Familienlebens beigemessen hat, ist indes die Zurückweisung unverhältnismäßig und damit untersagt, wenn der mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige seine Identität und die Ehe nachweisen kann. Ebenso wird durch die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis und erst recht durch die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates, die ausschließlich darauf gestützt werden, dass der Betroffene gesetzliche Formalitäten im Blick auf die Ausländerüberwachung nicht erfüllt hat, der Kern des unmittelbar durch Gemeinschaftsrecht verliehenen Aufenthaltsrechts angetastet, was in keinem Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung steht.86 Ergibt sich aus den Umständen, dass die Behörde den Suspensiveffekt nicht beachtet, ist in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO der Antrag auf Feststellung, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat, zulässig.87 Denn in Fällen, in denen die Behörde die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nicht anerkennt, kann gerichtlicher Rechtsschutz in Form der Feststellung der aufschiebenden Wirkung als Weniger zur Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung erlangt werden.88 Muster: Eilrechtsschutz gegen die Versagungsverfügung gegenüber Unionsbürgern An das Verwaltungsgericht In dem Verwaltungsstreitverfahren … wird unter Vollmachtsvorlage beantragt, analog § 80 Abs. 5 VwGO festzustellen, dass der Widerspruch vom… gegen die Verfügung der Stadt … vom… aufschiebende Wirkung hat. Zugleich wird beantragt, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt ist (Stillhaltezusage). b) Keine eingeschränkte Prüfungsbefugnis Eine der früheren Regelung des § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 ähnliche Regelung ist dem geltenden Recht fremd. Nach dem früheren Recht konnten Rechtsbehelfe gegen die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung vor der Ausreise nur darauf gestützt werden, dass der Versagungsgrund (§ 8 AuslG 1990) nicht vorliegt.89 Folglich wurde durch die Umgehung der Visumbestimmungen durch Täuschung über den wahren Einreisezweck der Einwand ausgeschlossen, dass eine Ausnahme oder Befreiung zu Unrecht nicht gewährt oder aus EuGH, InfAuslR 2002, 417(419) – MRAX v. Belgien; EuGH, AuAS 2003, 38 (39 f.) = InfAuslR 2002, 417 = EZAR 814 Nr. 8. 86 87 88 OVG Hamburg, AuAS 2000, 63; VG Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (392). VG Cottbus, AuAS 2004, 77. 89 BVerwGE 75, 20 (25) = InfAuslR 1987, 1. 49 anderen Gründen die Aufenthaltserlaubnis hätte erteilt werden müssen.90 Nach allgemeiner, freilich nicht unbestrittener Ansicht war damit die Rüge fehlerhafter Ermessensausübung nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG 1990 im Rechtsbehelfsverfahren nicht zulässig.91 Nach geltendem Recht überprüft das Verwaltungsgericht im Eilrechtsschutzverfahren die Versagungsverfügung im vollen Umfang in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Beruft die Ausländerbehörde sich in der Versagungsverfügung auf den Mangel der Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, zielt die gerichtliche Kontrolle zunächst auf die tatsächlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift. Im Übrigen ist die Prüfung darauf beschränkt, ob der Ausländerbehörde bei der Verweigerung, nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorzugehen, Ermessensfehler unterlaufen sind. Zur Ermessenskontrolle gehört auch die Überprüfung der von der Behörde zugrunde gelegten Tatsachen. c) Allgemeine Entscheidungskriterien Das Verwaltungsgericht überprüft bei Rechtsansprüchen summarisch im vollen Umfang die Versagungsverfügung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Bei Ermessensentscheidungen überprüft das Verwaltungsgericht zunächst, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensentscheidung von der Behörde vollständig und hinreichend zuverlässig festgestellt worden sind. Für die weitere Prüfung finden die Grundsätze zur umfassenden Interessenabwägung Anwendung. Das öffentliche Interesse gebietet danach den sofortigen Vollzug nicht, wenn die Klage offensichtlich begründet ist.92 Umgekehrt besteht kein überwiegendes privates Interesse, wenn die angefochtene Verfügung voraussichtlich rechtmäßig ist. Lassen sich im summarischen Eilrechtsschutzverfahren die Erfolgsaussichten nicht eindeutig beurteilen, muss unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des Einzelfalls eine Abwägung der gegenseitigen Interessen vorgenommen werden: „Die Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beruht gleichermaßen auf einer Interessenabwägung. Das Gericht prüft mithin im Falle einer gesetzlich vorgesehenen sofortigen Vollziehbarkeit, ob wegen der Besonderheit des Einzelfalles ein privates Interesse an der aufschiebenden Wirkung vorliegt, das gegenüber den im Gesetz in diesen Fällen unterstellten öffentlichen Interessen an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes überwiegt.“93 Dabei haben die individuellen Interessen im Rahmen einer Verlängerungsentscheidung regelmäßig stärkeres Gewicht als bei der erstmaligen Beantragung eines Aufenthaltstitels. Auch im Falle der erstmaligen Beantragung können indes wegen der Schwierigkeiten und hohen Kosten der Wiedereinreise die privaten Interessen überwiegen. Die gesetzliche Anordnung des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Verb. mit § 84 Abs. 1 AufenthG) führt nicht dazu, dass grundsätzlich ein Überwiegen der 90 VGH BW, InfAuslR 1992, 168 (170); s. auch OVG Bremen, InfAuslR 1995, 107 (109). OVG Rh-Pf, InfAuslR 1993, 124 (125); VGH BW, InfAuslR 1992, 168 (170); 1993, 14 (15); Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67 (69); Hailbronner, AuslR, § 9 AuslG Rn 6; Renner, AuslR, S. 295; a.A. VGH BW, EZAR 020 Nr. 1; OVG Bremen, InfAuslR 1998, 107 (108); Nieders. OVG, Beschl. v. 4.5.1999–13 M 1664, 2014/99: Kontrolle der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig; ebenso VG Stuttgart, InfAuslR 1999, 201 (203). 91 92 93 Hess. VGH, EZAR 022 Nr. 5. OVG SH, InfAuslR 1991, 340. 50 öffentlichen Interessen anzunehmen ist.94 Auch im Eilrechtsschutzverfahren kann im Übrigen die Gehörsrüge geltend gemacht werden, wobei das Beruhenserfordernis entfällt.95 3. Wirkung des stattgebenden Beschlusses Die gerichtliche Anordnung der Aussetzung der Vollziehung bewirkt nicht ein Wiederaufleben der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).96 Vielmehr wird durch die behördliche Antragsablehnung die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unterbrochen (vgl. § 51 Abs. 1 AufenthG) und besteht Ausreiseverpflichtung (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die gerichtliche Anordnung setzt lediglich die Vollziehbarkeit (§ 58 Abs. 2 AufenthG) aus,97 d.h., die Ausreisefrist wird unterbrochen. Diese Unterbrechung entbindet den Betroffenen zwar nicht von seiner Ausreiseverpflichtung, hindert indes, dass die zur Abschiebung berechtigenden und verpflichtenden Wirkungen des § 50 Abs. 2 AufenthG eintreten. Überdies eröffnet sie für den Betroffenen den weiteren Vorteil, dass die Ausreisefrist nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht erneut zu laufen beginnt.98 Die Wiederherstellung der früheren aufenthaltsrechtlichen Position kann erst im Hauptsacheverfahren erreicht werden (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Allerdings führt die Antragsstattgabe zur Fiktion des Fortbestehens des zuvor innergehabten Aufenthaltstitels für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ vgl. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Die aufenthaltsrechtliche Fortgeltungsfiktion lebt indes nicht wieder auf.99 Dem Bettroffenen ist eine Bescheinigung über die ihm nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zustehenden Rechte auszustellen.100 II. Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO 1. Zulässigkeit des Antrags Liegen die Voraussetzungen für eine der drei Fiktionswirkungen nach § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG nicht vor, kann einstweiliger Rechtsschutz nicht über § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nur über § 123 VwGO erreicht werden.101 Die Umdeutung eines nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellten Antrags in einen Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.102 Es ist jedoch zu bedenken, dass die Gerichte bei anwaltlich vertretenen Rechtsuchenden häufig eine Umdeutung des Antrags ablehnen. Der Antrag nach § 123 VwGO kann dahin gehen, die Ausländerbehörde zu verpflichten, im Hinblick auf einen Anspruch auf Erteilung des 94 BVerfGE 69, 220 (229); OVG SH, InfAuslR 1991, 340 (341); Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 72; Hailbronner, § 69 AuslG Rn 63; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, S. 914. 95 VGH BW, InfAuslR 1999, 337 wegen Verwertung von Erkenntnisquellen zu Bosnien und Herzegowina, die nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden waren. 96 VG Stuttgart, NVwZ-RR 2000, 250 (251); VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457). Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); OVG Hamburg, NVwZ-RR 1995, 709 (710): Entscheidung für die Vollziehbarkeitstheorie; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 53; a.A. VG Stuttgart, InfAuslR 2000, 77 (78) = NVwZ-RR 2000, 250: Die Anordnung bewirkt nur, dass Vollziehungsmaßnahmen unzulässig sind. 98 VGH BW, AuAS 2003, 220 (221). 99 VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457). 100 OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62);VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457): 97 101 Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67; 1991, 272 (273); VGH BW, InfAuslR 1992, 352; OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12; OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256; VG Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (393); Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 66; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 77; offengelassen: VGH BW, NVwZ-RR 1995, 294. 102 OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 447 (448); a.A. OVG Berlin, AuAS 2004, 138 (139). 51 Aufenthaltstitels oder auf Duldung die Abschiebung zeitweise bis zur Entscheidung über den verwaltungsrechtlichen Antrag auszusetzen und eine Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4 AufenthG) auszustellen.103 Im Hinblick auf den Streit in der Rechtsprechung und das Risiko, dass die Umdeutung des fehlerhaft gestellten Antrags abgelehnt wird, ist gegebenenfalls die hilfsweise Antragstellung empfehlenswert. Muster : Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und – hilfsweise – auf Erlass einer einstweiligen Anordnung An das Verwaltungsgericht Antrag des türkischen Staatsangehörigen – Antragsteller – gegen den Oberstadtdirektor – Antragsgegner – wegen Ausländerrecht Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom anzuordnen. hilfsweise: den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, bis zur Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen. Zugleich wird beantragt, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt ist (Stillhaltezusage). 2. Begründetheit des Antrags Im Rahmen der Begründetheit fehlt es hinsichtlich des behaupteten Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels regelmäßig bereits am Anordnungsanspruch, weil der Aufenthaltstitel nicht nach der Einreise während eines illegalen Aufenthalts beantragt werden kann und gegen die ablehnende Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine Ermessensfehler geltend gemacht werden können. Ob dies auch dann gilt, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels offensichtlich erfüllt sind,104 erscheint fraglich. Denn die Heilungsmöglichkeit nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG setzt keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Da diese im Vergleich zum früheren Recht weitaus flexibler gestaltet ist und pragmatische Lösungen ermöglicht, erscheint die frühere restriktivere Rechtsprechung überholt. Allerdings ist der Einwand des grundsätzlichen Verbotes der Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung überzeugend auszuräumen. 103 Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 9; Hess.VGH, AuAS 2006, 158 (159); OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12. So zum früheren Recht Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 18; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); VG Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (393); Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 69; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 83: 104 52 Sicherungsfähig kann jedenfalls ein Anspruch auf Erteilung der Duldungsbescheinigung sein, wenn das Vorliegen eines Duldungsgrundes nach § 60a Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG glaubhaft gemacht werden kann. Die bloße Möglichkeit der Duldung genügt nicht. 105 III. Hauptsacheverfahren Wird während des anhängigen Verfahrens der gewöhnliche Aufenthalt in den Bezirk eines anderen Rechtsträgers verlegt und stimmt die nunmehr zuständige Behörde der Fortführung des Verfahrens durch die bisherige Behörde nach § 3 Abs. 3 VwVfG (des Landes) nicht zu,106 kommt die isolierte Anfechtungsklage in Betracht, weil mit der Aufhebung die Fiktionswirkung wieder auflebt.107 Das Begehren auf Erteilung des Aufenthaltstitels ist nach Durchführung des Vorverfahrens (§ 68 VwGO) mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage, ob die für die Erteilung des Aufenthaltstitels maßgebenden Rechtsvoraussetzungen vorliegen, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.108 Dieser Zeitpunkt ist auch im Falle der Ermessensreduzierung maßgebend.109 Umstritten ist der Beurteilungszeitpunkt bei Ermessensentscheidungen insbesondere auch in Ansehung von § 114 Satz 2 VwGO: Fraglich ist, ob die auf die letzte Verwaltungsentscheidung abstellende Rechtsprechung110 in Anbetracht der Auflösung fester verwaltungsprozessualer Formen in den letzten Jahren noch Anwendung finden kann. Jedenfalls hat das Verwaltungsgericht bei einer Ermessensreduzierung auch nach dem Widerspruchsbescheid eintretende Umstände zu berücksichtigen.111 C. Aufenthaltserlaubnis zwecks Erwerbstätigkeit Der Begriff der Erwerbstätigkeit ist in § 2 Abs. 2 AufenthG gesetzlich definiert. Erwerbstätigkeit ist ein Oberbegriff, der die selbständige Erwerbstätigkeit wie auch die Beschäftigung im Sinne des § 7 SGB IV erfasst. Während der Begriff der Beschäftigung in § 7 Abs. 1 SGBIV definiert wird, ist der Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit nicht gesetzlich definiert. Er ergibt sich aus der Umkehr der Kennzeichnungsmerkmale einer abhängigen Beschäftigung. Die Abgrenzung zwischen selbständiger Erwerbstätigkeit und Beschäftigung ist anhand der Kriterien in § 7 Abs. 1 SGBIV vorzunehmen (Nr. 2.2.3 AufenthG-VwV). Die Erlaubnis zur Ausübung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit wird als Beschäftigungserlaubnis (§ 2 Abs. 2, § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG, § 7 Abs. 1 SGB IV) und die Berechtigung zur selbständigen Erwerbstätigkeit als Erlaubnis zur Ausübung einer selbständigen Erwerbtätigkeit bezeichnet. 105 Hess. VGH, EZAR 019 Nr. 1; 622 Nr. 18; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 447 (448); OVG NW, NVwZ-Beil. 1999, 99 = InfAuslR 1999, 451; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 70. 106 Vgl. hierzu BVerwGE 98, 313 (315) = InfAuslR 1995, 287 = NVwZ 1995, 1131 = EZAR 012 Nr. 2. BVerwG, Buchholz 402. 24 § 2 AuslG Nr. 35; VGH BW, EZAR 601 Nr. 3; Funke-Kaiser, in: GKAuslR, § 69 AuslG Rn 86; Hailbronner, AuslR § 69 AuslG Rn 72. 108 BVerwGE 56, 246 (249); 94, 35 (40 f.); BVerwG, InfAuslR 2003, 50 (51) = NVwZ 2002, 1512; VGH BW, InfAuslR 1984, 271. 109 BVerwG, NVwZ 1992, 1211 (1212). 107 110 111 Vgl. BVerwGE 94, 35 (40 f.); BVerwG, EZAR 610 Nr. 16. Kemper, NVwZ 1993, 746 (747). 53 I. Aufenthaltstitel zur Ausübung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit (§ 18 bis § 20 AufenthG) 1. Allgemeines Der Aufenthalt zu Erwerbszwecken ist im 4. Abschnitt des 2. Kapitels des AufenthG geregelt. § 18 AufenthG ist die Zentralnorm für die aufenthaltsrechtliche Steuerung des Zugangs zur nichtselbständigen Erwerbstätigkeit. Aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen dieser Vorschrift folgt, dass diese den seit 1973 geltenden Anwerbestopp fortschreibt. Die Berücksichtigung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt sowie das Erfordernis, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen (§ 18 Abs. 1 AufenthG), sind programmatische Ziele und haben als solche ermessenslenkende Funktion für die Erteilung der Zustimmung zur Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit. Sie werden in den folgenden Absätzen näher ausgeführt und finden ihren Ausdruck in der Ausgestaltung der Bestimmungen der BeschV sowie der BeschVerfV (Nr. 18.1 AufenthG-VwV). Maßgebend für die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis ist die aufgrund von § 18 Abs. 2 AufenthG erlassene BeschV. Diese wurde am 6. Juli 2013 neu gefasst und ersetzt die frühere BeschV (Antragsteller im Ausland) und BeschVerfV (Antragsteller im Inland).112 Die Verordnung unterscheidet in die Erlaubnisse, die ohne Zustimmung der Arbeitsagentur (§ 2 bis § 3, § 5, § 7, § 9, § 15, § 22 bis § 24) und in jene, die zustimmungspflichtig sind (§ 4, § 6, § 8, § 10 bis 13, § 15a bis § 15c). Dazu kommen noch Rechtsgrundlagen nach § 18a und § 18b (Hochschulabsolventen). Weitgehend wirkungslos geblieben ist § 18a (geduldete Antragsteller). Praxisrelevant sind insbesondere die Fälle, in denen die Beschäftigung kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG) erlaubt wird (§ 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs. 3, § 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 23 Abs. 2 Satz 5, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 27 Abs. 5, § 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) sowie § 9 (langjähriger Aufenthalt), § 11 (Spezialitätenkoch); § 12 (Au Pair) und insbesondere § 26 (keine Beschränkung auf die in der Verordnung festgelegten Bedingungen für bestimmte Staatsangehörige). 2. Verwaltungsverfahren Ein Aufenthaltstitel berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sofern es nach dem AufenthG bestimmt ist oder der Aufenthaltstitel die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ausdrücklich erlaubt (§ 4 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Jeder Aufenthaltstitel muss erkennen lassen, ob die Ausübung einer Beschäftigung erlaubt ist (§ 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). § 39 AufenthG enthält den Grundsatz, dass neben der ausländerbehördlichen Entscheidung über den aufenthaltsrechtlichen Teil eines Aufenthaltstitels die Entscheidung der Arbeitsverwaltung über die Zustimmung zur Beschäftigung zu erfolgen hat. Die Entscheidung über den Aufenthalt und die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ergeht gegenüber dem Ausländer einheitlich.. Der Antrag auf Ausübung einer Beschäftigung ist bei der örtlich zuständigen Ausländerbehörde zu stellen. Diese prüft, ob das Zustimmungsverfahren durchzuführen ist oder nicht. In den Fällen, in denen bereits kraft Gesetzes die Beschäftigung erlaubt wird, entfällt das Zustimmungsverfahren. Vielmehr vermerkt die Ausländerbehörde auf dem Aufenthaltsitel die Beschäftigungserlaubnis (§ 4 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG). Der Vermerki hat lediglich deklaratorische Funktion. In diesen Fällen ist uneingeschränkt auch die selbstständige Erwerbstätigkeit kraft Gesetzes erlaubt. 112 Überblick über die Neuregelungen Maier-Borst, Asylmagazin 2013, 226. 54 Liegt kein Fall einer kraft Gesetzes erlaubten Erwerbstätigkeit vor, hat die Ausländerbehörde vor Durchführung des Zustimmungsverfahrens zu prüfen, ob die Beschäftigung erlaubt ist. Ist dies nicht der Fall, wird kein Zustimmungsverfahren durchgeführt. Die Ausländerbehörde vermerkt dies im Aufenthaltstitel durch den Zusatz „Erwerbstätigkeit nicht erlaubt“. Findet kein Erwerbstätigkeitsverbot Anwendung, wird das Zustimmungsverfahren durchgeführt. Versagt die Arbeitsagentur die Zustimmung, darf die Ausländerbehörde die Beschäftigung nicht erlauben. Stimmt die Arbeitsverwaltung zu, erteilt die Ausländerbehörde im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessensausübung die Beschäftigungserlaubnis. In die Ermessenserwägung darf die Ausländerbehörde keine arbeitsmarktpolitischen, sondern lediglich ausländerpolitische Aspekte einstellen. Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit der Aufenthaltstitel als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines Eilrechtsschutzverfahrens oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Damit hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass bis zum Eintritt der Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung nach Bekanntgabe etwa einer Versagungsoder Ausweisungsverfügung die Beschäftigungserlaubnis fort gilt. Die Berechtigung, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist dem Berechtigten zu bescheinigen. 113 Die vorübergehende Ausreise ist unschädlich.114 3. Beschäftigungsverbote für geduldete Antragsteller (§ 33 BeschV) Wie früher § 11 BeschVerfV bestimmt § 33 BeschV, dass geduldeten Ausländern die Beschäftigung nicht erlaubt werden darf, wenn sie sich in das Inland begeben haben, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen, oder wenn bei diesen Ausländern aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Im Hinblick auf die erste Alternative (vgl. auch § 1a Nr. 1 AsylbLG) ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass nach den objektiven Umständen von einem Wissen und Wollen mindestens im Sinne eines bedingten Vorsatzes ausgegangen werden kann, der für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung gewesen sein muss.115 Eine derart prägende Bedeutung kann nicht angenommen werden, wenn dieser Gedankengang für den Einreiseentschluss lediglich mitursächlich war oder eine untergeordnete Funktion gespielt hat.116 Ferner muss die Möglichkeit des Angewiesenseins auf Leistungen nach dem AsylbLG nicht nur mitursächlich, sondern darüber hinaus subjektiv, sei es allein, sei es neben anderen Gründen, in besonderer Weise prägend gewesen sein. Damit verengt sich diese Ausnahmebestimmung auf eindeutige, besonders gelagerte Ausnahmefälle. Allein die qualifizierte Asylablehnung nach § 30 AsylVfG berechtigt nicht zur Anwendung dieser Ausnahmeklausel. Insoweit war füher etwa nach § 30 Abs. 2 AsylVfG die Furcht vor den Gefahren eines Bürgerkrieges ausreisebestimmend. Mit Wirkung zum 1. Dezember 2013 ist § 30 Abs. 2 AsylVfG insoweit geändert worden. Die Verletzung verfahrensrechtlicher Mitwirkungspflichten (§ 30 Abs. 3 AsylVfG) erlaubt noch kein Urteil über die den Einreiseentschluss prägenden Umstände. 113 OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); Nr. 4.3.1 AufenthG-VwV. BayVGH, InfAuslR 2012, 14 (15). 115 Vgl. BVerwGE 59, 73 (76 f.) = DVBl. 1980, 378; OVG Bremen, InfAuslR 1986, 153 (154); OVG Hamburg, InfAuslR 1989, 210 (211); OVG NW, InfAuslR 1983, 320; OVG NW, InfAuslR 1988, 85; OVG NW, B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; OVG Lüneburg, InfAuslR 1984, 147 (148) = NVwZ 1984, 674. 116 OVG Hamburg, InfAuslR 1989, 210 (211); OVG Lüneburg, InfAuslR 1984, 147 (148)= NVwZ 1984, 674. 114 55 Nach § 33 Abs. 1 Nr. 2. BeschV darf die Beschäftigung nicht erlaubt werden, wenn aus von dem Antragsteller zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Zu vertreten haben Antragsteller die Gründe nach Abs. 1 Nr. 2 wenn sie das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch falsche eigene Angaben selbst herbeigeführt wurde. Dieses Muster findet sich auch in Altfallregelungen der obersten Landesbehörden und in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) wie auch in § 25a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), nicht aber mehr im geplanten § 25a AufenthG-E. Nach Auffassung des BMI darf zwar nach § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis auch dann nicht erteilt werden, wenn aus von dem Antragsteller zu vertretenden Gründen eine Ausreise nicht möglich ist, hingegen der Versagungsgrund des § 33 Abs. 1 Nr. 2 BeschV erfordert, dass bei dem Antragsteller aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können. Das bedeute, dass Ausländern, denen zwar die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG wegen eines Versagungsgrundes nach § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG nicht erteilt werden könne und die deshalb weiterhin im Besitz einer Duldung seien, dennoch die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden könne, wenn nicht gleichzeitig die Unmöglichkeit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung von ihnen verschuldet werde. Die Beschäftigung könne damit denjenigen Antragstellern erlaubt werden, die zwar freiwillig ausreisen, aber nicht abgeschoben werden könnten.117 Kann dem Antragsteller nicht der Vorwurf gemacht werden, dass aus von ihm zu vertretenden Gründen die Abschiebung nicht vollzogen werden kann, so kann die Beschäftigungserlaubnis nicht mit der Begründung versagt werden, dass aus von ihm zu vertretenden Gründen die Ausreise nicht möglich ist. Auf die Möglichkeit oder die Voraussetzungen einer freiwilligen Ausreise kommt es danach nicht an.118 Werden im Blick auf bestimmte Personengruppen Abschiebungen in das Herkunftsland aufgrund einer generellen Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG nicht durchgeführt, hat der Antragsteller die Unmöglichkeit der Abschiebung nicht zu vertreten. Dass in derartigen Fällen die Ausreise in das Herkunftsland auf eigene Initiative möglich ist, steht der Erteilung der Beschäftigungserlaubnis nicht entgegen. Nach dem Wortlaut des § 33 Abs. 1 Nr. 2 BeschV kann die „freiwillige Ausreise“ nicht als „aufenthaltsbeendende Maßnahme“ qualifiziert werden.119 Ebenso wenig hat es der Antragsteller zu vertreten, wenn die Abschiebung nicht möglich ist, weil UN-Mitarbeiter die Rückführung verweigern.120 Für die Anwendung des Versagungsgrundes nach § 33 Abs. 1 Nr. 2 BeschV spitzt sich damit die Prüfung auf die Frage zu, ob der Antragsteller das ihm Mögliche und Zumutbare zur Beschaffung eines nationalen Ausreiseausweises unternommen hat. Nicht erst ein aktives, die Abschiebung hinderndes Verhalten steht danach der Anwendung der Vorschrift entgegen. Vielmehr findet der Versagungsgrund bereits dann Anwendung, wenn der Antragsteller es ablehnt, Heimreisedokumente zu beschaffen,121 oder an der Beschaffung entsprechender Dokumente nicht genügend mitwirkt.122 Dabei reicht allein eine telefonische und schriftliche Anfrage an die zuständige Auslandsvertretung nicht aus. Hat der Antragsteller im Asylverfahren vorgetragen, sein Personalausweis und eine Staatsangehörigkeitsurkunde befänden sich bei ihm im Herkunftsland, gehört zum erschöpfenden Sachvortrag, dass er alles BMI v. 18. März 2005 an Innenverwaltungen der Länder; Innenministerium NRW v. 24. März 2005. Nieders.OVG, B. v. 8. 11. 2005 – 12 ME 397/05; VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; VG Braunschweig, AuAS 2005, 158 (161); VG Frankfurt am Main, InfAuslR 2007, 14 (15); VG Gießen, AuAS 2006, 221.; VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05. 119 VG Koblenz, NVwZ 2005, 724. 120 VG Gießen, AuAS 2006, 221. 121 OVG NW, B. v. 8. 6. 2005 – 17 B 1118/05; Nieders.OVG, B. v. 7. 10. 2005 – 9 ME 82//05; VGH BW, AuAS 2007, 63 (64 f.). 122 OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (224). 117 118 56 Erforderliche und Zumutbare zur Erlangung dieser Urkunden unternommen hat.123 Hat der Antragsteller jedoch im konkreten, von der Behörde eingeleiteten Passbeschaffungsverfahren die erforderlichen Mitwirkungshandlungen erfüllt, kann die Beschäftigungserlaubnis nicht mit dem Einwand versagt werden, die Mitwirkung entbinde nicht von der Verpflichtung zu weiteren eigenen zumutbaren Anstrengungen zur Beschaffung von Heimreisedokumenten.124 Nur ein gegenwärtiges schuldhaftes und kausal wirkendes Pflichtversäumnis darf danach berücksichtigt werden Demgegenüber erachtet es die Gegenmeinung für zumutbar, dass der Antragsteller zur Beibringung von Belegen über seine Herkunft u.a. dritte private Personen oder einen Vertrauensanwalt vor Ort beauftragt, sofern ihm dies seiner wirtschaftlichen Lage nach zumutbar ist Das Verhalten des Ausländers muss kausal für die Aufenthaltsbeendigung sein.125 Daran fehlt es bei Krankheitsgründen oder in Fällen der generellen Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 AufenthG. Daher kommt es in diesen Fällen auf die fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung nicht an. Jedenfalls ist insoweit die Ausländerbehörde darlegungs- und beweispflichtig.126 Genügt die Behörde ihrer Darlegungslast nicht, darf die fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung im Rahmen der Ermessensausübung nicht berücksichtigt (Berücksichtigungsverbot) werden.127 Das zu vertretende Verhalten des Antragstellers muss fortwirken. Hat der Antragsteller sein Verhalten geändert und wirkt er nunmehr an der Passbeschaffung mit, besteht kein von ihm zu vertretendes Abschiebungshindernis mehr. Liegen seine Mitwirkungspflichtverletzungen in der Vergangenheit, wirken aber noch fort und hindern aufenthaltsbeendende Maßnahmen, kann darin allerdings ein Versagungsgrund liegen.128 Unter diesen Umständen dürfte für den Einwand des Fortwirkens allerdings die Behörde beweisbelastet sein. Ein Versagungsgrund liegt insbesondere vor, wenn der Antragsteller das Abschiebungshindernis durch Täuschung über seine Identität oder seine Staatsangehörigkeit oder durch falsche Angaben herbeiführt (§ 33 Abs. 2 BeschV). Es muss sich um gegenwärtige Verstöße handeln. Entsprechende Angaben im vorangegangenen Asylverfahren wirken dann nicht fort, wenn der Antragsteller im konkreten Verfahren der Passbeschaffung wahrheitsgemäße und erschöpfende Angaben macht und an der Aufklärung des Sachverhaltes aktiv mitwirkt. Über die beantragte Beschäftigungserlaubnis wird gemäß § 32 Abs. 1 BeschV nach Ermessen entschieden. § 33 Abs. 2 BeschV bezeichnet wichtige Ausnahmegruppen, bei denen die Beschäftigungserlaubnis keiner Zustimmung bedarf. Für den Anspruch auch § 18a AufenthG ist insbesondere § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BeschV von erheblicher Relevanz. Dadurch kann die Norm vielleicht aus ihrer Gebiurtsstarre erlöst werden. Die Rechtsprechung erachtete es früher für zulässig, die Versagungsentscheidung auf integrationspolitische Belange zu stützen und deshalb die Frage, ob ein Versagungsgrund nach § 11 BeschVerfV Anwendung findet, nicht zu prüfen.129 Die Behörde dürfe die Entscheidung nach § 10 BeschVerfV auch aus einwanderungspolitischen Erwägungen versagen. Eine Auslegung der Vorschriften der § 10, § 11 BeschVerfV, dass im Rahmen der Ermessensausübung einwanderungspolitische 123 VGH BW, InfAuslR 2006, 131 (134 f.) Nieders.OVG, B. v. 8. 11. 2005 – 12 ME 397/05; VG Hannover, Asylmagazin 6/2005, 44; VG Sigmaringen, U. v. 14. 6. 2005 – 4 K 468/05; VG Augsburg, B. v. 13. 11. 2002 – Au 6 S 02.1065; a.A. Hess.VGH, InfAuslR 2006, 453 (454). 125 OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (225); OVG NW, AuAS 2006, 143 (143); VGH BW, InfAuslR 2006, 131 (134); VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; VG Frankfurt am Main, InfAuslR 2007, 14 (15). 126 VG Münster, AuAS 2005, 128 (129). 127 VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05; VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; a. A. VGH BW, InfAuslR 2006, 131 (133 f.); VG Karlsruhe, AuAS 2005, 194 (195) = InfAuslR 2005, 320. 128 OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (226). 129 OVG NW, B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; so auch Zühlcke, ZAR 2005, 317 (320). 124 57 Erwägungen nur unter den Voraussetzungen des § 11 BeschVerfV berücksichtigt werden dürften, finde im Gesetz keine Stütze.130 Auf die Frage, ob durch die Beschäftigung eines geduldeten Ausländers überhaupt eine rechtliche Verfestigung des Aufenthaltes eintreten könne, komme es nicht an. Entscheidend sei vielmehr, dass eine berufliche Betätigung zu einer verstärkten Integration in die hiesigen Verhältnisse führe, sei als problematisch anzusehen. Deshalb stelle die Absicht der Vermeidung einer Aufenthaltsverfestigung eine sachgerechte Begründung für das Beschäftigungsverbot dar.131 4. a) Rechtsschutz Allgemeines Folge des einheitlichen Verwaltungsakts (§ 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) ist, dass sich der Rechtsschutz auch im Blick auf die Beschäftigungserlaubnis im Aufenthaltstitel nach § 40 VwGO richtet, den Verwaltungsgerichten insoweit die früher den Sozialgerichten zugewiesene sachliche Zuständigkeit für die Überprüfung der Beschäftigungserlaubnis obliegt. Gegen die Versagung des Beschäftigungserlaubnis kann – in den Bundesländern, die das Widerspruchsverfahren nicht abgeschafft haben, nach Durchführung des Vorverfahrens (§ 68 VwGO) - Verpflichtungsklage erhoben werden. Der Widerspruch muss nicht jeweils wiederholt werden, wenn die beantragte Geltungsdauer des Aufenthaltstitels während des gerichtlichen Verfahrens abläuft und der Antrag unverändert auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zur Ausübung einer Beschäftigung gerichtet bleibt.132 Da die Arbeitsverwaltung nach außen nicht in Erscheinung tritt, sondern nach § 18 in Verb. mit § 39 Abs. 1 AufenthG nur im verwaltungsinternen Zustimmungsverfahren beteiligt ist, können gegen die Arbeitsverwaltung keine Rechtsmittel eingelegt werden. Nach geltendem Recht sind deshalb die Verwaltungsgerichte zuständig. Die Verwaltungsgerichte müssen inzidenter auch die ihnen an sich fachfremde Materie des Arbeitsgenehmigungsrechts mit behandeln. Da die Ausländerbehörde bei der Erteilung des Aufenthaltstitels an die Zustimmung sowie die mit der Zustimmung verbundenen Vorgaben, wie etwa Befristung, bestimmter Betrieb, gebunden ist (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), die Ausländerbehörde zu abweichenden Entscheidung mithin nicht gerichtlich verpflichtet werden kann, ist die Bundesagentur für Arbeit notwendig im Verwaltungsstreitverfahren beizuladen (§ 65 Abs. 2 VwGO) und auf Antrag durch das Verwaltungsgericht zur Erteilung der Zustimmung zu verpflichten. Da die Ausländerbehörde die Bundesagentur für Arbeit beteiligen muss, ist diese im Prozess notwendig beizuladen (§ 65 Abs. 2 VwGO). Die Beiladung entfällt in den zustimmungsfreien Fällen. b) Form des Rechtsschutzes im Hauptsacheverfahren aa) Beschäftigungserlaubnis kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG) Die Form des Rechtsschutzes ist abhängig von dem Verhältnis zwischen dem Aufenthaltstitel und der arbeitsgenehmigungsrechtlichen Berechtigung. Zu unterscheiden ist in die Fälle, in denen der Aufenthaltstitel kraft Gesetzes (§ 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs. 3, § 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) die Erwerbstätigkeit erlaubt (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG), in die Fälle der Erteilung des Aufenthaltstitels zur Erwerbstätigkeit (§ 4 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. AufenthG) und in die Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Insoweit ist der Rechtsschutz jeweils unterschiedlich gestaltet. OVG NW, B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; wohl auch BayVGH, B. v. 10. 3. 2006 – 24 CE 05.2685, 24 C 05.2686. 131 Hess.VGH, B. v. 28. 1. 2005 – 9 ZU 1412/04; a.A. VG Braunschweig, AuAS 2005, 158 (160). 132 BSG, EZAR 310 Nr. 1; BSG, EZAR 310 Nr. 2. 130 58 In den Fällen des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG (z. B. § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs. 3, § 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) wird ein Aufenthaltstitel erstrebt, der zu anderen Zwecken als den der Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt, zugleich aber kraft Gesetzes die Erwerbstätigkeit erlaubt. Die Rechtsprechung des BVerwG zum Charakter der früheren arbeitsgenehmigungsrechtlichen Nebenbestimmung kann auf diesen Fall keine Anwendung finden. Denn bei der modifizierenden Auflage ist zu fragen, ob die Behörde eine potenziell verbindliche Rechtsfolge gesetzt hat, d.h. ob durch die behördliche Regelung Rechte begründet, geändert, aufgehoben oder verbindlich festgestellt werden oder die Begründung, Änderung, Aufhebung oder verbindliche Feststellung solcher Rechte mit Außenwirkung abgelehnt wird. Eine derart potenziell verbindliche Regelung kann auch dann anzunehmen sein, wenn eine generelle und abstrakte Regelung des Gesetzes für den Einzelfall mit Bindungswirkung als bestehend oder nicht bestehend festgestellt, konkretisiert oder individualisiert wird.133 Es gibt keine offenen Voraussetzungen, die durch Nebenbestimmung geregelt werden könnten. Lediglich wegen der Bezeichnungspflicht in § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist die Behörde gehalten, die arbeitsgenehmigungsrechtliche deklaratorische Folge in dem Aufenthaltstitel zum Ausdruck zu bringen. Erteilt die Ausländerbehörde antragsgemäß den begehrten Aufenthaltstitel, verweigert sie aber die Vornahme des nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorgeschriebenen klarstellenden Hinweises, lassen Rechtsmittel gegen die Versagung des arbeitsgenehmigungsrechtlichen Hinweises die Wirksamkeit des Aufenthaltstitels unberührt. Es kann sich auch aus diesem Grund nicht um eine modifizierende Auflage handeln. Da andererseits eine kraft Gesetzes nicht einschränkbare Erlaubnis zur Ausübung der Beschäftigung erstrebt wird, kann mit Ausnahme der Fallgestaltungen nach § 29 Abs. 5 1. HS AufenthG nicht um den Erlass einer Auflage gestritten werden. Der arbeitgenehmigungsrechtliche Teil des Aufenthaltstitels nach § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG ist damit im Regelfall weder eine selbständige noch eine modifizierende Auflage, sondern zwingender, freilich lediglich deklaratorisch wirkender Inhalt des Anspruchstitels. Der Rechtsschutz im Falle des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG zielt auf die Verpflichtung zur vollständigen deklaratorischen Bezeichnung des bestehenden Rechtsanspruchs gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Daher ist Verpflichtungsklage mit dem Ziel zu erheben, die Behörde zu verpflichten, den nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erforderlichen Hinweis in dem Aufenthaltstitel zu vermerken, dass der Begünstigte aufgrund des erteilten Aufenthaltstitels kraft Gesetzes berechtigt ist, jede selbständige und unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben. In den Fällen des § 29 Abs. 5 1. Hs. AufenthG, in denen durch Auflage die Grenzen der erlaubten Beschäftigung festzulegen sind, kann durch Verpflichtungsklage der Erlass einer entsprechenden, rechtlich vom Aufenthaltstitel unabhängigen Auflage durchgesetzt werden. Eilrechtsschutz ist gemäß § 123 VwGO zu erlangen. bb) Aufenthaltstitel zur Ausübung der Beschäftigung (§ 4 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. AufenthG) Bei § 4 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG zielt der Rechtsschutz auf die Verpflichtung zur Erteilung des Aufenthaltstitels nach §§ 18 ff. AufenthG mit gleichzeitiger Festlegung von Art und Umfang der Beschäftigungserlaubnis. Eine davon losgelöste Verpflichtung zum Erlass einer die Erwerbstätigkeit regelnden Auflage ist nicht möglich, weil der Aufenthaltstitel nach §§ 18 ff. AufenthG ohne die inhaltlich konkretisierte Erlaubnis zur Ausübung der Beschäftigung nicht ergehen kann. 133 BVerwGE 79, 291 (293) = EZAR 222 Nr. 7 = NVwZ 1988, 941 = InfAuslR 1988, 251. 59 cc) Rechtsschutz gegen „auflösende Bedingung“ In der Verwaltungspraxis wurde früher die Aufenthaltsgenehmigung in ihrer Rechtswirksamkeit häufig unmittelbar von der Befolgung einer Nebenbestimmung abhängig gemacht. In diesem Fall führte der gewillkürte Wechsel des Arbeitgebers, die unanfechtbare Kündigung durch den Arbeitgeber, der Aufhebungsvertrag oder das anderweitig beendete Arbeitsverhältnis unmittelbar zur Beendigung des Aufenthaltsrechtes mit der Folge des Eintritts der Ausreisepflicht.134 Eine derartige Bedingung, welche die Rechtswirksamkeit des erteilten Aufenthaltstitels von dem Fortbestand des einmal eingegangenen Arbeitsverhältnisses abhängig macht, ist eine auflösende Bedingung im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG. Die den Verwaltungsakt auflösende Bedingung ist in diesem Fall die Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Ist diese auflösende Bedingung einmal eingetreten, ist der Verwaltungsakt unwirksam geworden (vgl. auch § 158 Abs. 2 BGB) und kann später nicht mehr, auch nicht aufgrund eines Rechtsbehelfs wieder aufleben.135 Der Verordnungsgeber geht offensichtlich davon aus, dass § 4 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. AufenthG die Fortsetzung dieser Verwaltungspraxis erlaubt. Denn nach § 35 Abs. 4 BeschV erlischt die Zustimmung mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn sie nur für ein bestimmtes Beschäftigungsverhältnis erteilt worden ist. Beschränkungen bei der Erteilung der Zustimmung sind in dem Aufenthaltstitel zu übernehmen (§ 18 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies spricht dafür, dass die Ausländerbehörde die in der Zustimmung enthaltene auflösende Bedingung im Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG übernimmt. Zwar erlischt nach der Rechtsprechung mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Aufenthaltstitel. Die Frage der Berechtigung der Kündigung sei für das Aufenthaltsrecht jedenfalls so lange irrelevant, wie nicht eine arbeitsgerichtliche Entscheidung vorliege, die das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses feststelle.136 Daraus ist im Umkehrschluss zu folgern, dass die Ausländerbehörde sich nach dem rechtlichen Wirksamwerden der Kündigung nicht unmittelbar auf den Eintritt der auflösenden Bedingung berufen kann. Vielmehr ist vor Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zunächst abzuwarten, bis eine arbeitsgerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Kündigung ergangen ist. Unzulässig ist diese Praxis in den Fällen des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. und Satz 3 AufenthG. Im ersteren Fall ist kraft Aufenthaltstitel der uneingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt sicherzustellen. Wird das Beschäftigungsverhältnis aufgelöst, bleibt hiervon sowohl der Aufenthaltstitel wie die Beschäftigungserlaubnis unberührt. Im zweiten Fall ist der aus humanitären oder zum Zwecke des Nachzugs erteilte Aufenthaltstitel in seinem Bestand von der Ausübung einer Beschäftigung unabhängig. Eine den Bestand unmittelbar aufhebende akzessorische Nebenbestimmung widerspricht damit dieser Vorschrift. Eine isolierte Anfechtung der Nebenbestimmung nach Eintritt der auflösenden Bedingung ist nicht möglich.137 Denn in diesem Fall ist auch der Haupt-Verwaltungsakt rechtlich erloschen. Fraglich ist, ob die auflösende Bedingung unmittelbar im Anschluss an ihren Erlass anfechtbar ist. Die Anfechtung der auflösenden Bedingung hat keinen Einfluss auf den Bestand des von der Behörde mit sofortiger Wirkung verfügten Bescheides. Da es bei der Beschäftigungserlaubnis nach § 17 bis § 20 AufenthG jedoch um Ermessensverwaltung geht, sollte mit der Behörde im Verhandlungswege vor Erteilung der auflösenden Bedingung oder 134 OVG Frankfurt (Oder), NVwZ-RR 1999, 146; s. auch BAG, InfAuslR 2000, 296. BVerwGE 89, 357 (359) = NVwZ 1992, 570. 136 OVG SH, InfAuslR 2004, 342. 137 OVG SH, InfAusl 2004, 342; A. A. OVG NW, NVwZ 1993, 488; offen gelassen in BVerwGE 89, 357 (359) = NVwZ 1992, 570. 135 60 vor der Verwirklichung des Entschlusses, den Arbeitsgeber zu wechseln, eine weniger restriktive Lösung ausgehandelt werden. Ist die Behörde hierzu nicht bereit und der Antragsteller bereits über mehrere Jahre im Besitz des Aufenthaltstitels mit auflösender Bedingung, kann unter Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bescheidungsklage mit dem Ziel erhoben werden, den Aufenthaltstitel mit der inhaltlich im Einzelnen zu bestimmenden Beschäftigungserlaubnis ohne auflösende Bedingung zu verlängern. Spätestens nach Ablauf von fünf Jahren (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) ist die Beifügung einer auflösenden Bedingung unzulässig. Einstweiliger Rechtsschutz ist wegen des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache wenig Erfolg versprechend. Der Betroffene muss sich deshalb für die Dauer des anhängigen Verwaltungsstreits mit der bereits erteilten auflösenden Bedingung begnügen. Muster..: Verpflichtungsklage auf Aufhebung der auflösenden Bedingung im Blick auf die Beschäftigungserlaubnis An das Verwaltungsgericht Antrag des tunesischen Staatsangehörigen gegen Land wegen Ausländerrecht Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage: Der Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung der Verfügung des Landkreises vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums vom dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis mit der Auflage „selbständige Erwerbstätigkeit oder vergleichbare nichtselbständige Erwerbstätigkeit nicht gestattet“ zu erteilen. dd) Rechtsschutz gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis (§ 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG) Ebenso wie der rechtliche Charakter der Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist der hiermit zusammenhängende Rechtsschutz umstritten. Wird die begehrte Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG verweigert, bleibt es beim bisherigen Aufenthaltsstatus. Kraft Gesetzes ist die Beschäftigung untersagt.138 Die bloße Beseitigung des Vermerks „ Erwerbstätigkeit nicht gestattet“ führt als solche nicht bereits zu der begehrten und benötigten Rechtskreiserweiterung.139 Vielmehr bedarf es einer ausdrücklichen die Beschäftigung zulassenden Einzelfallregelung. Der Belastete macht sich für den Fall der Arbeitsaufnahme ohne eine derartige Regelung strafbar, ohne dass es einer besonderen behördlichen Verfügung bedürfte. Will er gegen die Versagung der begehrten Beschäftigungserlaubnis vorgehen, hilft ihm die Anfechtungsklage nicht weiter.140 Denn wegen § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist eine belastende Auflage denklogisch nicht möglich. Es wird vielmehr die Anordnung eines begünstigenden Verwaltungsaktes begehrt. Daher ist Verpflichtungsklage in Form der Bescheidungsklage (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) auf Erteilung der begehrten Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erheben. Die Bundesagentur ist notwendig beizuladen. Stützt die 138 VGH BW, InfAuslR 2006, 131 (132); VG Karlsruhe, AuAS 2005, 194 (195) = InfAuslR 2005, 320; VG Braunschweig, AuAS 2005, 158 (160); VG Sigmaringen, U. v. 14. 6. 2005 – 4 K 468/05. 139 OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223). 140 Zühlcke, ZAR 2005, 317 (322). 61 Ausländerbehörde die Versagung der Beschäftigungserlaubnis auf die fehlende Zustimmung, beruft sich auf Rechtsgründe, sodass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachund Rechtslage der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz ist.141 Hat die Bundesagentur für Arbeit bereits ihre Zustimmung erteilt und wird die Beschäftigungserlaubnis ausschließlich auf ausländerrechtliche Gesichtspunkte gestützt, entfällt die Beiladung. Die Ausländerbehörde darf die begehrte Beschäftigungserlaubnis nicht mit der Begründung ablehnen, die Arbeitsverwaltung habe zu Unrecht ihre Zustimmung erteilt.142 Muster..: Bescheidungsklage gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis An das Verwaltungsgericht Antrag des marokkanischen Staatsangehörigen gegen Land wegen Ausländerrecht. Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage: Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis mit dem Inhalt, dass ihm die Beschäftigung bei der Firma XY als Gabelstapelfahrer gestattet wird, nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtes zu entscheiden. c) Begründungsanforderungen an den Eilrechtsschutz aa) Eilrechtsschutz gemäß § 123 VwGO wegen Versagung der beantragten Beschäftigungserlaubnis In allen Fallgestaltungen ist einstweiliger Rechtsschutz gegen die Versagung der beantragten Beschäftigungserlaubnis gemäß § 123 VwGO beim Verwaltungsgericht zu beantragen. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Verwaltungsgericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes im Blick auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn diese Regelung erforderlich ist, um wesentliche Nachteile von dem Antragsteller abzuwenden. Der Anordnungsgrund wie auch der Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen. § 123 Abs. 5 VwGO hindert nicht den Eilrechtsschutz nach § 123 VwGO bezogen auf die Beschäftigungserlaubnis, wenn zugleich im aufenthaltsrechtlichen Verfahren der Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen ist.143 Im Blick auf den Anordnungsgrund ist glaubhaft zu machen, dass der Antragsteller aus Zeitund Gründen des effektiven Rechtsschutzes nicht auf den Weg der Verpflichtungsklage verwiesen werden kann. Dazu ist erforderlich, dass dargetan und glaubhaft gemacht wird, dass der Beginn des vom Antragsteller angestrebten Arbeitsverhältnisses unmittelbar bevorsteht. In diesem Fall greift insbesondere bei Ausbildungsverhältnissen ein besonders dringliches Interesse zugunsten des Antragstellers durch.144 Wird nicht glaubhaft gemacht, dass der Arbeitsplatz noch zur Verfügung steht, fehlt es am Anordnungsgrund. 145 Ein schützwürdiges Interesse besteht auch bei einer drohenden Kündigung infolge des Ablaufs der 141 142 143 144 145 VG Karlsruhe, B. v. 4. 1. 2006 – 4 K 2142/05. VG Karlsruhe, B. v. 4. 1. 2006 – 4 K 2142/05. VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (61). VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05. OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (224). 62 Beschäftigungserlaubnis.146 Führt die Ausreise mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass der geltend gemachte Anspruch vom Ausland aus nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden kann, besteht ein besonders dringliches Interesse an einer vorläufigen Regelung.147 Im Blick auf den Anordnungsanspruch scheitern im Eilrechtsschutzverfahren die Mehrzahl der Anträge, weil die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis mit Ausnahme der in § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG geregelten Fälle regelmäßig im behördlichen Ermessen liegt. Leidet die behördliche Entscheidung am Ermessensmangel, kann im Eilrechtsschutz erreicht werden, dass zumindest eine erneute Entscheidung im Ermessenswege getroffen werden muss.148 Voraussetzung für eine den Anspruch auf eine ermessensfehlerhafte Entscheidung sichernde einstweilige Anordnung ist die Glaubhaftmachung eines Ermessensfehlers bei Ablehnung oder Unterlassung der begehrten Behördenentscheidung und die gerichtliche Prognose anhand der vorgebrachten oder sonst wie ersichtlichen Tatsachen, dass die ermessensfehlerfreie (Neu) Bescheidung der Behörde mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Erteilung der Beschäftigungserlaubnis führen wird.149 Mit der einstweiligen Anordnung kann allerdings nur eine vorübergehende Regelung getroffen werden. Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist daher grundsätzlich unzulässig.150 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist dann zu machen, wenn der geltend gemachte Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist (Annordnungsanspruch) und dem Antragsteller im Falle der Nichterfüllung des geltend gemachten Anspruchs bis zum Ergehen einer Entscheidung in der Hauptsache unzumutbare Nachteile drohen (Anordnungsgrund).151 Eine lediglich auf die vorläufige Beschäftigung gerichtete einstweilige Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache äußert keine auch im Hauptsacheverfahren irreversiblen Wirkungen für die Zukunft und ist deshalb zulässig.152 Vielmehr kann die Ausländerbehörde mit einer rechts- und ermessensfehlerfreien Hauptsachentscheidung den status quo ante wiederherstellen.153 Muster..: Eilrechtsschutzantrag gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis An das Verwaltungsgericht Antrag des marokkanischen Staatsangehörigen gegen Land wegen Ausländerrecht. Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO anzuordnen, dass dem Antragsteller bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren eine Beschäftigungserlaubnis mit dem Inhalt erteilt wird, dass ihm die beantragte Beschäftigung bei der Firma XY als Gabelstapelfahrer vorläufig erlaubt ist. 146 147 148 149 150 151 152 153 VG Koblenz, NVwZ 2005, 724 (725). VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (379). VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (380); VG Koblenz, NVwZ 2005, 724. Vgl. VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (380). OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223); BayVGH, B. v. 10. 3. 2006 – 24 CE 05.2685, 24 C 05.2686. VG Koblenz, NVwZ 2005, 724. OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223); VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05. VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05. 63 bb) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bei Änderung oder Aufhebung der Beschäftigungserlaubnis Anders ist die prozessuale Situation, wenn der Antragsteller sich gegen die Änderung oder Aufhebung der bestehenden Beschäftigungserlaubnis wenden will. In diesen Fällen hat der Rechtsbehelf gegen die behördliche Verfügung nach § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG aufschiebende Wirkung. Insoweit bleibt es damit bei der früheren Rechtslage. Die Änderung oder Aufhebung der Beschäftigungserlaubnis setzt jedoch deren wirksamen Bestand voraus. Ist eine Beschäftigungserlaubnis noch nie erteilt worden oder ist sie aufgrund der ihr innewohnenden zeitlichen oder sachlichen Begrenzung erloschen, kann der Rechtsschutz nicht über § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nur über § 123 VwGO erlangt werden.154 cc) Eilrechtsschutz zur Sicherstellung der Beschäftigungserlaubnis während des aufenthaltsrechtlichen Rechtsschutzverfahrens (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt der Aufenthaltstitel für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Beschäftigung als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines gerichtlichen Verfahrens über einen zulässigen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dadurch, dass für die jeweils bezeichneten Zeiträume das Fortbestehen des Aufenthaltstitels (nur) zum Zwecke der Ausübung einer Erwerbstätigkeit fingiert wird, wird der nach § 4 Abs. 2 und 3 AufenthG erforderliche Zusammenhang zwischen Aufenthaltstitel und Beschäftigungserlaubnis gewahrt.155 Eine vor dem 1. Januar 2005 erteilte Arbeitserlaubnis bzw. Arbeitsberechtigung behält ihre Gültigkeit bis zum Ablauf ihrer Gültigkeitsdauer bzw. gilt unbefristet fort (§ 105 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG). Für diese Fälle bedarf es bis zum Eintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nicht der Fortgeltungsfiktion des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, da die Beschäftigungserlaubnis unmittelbar aus § 105 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG folgt. Vorübergehende Ausreisen sind unschädlich.156 Die Wiedereinreise nach Bekanntgabe der Versagungsverfügung wird aber wegen Erlöschens des Aufenthaltstitels nicht zugelassen. Die Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist nicht auf solche Fälle beschränkt, in denen nach Versagung des Verlängerungsantrags die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG entfallen ist. Vielmehr kommt die – auf Zwecke der Erwerbstätigkeit eingeschränkte – Regelung über die Fortbestehensfiktion des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nach ihrem systematischen Zusammenhang sowie ihrem Sinn und Zweck auch in Ausweisungsfällen in Betracht, in denen die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs durch eine gerichtliche Entscheidung wiederhergestellt worden ist.157 Über die Berechtigung, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, ist eine Bescheinigung auszustellen. Zwar enthält das Gesetz hierzu keine ausdrücklichen Regelungen. Doch ergibt sich dieser Anspruch mittelbar aus § 4 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG, in den Altfällen aus § 105 Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 in Verb. mit § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Wegen der in § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geregelten Nachweispflicht besteht ein anzuerkennendes Bedürfnis des Betroffenen, dass ihm die Ausländerbehörde gegebenenfalls die Berechtigung zur Ausübung einer Beschäftigung in geeigneter Form bescheinigt. Dieses Recht kann gegebenenfalls mit dem einstweiligen Anordnungsantrag (§ 123 VwGO) durchgesetzt werden.158 Zühlcke, ZAR 2006, 317 (322). OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); OVG NW, AuAS 2007, 158 = ZAR 2007, 251. 156 BayVGH, InfAuslR 2012, 14 (15). 157 VGH BW, AuAS 2003, 232 (234). 158 OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); OVG NW, AuAS 2007, 158 = ZAR 2007, 251; VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457); VG Magdeburg, InfAuslR 2008, 259. 154 155 64 Muster: Eilrechtsschutzantrag auf Bescheinigung der Fortbestehensfiktion An das Verwaltungsgericht Antrag des türkischen Staatsangehörigen gegen Land wegen Ausländerrecht. Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller eine Bescheinigung auszustellen, dass ihm nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erlaubt ist, bis zur Entscheidung über seinen Eilrechtsschutzantrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom … gegen die Verfügung des Landrates … vom… eine Beschäftigung auszuüben - alternativ: bis zur unanfechtbaren Entscheidung über seine Klage gegen die Verfügung des Kreises…vom …eine Beschäftigung auszuüben. dd) Eilrechtsschutz gegen Beschäftigungsverbot bei geduldeten Antragstellern Will ein geduldeter Ausländer erreichen, dass die ihm erteilte Duldungsbescheinigung um eine Erlaubnis zur Beschäftigung erweitert wird, ist Rechtsschutz im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und im Hauptsacheverfahren im Wege der Verpflichtungsklage zu erreichen. Ein Anordnungsgrund besteht etwa dann, wenn der Antragsteller bereits in einem Arbeitsverhältnis steht und dieses im Falle der Versagung der beantragten Erlaubnis beendet zu werden droht. Ein Anordnungsanspruch setzt eine Ermessensreduzierung auf Null voraus. Ist das nicht der Fall, kann im Eilrechtsschutzverfahren ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gegeben sein.159 Muster: Eilrechtsschutzantrag gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis An das Verwaltungsgericht Antrag des türkischen Staatsangehörigen gegen Land wegen Ausländerrecht. Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig eine Beschäftigungserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung bei der Firma …gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erteilen, bis in der Hauptsache über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung der Beschäftigungserlaubnis entschieden ist. ee) Eilrechtsschutz gegen Rücknahme oder Widerruf der Beschäftigungserlaubnis OVG NW, AuAS 2006, 143; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 2007, 494; OVG Rh-Pf, B. v. 4. 6. 2007 – 7 B 10282/07, beide Verpflichtungsklage gegen Beschäftigungsverbot. 159 65 Zwar regelt § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG unmittelbar nur den Rechtsschutz gegen die Änderung oder Aufhebung einer Nebenbestimmung zur Ausübung einer Beschäftigung. Allgemein wird davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber die Konsequenzen der Regelungen in § 4 Abs. 2 und 3 AufenthG bei der erst im Vermittlungsverfahren eingefügten Regelung des § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG nicht ausreichend bedacht habe. Da eine Beschäftigungserlaubnis nach allgemeiner Auffassung als selbständiger Verwaltungsakt und nicht als Nebenbestimmung ergeht, wird deshalb teilweise eine erweiternde oder analoge Anwendung des § 84 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG auf die selbständige Beschäftigungserlaubnis vorgeschlagen.160 Teilweise wird von einem redaktionellen Versehen des Gesetzgebers ausgegangen und deshalb die Vorschrift unmittelbar auf den Entzug oder die Rücknahme der Beschäftigungserlaubnis angewandt.161 Auch der Widerruf und die Rücknahme der einer Duldung beigefügten (selbständigen) Beschäftigungserlaubnis unterfällt nach dieser Ansicht der Vorschrift des § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG. In der Konsequenz dieser Ansicht liegt es, dass in der Hauptsache Widerspruch und Klage gegen den Widerruf oder die Rücknahme der Beschäftigungserlaubnis einzulegen bzw. zu erheben und im Eilrechtsschutzverfahren der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen den Widerruf bzw. die Rücknahme der Beschäftigungserlaubnis zu stellen ist. Die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes entfällt. Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache stellt sich nicht. Es findet lediglich eine summarisch ausgerichtete Interessenabwägung statt. Wer diesen Weg nicht gehen und § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG auf den Widerruf bzw. die Rücknahme der Beschäftigungserlaubnis nicht anwenden will, muss im Eilrechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO vorgehen. II. Türkische Arbeitnehmer Das AufenthG verweist in § 4 Abs. 1 und Abs. 5 auf das spezifische Assoziationsrecht für türkische Arbeitnehmer. Ebenso bestimmt § 15 BeschVerfV, dass günstigere Regelungen des Beschlusses ARB 1/80 unberührt von den Beschränkungen dieser Verordnung bleiben. Dies ist dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes geschuldet. Das Assoziationsrecht schafft keine besonderen Vorschriften für diese Personengruppe, soweit es um den Zugang zum Arbeitsmarkt geht. Dieser regelt sich auch für türkische Staatsangehörige nach den allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften. Erst wenn nach diesen der Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnet wird, findet das Assoziationsrecht Anwendung. 1. Funktion von Art. 6 ARB 1/80 In diesem Zusammenhang gewinnt der Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates (Assoziationsratsbeschluss – ARB Nr. 1/80) eine besondere Bedeutung. Nach Art. 36 des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 zum Assoziierungsabkommen ist in verfahrensrechtlicher Hinsicht bestimmt worden, dass der nach Art. 6 und 22 des Abkommens errichtete Assoziationsrat EWG/Türkei die für die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit erforderlichen Regelungen festlegen soll. Der Assoziationsrat hatte zunächst im Jahre 1976 den Beschluss Nr. 2/76 erlassen, der nach seinem Art. 1 eine erste Stufe der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen der EG und der Türkei bildet. Am 19. September 1980 erließ der Assoziationsrat sodann den Beschluss Nr. 1/80 (Assozitionsratsbeschluss – ARB 1/80), der zu einer besseren Regelung zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen führen soll und den Beschluss Nr. 2/76 ersetzt. Der Beschluss ARB 1/80 begründet zwar keinen 160 161 Michael Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG II - § 84 AufenthG Rdn.20. Britta Bartelheim, InfAuslR 2005, 458 (461 f.). 66 Einreiseanspruch. Vielmehr richten sich Einreise und Aufenthalt von türkischen Staatsangehörigen weiterhin nach innerstaatlichem Recht. Der Beschluss ARB 1/80 verstärkt über bestimmte Zeitphasen schrittweise das Aufenthaltsrecht bis hin zur Verfestigung. Nach anfänglichen Unsicherheiten in der Praxis ist durch die Rechtsprechung des EuGH klargestellt worden, dass ARB-Beschlüsse einen integrierenden Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung bilden und daher in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung haben.162 Art. 6 und 7 ARB 1/80 regeln zwar nur die beschäftigungsrechtliche und nicht die aufenthaltsrechtliche Stellung des Arbeitnehmers. Da beide Aspekte indes eng miteinander verbunden sind, kann sich ein türkischer Arbeitnehmer zur Begründung seines Verlängerungsantrags gegenüber der Ausländerbehörde deshalb unmittelbar auf diesen Beschluss berufen.163 Dies wird auch durch § 4 Abs. 1 AufenthG bestätigt. Allerdings trifft den türkischen Arbeitnehmer eine Nachweispflicht in Ansehung der tatbestandlichen Voraussetzungen seines Anspruchs (§ 4 Abs. 5 Satz 1 AufenthG). 2. Voraussetzungen des Aufenthaltsrechtes nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 Ein zum regulären Arbeitsmarkt zugelassener türkischer Arbeitnehmer hat nach Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung bei demselben Arbeitnehmer Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis. Nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung erhält er gemäß Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein anderes Stellenangebot zu bewerben, wobei allerdings Gemeinschaftsangehörigen bei der Arbeitssuche Vorrang zukommt. Nach vier Jahren erhält der türkische Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 schließlich das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten unselbständigen Beschäftigung. Gemeinschaftsangehörige sind ihnen gegenüber dann nicht mehr bevorrechtigt.164 Bis zur Erreichung der Position nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 besteht eine Bindungswirkung des Erneuerungsanspruchs an die Fortdauer des Beschäftigungsverhältnisses. Der EuGH hat wiederholt entschieden, dass die in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verliehenen Rechte nach der Dauer einer ordnungsgemäßen Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis in abgestufter Weise erweitert werden und bezwecken, die Situation der Betroffenen im jeweiligen Mitgliedstaat schrittweise zu verfestigen. Aus der Systematik und der praktischen Wirksamkeit des mit Art. 6 Abs. 1 ARB 180 geschaffenen Systems einer abgestuften Eingliederung der türkischen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates, folge, dass die in den drei Gedankenstrichen dieser Bestimmung jeweils aufgestellten Bedingungen von den Betroffenen nacheinander erfüllt werden müssten.165 Der Gerichtshof hat deshalb ausdrücklich festgestellt, dass die Inanspruchnahme der Rechte, die einem türkischen Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 zustehen, grundsätzlich voraussetzt, dass dieser zuvor den Tatbestand des Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80Abs. 1 erfüllt hat. Somit könne ein türkischer Wanderarbeitnehmer generell ein Recht nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht allein aufgrund der Tatsache geltend machen, dass er im Mitgliedstaatmehr als vier 162 EuGH, NVwZ 1991, 255 (256) = EZAR 811 Nr. 11 = InfAuslR 1991, 2 – Sevince; EuGH, NVwZ 1993, 258 (260 f.) = EZAR 810 Nr. 7 – Kus; EuGH, InfAuslR 2003, 41= AuAS 2003, 134 – Kurz; EuGH, NVwZ 2007, 187 (188) – Güzeli; so auch BVerwGE 97, 301 (304) = NVwZ 1995, 1110; so auch die Allgemeinen Anwendungshinweise des BMI, InfAuslR 2002, 349 (350). 163 EuGH, NVwZ 1995, 53 (54) = EZAR 814 Nr. 4 – Eroglu; EuGH, NVwZ 1995, 1093 (1094) = EZAR 811 Nr. 23 = InfAuslR 1995, 261 – Bozkurt; EuGH, NVwZ 1997, 677 (678) = EZAR 811 Nr. 29 – Tetik. 164 Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1222); 165 EuGH, InfAuslR 2006, 106 (§ 37) – Sedef. 67 Jahre lang rechtmäßig eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, wenn er nicht, erstens, mehr als ein Jahr bei demselben Arbeitgeber und, zweitens, zwei weitere Jahre für diesen gearbeitet habe.166 Die Erreichung der nächst höheren Integrationsstufe setzt danach voraus, dass das Beschäftigungsverhältnis noch besteht. Wer vor Erreichung der dritten Verfestigungsstufe den Arbeitgeber wechselt, dessen Anwartschaft beginnt mit Beginn des nunmehr eingegangenen Arbeitsverhältnisses von vorn, d.h. er muss nach dem Arbeitgeberwechsel erneut drei Jahre warten, um die dritte Verfestigungsstufe zu erreichen. Erreicht der Arbeitnehmer die zweite Verfestigungsstufe nicht, weil er unverschuldet arbeitslos wird, bleibt ihm die erworbene und zu sichernde Anwartschaft erhalten. Nicht erst nach dem Erreichen der zweiten, sondern bereits nach dem Erreichen der ersten Verfestigungsstufe findet Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 Anwendung. Unterbrechungen infolge unfreiwilliger Arbeitslosigkeit sind zwar nicht den Zeiten der Beschäftigung hinzuzurechnen, sie berühren indes nicht den erreichten Verfestigungsanspruch und sind deshalb insoweit unschädlich. Nach fünf Jahren wird nach innerstaatlichem Recht (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) der Weg in die Verfestigung eröffnet. Die in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 enthaltenen, zeitlich gestaffelten Zugangsrechte zum Arbeitsmarkt bauen danach systematisch aufeinander auf und fördern die Integration türkischer Arbeitnehmer. Wechselt der türkische Arbeitnehmer vor Erreichen der Jahresfrist den Arbeitgeber, gehen seine zuvor zurückgelegten Beschäftigungszeiten verloren167 und müssen beim neuen Arbeitgeber erst wieder aufgebaut werden. Eine Zustimmung der Ausländerbehörde zum Arbeitgeberwechsel ist ohne Bedeutung. Beim Betriebsübergang ist nicht bereits deshalb ein zweites Arbeitsverhältnis anzunehmen, weil der neue Arbeitgeber mit dem bisherigen Personal neue Arbeitsverträge abschließt. Erklärt der neue Arbeitgeber, der neue Arbeitsvertrag habe lediglich bescheinigen sollen, dass ein Arbeitsverhältnis mit ihm als Nachfolger besteht, spricht dies dafür, dass der neue Arbeitsvertrag eine für Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erster Spiegelstrich unschädliche Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses darstellt. Der Umstand, dass im neuen Arbeitsvertrag eine Probezeit vereinbart worden ist, kann unter diesen Voraussetzungen nicht als ausschlaggebendes Indiz für ein zweites Arbeitsverhältnis gewertet werden.168 III. Selbständige Erwerbstätigkeit (§ 21 AufenthG) § 21 AufenthG regelt die selbständige Erwerbstätigkeit. Zuvor sind allerdings gesetzliche Privilegierungen zu prüfen. Es bedarf deshalb keines Rückgriffs auf § 21 AufenthG in den Fällen, in denen bereits kraft Gesetzes die Ausübung einer Erwerbstätigkeit und damit auch eine selbständige Tätigkeit (z.B. § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., S 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 23 Abs. Abs. 2 Satz 5, § 23a, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 29 Abs. 5 Nr. 1, § 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) erlaubt ist. Wegen des EuGH, InfAuslR 2006, 106 (§ 43) – Sedef; dagegen Gerrit Glupe, InfAuslR 2006, 253; anders noch Hess. VGH, InfAuslR 2003, 219 (221). 166 167 Mallmann, NVwZ 1998, 1025 (1026); Hess. VGH, AuAS 1999, 158 (159); krit. hierzu Gutmann, in: GK-AuslR, ARB Nr. 1/80 EWG/Türkei, Art. 6 Rn 119 ff. 168 OVG SA, InfAuslR 2004, 229 = NVwZ-RR 2004, 789. 68 Vorrangs der Gemeinschaftsrechtes und damit der kraft des Freizügigkeitsrechtes gewährten Möglichkeit der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit findet § 21 auf Angehörige der Mitglied- und EWR-Staaten169 sowie auf deren drittstaatsangehörige Familienangehörige keine Anwendung. Den schweizerischen Staatsangehörigen steht nach dem Freizügigkeitsabkommen der EU mit der Schweiz das Recht auf Niederlassung zu. Eine Beteiligung der Kammern und sonstiger Stellen findet in diesen Fällen nicht statt (Nr. 21.0.1 AufenthG-VwV). § 21 AufenthG ist gegenüber der usprünglich reigiden Form in den letzten acht Jahren erheblich aufgelockert worden. Praxisrelevant sind insbesondere Abs (Hochschulabsolventen), Abs. 3 (Altersvorsorge), Abs. 5 (freiberufluche Tätigkeit) sowie Abs. 6 (Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis mit anderem Zweck). In erster Linie geht es bei der selbständigen Erwerbstätigkeit um den Betrieb eines Gewerbes in verschiedenen Rechtsformen. Betrieb eines Gewerbes ist die selbständige, generell erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit von einer gewissen Dauer im wirtschaftlichen Bereich. Begünstigt sind nicht nur Unternehmensgründer oder Einzelunternehmer, sondern auch Geschäftsführer und gesetzliche Vertreter von Personenund Kapitalgesellschaften. Generell erschließt sich der Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit aus einer Umkehr der prägenden Merkmale der nichtselbständigen Erwerbstätigkeit. Zu Lösung von Abgrenzungsproblemen zwischen selbständiger Erwerbstätigkeit und Beschäftigung kann im Einzelfall die Bundesagentur für Arbeit beteiligt werden (Nr. 21.03 AufenthG-VwV). Soweit in der Rechtsprechung für die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit die Beherrschung der deutschen Sprache gefordert wird,170 ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass § 21 AufenthG ein derartiges Erfordernis nicht enthält und im Übrigen für ein Unternehmen, das überwiegend im internationalen Handel tätig ist, dann nicht verlangt werden kann, wenn der bestellte Geschäftsführer bzw. Prokurist ausschließlich für die Pflege und Fortentwicklung der internationalen Geschäftsbeziehungen des Unternehmens vorgesehen ist. Dass in dem der Erwerbstätigkeit zugrunde liegenden Vertrag der Begriff „Angestellter“ verwendet wird, ist dann unerheblich, wenn aufgrund des Gesellschaftsvertrages und des mit dem Betreffenden abgeschlossenen Anstellungsvertrages dieser alleinvertretungsberechtigt und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiter Geschäftsführer ist. Im Hinblick auf eine derart beherrschende Stellung im Betrieb und den Einfluss auf die Geschäftsführung kann unter diesen Voraussetzungen nicht von einer abhängigen, unselbständigen Beschäftigung ausgegangen werden.171 Man kann insoweit auch die Lösung über den Begriff der vergleichbaren unselbständigen Erwerbstätigkeit suchen, die von Geschäftsführern und Prokuristen ausgeübt wird. Eine selbständige Erwerbstätigkeit umfasst nicht nur die Betätigung als Einzelunternehmer, sondern auch vergleichbare Tätigkeiten wie etwa: geschäftsführungsberechtigter Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, einer OHG oder einer KG, gesetzlicher Vertreter einer juristischen Person (z. B. als Geschäftsführer einer GmbH), leitender Angestellter mit Generalvollmacht oder Prokura, unselbständiger Reisegewerbetreibender (z. B. als unselbständiger Handelsvertreter) sowie 169 170 171 Norwegen, Island und Lichtenstein. VG Köln, NVwZ-Beil. 2003, 108 (109); VG Berlin, InfAuslR 2003, 217 (219). VGH BW, InfAuslR 1993, 336 (338). 69 Stellvertreter nach § 45 Gewerbeordnung oder § 9 Gaststättengesetz. Eine Reihe von bilateralen Abkommen, welche die Bundesrepublik mit bestimmten Staaten abgeschlossen hat, enthalten Wohlwollens- oder Meistbegünstigungsklauseln. Diese schränken nach Maßgabe des jeweiligen Vertrages das ansonsten bei der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit bestehende Ermessen der Ausländerbehörde erheblich ein, vermitteln indes keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt wegen Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit.172. Dieser Grundsatz leitet auch das behördliche Ermessen bei der Anwendung des § 21 Abs. 2 AufenthG. Bei einer derartigen Entscheidung sind in jedem Einzelfall alle öffentlichen und privaten Belange gegeneinander abzuwägen. Da Antragsteller aus Vertragsstaaten gegenüber anderen ausländischen Antragstellern nach dem Vertrag begünstigt werden, sind ihre persönlichen Interessen im Rahmen der Ermessensausübung positiv zu würdigen. Die nichtselbständige Erwerbstätigkeit wird von diesen Abkommen nicht erfasst.173 Bei der Entscheidung über einen Aufenthaltstitel zum Zwecke einer selbständigen Erwerbstätigkeit ist es mit dem Gebot einer wohlwollenden Ermessensausübung nicht zu vereinbaren, wenn die beabsichtigte Erwerbstätigkeit allein mit Hinweisen auf staatliche Belange – z. B. Fehlen eines besonderen örtlichen Bedürfnisses oder eines übergeordneten wirtschaftlichen Interesses an der Erwerbstätigkeit (vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) – versagt wird. Insoweit privilegiert § 21 Abs. 2 AufenthG Antragsteller gegenüber den Antragstellern, die ihren Antrag auf § 21 Abs. 1 AufenthG stützen. Bei der Anwendung von § 21 Abs. 2 AufenthG ist in jedem Einzelfall auch das private Interesse des Antragstellers an der selbständigen Erwerbstätigkeit positiv zu würdigen. Auch der erstmals einreisende und eine selbständige Erwerbstätigkeit anstrebende Antragsteller hat daher einen Anspruch auf wohlwollende Ermessensausübung. Bei der Ermessensausübung gebieten die Wohlwollensklauseln die positive Würdigung der persönlichen Interessen des Antragstellers. Je nach der Art der angestrebten Tätigkeit kann auch der Aufenthaltsdauer des Antragstellers im Bundesgebiet eine erhebliche Bedeutung zukommen. Wer z.B. ein selbständiges Handelsgewerbe betreiben will, muss mit Kunden, Lieferanten und Behörden umgehen können. Dabei ist die Vertrautheit mit den hiesigen Lebensverhältnissen und der Sprache von Bedeutung. Bei einem selbständigen Künstler ist dies hingegen in aller Regel nicht erforderlich.174 Die Arbeitsmarktprüfung wird insoweit für zulässig erachtet.175 Danach vermitteln die in völkerrechtlichen Verträgen verankerten Wohlwollens- oder Meistbegünstigungsklauseln zwar keinen Rechtsanspruch auf Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit (vgl. auch § 21 Abs. 2 AufenthG), schränken jedoch das ansonsten bestehende behördliche Ermessen im Sinne eines Wohlwollensgebotes ein. Das im Regelfall durchschlagende Fehlen eines übergeordneten wirtschaftlichen Interesses oder besonderen örtlichen Bedürfnisses trägt die Versagung nicht. Insbesondere darf dem Antragsteller weder 172 OVG Rh-Pf, EZAR NF 30 Nr. 3 = ZAR 2007, 368 173 VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (62). Stiegeler, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, § 21 AufenthG Rdn. 13. OVG Rh-Pf, B. 4. 6. 2007 – 7 B 10282/07. 174 175 70 der Grundsatz der Zuwanderungsbeschränkung noch der des Konkurrentenschutzes entgegengehalten werden.176 Folgende Abkommen enthalten Wohlwollensgebote, die in der Verwaltungspraxis jedoch unterschiedliche Berücksichtigung finden: Dominikanische Republik: Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 23.12.1957 (BGBl. 1959 II S. 1468) – Art. 2 Abs. 1: Wohlwollensklausel Indonesien: Handelsabkommen vom 22.4.1953 nebst Briefwechsel (BAnz. Nr. 163); Briefe Nr. 7 und 8: Meistbegünstigungsklausel Iran: Niederlassungsabkommen vom 17.2.1929 (RGBl. 1930 II S. 1002); Art. 1 Abs. 2: Wohlwollensklausel Japan: Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 20.7.1927 (RGBl. II S. 1087); Art. 1 Abs. 2 Nr. 1: Meistbegünstigungsklausel Philippinen: Übereinkunft über Einwanderungs- und Visafragen vom 3.3.1964 (BAnz. Nr. 89); Nr. 1, 2 und 4: Wohlwollensklausel Sri Lanka: Protokoll über den Handel betreffende allgemeine Fragen vom 22.11.1972 (BGBl. 1955 II S. 189); Art. 1: Meistbegünstigungsklausel Türkei: Niederlassungsabkommen vom 12.1.1927 (RGBl. II S. 76; BGBl. 1952 S. 608); Art. 2 Satz 3 und 4: Meistbegünstigungsklausel Vereinigte Staaten von Amerika: Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 29.10.1954 (BGBl. 1956 II S. 487); Art. II Abs. 1: Meistbegünstigungsklausel D. Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung (§ 27 bis § 36 AufenthG) I. Allgemeine Voraussetzungen 1. Allgemeines Das Gesetz unterscheidet beim Nachzug zu Ausländern zwischen dem Ehegattennachzug (§ 29 AufenthG) sowie dem Kindernachzug (§ 32 AufenthG). Erhebliche Verbesserungen sind für den Nachzug zu Konventionsflüchtlingen eingeführt worden (vgl. § 31 AuslG 1990 einerseits und §§ 29 Abs. 2, 30 Abs. 1 Nr. 2, 32 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG andererseits). Durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der EU 2007 wurden die Vorschriften zum Familiennachzug verschärft worden. So wurde in § 27 Abs. 1a AufenthG eine Beweislastregel im Blick auf Zweifel an der bestehenden Absicht, die eheliche Lebensgemeinschaft zu führen, in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erstmals ein Mindestalter für den Ehegattennachzug und in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ebenfalls erstmals festgelegt, dass der nachziehende Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können muss. Durch Richtlinienumsetzunggesetz 2013, wurden der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, die Anforderungen an die Sprachkenntnisse bei Deutschverheirateten verschärft und der Kindernachzug grundlegend umgestaltet. Der Familiennachzug ist ins Unionsrecht überführt worden. §§ 27 ff. AufenthG sind am Anwendungsvorrang der Richtlinie 2004/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) zu messen. Diese ist mit Wirkung vom 3. Oktober 2005 unmittelbar anwendbar. Ziel der Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten (Art. 1 RL 2003/86/EG). Die Richtlinie gilt also nicht für die drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern. Deren Recht auf Familienzusammenführung regelt die Unionsbürgerrichtlinie (vgl. Art. 2 Nr. 2, Art. 5 Abs. 2, 176 BVerwG, EZAR 100 Nr. 9. 71 Art. 9, Art. 12 bis 14, Art. 16 bis 18, Art. 20, Art. 23 RL 2004/38/EG). Sie gilt auch nicht für den Nachzug zu Deutschen (§ 28 AufenthG). Die Familienzusammenführungsrichtlinie gestattet den Mitgliedstaaten die Einführung strengerer nationaler Rechtsvorschriften. Diese sind an Art. 8 EMRK und an der Grundrechtscharta zu messen.177 2. Erforderlicher Aufenthaltszweck (§ 27 Abs. 1 AufenthG) a) Allgemeines § 27 Abs. 1 AufenthG enthält die für den Familiennachzug maßgebende Zweckbindung, die nicht nur bei der Ersterteilung, sondern auch bei der Verlängerung (§ 27 Abs. 1, § 8 Abs. 1 AufenthG) zu beachten ist, und zwar so lange, bis ein eigenständiges Aufenthaltsrecht entstanden ist (§§ 31, 35 AufenthG), also regelmäßig mit der Erteilung der Niederlassungserlaubnis (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Der in § 27 Abs. 1 AufenthG bezeichnete Aufenthaltszweck ist eine zwingende Erteilungsvoraussetzung. Er erfordert, dass der Antragsteller zu einem im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen ziehen und mit diesem zusammenleben will. Dieser muss mit der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft einverstanden sein. Die Zweckbindung nach § 27 Abs. 1 AufenthG betrifft den Ehegattennachzug zu ausländischen Ehepartnern (§ 29 AufenthG) wie zu Deutschen (§ 28 AufenthG), den Kindernachzug (§ 32 AufenthG) sowie den Nachzug sonstiger Familienangehöriger nach § 36 AufenthG. Die Vorschriften des §§ 27 ff. AufenthG regeln den Nachzug zu Ausländern mit Aufenthaltserlaubnis abschließend. Daher liegt kein Nachzug vor, wenn außerhalb einer ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft der Nachzug angestrebt wird. Allerdings finden die Nachzugsvorschriften auf die lebenspartnerschaftliche Gemeinschaft entsprechende Anwendung (vgl. § 27 Abs. 2 AufenthG). Der Familiennachzug nach Gemeinschaftsrecht richtet sich nach § 3 FreizügG/EU. b) Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft Nach § 27 Abs. 1 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG erteilt und verlängert. Das lediglich formale Eheband genießt deshalb im allgemeinen Ausländerrecht keinen Schutz. Art. 6 Abs. 1 GG und die Vorschrift des § 27 Abs. 1 AufenthG erfordern die familiäre Lebensgemeinschaft in Form der Beistandsgemeinschaft zwischen erwachsenen Angehörigen oder der Erziehungsgemeinschaft zwischen erwachsenen und minderjährigen Angehörigen.178 Eine familiäre Lebensgemeinschaft liegt vor, wenn die Eheleute einen intensiven persönlichen Kontakt pflegen und wenn deren tatsächliche Verbundenheit in konkreter Weise in Erscheinung tritt, indem die Ausgestaltung der Beziehung diese Verbundenheit auch nach außen erkennen lässt.179 Im Allgemeinen ist vom Vorliegen einer familiären Lebensgemeinschaft auszugehen, wenn die Angehörigen regelmäßigen Kontakt zueinander pflegen, der über ein bloßes Besuchen 177 EuGH, NVwZ 2006, 1033 §§ 52 ff.; s. hierzu Thym, NJW 2006, 3249. 178 BVerwG, AuAS 2013, 158. OVG Sachsen, InfAuslR 2002, 297 (298) = AuAS 2002, 108 (LS); OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218 (219) 179 72 hinausgeht. Das Vorhandensein einer gemeinsamen Wohnung ist keine zwingende Voraussetzung, wenn eine dieser Gemeinschaft entsprechende Beistands- oder Betreuungsgemeinschaft auf andere Weise verwirklicht wird. Es ist mit der Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft nicht unvereinbar, wenn ein Ehegatte Kontakte zu einem vorehelich geborenen nicht gemeinsamen Kind pflegt und bei dieser Gelegenheit auch Kontakte mit der Kindesmutter aufrechterhält. Erst wenn der andere Ehegatte sein Leben so einrichtet, dass er überwiegend nicht in der ehelichen Wohnung zusammen mit seinem Ehepartner, sondern das Leben mit einer anderen Person verbringt, kann von einer ehelichen Lebensgemeinschaft tatsächlich nicht mehr gesprochen werden. Eine eheliche Lebensgemeinschaft ist dann nicht mehr gegeben, wenn der Ehegatte seinen Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort verlegt und nur noch gelegentlich in die eheliche Wohnung und zu dem Ehepartner zurückkehrt.180 Es wird stets auf eine zusammenfassende Bewertung aller Umstände des jeweiligen Lebenssachverhaltes ankommen. Das Leben in einer gemeinsamen Wohnung ist für eine eheliche Lebensgemeinschaft typisch. Leben die Eheleute getrennt, bedarf es erkennbarer Anhaltspunkte dafür, dass diese gewählte Ausgestaltung der Beziehung mit den für eine familiäre Lebensgemeinschaft notwendigen Voraussetzungen eines intensiven persönlichen Kontaktes und der zwischen den Eheleuten bestehenden Verbundenheit vereinbar ist. Solche Anhaltspunkte liegen vor, wenn sich die Eheleute häufig besuchen, gegenseitig Beistandsleistungen erbringen und gemeinsame Kontakte zu Dritten wahrnehmen. Ein überwiegendes Getrenntleben der Familienangehörigen, insbesondere wenn einzelne Mitglieder ohne Notwendigkeit über eine eigene Wohnung verfügen, deutet eher auf das Vorliegen einer nach Art. 6 Abs. 1 GG aufenthaltsrechtlich nicht besonders schutzwürdigen Begegnungsgemeinschaft hin. Jedoch bestimmen die Eheleute Art und Weise des Zusammenlebens eigenverantwortlich. Bei Bestehen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes ist ein Zusammenleben in ehelicher Gemeinschaft auch in der Weise möglich, dass beide Ehepartner aus beruflichen Gründen neben der als Lebensmittelpunkt dienenden gemeinsamen Ehewohnung einen Nebenwohnsitz unterhalten oder dass einer der Eheleute aus beruflichen Gründen einen derartigen Nebenwohnsitz unterhält und die Eheleute nur an Wochenenden oder zu sonstigen Zeiten gemeinsam in der Ehewohnung zusammentreffen. Ist die gemeinsame Ehewohnung etwa in Frankfurt am Main, unterhält der Ehepartner indes aus beruflichen Gründen im Hunsrück eine Nebenwohnung, spricht allenfalls ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem zeitlichen Umfang einer beruflichen Tätigkeit außerhalb des Bereichs des Lebensmittelpunktes und des hieraus erzielten Einkommens zu den mit der beruflichen Trennung für das Eheleben verbundenen Belastungen gegen ein eheliches Zusammenleben.181 Es ist nicht ein irgendwie vorgegebenes Regel-Ausnahme-Verhältnis zugrunde zu legen. Es kommt vielmehr auf die Gründe an, die den Eheleuten ein durchgehendes Zusammenleben in gemeinsamer Wohnung nicht erlauben. Wie lange ein Ehepaar die mit einer solchen zeitlichen Trennung verbundenen Belastungen auf sich nimmt, hat es im Rahmen der allein ihm obliegenden Gestaltung seiner Lebensverhältnisse selbst zu entscheiden. Eine solche sich über lange Zeit hinziehende, mit beruflichen Gegebenheiten begründete Lebensgestaltung kann allenfalls bei Hinzutreten weiterer, für eine „Scheinehe“ sprechender Gesichtspunkte zusätzliches Indiz für eine 180 181 Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (430). Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (245 f.) = Hess. VGRspr. 2001, 44; ähnlich OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83). 73 dauerhafte Trennung des Ehepaares sein.182 Eine Trennung gilt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung allerdings dann als vollzogen, wenn die Ehepartner die gemeinsame Wohnung ohne unabweisbaren Grund aufgegeben haben und in getrennten Wohnungen leben.183 Ist z.B. ein Ehepartner etwa aus berufsbedingten Gründen auf Dauer in den Herkunftsstaat zurückgekehrt, so ändern auch gelegentliche Besuchsreisen zu seinem im Bundesgebiet lebenden Ehegatten nichts an der Tatsache der dauerhaften Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft.184 Die Unterbringung eines Ehegatten in einem Behinderten- oder Pflegeheim oder berufs- und ausbildungsbedingte Gründe können etwa zu einer Trennung oder dazu führen, dass nur an den Wochenenden eine häusliche Gemeinschaft geführt werden kann.185 Ebenso wenig muss die Haft eines Ehepartners zwingend der Annahme einer gemeinsamen Lebensführung entgegenstehen. Vielmehr kann im Einzelfall eine in § 27 Abs. 1 AufenthG geregelte Beistands- und Betreuungsgemeinschaft vorliegen,186 wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die familiäre Lebensgemeinschaft nach Beendigung der Haft fortgesetzt wird. Auch die familienrechtliche Rechtsprechung geht davon aus, dass eine haftbedingte Trennung der Ehegatten allein, unabhängig von der Dauer der Haft, jedenfalls so lange nicht zu einem Getrenntleben der Ehegatten im rechtlichen Sinne führt, wie beide beabsichtigen, die eheliche Lebensgemeinschaft nach Beendigung der Haft fortzusetzen. Anders ist die Rechtslage bei Familienangehörigen von Uniontsbürgern, weil das dem Angehörigen vermittelte Aufenthaltsrecht unabhängig vom Fortbestand der Lebensgemeinschaft ist. Es bleibt auch dann erhalten, wenn der Angehörige die gemeinsame Wohnung verlässt und auf Dauer getrennt lebt.187 Das gilt allerdings nicht, wenn der Aufenthaltstitel durch Täuschung der Behörde erreicht worden ist.188 c) „Scheinehe“ (§ 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG) aa) Voraussetzungen der „Scheinehe“ Nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG wird der Nachzug nicht zugelassen, wenn feststeht, dass die Ehe oder das Verwandtschaftsverhältnis ausschließlich zu dem Zweck geschlossen oder begründet wurde, dem Nachziehenden Einreise und Aufenthalt zu ermöglichen. Mit der Einschränkung „ausschließlich“ wird klargestellt, dass alleiniger Zweck des Nachzugs die 182 Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (246). 183 184 OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111. Hess. VGH, InfAuslR 2000, 370 (371) = NVwZ-Beil. 2000, 118 = EZAR 023 Nr. 19. 185 VGH BW, NVwZ-RR 1991, 430 = EZAR 023 Nr. 1; OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218 (219). 186 Hess. VGH, AuAS 1998, 15 (16); VG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.4.1997 – 11 G 2884/95(1). 187 BVerwGE 98, 298 (308) = InfAuslR 1995, 349 (351, 352). VG Darmstadt, AuAS 1999, 231 (232); so auch für Art. 8 EMRK, EGMR, EuGRZ 1985, 567 (570 f.) – Abdulaziz; EGMR, InfAuslR 1996, 245 (246 f.) – Gül; EGMR, InfAuslR 1997, 141 – Ahmut, in Gül und Ahmut mit abweichenden Meinungen; VG Wiesbaden, Hess.VGRspr. 1999, 71, für das allgemeine Ausländerrecht. 188 74 Erlangung eines Aufenthaltsrechts sein muss. Selbstverständlich geht es Eheleuten und Verwandten mit dem Nachzug um die Erlangung eines Aufenthaltsrechts. Anders kann die familiäre Lebensgemeinschaft ja gar nicht geführt werden. Nur wenn feststeht, dass die familiäre Lebensgemeinschaft nicht geführt werden soll, dürfen Einreise und Aufenthalt versagt werden. Es müssen deshalb entsprechende eindeutige Feststellungen getroffen werden. In Zweifelsfällen trägt die Behörde die Beweislast, weil sie dem an sich bestehenden Rechtsanspruch einen Ausschlusstatbestand entgegen hält. Aus dem Verschweigen der Ehe im Visumverfahren wird auf eine „Scheinehe“ geschölossen.189 Bei berechtigtem Anlass darf die Ausländerbehörde nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG überprüfen, ob der Wille zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft nur vorgeschützt ist.190 Die Einleitung von Ermittlungen durch die Ausländerbehörde setzt einen hinreichend klaren Begriff der ehelichen Lebensgemeinschaft voraus. Denn nach der Rechtsprechung des BVerwG bedeutet „Scheinehe“, dass die „Eheschließung nicht dem Ziel dient, eine – in welcher Form auch immer zu führende – eheliche Lebensgemeinschaft zu begründen, sondern einen anderen Zweck verfolgt, insbesondere den, dem ausländischen Partner ein sonst nicht zu erlangendes Aufenthaltsrecht zu verschaffen“.191 Der Standesbeamte muss nach § 1310 Abs. 1 Satz 2 2. Hs. BGB die Mitwirkung verweigern, wenn offenkundig ist, dass die Ehe nach § 1314 Abs. 2 BGB aufhebbar wäre. Damit soll insbesondere die Eingehung von sog. Scheinehen vermieden werden. Offenkundig ist indes nicht im Sinne von § 291 ZPO als allgemeinkundig oder amtskundig zu verstehen. Im Hinblick auf die grundsätzlich bestehende Eheschließungsfreiheit sind im konkreten Fall sehr erhebliche und gewichtige Gründe festzustellen, um die Versagung der Eheschließung zu stützen. Der Standesbeamte darf deshalb nur in aus sich heraus evidenten Missbrauchsfällen seine Mitwirkung bei der Eheschließung versagen. Verbleiben auch nur die geringsten Zweifel, so muss die Ehe angemeldet werden. Will zumindest einer der beiden Ehepartner eine tatsächliche Lebensgemeinschaft durch die Eheschließung begründen, kann die beabsichtigte Eheschließung nicht mehr als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.192 Das Fehlen eines gültigen Aufenthaltstitels für sich allein rechtfertigt nicht die Versagung der Mitwirkung des Standesbeamten, zumal es keine Vermutung dafür gibt, dass von und mit erfolglosen Asylbewerbern schlechthin nur Scheinehen beabsichtigt werden. Die ausländerbehördliche Zwecküberprüfung hat allein an objektiv feststellbare Umstände anzuknüpfen.193 Das der Eheschließung zugrunde liegende Motiv ist unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, dass das mit der Ehe verbundene gegenseitige Pflichtenverhältnis nicht gewollt ist.194 Ob die Ehe harmonisch verläuft oder nicht, ist hingegen ebenso unerheblich wie die Frage, ob die für die Eheschließung maßgeblichen Motive den Idealvorstellungen einer Ehe gerecht werden oder andere Beweggründe eine wesentliche oder 189 OVG Hamburg, AuSS 2013, ^146. BVerwGE 65, 174 (181) = InfAuslR 1982, 122; BVerwG, InfAuslR 1992, 305 = EuGRZ 1987, 449; BVerwG, InfAuslR 1995, 393; OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Hamburg, AuAS 1994, 230; Hess. VGH, AuAS 1994, 183 (184); s. auch Jšst, InfAuslR 2000, 204. 191 BVerwGE 98, 298 (302) = InfAuslR 1995, 349 = NVwZ 1995, 1119 (1120); BVerwGE 119, 17 (29) = InfAuslR 2004, 99; BVerwGE 123, 190 (…) = NVwZ 2005, 1329 = InfAuslR 2005, 403 (404); OVG Berlin, AuAS 2004, 172 (173) 192 LG Frankfurt/M., InfAuslR 2000, 31 (32). 190 BVerwG, InfAuslR 2013, 328 (zur Offenbarungspflicht wegen Wohnsitzveränderung) OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Rh-Pf, InfAuslR 1999, 417 (418); Hess. VGH, EZAR 023 Nr. 22 = AuAS 2001, 64. 193 194 75 gar eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Beziehungen der Ehepartner müssen insbesondere auch nicht von einem – mit den Aufklärungsmöglichkeiten des Verwaltungswie auch des Strafrechts ohnehin kaum feststellbaren – unbedingten Willen zur Ehe auf Lebenszeit getragen sein.195 Sobald eine Ehe geschlossen ist, ist sie auch von der Ausländerbehörde zu beachten. Selbst wenn es dem ausländischen Ehegatten mit der Begründung einer ehelichen Lebensgemeinschaft insbesondere darum gehen sollte, dadurch ein sonst nicht zu erlangendes Aufenthaltsrecht zu erlangen bzw. aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu verhindern, kann einer derartigen Verbindung nicht allein deshalb unter dem Verdikt der „Scheinehe“ aufenthaltsrechtlicher Schutz versagt werden. Für die Annahme einer „Scheinehe“ reicht es nicht aus, dass der ausländische Ehegatte die Ehe wegen der mit ihr verbundenen ausländerrechtlichen Vorteile eingegangen ist. Eine derartige Intention stellt für sich betrachtet keinen Missbrauch dar.196 Entscheidend ist nicht das Motiv der Heirat, sondern vielmehr allein, ob die Ehegatten – aus welchen Gründen auch immer – die dem Bild der Ehe entsprechende persönliche Beziehung tatsächlich unterhalten.197 Besteht eine tatsächliche Lebensgemeinschaft, so kommt es nicht darauf an, wie sich die ehelichen Beziehungen im Übrigen gestalten. Es ist etwa unerheblich, ob zwischen den Ehegatten eine Geschlechtsgemeinschaft besteht oder die Ehegatten homosexuelle oder heterosexuelle Beziehungen mit Dritten unterhalten.198 Auch wenn der Ehemann mit einer anderen Frau während der Ehe Kinder gezeugt hat, schließt dies keineswegs aus, dass beide Ehepartner an der ehelichen Lebensgemeinschaft bewusst und gewollt festhalten wollen.199Andererseits kann allein durch den Nachweis der Erbringung von Haushalts- und Geldleistungen nicht das Bestehen einer auf Dauer angelegten und durch enge Verbundenheit und gegenseitigen Beistand geprägten Beziehung dargelegt werden.200 bb) Anhaltspunkte für die Zulässigkeit behördlicher Ermittlungen Da den Ehegatten sowohl die Freiheit, ihr eheliches Zusammenleben souverän zu gestalten, wie auch der Schutz vor staatlichen Eingriffen grundsätzlich gewährleistet ist, ist bei einer wirksam geschlossenen Ehe grundsätzlich anzunehmen, dass die Ehepartner auch eine eheliche Lebensgemeinschaft zu führen bereit und imstande sind. Eine behördliche Prüfung des Einzelfalls auf das Vorliegen einer „Scheinehe“ kommt daher ausnahmsweise nur bei einem triftigen Anlass in Betracht, zumal sie letztlich nur bei Kenntnis von Umständen aus dem höchstpersönlichen Bereich der Betroffenen erfolgen kann.201 Es wäre jedoch mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG schwerlich vereinbar, wenn die Verwaltung es unternähme, sich diese Kenntnis von Amts wegen zu verschaffen, und wenn dem Betroffenen vorbehaltlos 195 BayObLG, InfAuslR 2001, 210 (212) = EZAR 355 Nr. 25 196 Hess. VGH, EZAR 023 Nr. 22 = AuAS 2001, 64; OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83). Hess. VGH, EZAR 023 Nr. 22 = AuAS 2001, 64. 197 198 199 200 201 OVG Rh-Pf, InfAuslR 1999, 417 (418). OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 125 = NVwZ-RR 2001, 339. VG Minden, AuAS 1998, 230 (231) Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429) 76 die Last auferlegt würde darzutun, dass es sich bei ihrer Ehe nicht um eine „Scheinehe“ handelt.202 Als Anfangsverdacht für das Nichtbestehen einer Lebensgemeinschaft reicht daher der bloße Verdacht nicht aus.203 Vielmehr können erst äußere Anhaltspunkte außerhalb der Intimsphäre Anlass zur Einleitung von entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen geben. 204 Derartige Anhaltspunkte müssen indes gewichtig sein. So sind etwa anonyme Anzeigen ohne jegliche Bedeutung.205 Bereits die Einleitung von Ermittlungsmaßnahmen bringt für die davon Betroffenen wegen der damit verbundenen Befragung von Dritten, insbesondere Nachbarn und Arbeitgeber, regelmäßig erhebliche Nachteile mit sich. Daher darf die Behörde erst bei vernünftig begründeten Zweifeln an der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft Ermittlungsmaßnahmen ins Werk setzen. Denunziationen Dritter, insbesondere anonymer Natur, sind im Allgemeinen unerheblich. Allerdings darf die Behörde bei melderechtlichen Um- und Abmeldungen eines Ehepartners, die ihr im automatischen Datenaustauschverfahren bekannt werden, Ermittlungen durchführen. Erst ernsthafte Anzeichen dafür, dass die Ehe nur zum Zwecke eingegangen worden ist, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, rechtfertigen mithin behördliche Ermittlungsmaßnahmen.206 Demgegenüber setzt der Erlass einer Verfügung hinreichend zuverlässige Feststellungen voraus,207 die dem Regelbeweismaß genügen müssen. Verbleiben Zweifel, fehlt es an der erforderlichen Zuverlässigkeit. cc) Grenzen der Ermittlungen Bei der Wahl der Ermittlungsmethoden und der Fragestellungen hat die Behörde die Grundrechte, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. In diesem Zusammenhang darf die Behörde allerdings auch Fragen zum ehelichen Zusammenleben stellen. Dabei handelt es sich nicht um Beziehungen, die der Außenwelt nicht zugänglich sind und deshalb eine Offenlegung der Intimsphäre zum Gegenstand haben.208 So mögen etwa ein rascher Wechsel der „Ehekandidaten“ und widersprüchliche Einlassungen der Eheleute berechtigten Anlass zu Ermittlungen geben.209 Tragfähige, die Verfügung tragende tatsächliche Annahmen sind damit jedoch noch nicht dargetan worden. Auch die Tatsache, dass der Ehemann noch im Monat der Eheschließung aus der ehelichen Wohnung ausgezogen war, untermauert jedenfalls dann nicht den Verdacht einer „Scheinehe“, wenn sich die Eheleute nach den Angaben der Ehefrau bereits seit sieben Jahren gekannt und bereits vor dem Nachzug enge Beziehungen gepflegt hatten.210 Auch wenn die Ehegatten keine genauen Kenntnisse etwa über die jeweiligen Urlaubsgepflogenheiten haben, spricht dies nicht zwingend für eine „Scheinehe“, sondern dafür, dass sich die Eheleute verhältnismäßig wenig für die jeweiligen Lebensumstände des Ehepartners interessieren. Ein derartiges Desinteresse begründet indes nicht zugleich den Verdacht, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht geführt wird.211 Macht die als Zeugin geladene geschiedene Ehefrau eines Ausländers vor dem Verwaltungsgericht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht (§ 98 VwGO i.V.m. § 383 Nr. 2 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429). OVG Bremen, InfAuslR 1988, 281 = NVwZ-Beil. 1988, 92, für das Eilrechtsschutzverfahren. Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429). OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83). OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Hamburg, AuAS 1994, 230. BVerwG, InfAuslR 1995, 393. OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343 (344); s. auch OVG Hamburg, AuAS 2004, 172 (173). OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343 (344). BVerwG, InfAuslR 1995, 393, Ehefrau war anschließend verstorben. OVG Hamburg., InfAuslR 2001, 125 = NVwZ-RR 2001, 339. 77 ZPO) Gebrauch, steht dies der Verwertung ihrer früheren vom Familiengericht bekundeten Angaben zum anfänglichen Nichtbestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft nach der Rechtsprechung nicht entgegen.212 Begründet wird dies damit, dass im Falle der Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht das unmittelbare Beweismittel der persönlichen Vernehmung nicht das nur mittelbare Beweismittel der Urkunde über Zeugenwahrnehmungen verdränge. Das Verwaltungsgericht dürfe vielmehr den nicht möglichen Zeugenbeweis durch einen Urkundenbeweis ersetzen.213 Soweit behördliche Wohnungsbesichtigungen oder andere Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt werden, die nicht ohne Zustimmung der Betroffenen erfolgen können, sind diese grundsätzlich nicht erzwingbar. Der Umstand, dass die Eheleute bei verschiedenen an Werktagen durchgeführten Überprüfungen nicht in der Ehewohnung angetroffen wurden, besagt nichts über das Bestehen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes, wenn die Eheleute aus beruflichen Gründen nur an Wochenenden zusammenleben.214 Allerdings besteht unter diesen Voraussetzungen ein erhöhter Erklärungsbedarf.215 Der das Aufenthaltsrecht erstrebende Ehegatte hat nach der Rechtsprechung jedoch den Nachteil zu tragen, wenn es ihm nach Verweigerung der Mitwirkung an derartigen Ermittlungsmaßnahmen nicht gelingt, begründete behördliche Zweifel auszuräumen.216 Diese Rechtsprechung ist nicht bedenkenfrei, da sie die grundrechtlich geschützte Ausübung der Willensfreiheit in Ansehung der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 12 Abs. 1 GG) verfahrensrechtlich sanktioniert. Kann die Behörde keine stichhaltigen Feststellungen zur Untermauerung ihres Verdachts treffen, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht geführt wird, so ist von einer tatsächlich geführten Lebensgemeinschaft auszugehen. Der Betroffene ist nicht verpflichtet, zur Zerstreuung eines nicht zureichend begründeten behördlichen Verdachts, ganz oder teilweise auf die Ausübung seines Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung zu verzichten. Damit in Übereinstimmung steht die Rechtsprechung, die der Behörde regelmäßig für den Nachweis der Trennung der Eheleute die Beweislast auferlegt. 217 dd) Darlegungslasten im ausländerbehördlichen Verfahren Nach der Rechtsprechung gehört die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu den für den Betreffenden günstigen Umständen, die er unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und mit Nachweisen zu belegen hat.218 Allerdings darf die Behörde erst bei ernsthaften, gegen das Führen der ehelichen Lebensgemeinschaft sprechenden Anhaltspunkten in Ermittlungen eintreten und besteht erst unter diesen Voraussetzungen eine Mitwirkungspflicht der Eheleute. Zwar besteht bei der Feststellung des Vorliegens einer Lebensgemeinschaft keine Beweislast der Behörde. Der Umfang der Darlegungslast richtet sich insoweit nach den jeweiligen individuellen Verhältnissen, 212 OVG Berlin, AuAS 2004, 172 (173). 213 OVG Berlin, AuAS 2004, 172 (173), unter Berufung auf BVerwG, Buchholz 418.00 Ärzte Nr. 38 (S. 9 ff.) 214 Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (246) = Hess.VGRspr. 2001, 44. OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83). 216 Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (430). 215 217 OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111. Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (430). 218 78 insbesondere nach den Wohnverhältnissen und den beruflichen Tätigkeiten der Ehepartner. Zu einer näheren Darlegung ihrer innerfamiliären Lebensumstände sind sie nur dann verpflichtet, wenn die Ausländerbehörde begründete Zweifel am Bestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft hegt und diese gegenüber dem ausländischen Ehegatten äußert.219 Kann die Behörde keine hinreichend zuverlässigen Feststellungen treffen, dass die eheliche Lebensgemeinschaft nicht geführt wird, trägt sie die Beweislast für die nicht erweisliche Tatsache. Ist die innere Tatsache, eine eheliche Lebensgemeinschaft führen zu wollen, nach Ausschöpfung der zugänglichen Beweisquellen auch bei nur einem der Ehepartner nicht erweislich, trägt nach der Rechtsprechung der Kläger die materielle Beweislast. 220 Das BVerwG räumt zwar ein, dass § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG als Versagungsgrund ausgestaltet ist, sodass bei einer Wortlautauslegung die Beweislast die Behörde trifft.221 Diese Hürde nimmt das BVerwG indes mit seiner Ansicht nach „deutlichen Befunden der historischen Auslegung.“ Im Übrigen sei § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG nicht als abschließende Regelung zu verstehen und verdränge bei Nichterweislichkeit ihrer Voraussetzungen nicht den Grundtatbestand des § 27 Abs. 1 AufenthG. Für diesen sei anerkannt, dass der Herstellungswille beider Ehegatten zu den günstigen Tatsachen gehöre, für die derjenige, der ein Visum zum Familiennachzug begehre, die materielle Beweislast trage. 222 Überzeugend ist diese Rechtsprechung nicht. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird sich aber in Zukunft an dieser ausrichten. Sie findet aber nur in den Verfahren Anwendung, in denen ein Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis zum Nachzug beantragt wird. Will die Behörde hingegen das Aufenthaltsrecht wegen Zweifel an der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft entziehen, trägt sie bei Nichterweislichkeit der entsprechenden Voraussetzungen nach dem Günstigkeitsprinzip die Beweislast. ee) Darlegungslasten im Einreiseverfahren Besondere Schwierigkeiten bereiten Nachweisfragen im Einreiseverfahren. Auch im Falle des Ehegattennachzugs zu einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger wird insoweit vorausgesetzt, dass tatsächlich eine eheliche Lebensgemeinschaft geführt werden soll.223 Anders als in Inlandsfällen, in denen objektive und grundsätzlich auch feststellbare Anhaltspunkte für die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft dargelegt bzw. ermittelt werden können, leben hier die Eheleute noch nicht zusammen und ist evident, dass bloße behördliche Behauptungen nicht ausreichen können. Es kommt nach § 27 Abs. 1 AufenthG auf ein subjektives Element, nämlich den Herstellungswillen an. Dabei handelt es sich um eine innere Tatsache, auf deren Existenz nur durch äußere Anzeichen geschlossen werden kann.224 Ausgangspunkt ist nach der Rechtsprechung insoweit die Erfahrungstatsache, dass Paare, die nach einiger Zeit des Kennenlernens die Ehe schließen, diese auch führen, mithin die eheliche Lebensgemeinschaft herstellen. Stellt ein Außenstehender Gemeinsamkeiten der Eheleute fest, wie sie üblicherweise nach längerer Vertrautheit entstehen, so ist der Schluss auf den 219 Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (430). 220 BVerwGE 136, 222 (228 ff.) = InfAuslR 2010, 350 = NVwZ 2010, 1367 = AuAS 2010, 158, mit Hinweisen; so auch Hess.VGH, NVwZRR 2009, 264 (265) = EZAR NF 34 Nr. 17; Hess.VGH, Beschl. v. 29.6.2009 – 9 B 1815/09. 221 Marx, in: GK-AufenthG II – § 27 AufenthGRn 192 ff.; Göbel-Zimmermann, ZAR 2008, 169 (170); Oestmann, InfAuslR 2008, 17 (19 f.). 222 BVerwGE 136, 222 (228 ff.) = InfAuslR 2010, 350 = NVwZ 2010, 1367 = EZAR NF 34 Nr. 22 = AuAS 2010, 158, unter Hinweis auf BVerwG, Buchholz 402.240 § 23 AuslG Nr. 10; BVerfG, DVBl. 2003, 1260; so auch OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111; Hess.VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess.VGH, InfAuslR 2002, 426 (430). 223 VG Berlin, InfAuslR 2004, 288; s. aber Hess. VGH, InfAuslR 2004, 223, zur aufschiebenden Wirkung von Rechtsmitteln bei Scheinehen von Drittstaatsangehörigen mit Unionsbürgern. 224 OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107. 79 Willen der Eheleute zur Führung der Lebensgemeinschaft tragfähig. Das Fehlen derartiger durch längere Vertrautheit erlangter Gemeinsamkeiten steht aber dem Herstellungswillen nicht entgegen. d) Nötigung zu Eheschließung (§ 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG) Nach § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG wird der Nachzug nicht zugelassen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme begründen, dass einer der Ehegatten zur Ehe genötigt wurde. Dieser Tatbestand wurde durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der EU in § 27 AufenthG eingefügt. Mit dem Tatbestand der Nötigung zur Ehe greift der Gesetzgeber die Diskussion um „Zwangsehen“ auf. Die Vorschrift ist im Zusammenhang mit § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 sowie § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu sehen. Sämtliche Vorschriften dienen der Bekämpfung von „Zwangsverheiratungen“. Zwangsverheiratungen sind als besonders schwerer Fall der Nötigung (§ 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StGB) strafbar. Die Auslegung und Anwendung der Vorschrift setzt deshalb eine präzise Unterscheidung in „Zwangsehen“ einerseits und in „arrangierte Ehen“ andererseits voraus. Eine Zwangsehe liegt vor, wenn mindestens einer der Ehegatten durch eine Drucksituation zur Ehe gezwungen wurde und mit seiner Weigerung keine Gehör gefunden oder es nicht gewagt hatte, sich der Eheschließung zu widersetzen. Der Druck muss dabei durch Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel (vgl. § 240 Abs. 1 StGB) ausgeübt worden sein. In Betracht kommen insoweit physische oder psychische wie insbesondere auch sexuelle Gewalt, Einsperrung, Entführung sowie Sanktionsandrohungen.225 Demgegenüber handelt es sich bei der „arrangierten Ehe“ um eine Ehe, die auf Wunsch, mit Einverständnis oder Duldung beider Ehegatten durch Verwandte oder Bekannte initiiert wurde. Hier beruht die Eheschließung – anders als bei der Zwangsehe – auf dem freien Willen beider Ehepartner.226 Derartige, auf der freien Willensentscheidung beider Eheschließenden beruhende Ehen fallen nicht unter § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG). Die Übergänge zwischen beiden Formen der Eheschließung sind fließend. Daher muss in konkreten Einzelfall danach abgegrenzt werden, ob in der Phase vor Eingehung der Ehe die objektive Möglichkeit einer Weigerung bestanden hatte und darüber hinaus, ob das Fehlen einer solchen objektiven Möglichkeit von den Ehegatten überhaupt subjektiv als Zwang erlebt wurde. Dies hängt davon ab, wie stark die Betroffenen in die sozio-kulturellen Verhältnisse eingebunden und deshalb mit traditionellen Vorstellungen über das Zustandekommen von Ehen verflochten sind bzw. ob nach dem Erfahrungshorizont überhaupt eine Vorstellung über das Vorhandensein alternativer Eheschließungs- bzw. Lebensmodelle bestand. Je schwächer diese Vorstellung ausgeprägt war, desto eher dürfte die Verheiratung subjektiv – gemessen an den vorherrschenden soziokulturellen Verhältnissen – als „normal“ und damit nicht als Nötigung empfunden worden sein. Dementsprechend hat die Rechtsprechung bereits vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes festgestellt, dass eine nicht von den Eheleuten ausgehende Arrangierung der Ehe durch Dritte – wie sie unter Deutschen nicht mehr üblich ist - kein Beleg für eine Scheinehe darstellt.227 Aus früheren Zeiten sei bekannt, dass im Bundesgebiet auch solchermaßen geschlossene Ehen geführt worden seien und Bestand gehabt hätten. Allerdings bedarf es auch bei solchen Ehen der Überzeugung, dass die Eheleute die eheliche Lebensgemeinschaft herstellen wollen. Kann dazu – wie im Einreiseverfahren – auf die sonst 225 226 227 Göbel-Zimmermann/ Born, ZAR 2007, 54. Göbel-Zimmermann/ Born, ZAR 2007, 54. OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107. 80 gebräuchlichen Anzeichen nicht zurückgegriffen werden, sind andere den Rückschluss auf den Herstellungswillen ermöglichende Anzeichen erforderlich.228 § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG bietet insbesondere keine Handhabe dafür, eine Beurteilung der angestrebten Lebensgemeinschaft auf Übereinstimmung mit deutschen Gepflogenheiten, Sitten oder Wertvorstellungen vorzunehmen. Vielmehr ist einzig und allein Funktion der tatbestandlichen Anknüpfung an diese Norm, dass die formale Eheschließung als Vehikel zur Umgehung der Einreisevorschriften genutzt wird.229 Im Regelfall wird in der Verwaltungspraxis im Einreiseverfahren allerdings keine besondere Darlegungslast gefordert. Erst beim Auftreten von Besonderheiten, wie etwa bei einer durch Dritte arrangierten Ehe, oder wenn konkrete Zweifel am Herstellungswillen durch die Behörde geltend gemacht werden, besteht ein besonderer, auf den Herstellungswillen bezogener Begründungsbedarf. Es bedarf tatsächlicher Anhaltspunkte für die Feststellung einer Nötigung zur Ehe. Es müssen danach gewichtige und hinreichend zuverlässige Tatsachen und Umstände festgestellt werden, welche den sicheren Schluss auf eine Nötigungssituation zulassen. Bloße Vermutungen oder Hypothesen, etwa anhand der Häufigkeit von arrangierten Eheschließungen in dem betreffenden Herkunftsland, reichen nicht aus. Ohne ausdrückliche Erklärung des Ehegatten, in Bezug auf den die Behörde von einer Drucksituation ausgeht, kann eine derartige Feststellung nicht getroffen werden. e) Vorwirkungen der Eheschließungsfreiheit aa) Erfordernis der unmittelbar bevorstehenden Eheschließung Die Vorschriften über den Ehegattennachzug nach § 28, § 30 AufenthG sind erst anwendbar, wenn die Ehe geschlossen ist. Art 6 Abs. 1 GG schützt Ehe und Familie. Dies bedeutet, dass grundsätzlich erst nach erfolgter Eheschließung ein Aufenthaltstitel zum Familiennachzug erteilt werden kann. Das Verlöbnis unterfällt damit grundsätzlich nicht dem Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG, ist allerdings in die Ermessensabwägung einzubeziehen. Darüber hinaus entfaltet das Verlöbnis bzw. die bekundete ernsthafte Absicht der Eheschließung unter bestimmten Voraussetzungen aufenthaltsrechtliche Wirkungen. Streit besteht indes in der Rechtsprechung darüber, unter welchen Voraussetzungen derartige Wirkungen eingreifen. Nach wohl herrschender Auffassung ist die bekundete Eheschließungsabsicht ausländerrechtlich nur dann geschützt, sofern die Ehe unmittelbar bevorsteht, wozu grundsätzlich der Nachweis gehört, dass die Ehe bereits angemeldet ist (§ 4 PStG) und nach Auskunft des Standesamtes unverzüglich durchgeführt werden kann.230 Im Bundesland Hessen wird insoweit durch Erlass angeordnet, dass nach Mitteilung des Standesbeamten, dass die Ehe vorgenommen werden kann (§ 6 Abs. 1 PStG), die Eheschließung innerhalb von vier Wochen stattfinden muss.231 Im Bundesland Baden-Württemberg beträgt diese Zeitspanne regelmäßig zwei Monate.232 Dieser sehr restriktiven Auffassung steht eine andere Auffassung in der Rechtsprechung entgegen, wonach die Vorwirkungen“ von Art. 6 GG das Recht des ausländischen Verlobten einschließt, dass ihm die für das Eheanmeldungsverfahren üblicherweise erforderliche Zeit eingeräumt wird. Daher umfasst die aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung 228 OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107. VG Berlin, InfAuslR 2002, 472 (474). 230 OVG Hamburg, NVwZ-RR 1991, 107 (108) = InfAuslR 1990, 328; OVG Hamburg, NVwZ-RR 2007, 559(560); OVG Bremen, EZAR 045 Nr. 4; Thür.OVG, NVwZ-RR 1996, 710; OVG MV, NVwZ-RR 2000, 641 (642); OVG NW, InfAuslR 1991, 193; VG Ansbach, InfAuslR 1992, 137 (138); VG München, InfAuslR 1996, 178; VG Freiburg, NVwZ-Beil. 1998, 50 (51). 231 Hess.MdI, Erlass vom 19. 10. 1998 – II A 42 – 23 d (Au 3.938 a. 232 VG Freiburg, NVwZ-Beil. 1998, 50 (51). 229 81 von Art. 6 Abs. 1 GG auch die Zeitspanne, welche das OLG für die Entscheidung über das Befreiungsgesuch benötigt und seine Entscheidung dem Standesbeamten vorliegt.233 Jedenfalls darf die Behörde eine Abschiebung dann nicht durchsetzen, wenn die Ehe sicher erscheint und unmittelbar bevorsteht234 oder der Termin zur Eheschließung jedenfalls bestimmbar ist.235 Gegen die Verwaltungspraxis werden in der Rechtsprechung Bedenken erhoben. Im Blick auf die Frage, wann im konkreten Einzelfall die Eheschließung unmittelbar bevorstehe, gebe es „keine allgemeine gültige, feste zeitliche Grenze“. Vielmehr sei jeweils unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Eheschließung ernstlich beabsichtigt und unmittelbar bevorstehe oder völlig ungewiss sei. Außer den zeitlichen Anforderungen an eine hinreichende Bestimmbarkeit eines Termins zur Eheschließung seien insbesondere die formellen und materiellen Voraussetzungen für die beabsichtigte Eheschließung zu berücksichtigen, deren Erfüllung in die Sphäre der Verlobten falle.236 Ob eine Eheschließung schon immer dann unmittelbar bevorstehe, wenn das erforderliche Ehefähigkeitszeugnis vorliege, könne offen bleiben. Jedenfalls dann, wenn das Ehefähigkeitszeugnis bereits vorliege, indes noch die „Ehemündigkeitserklärung“ der Braut ausstehe, hätten die Verlobten ersichtlich alle in ihre Sphäre fallenden Anforderungen an eine unverzügliche Eheschließung erfüllt, sodass die Eheschließung als unmittelbar bevorstehend anzusehen sei.237 Generell kann gesagt werden, dass die Eheschließung im Allgemeinen dann als sicher und unmittelbar bevorstehend erscheint, wenn die Verlobten bereits beim Standesamt einen zeitnahen Termin vereinbart haben, an dem die Ehe geschlossen werden soll. Bei der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung ist auch zu berücksichtigen, ob dem Verlobten nach seiner Abschiebung ein – auch nur – kurzfristiges Betreten des Bundesgebietes zum Zwecke der Eheschließung ermöglicht werden kann. Insoweit ist auch zu bedenken, dass dieser im Herkunftsland seinen Wehrdienst leisten muss.238 Wird dadurch die geplante Eheschließung auf nicht absehbare Zeit unmöglich gemacht, ist die Abschiebung jedenfalls bis zum bevorstehenden Eheschließungstermin auszusetzen. bb) Schwangerschaft Eine durch Vorlage eines ärztlichen Attestes glaubhaft gemachte Schwangerschaft zeitigt aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet es, zum Zwecke des notwendigen Beistandes des Kindesvaters bei der Geburt und in der unmittelbaren Zeit danach den Aufenthalt zu gewährleisten.239 Darüber hinaus kann die Risikoschwangerschaft der ausländischen Verlobten einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG240 - wobei es allerdings häufig am hierfür geforderten rechtmäßigen Aufenthalt fehlen dürfte - oder wegen der dadurch hervorgerufenen Erforderlichkeit der 233 BayVGH, BayVBl. 1990, 54 (55). VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163, VG Halle, InfAuslR 1998, 501. 235 OVG MV, NVwZ-RR 2000, 641 (642); OVG Sachsen, SächsVBl. 1996, 119 (120); OVG Sachsen, B. v. 10. 6. 2002 – 3 BS 214/02; OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62. 236 VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55. 237 VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55. 238 VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55. 239 VG Bremen, InfAuslR 2005, 149. 240 Vgl. VG Berlin, InfAuslR 1995, 415 (417). 234 82 Betreuung der Verlobten durch den Verlobten einen Aussetzungsanspruch nach § 60a Abs. 2 AufenthG241 begründen. Ebenso begründet die Beziehung zum ungeborenen Kind einen Schutzanspruch. Denn den Staat trifft eine besondere Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben. Danach hat die Verwaltung Problemen und Schwierigkeiten nachzugehen, welche der Mutter während der Schwangerschaft erwachsen können. Ist die Mutter auf die Lebenshilfe des Vaters angewiesen, hat sie diesem Umstand Rechnung zu tragen.242 Ist etwa die Mutter wegen einer spastischen Lähmung auf Unterstützung sowohl der Lebensführung wie auch der Betreuung der beiden gemeinsamen Kinder zwingend angewiesen, ist die Abschiebung des Kindesvaters nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK untersagt.243 Jedenfalls darf die Abschiebung eines werdenden Vaters, dem nach der Geburt des Kindes ein Aufenthaltsrecht zusteht, nur durchgeführt werden, wenn eine Rückkehr noch rechtzeitig vor der Geburt sichergestellt werden kann244 cc) Beibringung der Eheschließungsunterlagen Besondere Probleme bereiten in der Verwaltungspraxis bei ungesichertem Aufenthaltsrecht des ausländischen Verlobten die Hindernisse, welche einer Eheanmeldung entgegenstehen. Da in der Verwaltungspraxis die aufenthaltsrechtliche Vorwirkung der grundrechtlich gewährleisteten Eheschließungsfreiheit zeitlich extrem kurz bemessen wird, scheitern häufig auch ernsthafte Bemühungen, die Ehe anzumelden. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz wird bei zeitlich über einen Monat dauernden Verfahren in aller Regel nicht gewährt. Gegen diese Praxis ergeben sich schwerwiegende Bedenken. Die Dauer des der Eheanmeldung vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens wird durch die Probleme beeinflusst, welche insbesondere wegen der Beibringung der erforderlichen Eheschließungsunterlagen entstehen können. Auch insoweit gilt grundsätzlich, dass ein Aussetzungsanspruch besteht, wenn die Eheschließung unmittelbar bevorsteht, der Eheschließungstermin mithin feststeht oder jedenfalls verbindlich bestimmbar ist. Liegen alle erforderlichen Unterlagen vor und steht nur noch die Entscheidung des OLG aus, ist grundsätzlich von einer unmittelbar bevorstehenden Eheschließung auszugehen.245 Steht die Entscheidung des OLG nur noch aus, weil der Verdacht einer Scheinehe angezeigt wurde, ist die Vermutung einer unmittelbar bevorstehenden Eheschließung dann widerlegt, wenn das Vorliegen einer Scheinehe nach dem Akteninhalt überwiegend wahrscheinlich ist.246 Teilt die deutsche Botschaft im Herkunftsland des oder der ausländischen Verlobten mit, dass die für die beabsichtigte Eheschließung erforderlichen Unterlagen zwecks Legalisierung eingereicht sind, dass die Legalisierung indes etwa drei Monate, eventuell aber auch etwas längere Zeit in Anspruch nimmt, gebietet nach der Rechtsprechung die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Eheschließungsabsicht, von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen.247 Für den Fall, dass nach Auskunft der deutschen Botschaft eine Legalisierung der erforderlichen Personenstandsurkunden überhaupt nicht mehr vorgenommen wird, folgt daraus nicht ohne weiteres, dass Abschiebungsmaßnahmen zulässig wären. Vielmehr ist in einem derartigen VG Saarlouis, B. v. 5. 10. 1999 – 1 F 61/99; VG Regensburg, InfAuslR 2002, 241 = AuAS 2002, 30; VG Cottbus, AuAS 2000, 206. 242 Thür.OVG, InfAuslR 2003, 144 = AuAS 2003, 88; VG Berlin, NVwZ-Beil. 2000, 11; a. A. Nieders.OVG, B. v. 11. 9. 2003 – 13 ME 331/03, BA, .S. 6. 243 VG Darmstadt, B. v. 27. 9. 2001 – 7 G 1529/01. 244 OVG Sachsen, InfAuslR 2006, 446 (447). 245 OLG Sachsen, AuAS 2006, 242; OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62. 246 OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62. 247 VG Stuttgart, InfAuslR 2001, 216; VG Osnabrück, B. v. 5. 3. 2004 – 5 B 59/04. 241 83 Fall Gelegenheit zu geben, eine Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses durch das zuständige OLG zu erwirken.248 Hat der Verlobte alle erforderlichen Unterlagen – ausgenommen Duldungs- und Aufenthaltsbescheinigung – vorgelegt, ist davon auszugehen, dass er sich ernsthaft um eine Eheschließung bemüht und seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um in Kürze die Ehe eingehen zu können. Befindet sich der Verlobte mithin in einer „ausweglosen“ Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass er eine Duldung nicht erhält, weil der Termin zur Eheschließung nicht festgesetzt ist, dieser Termin aber deswegen nicht bestimmt wird, weil keine Duldung vorliegt, ist ihm angesichts der Vorwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG eine vorläufige Duldung zu erteilen.249 Ist für die Eheanmeldung die Herbeiführung der Anerkennung eines ausländischen Scheidungsurteils und hierfür die Vorlage einer Duldungsbescheinigung Voraussetzung, ist dem Verlobten diese zu erteilen.250 Jedenfalls greift die Festnahme zeitlich unmittelbar vor der Eheschließung unmittelbar in die Eheschließungsfreiheit nach Art. 6 Abs. 1 GG ein.251 Klagt der Antragsteller gegen die Weigerung des Standesbeamten, die Ehe mit der Verlobten zu schließen, und ist in wenigen Wochen mit seiner Anhörung vor dem Amtsgericht und wiederum wenige Woche später mit dessen Entscheidung zu rechnen, erweist sich die Abschiebung als unverhältnismäßig.252 dd) Antrag auf Befreiung vom Nachweis des Ehefähigkeitszeugnisses Nach der Verwaltungspraxis ist regelmäßig eine Duldung zu erteilen, wenn die für die Eheschließung erforderlichen Unterlagen vorliegen und die Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitzeugnisses beantragt worden ist.253 Nach § 1309 Abs. 1 BGB soll, wer hinsichtlich der Voraussetzungen der Eheschließung vorbehaltlich des Art. 13 Abs. 2 EGBGB ausländischem Recht unterliegt, eine Ehe nicht eingehen, bevor er ein Zeugnis der inneren Behörde seines Heimatstaates beigebracht hat, dass der Eheschließung nach dem Recht dieses Staates kein Ehehindernis entgegensteht. Nach § 1309 Abs. 2 Satz 1 BGB kann der Präsident des OLG von diesem Erfordernis eine Befreiung erteilen. Diese Befreiung soll nur Staatenlosen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland und Angehörigen solcher Staaten erteilt werden, deren Behörden keine Ehefähigkeitszeugnisse im Sinne des § 1309 Abs. 1 BGB ausstellen. In besonderen Fällen darf sie auch Angehörigen anderer Staaten erteilt werden (§ 1309 Abs. 2 Satz 3 BGB). Ein Staatenloser muss nach der Neufassung des Eheschließungsrechts ein derartiges Zeugnis nicht mehr beibringen, weil die Voraussetzungen seiner Ehefähigkeit gemäß Art. 13 Abs. 1 EGBGB in Verb. mit Art. 12 Abs. 1 StlÜb nach deutschem Recht richten und deshalb vom Standesbeamten in eigener Zuständigkeit zu prüfen sind. Dabei kann der Erfüllung dieser Verpflichtung nicht durch die Bezeichnung „Staatsangehörigkeit ungeklärt“ ausgewichen werden. Eine Person hat entweder eine oder mehrere Staatsangehörigkeiten oder sie ist staatenlos. Für die Zwecke des Befreiungsverfahrens kann bei ungeklärter Staatsangehörigkeit deshalb von der Staatenlosigkeit ausgegangen werden. Andernfalls sind Ermittlungen zur Staatsangehörigkeit des betroffenen Verlobten angezeigt. Werden diejenigen Angaben des Antragstellers, die gerade die förmliche Befreiung vom Erfordernis 248 249 250 251 252 253 VG Stuttgart, InfAuslR 2001, 216. VG Dessau, B. v. 6. 10. 2003 – 3 B 135/03 - NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163. VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163 = InfAuslR 200, 163. VG Frankfurt (Oder), B. v. 27. 10. 1998 – 3 L 883/98 - InfAuslR 1999, 33 = AuAS 1999, 14. VG Münster, AuAS 2006, 40 (41). OLG Sachsen, AuAS 2006, 242;VG Osnabrück, B. v. 5. 3. 2004 – 5 B 59/04. 84 der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses erst entbehrlich machen, von dem zuständigen Standesbeamten angezweifelt, so besteht in entsprechender Anwendung des § 1309 Abs. 2 Satz 2 BGB ebenfalls ein Anspruch auf ausdrückliche Befreiung von der Vorlage des Ehefähigkeitszeugnisses.254 ee) Nachweis eines gültigen Passes Grundsätzlich wird für die Eheanmeldung die Vorlage eines gültigen Passes des oder der ausländischen Verlobten verlangt. Das Bestehen materiellrechtlicher Hindernisse gegen die Eheschließung nach dem Heimatrecht der Verlobten kann nur geprüft werden, wenn dessen Staatsangehörigkeit nachgewiesen ist. Gemäß § 11 Abs. 2 PStV hat derjenige Verlobte, der nicht Deutscher ist, seine Staatsangehörigkeit durch eine Bescheinigung seines Heimatstaates, eines die Angabe der Staatsangehörigkeit enthaltenden Personalausweises oder eines Passes nachzuweisen, wobei grundsätzlich die Vorlage eines gültigen Reisepasses verlangt wird. An diesen Nachweis dürfen jedoch keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden, so dass er im Einzelfall auch auf andere Weise geführt werden kann.255 Zum Nachweis der Identität und der Staatsangehörigkeit kann auch ein abgelaufener Reiseausweis des Herkunftsstaates oder eine Fotokopie einer Identitätskarte in Verbindung mit anderen beweiskräftigen Unterlagen ausreichen.256 Will ein Ausländer heiraten und verbleibt sein Pass bei der Ausländerbehörde, hat er jederzeit einen Anspruch auf Übersendung einer Passkopie an das Standesamt, ungeachtet dessen, in welchem Stadium sich das Eheanmeldungsverfahren befindet und welche anderen zur Eheschließung etwa noch erforderlichen Urkunden noch fehlen mögen, wenn das Eheanmeldungverfahren nicht offenkundig aus anderen Gründen von vornherein aussichtslos erscheint und auch keine greifbaren Anhaltspunkte für eine bloße Scheinehe vorliegen.257 Erachtet das Standesamt die Vorlage des Orginals des Passes für erforderlich, hat die Ausländerbehörde das Orginal an die Ausländerbehörde zu übersenden und kann dieser Rechtsanspruch gegebenenfalls mit einem Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO durchgesetzt werden.258 In der Verwaltungspraxis sichern überwiegend ministerielle Erlasse, dass die Eheanmeldung erst und nur dann in die Wege geleitet wird, wenn ein gültiger nationaler Reiseausweis vorgelegt wird. Mit dem Zeitpunkt der Ausstellung des Reiseausweises entfällt die auf die Passlosigkeit bezogene bisherige auflösende Bedingung der Duldungsbescheinigung. In der Verwaltungspraxis ziehen die Standesämter häufig in Amtshilfe für die zuständige Ausländerbehörde den im Rahmen des Eheanmeldungsverfahrens vorgelegten Pass ein. Die Ausländerbehörde leitet daraufhin unverzüglich Vollzugsmaßnahmen ein, ohne die zeitlich bestimmbare Eheanmeldung zu berücksichtigen. Dies führt in vielen Fällen dazu, dass die Eheanmeldung nicht mehr vorgenommen oder nur unter besonders erschwerten Bedingungen durchgesetzt werden. Eine derartige Verwaltungspraxis ist mit Art. 6 Abs. 1 GG kaum vereinbar.259 Sind die erforderlichen Eheschließungsunterlagen abgegeben worden, kann der Zeitpunkt der Eheanmeldung bestimmt werden. Lange Wartezeiten insbesondere bei stark frequentierten großstädtischen Standesämtern dürfen nicht zu Lasten des ausländischen Verlobten gehen. Er hat unter diesen Voraussetzung trotz des Eintritts der auslösenden Bedingung der Duldung wegen Wegfall des Abschiebungshindernisses (Ausstellung eines nationalen Passes) einen Anspruch auf Erteilung einer vorläufigen Duldung (§ 60a Abs. 2 254 255 256 257 258 259 KG, InfAuslR 2000, 299 (301). KG, InfAuslR 2002, 95 (96). KG, InfAuslR 2002, 95 (96); KG, InfAuslR 2000, 299 (301). VG Freiburg, InfAuslR 2006, 150 (152). Vgl. VG Freiburg, InfAuslR 2006, 150 (151 f). S. auch VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163, zur vorläufigen Duldung. 85 AufenthG), der gegebenenfalls mit dem Antrag nach § 123 VwGO sicherzustellen ist. Nach der Eheschließung ist über den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu entscheiden. 2. Aufenthaltsrecht des stammberechtigten Familienangehörigen Der im Bundesgebiet lebende Ausländer muss im Zeitpunkt der Entscheidung über den Nachzug sowie über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Besitz einer Aufenthaltsoder Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG sein (§§ 29 Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG). Beim Nachzug zu deutschen Staatsangehörigen tritt an die Stelle des Besitzes des Aufenthaltstitels dessen gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 28 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG). Die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels darf nicht abgelaufen oder wegen eines längeren Auslandsaufenthaltes erloschen sein. Dem Besitz des Aufenthaltstitels steht es nicht gleich, wenn die Erteilung eines derartigen Titels im maßgeblichen Zeitpunkt gerichtlich erstritten wird.260 Beruht das Erlöschen auf einem Verwaltungsakt (Widerruf, Rücknahme, Ausweisung), kommt es auf dessen Unanfechtbarkeit nicht an (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990). Die Vorschriften stehen einer gleichzeitigen Einreise des Ausländers und seines Familienangehörigen nicht entgegen. Die Ausländerbehörde kann daher der Visumerteilung an den Familienangehörigen unter der Bedingung zustimmen, dass dem Ausländer selbst ein Visum erteilt wird. Ganz allgemein ist es mit dem Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG grundsätzlich vereinbar, die Ehegatten auf die Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Heimatstaat zu verweisen, wenn sich der in Deutschland lebende Ehegatte hier noch nicht längere Zeit aufhält und ihm deshalb die Wiedereingewöhnung in die Verhältnisse seines Heimatstaates nicht besonders schwer fallen dürfte. Wird die verfestigte Integration nicht gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG vom Gesetz unterstellt, weil die Ehe noch nicht im Zeitpunkt der Einreise des Ausländers bestanden hatte, entspricht eine den Anspruch ermöglichende Ermessensausübung dem Zweck der Ermächtigung in § 30 Abs. 2 AufenthG, wenn die vom Gesetz geforderte gefestigte Integration auf andere Weise nachgewiesen ist.261 In der Rechtsprechung wird allerdings unter dem Gesichtspunkt des „schleichenden Familiennachzugs“ dessen Versagung für zulässig erachtet, um einen „planmäßigen, schleichenden Nachzug“ zu verhindern. Dies sei der Fall, wenn Ausländer ihre im Ausland geführte Ehe, aus der Kinder hervorgegangen seien, gezielt unterbrächen, damit einer der Ehegatten nach Einreise in die Bundesrepublik mittels Eheschließung mit einem deutschen Staatsangehörigen ein schließlich eheunabhängiges Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet erwerbe und nach Scheidung seinen noch im Heimatstaat verbliebenen Partner samt gemeinsamer Kinder nach Deutschland nachholen kann, um im Bundesgebiet die Ehe weiterführen zu können.262 Wie ausgeführt, kann in den Fällen des Rechtsanspruchs nach § 30 Abs. 1 AufenthG dieser Einwand nicht vorgebracht werden. Darüber hinaus ist ein von Anfang an einvernehmliches Handeln beider Ehegatten nachzuweisen. Hieran fehlt es, wenn mit dem deutschen Ehegatten tatsächlich eine Lebensgemeinschaft geführt wird und es nach der Scheidung zur Versöhnung mit dem im Heimatstaat lebenden früheren Ehepartner kommt. 3. Ausreichender Wohnraum (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 in Verb. mit § 2 Abs. 4 AufenthG) 260 BVerwG, NVwZ 1998, 185 (186) = InfAuslR 1997, 352; Richter, NVwZ 1998, 128 (130) VG Berlin, NVwZ-RR 2003, 528 = AuAS 2003, 62. 261 262 VG Berlin, NVwZ-RR 2003, 528 (529) = AuAS 2003, 62. 86 Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wird für den Nachzug zu ausländischen Stammberechtigten darüber hinaus vorausgesetzt, dass ausreichender Wohnraum zur Verfügung stehen muss. Der unbestimmte Rechtsbegriff des ausreichenden Wohnraums wird durch die Legaldefinition des § 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG konkretisiert. Danach wird als ausreichender Wohnraum nicht mehr gefordert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung genügt. In der Verwaltungspraxis zum früheren Recht wie auch zum geltenden Recht wird eine abgeschlossene Wohnung mit Küche, Bad und WC stets als ausreichend angesehen, wenn für jede Person über sechs Jahre zwölf Quadratmeter und für jede Person unter sechs Jahre zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen (Nr. 2.4.3 VAH). Eine Unterschreitung der maßgeblichen Wohnungsgröße um etwa 10% ist unschädlich (Nr. 2.4.3 AufenthG-VwV). Der Wohnraum insgesamt ist maßgebend. Ob eine entsprechend große Wohnfläche für die betreffenden Familienangehörigen tatsächlich zur Verfügung steht, ist unter diesen Voraussetzungen unerheblich. Maßgebend ist nur die Wohnfläche insgesamt.263 Bei der Ermittlung des Wohnraums sind auch Räume außerhalb der Wohnung und Nebenräume, etwa Küche, Bad, Toilette, zu berücksichtigen, die die Familie aufgrund vertraglicher Vereinbarungen oder sonstiger verlässlicher Zusicherung dauerhaft benutzen oder mitbenutzen darf.264 Es muss sich nicht zwingend um eine abgeschlossene Wohnung handeln.265 Alle in der Wohnung dauerhaft in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Angehörigen sind zu berücksichtigen. Wohnraum muss deshalb auch für die Familienangehörigen vorgehalten werden, die vorübergehend oder zeitweise außerhalb der Familienwohnung leben. Als Konsequenz der gesetzgeberischen Entscheidung, dass der Nachzug zu Deutschen nicht vom Wohnraumerfordernis abhängig gemacht werden darf, dürfen bei der Berechnung des Wohnraums deutsche Familienangehörige, die in der Familienwohnung leben, nicht einbezogen werden. Kinder bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres werden bei der Berechnung des ausreichenden Wohnraums nicht mitgezählt (§ 2 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Bei der Verlängerung der im Rahmen des Kindernachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis (§ 32, § 33 AufenthG) wird vom Wohnraumerfordernis abgesehen, solange ein personensorgeberechtigter Elternteil eine Niederlassungserlaubnis oder Aufenthaltserlaubnis besitzt und das Kind mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebt oder das Kind im Falle seiner Ausreise ein Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG hätte (§ 34 Abs. 1 AufenthG). Der Nachweis der familiären Lebensgemeinschaft setzt nicht zwingend die Führung einer häuslichen Gemeinschaft voraus. Bei der Verlängerung der im Rahmen des Ehegattennachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 und 2 AufenthG kann vom Erfordernis des Abs. 1 Nr. 1 abgesehen werden, solange die eheliche Lebensgemeinschaft fortbesteht (§ 30 Abs. 3 AufenthG). Diese muss nicht zwingend in Form der Hausgemeinschaft geführt werden. Bei der Ermessensentscheidung sind insbesondere die grundrechtlichen Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen. Der Nachweis ausreichenden Wohnraums gehört zu den grundlegenden Nachzugsvoraussetzungen und ist Teil der Mitwirkungspflicht nach § 82 Abs. 1 AufenthG. Zu diesem Zweck sind die erforderlichen Nachweise vorzulegen. Im Regelfall wird der Nachweispflicht genügt, wenn der Mietvertrag vorgelegt und in diesem die Anzahl der in der Wohnung lebenden Personen, die Größe des Wohnraums und der monatliche Mietzins 263 264 265 Igstadt, in: GK- AuslR, II - § 17 AuslG Rdn. 107; Hailbronner, AuslR, § 29 AufenthG Rdn. 8. Igstadt, in: GK- AuslR, II - § 17 AuslG Rdn. 100. Fränkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 76. 87 zuzüglich Nebenkosten bezeichnet sind. Fehlt es an einer dieser Angaben, ist eine vom Vermieter ausgestellte Bescheinigung (Vermieterbescheinigung) vorzulegen, welche die erwähnten Daten enthält. Angaben zum Mietzins sind insbesondere für die Überprüfung der Unterhaltssicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) erforderlich. Der Wohnraum kann auch durch Untervermietung bereitgestellt werden, wenn dies vertraglich zugelassen ist und der untervermietete Wohnraum den oben bezeichneten Voraussetzungen genügt. Der Nachweispflicht muss spätestens im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung genügt worden sein. Da die allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen ohnehin durch die zuständige Ausländerbehörde im Rahmen des internen Zustimmungsverfahrens nach § 31 Abs. 1 AufenthV geprüft werden, kann der entsprechende Visumantrag zunächst ohne Beifügung der erforderlichen Nachweise bei der zuständigen Auslandsvertretung gestellt und können anschließend nach Abgabe des Vorgangs an die zuständige Ausländerbehörde gegenüber dieser die entsprechenden Nachweise vorgelegt werden. Dies entspricht der weithin geübten Verwaltungspraxis. Der Nachzug zu deutschen Staatsangehörigen darf nicht vom Nachweis ausreichenden Wohnraums abhängig gemacht werden (vgl. § 28 AufenthG). Kinder bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres werden bei der Berechnung des für die Familienunterbringung ausreichenden Wohnraums nicht mitgerechnet (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Beim Nachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen ist vom Wohnraumerfordernis nach Maßgabe der in § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG enthaltenen Grundsätze abzusehen werden. 5. Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 in Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG) Beim Unterhaltserfordernis handelt sich um eine allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung266: Beim Nachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen ist vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes abzusehen, wenn der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Statusgewährung gestellt wird und die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Drittstaat, zu dem der Stammberechtigte oder seine Familienangehörigen eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist (§ 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Damit setzt der Gesetzgeber Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG um. Die Rechtsprechung erachtet es für zulässig, die Aufenthaltserlaubnis mit einer auflösenden Bedingung „erlischt bei Sozialhilfebezug“ zu versehen und erkennt insoweit keinen Suspensiveffekt des eingelegten Rechtsbehelfs an.267 6. Versagungsgründe (§ 27 Abs. 3 AufenthG) a) Angewiesensein auf Sozialleistungen (§ 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) § 27 Abs. 3 AufenthG räumt der Behörde Versagungsermessen ein, wenn einer der beiden Tatbestände dieser Norm vorliegt. Durch § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll sichergestellt werden, dass durch den Zuzug die Sicherung des Lebensunterhaltes für die Personen nicht in Frage gestellt wird, denen der Unterhaltsverpflichtete, zu dem der Nachzug stattfindet, bisher Unterhalt geleistet hat. Nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist beim Vorliegen von Ausweisungsgründen in der Person des den Nachzug Begehrenden über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen zu entscheiden. Durch § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll sichergestellt werden, dass durch den Zuzug die Sicherung des Lebensunterhaltes für die Personen nicht in Frage gestellt wird, denen der Stammberechtigte bisher Unterhalt geleistet hat. Dies gilt z.B. soweit beim Nachzug von Familienangehörigen aus einer späteren Ehe die aus einer früheren Ehe unterhaltsberechtigten Personen nicht mehr ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem 266 267 Zum atypischen Ausnahmefall OVG Berlin-Brandenburg, AuAS 2008, 171 (172 f.). OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 451. 88 SGB II oder SGB XII mit ausreichendem Unterhalt rechnen können, weil der Unterhalt vorrangig den hinzukommenden Familienangehörigen gewährt wird.268 Selbst wenn die Voraussetzungen eines gesetzlichen Anspruchs auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels vorliegen, kann diese danach unter den Voraussetzungen des § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Ermessenswege versagt werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Nachzugs kann nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG versagt werden, wenn gegenüber dem Stammberechtigten unterhaltsberechtigte Personen oder Haushaltsangehörige des Stammberechtigten auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII angewiesen sind. § 27 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. AufenthG ist danach zu beachten, wenn ein Stammberechtigter gegenüber Familienangehörigen z. B. aus vorheriger Ehe unterhaltsverpflichtet ist. Dabei ist die Unterhaltsverpflichtung des ausländischen Stammberechtigten nach dem Recht seines Heimatstaates zu bestimmen.269 § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG findet damit auch auf den Nachzug zu einem deutschen Staatsangehörigen Anwendung. Der Kreis der in Betracht kommenden Personen im Blick auf die erste Alternative erfasst damit gegenüber dem Stammberechtigten unterhaltsverpflichtete Personen, selbst wenn diese nicht im Haushalt des Stammberechtigten leben. Jedoch liegt in den Fällen, in denen der aufenthaltsrechtliche Status der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen unabhängig vom aufenthaltsrechtlichen Status des Stammberechtigten ist, kein Ausweisungsgrund bezogen auf den Stammberechtigten vor. Unter diesen Umständen kann der Ausweisungsgrund des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII in seiner Funktion als Versagungsgrund keine Anwendung finden.270 Die zweite Alternative in § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG umfasst unabhängig von deren Staatsangehörigkeit oder deren familienrechtlichen Status Haushaltsangehörige des Stammberechtigten. Es werden damit Personen in den Anwendungsbereich der Vorschrift einbezogen, die der Stammberechtigte ungeachtet einer gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtung in seinen Haushalt aufgenommen hat und tatsächlich unterhält. Lebt danach eine deutsche oder ausländische Person im Haushalt des deutschen oder ausländischen Stammberechtigten und bezieht Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII, findet Abs. 3 Satz 1 Anwendung. Während es nach dem Gesetzeswortlaut auf das Angewiesensein auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII ankommt, soll es nach der Gesetzesbegründung wie nach bisherigem Recht nur auf das abstrakte Bestehen eines entsprechenden Anspruchs, nicht jedoch auf die tatsächliche Inanspruchnahme ankommen.271 Eine gesetzessystematische Betrachtung legt jedoch nahe, den Begriff des Angewiesenseins nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG so auszulegen und anzuwenden, dass er nicht in Widerspruch zu dem Begriff des „Vorliegens eines Ausweisungsgrundes“ nach § 27 Abs. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gerät. Während nach früherem Recht bereits dann ein Ausweisungsgrund vorlag, wenn Unterhaltsberechtigte oder Personen im Haushalt zwar keine Sozialhilfe in Anspruch nahmen, aber wegen - unterhalb des Regelsatzes liegenden Einkommens des Unterhaltsverpflichteten – (eigentlich) einen Anspruch auf Leistungsbezug hatten, diesen aber nicht geltend machten (vgl. § 46 Nr. 6 AuslG 1990), liegt nach geltendem Recht ein Ausweisungsgrund nur noch vor, wenn diese Personen tatsächlich Leistungen in Anspruch nehmen (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Besteht nur ein entsprechender Anspruch, wird 268 269 270 271 BT-Drs. 15/420, S. 81. BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142) = AuAS 2005, 62 = NVwZ 2005, 460. BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142 = AuAS 2005, 62 = NVwZ 2005, 460: BT-Drs. 15/420, S. 81; ebenso Nr. 27.3.2 und 27.3.3 VAH; Storr u.a., Kommentar zum ZuwG, S. 179. 89 dieser aber nicht geltend gemacht, kann mithin nach geltendem Recht keine Ausweisung mehr verfügt werden. Der Wortlaut von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erscheint insoweit offen. Wer sich in seiner Lebensführung einschränkt und ihm zustehende Ansprüche nicht geltend macht, ist für seine konkrete Lebensführung auf diese nicht angewiesen. Angewiesen ist er auf diese Ansprüche erst, wenn er seinen Lebensunterhalt ohne deren Inanspruchnahme nicht sicherstellen kann. Werden darüber hinaus die gesetzessystematischen Auslegungsgrundsätze, d.h. der Zusammenhang der beiden Sätze von § 27 Abs. 3 AufenthG , bedacht, kann Abs. 3 Satz 1 erst Anwendung finden, wenn die in dieser Vorschrift bezeichneten Personen tatsächlich gesetzliche Leistungen in Anspruch nehmen. Zwar soll nach Nr. 55.2.6.1 VAH der Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG auch die Sozialhilfebedürftigkeit umfassen. Es komme jedoch grundsätzlich eine Ausweisung von Ausländern, die einen Aufenthaltstitel besitzen, wegen bloßer Sozialhilfebedürftigkeit nicht in Betracht. Die Einbeziehung der Sozialhilfebedürftigkeit in den Ausweisungsgrund erscheint ungereimt, ist jedenfalls mit dem Wortlaut von § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG nicht vereinbar. Ein Ausweisungsgrund kommt deshalb nur bei tatsächlicher Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII in Betracht. Nur wenn gegenüber dem Stammberechtigten unterhaltsberechtigte Personen oder Haushaltsangehörige des Stammberechtigten tatsächlich derartige Leistungen in Anspruch nehmen, nicht aber, wenn nur ein entsprechender Anspruch besteht, aber nicht geltend gemacht wird, kann danach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zur Anwendung kommen. Nach Nr. 27.3.2 AufenthG-VwV sind demgegenüber die Voraussetzungen von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erfüllt, wenn infolge des Nachzugs ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII entstehen würde, darüber hinaus aber auch dann, wenn ein solcher Anspruch bereits ohne den Nachzug besteht. Diese Betrachtung ist nicht am Gesetzeswortlaut und der Gesetzessystematik ausgerichtet. Vielmehr legt sie dem Begriff des Angewiesenseins eine wertende Betrachtung zugrunde. Durch den Nachzug darf keine weitere Belastung des Sozialhilfesystems eintreten.272 Diese vom Gesetzgeber nicht erwünschte Wirkung im konkreten Nachzugsfall darf aber nicht durch eine Überdehnung des Wortlauts erstrebt werden. Vielmehr ist bei der Anwendung von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Prognoseentscheidung gefordert. Wenn in der Vergangenheit trotz bestehender Ansprüche diese nicht in Anspruch genommen wurden, ist die Familie nicht auf ihr zustehende Ansprüche angewiesen. Wird im zeitlichen Zusammenhang mit dem konkreten Nachzugsbegehren auf den weiteren Leistungsbezug verzichtet, spricht vieles dafür, dass die Familie auf diesen Bezug angewiesen ist und auf diesen nach der Einreise des den Nachzug begehrenden Familienangehörigen erneut zurück greifen wird. In der Verwaltungspraxis dürfte der dargestellte Auslegungsstreit häufig im Sinne der engeren Auffassung gelöst werden. Bestehen gegen den ausländischen Stammberechtigten Unterhaltsansprüche von Familienangehörigen aus früherer Ehe oder von Haushaltsangehörigen, wird die Ausländerbehörde bereits dann ihre Zustimmung (§ 31 AufenthV) versagen, wenn aufgrund dessen aus ihrer Sicht der Lebensunterhalt nicht gesichert ist. Da der Nachzug zu Deutschen abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gewährt wird (§ 28 Abs. 1 1. Hs. AufenthG), darf der Nachzug zu Deutschen nicht von bestehenden, aber nicht durchgesetzten Leistungsansprüchen ausländischer Familienangehöriger des Deutschen oder dessen Haushaltsangehörigen abhängig gemacht werden (ebenso Nr. 27.3.7 AufenthG-VwV). Dies gilt ebenso in den anderen Fällen, in denen 272 Hailbronner, AuslR, A 1, § 27 AufenthG Rdn. 70. 90 die Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen ist, also in den Fällen nach § 29 Abs. 2 und 4, § 33 und § 34 Abs. 1, auch in Verbindung mit § 36 AufenthG (Nr. 27.3.7 VAH, s. auch Nr. 55.2.6.3.1 AufenthG-VwV). Die Ausländerbehörde hat nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zunächst die öffentlichen Belange und das Gewicht der individuellen Interessen zu identifizieren und eine umfassende Interessenabwägung insbesondere auch unter Berücksichtigung der in § 55 Abs. 3 und § 56 AufenthG genannten Gesichtspunkte mit Bezug auf den nachziehenden Ausländer zu berücksichtigen (Nr. 27.3.9 VAH) vorzunehmen. Dabei hat sie insbesondere auf die Folgen Bedacht zu nehmen, die zu Lasten von Dritten entstehen können, die der Stammberechtigte in Erfüllung einer moralischen, nicht aber aufgrund einer gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtung in seinen Haushalt aufgenommen hat. Sie muss in ihr Ermessen einbeziehen, dass der Stammberechtigte die Haushaltsangehörigen zur Abwendung einer negativen Entscheidung nicht weiter in seinem Haushalt belassen könnte und diese damit zusätzlich öffentliche Kosten in Anspruch nehmen müssten. b) Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) Nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann vom Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) abgesehen werden. Zunächst ist danach zu prüfen, ob in der Person des den Nachzug begehrenden Familienangehörigen ein Ausweisungsgrund erfüllt ist. Liegt ein Ausweisungsgrund vor, ist sowohl in den Anspruchs- wie auch in den Ermessensfällen über den Nachzug nach Ermessen zu entscheiden (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist gegenüber der generellen Norm des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG Spezialnorm. Ein Rückgriff auf die generelle Norm ist deshalb bei der Anwendung der Nachzugsregelungen nicht zulässig. Vielmehr ist in allen Nachzugsfällen bei Vorliegen eines Ausweisungsgrundes nach behördlichem Ermessen über die Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels zu entscheiden. Da § 28 Abs. 1 1. Hs AufenthG nur von der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nicht aber von den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG befreit, ist der Versagungsgrund auch auf den ausländischen Familienangehörigen anzuwenden, der zu einem deutschen Staatsangehörigen den Nachzug begehrt. Dies entspricht der früheren Gesetzeslage. Nach ständiger Rechtsprechung kommt es nicht darauf an, ob die Ausweisung im Einzelfall fehlerfrei verfügt werden könnte oder ob die Ausländerbehörde die Erfüllung des Ausweisungstatbestandes zum Anlass einer Ausweisung oder einer Verwarnung genommen hat. Vielmehr reicht das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes für die Anwendung von § 27 Abs. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Nr. 2 AufenthG aus. 273 Eine hypothetische Ausweisungsprüfung entfällt damit. Jedoch ist den ausweisungsrechtlichen Schutznormen bei der Ermessensausübung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG Rechnung zu tragen. Hat die Auslandsvertretung in Kenntnis des Ausweisungsgrundes ein Visum zum Zwecke der Familienzusammenführung erteilt, darf die Ausländerbehörde bei ihrer Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Einreise § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht mehr anwenden.274 Zwar reicht für die Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich die Erfüllung eines Ausweisungstatbestandes aus. Der Ausweisungsgrund darf indes nicht verbraucht BVerwG, Buchholz 402.24 § 24 AuslG 1990 Nr. 2; BVerwGE 116, 378 (385) = EZAR 024 Nr. 12 = InfAuslR 2003, 50 = NVwZ 2003, 217; BVerwG, AuAS 2005, 62 (63); VGH BW, EZAR 017 Nr. 3 = DÖV 1992, 539: 274 VGH BW, NVwZ-RR 1997, 750, unter Verweis auf VGH BW, InfAuslR 1997, 111 (113). 273 91 sein.275 In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei der Verlängerungsentscheidung relevant, weil vor der Einreise kaum Ausweisungstatbestände vom nachziehenden Familienangehörigen erfüllt werden können. Der nachziehende Angehörige kann sich indes vor seiner jetzt begehrten Einreise bereits im Bundesgebiet aufgehalten haben und während dieses Aufenthaltes einen Ausweisungstatbestand erfüllt haben. Wurde er ausgewiesen und hat er vor der Visumbeantragung die Aufhebung der Sperrwirkung der Ausweisung beantragt und die zuständige Ausländerbehörde diese antragsgemäß aufgehoben, ist der Rechtsversagungsgrund nach § 11Abs. 1 Satz 2 AufenthG beseitigt. § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kommt gar nicht erst zur Anwendung, weil § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gegenüber § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG lex spezialis ist. Es kann aber sein, dass zwar während des früheren Aufenthaltes ein Ausweisungsgrund erfüllt wurde, die Ausländerbehörde indes hieraus keine ausweisungsrechtlichen Konsequenzen gezogen hat. Für diese Fälle kommt dem Einwand des verbrauchten Ausweisungsgrundes maßgebende Bedeutung zu. Zwar begründet eine Verlängerung des Aufenthaltstitels trotz Vorliegens eines Ausweisungsgrundes im Allgemeinen kein schutzwürdiges Vertrauen. Der Ausweisungsgrund muss jedoch noch aktuell vorliegen, darf also nicht verbraucht sein. Längere Zeit zurückliegende, abgeschlossene Ausweisungsgründe vermögen die Ablehnung des Aufenthaltstitels nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht zu tragen, wenn es die Ausländerbehörde trotz Kenntnis aller maßgeblichen Umstände unterlässt, den Aufenthalt des Familienangehörigen zu beenden, insbesondere, wenn sie diesem in Kenntnis dieser Umstände einen Aufenthaltstitel erteilt oder verlängert.276 Hat die Behörde etwa bei einem Ausländer, der nach Art. 3 Abs. 3 ENA besonderen Ausweisungsschutz genießt, auf die Ausweisung verzichtet, kann sie sich nicht auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen. Eine zeitlich unbegrenzte Berücksichtigung des Ausweisungsgrundes würde zu einem unauflösbaren Wertungskonflikt mit § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG führen. Da nach dieser Vorschrift die Ausweisung regelmäßig befristet wird, würde die auf das bloße Vorliegen eines Ausweisungstatbestandes gestützte Versagung der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels weitergehende Folgen für den den Nachzug begehrenden Familienangehörigen haben als die Ausweisung. Dies wäre mit dem Schutzgedanken des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG schwerlich vereinbar.277 Bei der behördlichen Ermessensausübung ist das durch die Verwirklichung des Ausweisungstatbestandes hervorgerufene öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsversagung mit dem individuellen, grundrechtlich geschützten Interesse des den Nachzug begehrenden Angehörigen in Verbindung mit dem ebenfalls grundrechtlich geschützten Interesse des Stammberechtigten abzuwägen. Die Behörde hat hierbei das besondere Gewicht, das Ehe und Familie verfassungsrechtlich (Art. 6 Abs. 1 GG) wie auch konventionsrechtlich (Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 23 IPbpR) beizumessen ist, zu beachten, und die Folgen der Versagung des Aufenthaltes für den Nachziehenden, insbesondere aber für seine von ihm abhängigen Familienangehörigen in die Ermessensabwägung einzustellen.278 Die Behörde hat bei der Ermessensausübung insbesondere Fortschritte in der Heilung einer Psychose des Familienangehörigen und in der Drogentherapie zu berücksichtigen. Diese vermindern die Gefahr für die Allgemeinheit und sind geeignet, aufgrund einer Abwägung nach Maßgabe 275 Hess.VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.); VGH BW, InfAuslR 1997, 111 (113). 276 277 278 Hess.VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.). Ähnlich VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.). VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.). 92 des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit insbesondere in Verbindung Wiederherstellung der Ehe- und Familiengemeinschaft zu begründen.279 mit der Die Behörde hat insbesondere die Frage der Zumutbarkeit der Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland des Familienangehörigen zu beachten. Im Blick auf im Bundesgebiet lebende deutsche Familienmitglieder ist dabei grundsätzlich das Ermessen reduziert. Dies gilt auch für stammberechtigte Ausländer mit verfestigtem Aufenthaltsstatus. Im Rahmen der Ermessensabwägung sind die Interessen der stammberechtigten Familienangehörigen nicht erst zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen des § 56 AufenthG erfüllt sind. In diesem Fall dürfte das Ermessen in aller Regel reduziert sein. Vielmehr sprechen verfassungs- und völkerrechtliche Gründe dafür, bei stammberechtigten Deutschen und stammberechtigten Ausländern mit verfestigtem Aufenthaltsstatus grundsätzlich das nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen zugunsten der den Nachzug begehrenden Angehörigen auszuüben. Zwar reicht grundsätzlich das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes für die Anwendung von § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aus. Eine erhebliche Korrektur der tatbestandlichen Voraussetzungen des Ermessens hat jedoch auf der Rechtsfolgenseite zu erfolgen. Danach ist bei Rechtsansprüchen das Versagungsermessen unter Berücksichtigung der besonderen aufenthaltsrechtlichen Stellung des den Nachzug begehrenden Ausländers auszuüben und sind deshalb die für die Aufenthaltsbeendigung maßgebenden Schutzwirkungen auch bei der Ausübung des Versagungsermessens nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen.280 Die für die Aufenthaltsbeendigung maßgebenden Schutznormen enthält nicht nur § 56 AufenthG, sondern insbesondere auch Art. 8 EMRK und Art. 3 Abs. 3 ENA. Dadurch werden öffentliche Interessen nicht in unzulässiger Weise eingeschränkt. Wenn die Behörde eine Gefahr für die Allgemeinheit erkennt, muss sie den Weg über die Ausweisung gehen. Es ist ihr grundsätzlich verwehrt, die besonderen Schutzwirkungen des § 56 AufenthG und anderer verfassungs- und völkerrechtlicher Normen dadurch zu unterlaufen, dass sie anstelle einer Ausweisung die Verlängerung des Aufenthaltstitels ablehnt. Zwar kommt es nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nur auf das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes an. Greifen jedoch besondere ausweisungsrechtliche Schutznormen ein, ist ein Wertungswiderspruch von Art. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mit § 56 AufenthG dadurch zu vermeiden, dass bei der Ermessensausübung diese Schutznormen zwingend zu berücksichtigen sind. II. Ehegattennachzug zu ausländischen Stammberechtigten (§ 30 AufenthG) Der Gesetzgeber hält an der früher maßgeblichen Unterscheidung zwischen dem Ehegattennachzug zu Angehörigen der ersten Generation (§ 18 Abs. 1 Nr. 1, 3 AuslG 1990) einerseits und zu Angehörigen der zweiten Generation (§ 18 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990) andererseits nicht mehr fest, weil diese sich historisch überholt haben dürfte. Der Rechtsanspruch nach § 30 Abs. 1 AufenthG greift nur durch, wenn sämtliche allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen vorliegen. Zugunsten der Ehegatten von Asylberechtigten und Flüchtlingen werden von diesem Grundsatz allerdings Ausnahmen zugelassen. Ein Rechtsanspruch auf Ehegattennachzug besteht, wenn 1. beide Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben, 279 BVerwG, InfAuslR 1997, 240 (242) = NVwZ-RR 1997, 567. BVerwGE 116, 378 (385 f.) = EZAR 024 Nr. 12 = InfAuslR 2003, 50 = NVwZ 2003, 217; VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (56 ff.). 280 93 2. 3. der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann und der hier lebende stammberechtigte Ausländer a) eine Niederlassungserlaubnis, b) eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG, c) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 20 oder § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG besitzt, d) seit zwei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und diese nicht mit einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 AufenthG versehen oder die spätere Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ausgeschlossen ist. e) eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die Ehe bei deren Erteilung bereits bestand und die Dauer des Aufenthalts voraussichtlich über ein Jahr betragen wird, f) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besitzt und die eheliche Lebensgemeinschaft bereits in dem Mitgliedstaat bestand, in dem der stammberechtigte Ehegatte die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehat oder g) eine BlaueKarte-EU besitzt Die Altergrenze wie das Spracherfordernis281 entfallen, wenn der stammberechtigte Ehegatte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19 bis § 21 AufenthG besitzt und die Ehe bereits in dem Zeitpunkt bestand, in dem er seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt hat (1. Fall), der Stammberechtigte unmittelbar vor der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, einer Erlaubnis zum Daueraufenhalt-EG oder Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 20 AufenthG war (2. Fall) oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besitzt (§ 30 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Das Spracherfordernis entfällt ferner, wenn der Stammberechtigte Asylberechtigter oder Flüchtling ist und eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG besitzt und die Ehe bereits bestand, als der Stammberechtigte seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt hat (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AufenthG). Ferner entfällt das Spracherfordernis, wenn der Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen, bei dem nachziehenden Ehegatten ein erkennbar geringer Integrationsbedarf besteht oder dieser aus anderen Gründen nach der Einreise keinen Anspruch nach § 44 AufenthG auf Teilnahme am Integrationskurs hätte oder der stammberechtigte Ehegatte wegen seiner Staatsangehörigkeit auch für einen längeren Aufenthalt visumfrei in das Bundesgebiet einreisen darf (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 und 4 AufenthG). Bei Deutsch-Verheirateten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) hat das BV4erwG die Spracherfordernisse aufgelockert.282 Bei der letzten Fallgruppe handelt es sich um stammberechtigte Ehegatten aus Mitgliedstaaten der EU und aus den EWR-Staaten (§ 12 FreizügG/EU), aus der Schweiz, aus Australien, Israel, Japan, Kanada, Südkorea, Neuseeland und Vereinigte Staaten (§ 41 Abs. 1 AufenthV) sowie aus Andorra, Honduras, Monaco und San Marino (§ 41 Abs. 2 AufenthV). Der nachziehende Ehegatte muss nicht die Staatsangehörigkeit des stammberechtigten Ehegatten besitzen. In allen Ausnahmefällen muss allerdings der Altergrenze genügt werden, sofern 281 282 Zu den Ausnahmen vom Spracherfordernis Weh, InfAuslR 2008, 381. BVerwGE 144, 141 (150 ff.) = INfAuslR 2013, 132 = InfAuslR 2013, 14 = AuAS 2012, 266 94 nicht besondere Härtegründe geltend gemacht werden (§ 30 Abs. 2 AufenthG). Im Blick auf Flüchtlinge ist dies mit Art. 12 RL 2003/86/EG unvereinbar. Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, nach ihrem nationalen Recht zu regeln, dass nachziehende Ehegatten Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen.283 Danach handelt es sich bei dieser gemeinschaftsrechtlichen Norm um eine Freistellungsklausel, welche abweichend von allgemeinen Regeln der Richtlinie den Mitgliedstaaten für ihr nationales Recht weitergehende Befugnisse einräumt. Da es sich um Ausnahmen von allgemeinen Grundsätzen handelt, sind diese restriktiv auszulegen. Art. 7 Abs. 2 RL 2003/896/EG lässt darüber hinaus nur allgemein die Forderung nach zu erbringenden Integrationsleistungen zu, ist jedoch keine Rechtsgrundlage dafür, diese als Einreisevoraussetzung zu gestalten. Vielmehr steht die gebotene restriktive Auslegung der Freistellungsklausel einer Gestaltung des Integrationserfordernisses als Einreisevoraussetzung eher entgegen. III. Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist zum Zwecke der Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das Unterhaltserfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG findet in den Fällen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG keine Anwendung. In den Fällen des Ehegattennachzugs nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG soll die Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltserfordernis erteilt werden. Hingegen kann dem nichtsorgeberechtigten Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen die Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltserfordernis erteilt werden, wenn die familiäre Gemeinschaft bereits im Bundesgebiet gelebt wird (§ 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Der deutsche Staatsangehörige wie der nachziehende Ehegatte müssen im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag das 18. Lebensjahr vollendet haben. Der nachziehende Ehegatte muss sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können (§ 28 Abs. 1 Satz 4 in Verb. mit § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 AufenthG). Die Ausnahmen vom Spracherfordernis nach § 30 Abs. 1 Satz 3 AufenthG finden Anwendung.284 Zur Vermeidung einer besonderen Härte kann der Ehegattennachzug auch abweichend von der Altergrenze zugelassen werden (§ 28 Abs. 1 Satz 4 in Verb. mit § 30 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist zu beachten. Das Vorliegen eines objektiven Ausweisungsgrundes hindert danach den Ehegattennachzug. Das Erfordernis des § 30 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG wird durch die Voraussetzung des „gewöhnlichen Aufenthaltes“ des Deutschen (§ 28 Abs. 1 1. Hs. AufenthG) ersetzt. Der deutsche Staatsangehörige muss daher einen auf Dauer angelegten Aufenthalt im Inland begründet haben. Maßgebend sind die tatsächlichen Verhältnisse. Kurzfristige Urlaubs- oder Geschäftsreisen sind unschädlich. Verlegt der deutsche Ehegatte nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für längere Zeit seinen Aufenthalt ins Ausland, kann dies den Bestand der Aufenthaltserlaubnis des ausländischen Ehegatten berühren. Jedenfalls im Zeitpunkt der Verlängerung des Aufenthaltstitels ist der gewöhnliche Aufenthalt des Deutschen im Bundesgebiet glaubhaft zu machen (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG). Auf ein nach Gemeinschaftsrecht unschädliches Getrenntleben kann sich der ausländische Ehegatte nur 283 BVerwGE 136, 231 (239 ff.) = NVwZ 2010, 964 = InfAuslR 2010, 331(Spracherfordernis ist unionsrechtskonform 284 S. auch BVerwGE 144, 141 (150 f.) = InfAuslR 2013, 14 = AuAS 2012, 266. 95 dann berufen, wenn der deutsche Ehegatte von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat und anschließend mit dem Ehegatten zurückkehrt.285 Zwar findet § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG Anwendung. Die Aufenthaltserlaubnis wird verlängert, solange die eheliche Lebensgemeinschaft fortbesteht (§ 28 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 28 Abs. 4 AufenthG). Es handelt sich damit um einen Fall nach § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG). Dem Angehörigen ist in der Regel nach Ablauf von drei Jahren Besitz der Aufenthaltserlaubnis eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft fortbesteht, kein Ausweisungsgrund vorliegt und er sich ausreichende Sprachkenntnisse (§ 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) nachweist (B 1, s. § 2 Abs. 11 AufenthG). IV. Familiennachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen (§ 29 Abs. 2 AufenthG) Beim Nachzug von Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern eines stammberechtigten Asylberechtigten oder Flüchtlinge, der im Besitz der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG oder einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG ist, kann vom Unterhalts- und Wohnraumerfordernis abgesehen werden (§ 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Von diesen Erfordernissen ist abzusehen, wenn der Antrag des Nachziehenden auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Statusgewährung gestellt wird und die Herstellung der Lebensgemeinschaft in einem Staat, der nicht Mitgliedstaat der EU ist und zu dem der stammberechtigte Asylberechtigte oder Flüchtling oder deren Angehörige eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist (§ 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Daneben bleibt die Ermessensregelung des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestehen. § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG setzt Art. 9 bis 12 der Richtlinie 2003/86/EG um und macht insbesondere von den einschränkenden Möglichkeiten des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3 RL 2003/86/EG Gebrauch. Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht vor, wird damit der Familiennachzug nicht ausgeschlossen. Vielmehr bleibt es in diesem Fall bei der Ermessensregelung des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach (§ 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG beginnt die Drei-Monats-Frist mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit. Es kommt auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Eintritts der Unanfechtbarkeit an. Maßgebend ist insoweit der Zeitpunkt der Zustellung der entsprechenden Bestandskraftmitteilung durch das Bundesamt an den Stammberechtigten oder dessen Verfahrensbevollmächtigten. Die besonderen Bindungen im Sinne des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG müssen dazu führen, dass dem Stammberechtigten in dem Drittstaat der dauerhafte Aufenthalt und damit dort eine Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft ermöglicht werden wird. Dies dürfte in aller Regel nur in Betracht kommen, wenn der Ehegatte und die gemeinsamen Kinder die Staatsangehörigkeit des Drittstaates besitzen und nach dessen innerstaatlichem Recht dem Stammberechtigten deshalb dort ein dauerhaftes Zusammenleben mit seinen Familienangehörigen möglich. Wird diese Möglichkeit nicht eingeräumt, kann nicht von besonderen Bindungen im Sinne des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ausgegangen werden. V. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) 285 EuGH, EZAR 814 Nr. 3. 96 Nach § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf dem Ehegatten und dem minderjährigen ledigen Kind eines Stammberechtigten, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 22, § 23 Abs. 1 oder § 25 Abs. 3 AufenthG besitzt, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik erteilt werden. Der Begriff der humanitären Gründe ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und damit der vollen inhaltlichen gerichtlichen Kontrolle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zugänglich. Liegen humanitäre Gründe vor, wird über den Nachzug nach Ermessen entschieden. In aller Regel dürfte durch die Bejahung humanitärer Gründe das Ermessen reduziert sein. Ist der stammberechtigte Angehörige nach § 26 Abs. 4 AufenthG in den Besitz der Niederlassungserlaubnis gelangt, hat er einen Rechtsanspruch auf Nachzug des Ehepartners (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a AufenthG). Obwohl subsidiär Schutzberechtigte nunmehr nahezu rechtlich mit Flüchtlingen gleichgestellt sind (§ 25 Abs. 2 AufenthG, Familienangehörige den abgeleiteten Status erhalten /§ 26 Abs. 5 AsylVfG), bleibt der Nachzug nur unter erschwerten Voraussetzungen zulässig. Dies ist inkonsequent. Hinsichtlich der subsidiär Schutzberechtigten muss § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Lichte der Art. 23 Abs. 1, 2 und Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG ausgelegt und angewendet werden. Danach wird Familienangehörigen subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt (Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 in Verb. mit Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG). Allerdings können die Mitgliedstaaten nach Art. 23 Abs. 2 2. Unterabs. RL 2004/83/EG die Bedingungen festlegen, unter denen Familienangehöriger subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Da es sich insoweit um eine Freistellungsklausel handelt, ist diese eng auszulegen. Darüber hinaus dürfen die Bedingungen nicht so gestaltet werden, dass der Familiennachzug ausgeschlossen wird. Daraus wird ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgeleitet.286 Bereits die Erfüllung der allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen stellt für die Stammberechtigten eine hohe Hürde dar. Keinesfalls darf der Begriff der humanitären Gründe so ausgelegt und angewendet werden, dass der Familiennachzug im Ergebnis über eine nicht lediglich vorübergehende Frist hinaus ausgeschlossen wird. VI. Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis Nach § 27 Abs.4 Satz 1 AufenthG darf die Geltungsdauer der einem Familienangehörigen erteilten Aufenthaltserlaubnis nicht die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des stammberechtigten Ausländers überschreiten. Diese Regelung soll offensichtlich gewährleisten, dass die Vorschrift über das eigenständige Aufenthaltsrecht nicht unterlaufen wird. Sie ist für den Zeitraum der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des Stammberechtigten zu erteilen, wenn dieser eine Aufenthaltserlaubnis nach § 20 oder § 38a AufenthG besitzt (§ 27 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Allerdings ist die Beifügung der auflösenden Bedingung „erlischt bei Nichtmehrbestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft“ nicht eindeutig bestimmbar und nimmt unzulässig bei einem Nichtbestehen der Lebensgemeinschaft die dann zu treffende Ermessensentscheidung vorweg und führt darüber hinaus in unzulässiger Weise zur Unterbrechung des für § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geforderten ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthaltes.287 Die Aufenthaltserlaubnis darf nicht länger gelten als der Pass oder Passersatz des nachziehenden Familienangehörigen (§ 27 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Sie ist erstmals mindestens für ein Jahr zu erteilen (§ 27 Abs. 4 Satz 4 AufenthG) und wird anschließend regelmäßig um jeweils zwei Jahre verlängert. Die Aufenthaltserlaubnis kann abweichend 286 287 VG Frankfurt am Main, NVwZ-RR 634 (635). VG Augsburg, InfAuslR 2006, 11 (13 f.). 97 vom Wohnraumerfordernis (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und vom Unterhaltserfordernis (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) verlängert werden. Der nach Art. 6 Abs. 1 GG gebotene Schutz von Ehe und Familie ist bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Wurde bei der erstmaligen Ermessensentscheidung eine Ausnahme vom Unterhaltserfordernis zugelassen, so bleibt die Behörde hieran regelmäßig bei unveränderter oder im Wesentlichen gleicher Sachlage bei der Verlängerungsentscheidung gebunden. Nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft regelt § 31 Abs. 3 AufenthG die Erteilung der Niederlassungserlaubnis. Alle Aufenthaltstitel im Rahmen des Nachzugs berechtigten zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 27 Abs. 5 AufenthG). Damit ist die frühere Regelung, wonach die dem Angehörigen erteilte Aufenthaltserlaubnis nur so weit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigte, wie der Stammberechtigte zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt war (§ 29 Abs. 5 Nr. 1 AufenthG a.F.) überholt. VII. Eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten (§ 31 AufenthG) 1. Allgemeine Grundsätze Eine eigenständige Verlängerung der akzessorischen Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten kommt nur nach § 31 AufenthG in Betracht. Ansonsten ist die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis an die auch für die Ersterteilung der Aufenthaltserlaubnis geltenden Kriterien gebunden (§ 8 Abs. 1 AufenthG). Bei der Verlängerungsentscheidung darf die Behörde daher grundsätzlich nicht vom Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft absehen (§ 27 Abs. 1 AufenthG). Sobald mithin die eheliche Lebensgemeinschaft aufgehoben wird, darf die nach §§ 27, 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 30 AufenthG zweckgebundene Aufenthaltserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des § 31 AufenthG befristet verlängert werden. Anders ist die Rechtslage bei Familienangehörigen von Gemeinschaftsbürgern, weil das dem Angehörigen vermittelte Aufenthaltsrecht unabhängig vom Fortbestand der Lebensgemeinschaft ist. Es bleibt auch dann erhalten, wenn der Angehörige die gemeinsame Wohnung verlässt und auf Dauer getrennt lebt.288 Die Verlängerung eines Aufenthaltstitels ist mit Blick auf die Systematik des Aufenthaltsrechts und in Ansehung des präzisen Sprachgebrauchs des Gesetzes zu unterscheiden von einem Wechsel des Aufenthaltszwecks, wie er § 31 AufenthG zugrunde liegt (s. auch § 81 Abs. 4 AufenthG). Diese Vorschrift ermöglicht im Rahmen der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis den Übergang von einem akzessorischen zu einem eigenständigen Aufenthaltsrecht.289 Der Anspruch auf Gewährung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts setzt jedoch voraus, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft tatsächlich ein ehebezogenes Aufenthaltsrecht innegehabt hat. Es genügt nicht, lediglich für zurückliegende (abgeschlossene) Zeiträume möglicherweise einen Anspruch auf Erteilung einer ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis gehabt zu haben,290 es sei denn, der Stammberechtigte konnte aus einem von ihm nicht zu vertretenden Grund nicht rechtzeitig die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG). In Fällen verzögerter behördlicher Bearbeitung des Antrags kann aber eine andere Betrachtung angezeigt sein.291 Die eheliche Lebensgemeinschaft ist aufgehoben, wenn die Ehe durch Tod oder Scheidung beendet oder die Gemeinschaft tatsächlich durch Trennung auf 288 BVerwGE 98, 298 (308) = InfAuslR 1995, 349 (351, 352). OVG NW, NVwZ 2000, 1445 = InfAuslR 2000, 279 = EZAR 023 Nr. 17 = AuAS 2000, 146. 290 Hess. VGH, InfAuslR 2003, 278. 291 Hess. VGH, InfAuslR 2003, 278 (280), offen gelassen, mit Hinweis auf VG Hamburg, Beschl. v. 1.2.2001 – 17 VG 3425/00. 289 98 Dauer beendet wird. Kehrt der Ehemann aus berufsbedingten Gründen auf Dauer in den Herkunftsstaat zurück und verbleibt die Ehefrau mit dem Willen zur Fortsetzung der ehelichen Lebensgemeinschaft nur deshalb im Bundesgebiet, um eine Ausbildung der gemeinsamen Kinder in Deutschland sicherzustellen, fehlt es an der die Umwandlung des akzessorischen in ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erforderlichen Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft.292 Zu bedenken ist aber, dass durch die Einführung des Geburtsortprinzips nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG der ausländische sorgeberechtigte Elternteil eines deutschen Kindes unmittelbar einen Rechtsanspruch aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erwirbt und deshalb ebenso wie der türkische Assoziationsberechtigte auf § 31 AufenthG nicht angewiesen ist. Die Behörde darf die Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Unterhaltserfordernis) und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Wohnraumerfordernis) nach Ermessen verlängern, solange die eheliche Lebensgemeinschaft besteht. Die nachträglichen Veränderungen der Wohn- und Einkommensverhältnisse stehen mithin beim Ehegattennachzug abweichend von § 8 Abs. 1 AufenthG der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Ein Absehen vom Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) und dem qualifizierten Aufenthaltserfordernis des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist hingegen bis zur Entstehung des eigenständigen Aufenthaltsrechtes nach Maßgabe des § 31 AufenthG unzulässig. Mit der Erteilung der Niederlassungserlaubnis an den Ehegatten wird der Aufenthaltstitel zu einem eigenständigen, von § 27 Abs. 1 AufenthG unabhängigen Aufenthaltsrecht (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). 2. Dreijähriger Ehebestand (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) Die Aufenthaltserlaubnis wird unabhängig von dem in § 27 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Zweck nach einem dreijährigen rechtmäßigen Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft befristet verlängert. Der Begriff „rechtmäßig“ bezieht sich nicht auf die Ehe, sondern knüpft an die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes beider Ehepartner an.293 Zeiten der früher maßgeblichen Duldung nach § 55 f. AuslG 1990 oder der Bescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG werden nicht mitgerechnet. Die Annahme des Ausländers, zur Wohnsitznahme in einer Asylbewerberunterkunft verpflichtet zu sein, bildet indes einen Umstand, der es rechtfertigt, eine knapp zweimonatige häusliche Trennung im Anschluss an die Eheschließung auf die Ehebestandszeit anzurechnen.294 Jedoch reicht die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder 4 AufenthG aus.295 Während der Mindestbestandszeit muss der Aufenthalt beider Ehepartner also durch eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder 4 AufenthG gesichert gewesen sein. Da § 31 AufenthG an § 27 AufenthG anknüpft, muss der stammberechtigte Ehegatte bis zum Ablauf der Mindestaufenthaltsdauer im Besitz der Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG bzw. der Erlaubnisfiktion gewesen sein.296 Dies wird auch durch das zusätzliche Erfordernis des § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG bekräftigt. Konnte der stammberechtigte Ehegatte die Verlängerung aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht rechtzeitig beantragen, entsteht ebenfalls das eigenständige Aufenthaltsrecht. Kurzfristige Unterbrechungen, die nicht auf ein Verschulden des stammberechtigten Ehegatten zurückzuführen sind, bleiben nach dieser Vorschrift unberücksichtigt. Auf die 292 293 294 295 296 Hess. VGH, InfAuslR 2000, 370 (371). OVG NW, AuAS 2001, 67; VGH BW, InfAuslR 2002, 183 (185); OVG Sachsen, AuAS 2004, 108. OVG Sachsen, AuAS 2004, 108. OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279; Igstadt, in: GK-AuslR, § 19 AuslG Rn 45. Hess. VGH, AuAS 1998, 110 (111). 99 Mindestbestandszeit wird die Zeit einer Trennung im Sinne des § 1566 Abs. 1 BGB nicht angerechnet.297 Dagegen braucht der deutsche Staatsangehörige nicht bis zum Ablauf der Mindestbestandszeit seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Bundesgebiet gehabt zu haben. Denn § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG knüpft nur an § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nicht indes an § 28 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an. Erlischt die Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG des stammberechtigten Ehegatten vor Ablauf der Mindestdauer, kann kein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entstehen. Für die Bemessung der Ehebestandszeit ist nicht die formalrechtliche Dauer der Ehe, sondern nur die Zeit der tatsächlichen Verbundenheit der Ehegatten maßgebend. Diese besteht regelmäßig in der Pflege einer häuslichen Gemeinschaft. Es wird ein ununterbrochener rechtmäßiger dreijähriger Aufenthalt gefordert.298 Auch wenn die eheliche Lebensgemeinschaft etwa aus berufsbedingten Gründen nicht zwingend in einer dauerhaften häuslichen Lebensgemeinschaft bestehen muss, muss sie doch erkennbar in Erscheinung treten und ihre Ausgestaltung (häufige und regelmäßige Wochenendbesuche, gemeinsam verbrachte Ferien, gemeinsam wahrgenommene Kontakte zu Freunden und Bekannten) den Schluss auf eine eheliche Verbundenheit rechtfertigen.299 Vorübergehende Trennungen, die den Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht berühren, bleiben unberücksichtigt. Die Ehegatten müssen sich mithin nach ihren subjektiven Vorstellungen dauerhaft voneinander getrennt haben.300 Ziehen die Ehegatten nach einer auf Dauer angelegten Trennung wieder zusammen, beginnt die Ehebestandsfrist von neuem. Die Dauer der ehelichen Lebensgemeinschaft vor der Trennung kann unter diesen Voraussetzungen nicht auf die Zweijahresfrist angerechnet werden.301 Ob die Trennung auf Dauer erfolgt oder nur vorübergehend ist, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu ermitteln.302 Ebenso wenig können im Regelfall mehrere Ehen zusammengerechnet werden. Längere, auch Monate dauernde Besuchsreisen im Herkunftsland unterbrechen nicht automatisch die anrechnungsfähige Zeitdauer. Für einen solchen Aufenthalt mag es unabhängig von seiner Dauer nachvollziehbare Motive und Gründe geben, wie z.B. der Urlaubswunsch oder der Wunsch oder sogar das Erfordernis eines Aufsuchens im Herkunftsland lebender Bekannter oder Verwandter, die es offensichtlich nicht rechtfertigen, von einer Unterbrechung der familiären Gemeinschaft auszugehen. Andererseits können längere Aufenthaltszeiten im Herkunftsland auch dann zur Unterbrechung führen, wenn an der Ehe festgehalten wird. Die in diesem Spannungsfeld angesiedelten Konstellationen lassen sich nicht abschließend abstrakt beschreiben und bedürfen einer näheren Würdigung anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls.303 297 BVerwG, InfAuslR 1999, 72 (73); Richter, NVwZ 1999, 726 (727). 176VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401) = AuAS 2002, 192 (LS) = NVwZ-RR 2002, 892 (LS); OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218. 298 Hess. VGH, AuAS 1998, 110; OVG NW, AuAS 2001, 67. 299 OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218 (219). 300 BayVGH, NVwZ-Beil. 2000, 116 (117); VGH BW, InfAuslR 2002, 400 = AuAS 2002, 192 (LS) = NVwZ-RR 2002, 892 (LS); Nr. 19.1.1 AuslG-VwV; Laubach, NVwZ 2000, 1388 (1389). 301 VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401) = AuAS 2002, 192 (LS) = NVwZ-RR 2002, 892 (LS). 302 VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401). 303 OVG Saarland, B. v. 21. 11. 2005 – 2 W 28/05 100 Der Nachweis für das vorzeitige Ende der familiären Lebensgemeinschaft obliegt der Ausländerbehörde.304 Dagegen trifft den Antragsteller die Darlegungslast für die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft.305 Bei unterschiedlichen Angaben über den Trennungszeitpunkt im Scheidungsverfahren einerseits sowie im ausländerrechtlichen Verfahren andererseits ist zu bedenken, dass in der familienrechtlichen Praxis übereinstimmende Angaben der Eheleute zum Trennungszeitpunkt regelmäßig ungeprüft übernommen werden. Dabei kommt es nicht selten vor, dass die Eheleute zur Erreichung einer schnellen Ehescheidung falsche Angaben zum Trennungszeitpunkt machen. Den im Ehescheidungsurteil enthaltenen Feststellungen zum Trennungszeitpunkt kommt daher keine faktische Richtigkeitsgewähr zu. Es ist deshalb im ausländerrechtlichen Verfahren nicht gerechtfertigt, unabhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls von der Richtigkeit der im Scheidungsurteil getroffenen Feststellungen zum Trennungszeitpunkt auszugehen.306 Nach Ablauf von zwei Jahren der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet vermittelt § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG eine eigenständige, allerdings zunächst auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthG).307 Der Bezug von Sozialleistungen steht der Verlängerung nicht entgegen (§ 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Danach kann die Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen verlängert werden (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Über die Befreiung vom Erfordernis der Unterhaltssicherung wird nach Ermessen entschieden. Mit Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG wird ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt (vgl. § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). 3. Tod des Ehepartners (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) Der nachgereiste Ehegatte erhält nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG im Falle des Todes des Ausländers ohne Rücksicht auf die Dauer und Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unmittelbar ein eigenständiges, freilich zunächst nach Maßgabe des § 31 AufenthG befristetes Aufenthaltsrecht, sofern der Tod während der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet eingetreten ist (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Dies gilt entsprechend, wenn der Tod des deutschen Ehepartners während der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft eingetreten ist (§ 28 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Anders als nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wird in diesem Fall eine Mindestbestandszeit der Ehe nicht vorausgesetzt. Der verstorbene Ehegatte muss allerdings im Zeitpunkt seines Todes noch im Besitz der Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis bzw. der Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 AufenthG gewesen sein, es sei denn, er konnte die Verlängerung aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht rechtzeitig beantragen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Der nachgezogene Ehegatte muss allerdings im Zeitpunkt des Todes noch im Besitz einer nach §§ 28, 30 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis sein. Auch insoweit genügt die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 AufenthG. Dagegen muss der deutsche Ehegatte nicht im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt haben. Denn § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG verweist erkennbar auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nicht hingegen auf § 28 Abs. 1 2. Hs. AufenthG. Allerdings muss der ausländische Ehegatte einen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet gehabt haben. 4. Besondere Härte (§ 31 Abs. 2 AufenthG) 304 OVG MV, AuAS 2002, 98; zum Einwand vorübergehender Trennung Hess.VGH, AuAS 2013, 86. OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218. OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 125 (127) = NVwZ–RR 2001, 339. BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381. 305 306 307 101 a) Allgemeines Der Ehegatte erhält nach § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Falle der besonderen Härte ein eigenständiges, freilich zunächst befristetes Aufenthaltsrecht. Daher besteht Anspruch auf inzidente Feststellung der Rückwirkung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis.308 Nach § 31 Abs. 2 Satz 1 1. Hs. AufenthG wird keine bestimmte Ehebestandszeit wie im Falle des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vorausgesetzt. Allerdings folgen die Härtegründe aus der konkreten Führung der Lebensgemeinschaft, setzen also regelmäßig rein tatsächlich eine gewisse Mindestbestandszeit voraus und erfordern auch den Besitz der Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis des stammberechtigten Ehegatten (§ 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG). Liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 AufenthG vor, ist wegen der alternativen Fassung des § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Prüfung des Härtefalles entbehrlich. b) Begriff der besonderen Härte Abzustellen ist auf die besonderen Schwierigkeiten und Nachteile, denen ein zurückkehrender Ausländer im Vergleich zur „Normalsituation“ eines geschiedenen oder getrennt lebenden Ausländers ausgesetzt ist, so zum Beispiel, wenn die Führung eines eigenständigen Lebens unmöglich gemacht wird oder wenn im Blick auf die Vorgänge, die zur Auflösung der Ehe geführt haben, fortwirkende Schikanen und Diskriminierungen durch die Familie zu befürchten sind.309 Nach § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wird unabhängig von den anderen Fallvarianten des § 31 Abs. 1 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis zunächst befristet verlängert, wenn eine besondere Härte vorliegt. Der Härtebegriff besteht aus zwei Komponenten. Der Zusatz „insbesondere“ kann einerseits bei einer zielstaatsbezogenen Härte (§ 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG) und andererseits erfüllt sein, wenn wegen der Beeinträchtigung der schutzwürdige Belange des Ehegatten oder eines Kindes das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr zumutbar ist (§ 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 2. Alt. AufenthG). Nach § 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG liegt eine besondere Härte vor, wenn dem Ehegatten wegen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Zusammenhang mit der bestehenden Rückkehrverpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange droht und deshalb die Versagungsentscheidung unzumutbar ist. Der Begriff der besonderen Härte nach § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG umschreibt lediglich beispielhaft den Härtebegriff.310 Aus dem Zusammenhang zwischen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft und der Rückkehrverpflichtung ergibt sich die gesetzgeberische Intention, Härten zu begegnen, die daraus folgen können, dass Ausländern – besonders Frauen – aus bestimmten Herkunftsstaaten bei der Rückkehr gerade wegen der Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft besondere Nachteile entstehen.311 Das Gesetz knüpft nur noch an die Rückkehrverpflichtung selbst an und verlangt mithin insbesondere nicht mehr, dass die außerhalb des Bundesgebietes drohenden erheblichen Beeinträchtigungen auf den Umstand der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft zurückzuführen sein müssen. Das Gesetz definiert den Härtebegriff nicht abschließend. Es stellt aber einerseits mit den gesetzlich Typen des § 31 Abs. 1 AufenthG und andererseits mit der Legaldefinition des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG Auslegungskriterien zur Verfügung. Die Feststellung einer besonderen Härte erfordert danach den Vergleich des konkreten Einzelfalls mit den gesetzlich geregelten Typen. Bei dem erforderlichen Vergleich ist eine Gesamtbetrachtung der 308 309 310 311 VG Regensburg, AuAS 2013, 218 (220). VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (116 f.). OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83; VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193). BVerwG, InfAuslR 1998, 279 (280). 102 Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Eine nur geringfügige Abweichung von einer oder mehreren der in § 31 Abs. 1 AufenthG aufgeführten Voraussetzungen begründet eine besondere Härte, wenn sich die Nichtgewährung des Bleiberechts nach den individuellen Verhältnissen gemessen an der gesetzlichen Konzeption und unter Berücksichtigung der im Gesetz enthaltenen Abwägungskriterien, als ungerecht oder gar unzumutbar darstellt. Dabei soll nicht jede Härte genügen. Vielmehr muss eine Besonderheit hinzukommen, durch die eine über die dem Gesetz immanente allgemeine Härte hinausgehende Härte deswegen begründet wird, weil der Einzelfall vom gesetzlichen Regelungsziel her den ausdrücklich erfassten Fällen annähernd gleicht. Dabei bezeichnen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG Kriterien, bei denen der Gesetzgeber vom Vorliegen einer besonderen Härte ausgeht.312 Das Gesetz knüpft nur noch an die Rückkehrverpflichtung selbst an und verlangt damit nicht mehr wie früher, dass die außerhalb der Bundesrepublik drohenden erheblichen Beeinträchtigungen auf den Umstand der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft selbst zurückgeführt werden können müssen. Eine Beschränkung auf unmittelbar auf die Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft rückführbare Beeinträchtigungen inlands- wie auslandsbezogener Art ist mit dem geltenden Recht damit nicht mehr zu vereinbaren.313 Berücksichtigungsfähig sind damit alle Beeinträchtigungen, die durch die Ausreise aus Deutschland infolge der Beendigung des ehebedingten Aufenthaltsrechts bedingt werden. Eine gewisse Beschränkung der berücksichtigungsfähigen Beeinträchtigungen ergibt sich nur noch aus der zusätzlich geforderten Erheblichkeit der drohenden Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange, deren inhaltliche Umgrenzung aus den in der Gesetzesbegründung aufgelisteten Beispielsfällen der Unmöglichkeit der Führung eines eigenständigen Lebens wegen gesellschaftlicher Diskriminierung, des Drohens einer Zwangsabtreibung, der Erforderlichkeit eines weiteren Aufenthalts in Deutschland im Hinblick auf eine Beeinträchtigung des Wohls des Kindes wegen der Verhältnisse im Herkunftsland sowie der Gefahr einer willkürlichen Versagung des Umgangs mit dem Kind erhellt.314 b) Zielstaatsbezogene Härtegründe (§ 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. AufenthG) Bei den zielstaatsbezogenen Härtegründen ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände geboten. Nach der Rechtsprechung ist eine besondere Härte dann anzunehmen, wenn im konkreten Einzelfall besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass die Ausreisepflicht den Ehegatten ungleich härter trifft als andere Ausländer in vergleichbarer Lage. Danach genügt nicht schon jede Härte, sondern es muss eine Besonderheit hinzukommen, durch die eine über die dem Gesetz immanente allgemeine Härte hinausgehende Härte deswegen begründet wird, weil der Einzelfall vom gesetzlichen Regelungsziel her den ausdrücklich erfassten Fällen annähernd gleicht. Dabei ist neben gewachsenen Bindungen und Integrationsleistungen im Bundesgebiet auch zu berücksichtigen, ob dem Ehegatten außerhalb des Bundesgebietes wegen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft erhebliche Nachteile drohen. Alle Rückkehrer gleichermaßen treffende geringere wirtschaftliche Lebensstandards werden insoweit nicht in die Gesamtbetrachtung eingestellt. Hieraus folgt, dass andere Nachteile, die nicht wegen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft, sondern wegen der dortigen allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse drohen, nicht zur Begründung einer besonderen Härte herangezogen werden können, sondern nur erhebliche rechtliche oder 312 313 198 314 VG Darmstadt, NVwZ-Beil. 2001, 94. OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83. OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83. OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83. 103 gesellschaftliche Diskriminierungen wegen der Auflösung der Ehe. 315 Es genügt danach die Gefahr, dass schutzwürdige Belange des Antragstellers erheblich beeinträchtigt werden können. Bei dieser Alternative müssen die Schwierigkeiten, die aus der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft folgen, kausal auf die Trennung bezogen sein,316 d.h. die Härte kann nur mit aktuell bestehenden oder nach Rückkehr zu erwartenden Schwierigkeiten begründet werden, die gerade durch die Trennung bedingt sind.317 Unberücksichtigt bleiben daher Probleme, die unabhängig von der Trennung oder bereits in der Vergangenheit entstanden sind und sowohl im Bundesgebiet wie im Heimatland in gleicher Weise fortbestehen würden. Diese finden nach der 2. Alternative des § 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. AufenthG Berücksichtigung. Es sind einerseits gewachsene Bindungen und Integrationsleistungen im Bundesgebiet maßgebend. Andererseits ist zu berücksichtigen, ob dem betroffenen Ehegatten wegen des Scheiterns der Ehe gerade wegen der Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft besondere Nachteile drohen. Diese sind nach § 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG erheblich. Eine gewisse Beschränkung der berücksichtigungsfähigen Beeinträchtigungen ergibt sich aus der geforderten Erheblichkeit der drohenden Beeinträchtigungen schutzwürdiger Belange, deren inhaltliche Umgrenzung aus den in der Gesetzesbegründung aufgelisteten Beispielsfällen der Unmöglichkeit eines eigenständigen Lebens wegen gesellschaftlicher Diskriminierung, des Drohens einer Zwangsabtreibung, der Erforderlichkeit eines weiteren Aufenthaltes in Deutschland im Hinblick auf eine Beeinträchtigung des Wohls der Kinder wegen der Verhältnisse im Herkunftsland sowie der Gefahr einer willkürlichen Untersagung des Umgangs mit dem Kind erhellt.318 Die gesellschaftlichen und sonstigen Nachteile insbesondere für Frauen aus anderen Rechts- und Kulturkreisen können an gesellschaftliche, religiöse oder sittliche Normen anknüpfen, etwa Bestrafung wegen Ehescheidung, Ächtung wegen Verletzung der Familienehre, Ausgrenzung wegen misslungener Ehe.319 Es wird keine staatliche Diskriminierung verlangt. Unerheblich ist deshalb, dass die Rechtsordnung im Herkunftsland laizistisch ausgestaltet und das Institut der Scheidung im Zivilrecht anerkannt ist.320 Danach liegt im Regelfall eine besondere Härte vor, wenn eine aus ländlichen türkischen Gebieten stammende Frau aufgrund der dort vorherrschenden untergeordneten Rolle der Frau nach der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft gravierenden gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt sein wird321 oder Bedrohungen oder Verfolgung durch Verwandte drohen. Insoweit darf nicht auf den asylrechtlichen Begriff der „ausweglosen Lage“, sondern muss darauf abgestellt werden, dass die einer geschiedenen oder getrennt lebenden Ehefrau bevorstehende Diskriminierung in der Türkei diese jedenfalls härter trifft als andere Ausländer, insbesondere Männer, die nach einem kurzen Aufenthalt in die Türkei BVerwG, DÖV 1997, 835 = AuAS 1997, 206; BayVGH, InfAuslR 2001, 280 (281); OVG Saarland, NVwZ-RR 2006, 357. 316 BVerwG, InfAuslR 1998, 279 (280). 315 317 318 319 320 Hess. VGH, InfAuslR 1994, 313 (314). VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193). VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193). VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194), zur Türkei. 321 Hess. VGH, InfAuslR 2000, 404 (405); VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193); VG Berlin, NVwZ-RR 1996, 295 (296); VG Karlsruhe, InfAuslR 1991, 245, für Marokko. 104 zurückkehren müssen.322 Dagegen vermag die Rechtsprechung für eine Rückkehrerin nach Thailand keine Gefahr der Diskriminierung und des Abgleitens in die Prostitution festzustellen. Nach den amtlichen Auskünften sei Thailand „ein wirtschaftlich aufstrebendes Land, in dem sich auch für eine junge Frau allerhand Opportunitäten auftäten, die keine Gemeinsamkeiten mit Prostitution hätten.“ Daher sei es der Betroffenen durchaus zuzumuten, nach Thailand zurückzukehren, ohne dass sie damit dort „allgemeiner Verachtung oder finanzieller Flucht in die Prostitution ausgesetzt würde.“ Obwohl ein nicht geringer Teil der mit Deutschen verheirateten Thailänderinnen aus dem Prostituiertenmilieu stammten, rechtfertige dies noch nicht die Schlussfolgerung, dass deswegen alle Rückkehrerinnen aus Deutschland als Prostituierte angesehen würden.323 Eine besondere Härte ist Aber dann anzunehmen, wenn nach den Sitten und Moralvorstellungen in Thailand eine junge Frau, die nach Europa geht und dort einen Europäer heiratet, deswegen als „Nutte“ angesehen wird, weil sie keinen Einheimischen geehelicht hat, und die deshalb von ihrer Familie verstoßen wird und außerhalb der örtlichen Gemeinschaft als alleinstehende junge Frau nicht leben kann.324 Eine chronische psychische Erkrankung der Antragstellerin, die mit mehreren Suizidversuchen einhergegangen ist und zur Reiseunfähigkeit geführt hat, kann andererseits in die Gesamtbetrachtung eingestellt werden. Hierdurch wird die Antragstellerin ungleich härter getroffen als andere Ausländer in vergleichbarer Situation.325 Ein Verweis auf eine Wohnsitzbegründung in türkischen Großstädten ist regelmäßig nicht gerechtfertigt. Zwar mag es nach der Rechtsprechung Fälle geben, in denen es einer geschiedenen Türkin zugemutet werden kann, sich in einer weniger von traditionellen Moralvorstellungen geprägten Großstadt niederzulassen. Jedenfalls bei einer psychisch erkrankten Antragstellerin ist dies indes unzumutbar.326 Darüber hinaus ist auch das Wohl eines in Deutschland aufgewachsenen Kindes zu berücksichtigen. Dieses kann erheblich beeinträchtigt werden, wenn es mangels eines anderweitigen Verbleibsrechts mit der psychisch kranken Mutter in das ihr völlig fremde Herkunftsland der Mutter übersiedeln müsste.327 Ein besonderer Härtefall liegt auch dann vor, wenn die Betreffende durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft macht, dass ihr Vater und ihr Bruder sie für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit dem Tode bedroht haben, weil sie aufgrund der Auflösung ihrer Ehe die „Familienehre“ beschmutzt habe.328 Die Annahme eines besonderen Härtefalles ist jedoch nicht zwingend von derart hohen Voraussetzungen abhängig. Insoweit kann auch von Bedeutung sein, dass die Betroffene im Herkunftsland, weil sie sich mit dem Vater wegen der Eheschließung überworfen hat, nicht auf den Beistand von Familienangehörigen hoffen kann, während sie im Bundesgebiet durch Verwandte unterstützt wird.329 Ebenso entsteht eine besondere Härte im Falle einer Entfremdung, etwa weil der Ehegatte im Herkunftsstaat nicht 322 Hess. VGH, InfAuslR 2000, 404 (405); VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194) OVG Saarland, B. v. 23. 11. 2005 – 2 W 31/05, BA, S.8, insoweit in NVwZ-RR 2006, 357 nicht abgedruckt. 324 VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117). 233 VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117). 325 VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117). 326 VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194). 327 VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194). 328 VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2001, 214 (215). 329 VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193). 323 105 aufgewachsen ist oder sich aus sonstigen besonderen Gründen dort nicht gesellschaftlich integrieren kann.330 Alle aus der Ausreise aus der Bundesrepublik infolge der Beendigung der Ehe resultierenden Beeinträchtigungen können relevant sein.331 Soweit gewachsene Bindungen und Integrationsleistungen im Bundesgebiet zu berücksichtigen sind, müssen diese dergestalt sein, dass die Rückkehrverpflichtung den Betroffenen im Vergleich zu anderen Ausländern besonders hart treffen würde.332 Zu den schutzwürdigen Belangen gehören insoweit auch im Inland geschaffene materielle und ideelle Werte, insbesondere auch erhebliche Vermögenswerte des Ausländers.333 Es werden indes nur die gewachsenen Bindungen und geschützten Rechtspositionen berücksichtigt, die im Zeitpunkt der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft bestanden hatten.334 Eine besondere Härte folgt daraus, dass der Betroffene wegen der Rückkehrverpflichtung zur Betriebsaufgabe und damit zur Aufgabe seiner Existenzgrundlage gezwungen würde.335 Allein der Verlust des Arbeitsplatzes im Bundesgebiet in Verbindung mit bestehenden Kreditverpflichtungen begründet allerdings keine mit der Rückkehrverpflichtung im Zusammenhang stehende besondere Härte.336 Vielmehr wird dieser als zwangsläufige Folge der Aufenthaltsbeendigung angesehen, der mit der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft in keinem spezifischen Zusammenhang stehe. Zwar begründet allein der Umstand, dass sich der Betreffende zehn Jahre in Deutschland aufhält und seine Eltern und Brüder hier leben, regelmäßig keine besondere Härte im Sinne der Vorschrift.337 Gewachsene Bindungen und die bislang erreichte Integration können aber erheblich sein.338 So kann sich aus den Beziehungen des Vaters zu seinem im Zeitpunkt der Behördenentscheidung achteinhalb Jahre alten Sohn, der bereits im Alter von einem Jahr eingereist ist, ein Härtefall ergeben.339 Denn die Lebensgemeinschaft des minderjährigen Kindes mit dem sorgeberechtigten Elternteil ist besonders schutzwürdig. Diesen Härten wird nunmehr durch § 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. AufenthG Rechnung getragen. c) Inlandsbezogene Härtegründe (§ 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. AufenthG) Mit der 2. Alt. des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erweitert der Gesetzgeber den Begriff der besonderen Härte um solche bereits eingetretenen, in aller Regel inlandsbezogenen Beeinträchtigungen schutzwürdiger Belange, die dem ausländischen Ehegatten ein weiteres Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar machen. Das Gesetz will damit besondere Umstände während der Ehe in Deutschland berücksichtigen, die es dem Ehegatten unzumutbar machen, zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts an der ehelichen Lebensgemeinschaft festzuhalten. Solche Fälle liegen zum Beispiel vor, wenn der nachgezogene Ehegatte wegen physischer oder psychischer Misshandlungen durch den anderen Ehegatten die Lebensgemeinschaft aufgehoben hat oder der andere Ehegatte das in der Ehe lebende Kind sexuell missbraucht oder misshandelt hat. Die inlandsbezogenen Härtegründe erweitern den Begriff der besonderen Härte, indem sie – anders als die erste Alternative – an eine bereits erfolgte, nicht erst drohende und im Übrigen inlandsbezogene Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange anknüpft. Unvereinbar hiermit wäre eine 330 331 332 333 334 Vgl. Hess. VGH, InfAuslR 1993, 328 (330). OVG Brandenburg, AuAS 2004, 38 (39). OVG Brandenburg, AuAS 2004, 38 (39); Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73) = NVwZ-Beil. 2004, 17. Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73). Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73). 335 Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73). BayVGH, InfAuslR 2001, 280 (281); BayVGH, AuAS 2003, 19 (20); OVG Saarland, NVwZ-RR 2006, 357; VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (402) 337 VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (402) = AuAS 2002, 192 (LS). 338 VGH BW, InfAuslR 1999, 27; VG Berlin, NVwZ-RR 1996, 295 = AuAS 1995, 209. 339 OVG Berlin, AuAS 1998, 146 (147). 336 106 Verwaltungspraxis, die forderte, von Misshandlungen einer Antragstellerin müssten Folgewirkungen ausgehen, die eine Erfüllung der Rückkehrverpflichtung erheblich erschwerten, weil sie einer Reintegration im Herkunftsland entgegenstünden. Damit würden entgegen der Gesetzessystematik und dem gesetzgeberischen Willen tatbestandliche Elemente der ersten Alternative zur Auslegung der eigenständigen Regelung der zweiten Alternative herangezogen. Darüber hinaus setzt die zweite Alternative im Gegensatz zur ersten Alternative keine erhebliche Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange des Ehegatten voraus.340 Über das Erfordernis der „Unzumutbarkeit“ setzt diese Alternative folglich einen Zusammenhang zwischen der erlittenen Beeinträchtigung und der ehelichen Lebensgemeinschaft voraus.341 Die Darlegungs- und Beweislast trifft insoweit die Antragstellerin.342 Eine inlandsbezogene Härte kann aber auch vorliegen, wenn es dem ausländischen Vater eines minderjährigen deutschen Kindes ohne Zubilligung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts nicht möglich wäre, einen hinreichenden Umgang mit seinem Kind zu pflegen.343 Nicht jede Form der subjektiv empfundenen Unzumutbarkeit stellt allerdings zugleich eine besondere Härte dar. Nicht in jedem Fall des Scheiterns einer ehelichen Lebensgemeinschaft, zu dem es in aller Regel wegen der von einem oder beiden Ehegatten subjektiv empfundenen Unzumutbarkeit des Festhaltens an der Lebensgemeinschaft kommt, sind die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt.344 In der Rechtsprechung wird insoweit eine objektive Bewertung vorgenommen. Danach komme es nicht allein entscheidend darauf an, ob der Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaft wegen einer aus seiner Sicht bestehenden Unzumutbarkeit aufgelöst hat. Der Rückgriff auf den maßgeblichen Begriff der besonderen Härte erfordere vielmehr eine Gesamtabwägung aller Umstände, bei der die Schwierigkeiten einer Rückkehr ein abwägungserheblicher Belang sein könnten, sie jedoch nicht ein selbständiges Tatbestandsmerkmal wie bei der ersten Alternative des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG darstellten.345 Die Störungen der ehelichen Lebensgemeinschaft müssen danach das Ausmaß einer konkreten über allgemeine Differenzen und Kränkungen in einer gestörten ehelichen Beziehung hinausgehenden psychischen Misshandlung erreicht haben.346 Die schutzwürdigen Belange des ausländischen Ehegatten sind die körperliche Integrität, angstfreies Leben in eigener Wohnung und Bewegungsfreiheit. Der besondere Härtefall ist nicht erst „bei schwersten Eingriffen in die persönliche Freiheit des Ehepartners“ erfüllt. Nach der Gesetzesintention lässt sich eine Beschränkung nur auf gravierende Misshandlungen nicht rechtfertigen.347 Der Annahme eines Härtefalles steht nicht entgegen, dass nicht die Antragstellerin, sondern der Ehemann die eheliche Lebensgemeinschaft aufgelöst hat, wenn diese aufgrund des vom Ehemann ausgeübten „Psychoterrors“ nicht mehr zu einer freien Willensentscheidung in der Lage war.348 340 341 342 343 344 345 VGH BW, NVwZ-RR 2003, 782. OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83. OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS). VGH BW, NVwZ-Beil. 2003, 93. OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS). VG Neustadt, InfAuslR 2001, 441 (442). 346 OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS). OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2003, 33 (34); VGH BW, NVwZ-RR 2003, 782; Hess. VGH, InfAuslR 2002, 404 (405). 348 VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003. 347 107 Die durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten Angaben über Monate dauernde erhebliche Schikanen verbunden mit Bedrohungen durch unkontrollierte Aggressionen des Ehemannes infolge von Alkoholmissbrauch sind erheblich. Beeinträchtigt sind dadurch insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf Eigentum.349 Ebenso liegt ein besonderer Härtefall vor, wenn die Antragstellerin durch ihren Eh3emann zur Prostitution gezwungen wird350 oder seit dem ersten Tag ihrer Ehe durch ihren Ehemann jeglicher freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit beraubt und wie eine Gefangene in der Wohnung gehalten wird und niemanden anrufen und ohne ihren Ehemann nicht die Wohnungstür öffnen darf.351 Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange ist insbesondere auch bei Misshandlungen, etwa durch Ausdrücken von Zigarettenkippen auf dem Rücken der Betroffenen, zu unterstellen.352 Darüber hinaus ist eine besondere Härte auch anzunehmen, wenn es im Rahmen von Ehestreitigkeiten wiederholt zu Erniedrigungen gekommen ist, hierbei nicht nur verbale Entgleisungen, sondern auch etwa Schläge mit einer Plastikschüssel auf den Kopf der Betreffenden glaubhaft gemacht werden. Auch wenn die Ehefrau mit Füßen aus dem Bett getreten und gestoßen worden ist, weil sie den sexuellen Wünschen des Ehemannes nicht nachgekommen ist, ist zu berücksichtigen.353 Die Tatsache, dass der Ehemann bei der Eheschließung verschwiegen hat, dass er bereits in religiöser Ehe mit einer Frau zusammenlebt und er diese Beziehung auch nach der Aufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft fortsetzt, kommt für die soziokulturell auf die Einehe eingerichtete Frau einer körperlichen Misshandlung gleich und ist deshalb erheblich.354 Von den Misshandlungen müssen wegen der Eigenständigkeit des Härtegrundes keine Folgewirkungen ausgehen, die eine Erfüllung der Rückkehrverpflichtung erheblich erschweren, weil sie einer Reintegration im Heimatland entgegenstehen. Damit würden entgegen dem Gesetzeszweck und dem gesetzgeberischen Willen tatbestandliche Elemente der ersten Alternative zur Auslegung der eigenständigen Regelung der zweiten Alternative des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG herangezogen. Vorausgesetzt wird auch nicht eine erhebliche Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange. Auch dies belegt die Eigenständigkeit der zweiten Alternative, nach deren Sinn und Zweck der Ehegatte nicht wegen der Gefahr der Beendigung seines akzessorischen Aufenthaltsrechts auf Gedeih und Verderb zur Fortsetzung einer nicht tragbaren Lebensgemeinschaft gezwungen werden soll.355 Der Nachweis von Misshandlungen kann, muss aber nicht zwingend durch ein ärztliches, aber auch nervenärztliches oder psychologisches Gutachten erbracht werden. So erfüllt die Antragstellerin ihre Darlegungslast, wenn sie ein nervenärztliches Gutachten vorlegt, das ausgeprägte psychische Störungen wie etwa Wahnstimmung mit Verfolgungsideen, Wahrnehmungsstörungen und akustische Halluzinationen, feststellt, die nach ärztlicher Einschätzung eindeutig als Auswirkung einer schweren anhaltenden psychischen Belastung im ursächlichen Zusammenhang mit dem Verhalten des Ehemannes zu sehen sind.356 349 VG Neustadt, InfAuslR 2001, 441 (442). VG Regensburg, AuAS 2013, 218 (220). 351 VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 14. 352 VG Aachen, Beschl. v. 8.3.2000 – 8 L 1320/99. 353 VG Würzburg, AuAS 2002, 220 (221). 354 VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2001, 214 (215). 355 VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 14; zweifelnd OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2003, 33 (34). 356 VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003. 350 108 Zu den schutzwürdigen Belangen zählt darüber hinaus nach § 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. AufenthG „auch das Wohl eines mit dem Ehegatten in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kindes“. Nach der gesetzlichen Begründung soll damit insbesondere den Interessen des nachgezogenen Ehegatten, der wegen physischer oder psychischer Misshandlungen durch den anderen Ehegatten die Lebensgemeinschaft aufgehoben hat, Rechnung getragen werden.357 Das Wohl des Kindes ist nicht nur bei Misshandlungen und Demütigungen beeinträchtigt, sondern auch, wenn die weitgehende Integration in die deutsche Gesellschaft sowie die schulische Integration eine Aufenthaltsbeendigung als unzumutbar erscheinen lassen. Der Gesetzeswortlaut stellt zwar auf das Wohl des mit dem ausländischen Ehegatten in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kindes ab. In der Rechtsprechung wird unter Verweis auf das KindRG das Gesetz aber auch auf Fälle erstreckt, in denen der frühere Ehegatte eines Elternteils, der mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, einen rechtlich geschützten Umgang mit dem Kind pflegt. Das Umgangsrecht von Personen, die nicht die leiblichen Eltern des Kindes seien, sei zwar nicht im gleichen Umfang wie das Recht der leiblichen Eltern ausgestaltet, gleichwohl jedoch bei der Entscheidung über das Vorliegen einer besonderen Härte zu berücksichtigen. Eine Begegnungsgemeinschaft zwischen einem Ausländer und einem Kind, das längere Zeit mit ihm in häuslicher Gemeinschaft gelebt habe, sei jedenfalls dann einer familiären Lebensgemeinschaft im Sinne des Gesetzes gleichzustellen, wenn der Betreffende im Rahmen des Umgangsrechts einen Kontakt zu dem Kind pflege, der eine ähnliche Intensität habe wie das Zusammenleben in einer familiären Lebensgemeinschaft oder die Ausübung der Personensorge durch einen Elternteil.358 5. Charakter des eigenständigen Aufenthaltsrechts Das eigenständige Aufenthaltsrecht entsteht zunächst als Anspruch auf befristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis359 für ein Jahr (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthG; s. aber § 31 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Für diesen Zeitraum ist der Bezug von Sozialleistungen unschädlich (§ 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). War dem Ehegatten bereits aufgrund der Fiktionswirkung seines Verlängerungsantrags oder aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsmittels für ein Jahr der Aufenthalt und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erlaubt worden, ist nach Ansicht des BVerwG der mit § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verfolgte Zweck erfüllt.360 Die Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 31 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe während des ersten Jahres ist unschädlich (§ 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Das eigenständige Aufenthaltsrecht entsteht unmittelbar als Niederlassungserlaubnis, wenn der Lebensunterhalt des Anspruchsberechtigten nach Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch Unterhaltsleistungen aus eigenen Mitteln des Ehegatten gesichert ist und dieser eine Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt (§ 31 Abs. 3 1. Hs. AufenthG). Zwar müssen für den Anspruchsberechtigten die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegen. Vom Erfordernis der Altersvorsorge, der Erlaubnis zur Ausübung einer Arbeitnehmerbeschäftigung und vom Nachweis der Sprachkompetenz ist indes abzusehen (§ 31 Abs. 3 2. Hs. AufenthG). 357 BT-Drs. 14/2368, S. 3. 358 VG Darmstadt, NVwZ-Beil. 2001, 94 359 BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381. BVerwGE 99, 313 (317) = InfAuslR 1995, 861; OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279 = EZAR 023 Nr. 17 = AuAS 2000, 146; VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194). 360 109 Nach Ablauf der Jahresfrist wird die Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen verlängert (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).361 Einwanderungspolitische Bedenken bleiben bei der Ermessensentscheidung unberücksichtigt. Zugunsten des Betroffenen wird vielmehr von Gesetzes wegen unterstellt, dass dem Verbleib im Bundesgebiet grundsätzlich nichts entgegensteht, insbesondere die für den Daueraufenthalt geforderten Integrationsleistungen entweder erbracht worden sind oder deren Erbringung aufgrund der besonderen Situation noch ermöglicht werden soll. Ferner sind in die Ermessenserwägung der bisherige Aufenthalt und hier geborene Kinder, für welche die Betroffene das alleinige Personensorgerecht besitzt, einzubeziehen. Unter diesen Umständen darf dem Sozialhilfebezug kein unangemessen hohes Gewicht beigemessen werden.362 Krankheitsgründe sowie Umstände, die dem Betroffenen ein Bleiberecht nach § 31 Abs. 1 AufenthG verschaffen und im Einzelfall auch Ursache für den Sozialhilfebezug (z.B. Betreuung eines behinderten Kindes, Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Erkrankung) sind, sind zu berücksichtigen.363 Widmet sich die Mutter nach der Geburt ihres Kindes dessen Betreuung und nimmt sie anschließend an einem Integrationskurs teil, begründet dies einen Ausnahmefall nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Denn das sinnvolle und anzuerkennende Bemühen der Mutter, die deutsche Sprache als wesentliche Bedingung für die Erlangung einer Arbeitsstelle zu erlernen, nachdem das Kind mit Vollendung des dritten Lebensjahres den Kindergarten besuchen kann, bewirkt eine Ausnahme von der Regel des Unterhaltserfordernisses.364 Aus § 31 Abs. 4 Satz 2 2. Hs. AufenthG kann abgeleitet werden, dass grundsätzlich der Erwerb der Niederlassungserlaubnis ermöglicht werden soll und deshalb im Regelfall ein Verlängerungsanspruch besteht. VIII. Kindernachzug (§ 32 AufenthG) § 32 AufenthG regelt den Nachzug minderjähriger lediger Kinder und wurde durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2013 grundlegend umgestaltet. Da nach der Rechtsprechung des BVerwG für die Staaten, die ein dem deutschen Recht vergleichbares alleiniges Sorgerecht nicht kennen, weil Mitwirkungsrechte des anderen Elternteils verbleiben,365 war für Kinder aus diesen Staaten der Nachzug nur nach Ermessen zulässig. Darauf reagiert § 32 Abs. 3 AufenthG n.F. Ausländische Sorgerechtsentscheidungen sind grundsätzlich anzuerkennen.366Auf die im Bundesgebiet geborenen Kinder findet in erster Linie § 33 AufenthG Anwendung. Ist das Kind im Zeitpunkt des erstrebten Nachzugs volljährig oder nicht mehr ledig, kann der Nachzug nur unter den Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AufenthG367 oder § 36 Abs. 2 AufenthG368 genehmigt werden. Beim Kindernachzug ist zwischen einem Rechtsanspruch (§ 32 Abs. 1 und 2 AufenthG), dem Sollanspruch (§ 32 Abs. 3 AufenthG)und dem Ermessenstatbestand (§ 32 Abs. 4 AufenthG) unterschieden. Der EGMR hat aus Art. 8 Abs. 1 EMRK einen Anspruch auf Kindernachzug hergeleitet, wenn die Eltern im Vertragsstaat ein gesichertes Aufenthaltsrecht haben, wegen dort geborener Kinder und deren fehlender innerer Beziehung zum Herkunftsland der Eltern nicht in den Herkunftsstaat zurückkehren können und das betroffene Kind auf die Erziehungs- und Betreuungsgemeinschaft mit den Eltern angewiesen ist.369 361 BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381. OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279 = AuAS 2000, 146 = EZAR 023 Nr. 17. 363 VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (195); Nr. 19.2.2 AuslG-VwV. 364 Nieders.OVG, AuAS 2007, 62 365 BVerwGE 133, 329 (336) Rdn. 16 = NVwZ 2010, 262 = InfAuslR 2009, 270; s. hierzu Marx, in GKAufenthG II - § 32 Rdn. 24 ff. 366 BVerwG, NVwZ 2013, 947 = EZAR NF 34 Nr. 21; s. auch BVerwGE 145, 172 = NVwZ 2013, 427. 367 S. hierzu BVerwG, NVwZ 2013, 1344 = InfAuslR 2013, 331. 368 S. hierzu BVerwG , U. v. 30. 7. 2013 – BVerwG 1 C 15.12 (nicht veröfffentlicht); BVerwG NVwZ 2013, 1497. 369 EGMR, InfAuslR 2002, 334. 362 110 Maßgeblich für die Altersgrenze in allen Fallvarianten ist der Zeitpunkt der Antragstellung.370 Art. 4 Abs. 1 letzter Unterabsatz RL 2003/86/EG erlaubt den Mitgliedstaaten die Einführung einer Altersbegrenzung für den Kindernachzug. Diese Regelung ist nach Auffassung des EuGH vereinbar mit Art. 8 EMRK.371 Bei erlaubnisfreier Einreise kommt es auf den Einreisezeitpunkt an.372 Ist der Antrag vor dem Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze gestellt worden, hat es die zuständige Behörde indes unterlassen, über diesen rechtzeitig zu entscheiden, so kann nach Überschreiten der Altersgrenze der Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis aus dem Gesichtspunkt des Instituts der Folgenbeseitigung in Betracht kommen.373 Sämtliche erforderlichen Voraussetzungen müssen im maßgeblichen Zeitpunkt erfüllt sein, mit der Folge, dass die nachträgliche Erfüllung der Voraussetzungen – etwa die nach §§ 5 Abs. 1, 29 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG – nicht berücksichtigt wird.374 § 32 Abs. 3 AufenthG ist einer analogen Anwendung auf den Nachzug von Enkelkindern zu Großeltern nicht zugänglich, auch wenn diesen die Vormundschaft übertragen worden ist. Dieser Nachzug ist vielmehr in § 36 AufenthG geregelt. 375 Dr Kindernachzug steht unter dem gesetzlichen Erfordernis des § 27 Abs. 1 AufenthG, d.h. er muss zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit den Eltern bzw. einem Elternteil erfolgen. Weisen die Eltern einer anderen Person als Vormund das Aufenthaltsbestimmungsrecht über das Kind zu, fehlt es an dieser Voraussetzung. Nach der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber für den Nachzug eines Kindes und dessen weiteren Verbleib im Bundesgebiet zwingend die Aufnahme bzw. das Fortbestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit den Eltern bzw. einem Elternteil vorausgesetzt. Der Umstand, dass die hier lebenden Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Bruder übertragen haben, vermittelt deshalb kein Nachzugsrecht.376 Vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts kann unter bestimmten Voraussetzungen abgesehen werden377 Das mit Visum einreisende Kind stellt nach der Einreise keinen Erstantrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, sondern einen Verlängerungsantrag. Auf Altersgrenzen kommt es deshalb bei der Verlängerungsentscheidung nicht an.378 Bei der Verlängerungsentscheidung sind abweichend von § 8 Abs. 1 AufenthG das Unterhaltserfordernis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und das Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) nicht zu berücksichtigen (§ 34 Abs. 1 AufenthG). Hingegen kann von der Voraussetzung des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis, der Niederlassungserlaubnis oder der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG der Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils sowie vom Versagungsgrund des § 27 Abs. 2 AufenthG nicht abgesehen werden (vgl. § 34 Abs. 1 AufenthG). 370 BVerwG, InfAuslR 1998, 161 (162) = NVwVZ-RR 1998, 517; BVerwG, InfAuslR 1998, 382 EuGH, NVwZ 2006, 1033, § 62. 372 Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, EZAR 022 Nr. 5; Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 236 (237); VGH BW, NVwZ-RR 1993, 215; VGH BW, EZAR 024 Nr. 7; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1994, 692 (693); a.A. BVerwG, InfAuslR 1998, 161. 373 VG Stuttgart, InfAuslR 2000, 120. 374 OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (157) = AuAS 2004, 86; zur nach ausländischem Recht erfolgten Adoption s. OVG Berlin, AuAS 2004, 158. 375 BVerwG, DÖV1997, 835 (836). 376 OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (157) = AuAS 2004, 86. 377 S. hierzu BVerwG, NVwZ 2013, 1493. 378 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726 (727) = InfAuslR 2008, 328. 371 111 Dem minderjährigen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis im Wege des Kindernachzugs erhalten hat und besitzt, wird abweichend von § 9 Abs. 2 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis erteilt, wenn er im Zeitpunkt der Vollendung seines 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis (§ 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) oder er volljährig und seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis ist, über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Bis dahin muss die Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27, 28 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erteilt und verlängert worden sein. Auf die Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis werden Zeiten der Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, der Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG, rechtmäßige Aufenthaltszeiten, sowie nach § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG berücksichtigungsfähige Aufenthaltszeiten angerechnet. Zeiten eines Schulbesuchs im Ausland werden nur angerechnet, wenn in der Schule Deutsch Umgangssprache war. Zeiten der Untersuchungs- und Strafhaft werden nicht berücksichtigt. Unterbrechungen bleiben nach Maßgabe des § 85 AuslG außer Betracht Wird das Kind im Bundesgebiet geboren und haben beide Elternteile oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil im Zeitpunkt der Geburt eine Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG, ist von Amts wegen die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (§ 33 Satz 2 AufenthG). Mit der Einbeziehung auch des Kindesvaters in diese Regelung zieht der Gesetzgeber die Konsequenz aus der Rechtsprechung des BVerfG, welches die frühere - den Aufenthaltsanspruch des im Bundesgebiet geborenen Kindes allein an den Aufenthaltsstatus der Mutter anknüpfende Regelung für verfassungswidrig erklärt hatte.379 Bereits vorher waren in der obergerichtlichen Rechtsprechung verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet worden.380 Dieser Rechtsprechung trägt der Gesetzgeber mit § 33 Satz 2 AufenthG Rechnung. Der Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an ein im Bundesgebiet geborenes Kind wird nach geltendem Recht allein davon abhängig gemacht, dass zumindest ein Elternteil – unabhängig von seiner Geschlechtszugehörigkeit – eine Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Daueraufenthaltserlaubnis-EG besitzt. § 33 Satz 2 AufenthG gewährt einen Anspruch auf erstmalige Erteilung der Aufenthaltserlaubnis und setzt keinen entsprechenden Antrag voraus (§ 33 Satz 1 AufenthG). Diese ist vielmehr von Amts wegen zu erteilen und zu verlängern. Ziel des Gesetzes ist es, das Kind am Aufenthaltsstatus seiner Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils teilhaben zu lassen. Die Regelerteilungsgründe (§ 5 Abs. 1 AufenthG) sowie § 29 Abs. 1 AufenthG finden keine Anwendung. Es kommt also nicht darauf an, ob der Lebensunterhalt des Kindes durch Einkünfte der Eltern oder durch sonstige eigene Mittel sichergestellt und ob ausreichender Wohnraum verfügbar ist. Die Aufenthaltserlaubnis ist auch dann zu erteilen, wenn keine familiäre Lebensgemeinschaft mit den Eltern oder einem Elternteil besteht, etwa wenn das Kind in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht ist. § 33 Satz 2 AufenthG hat damit nicht nur verfahrensrechtliche (Absehen vom Antragserfordernis), sondern auch erhebliche materiellrechtliche Bedeutung, indem er einen nicht an weitere Voraussetzungen geknüpften Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis anstelle der sonst zu treffenden Ermessensentscheidung gewährt.381 Nach § 33 Satz 1 AufenthG kann einem Kind, das im Bundesgebiet geboren wird, abweichend von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG und dem 379 BVerfGE 114, 357 (363 ff.) = InfAuslR 2006, 53 = AuAS 2006, 2. OVG Hamburg, AuAS 2002, 218; Hess.VGH, NVwZ-Beil. 2003, 3; VGH BW, InfAuslR 2001, 330 = NVwZ 2001, 605; VG München, InfAuslR 2001, 436. 381 BVerfGE 114, 357 (365) = InfAuslR 2006, 53 (54 ff.) = AuAS 2006, 2. 380 112 Wohnraumerfordernis nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Besitzt der allein personensorgeberechtigte Elternteil oder besitzen beide Elternteile eine derartige Aufenthaltsposition, besteht der Rechtsanspruch nach § 33 Satz 2 AufenthG. Der Ermessenstatbestand erfasst danach die Fälle, in denen zwar der allein personensorgeberechtigte Elternteil nicht den geforderten Aufenthaltsstatus hat, wohl aber der nicht personensorgeberechtigte Elternteil. Bei der Ermessensausübung soll der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden. Hinsichtlich des Vaters eines nichtehelichen Kindes ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob ihm ein Sorgerecht zusteht oder er in familiärer Lebensgemeinschaft mit dem Kind lebt. § 33 Satz 1 AufenthG regelt aber ausschließlich das Aufenthaltsrecht des Kindes. Demgegenüber wird das Aufenthaltsrecht des Elternteils des nach § 33 Satz 1 AufenthG begünstigten Kindes, der keinen Aufenthaltsstatus besitzt, nach § 36 AufenthG geregelt. Ist das Kind deutscher Staatsangehöriger, richtet sich der Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis des sorgeberechtigten Elternteils nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und das Aufenthaltsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Der Aufenthalt eines im Bundesgebiet geborenen Kindes, das nicht die Voraussetzungen des § 33 Satz 1 und 2 AufenthG erfüllt, dessen Vater oder Mutter aber im Zeitpunkt der Geburt im Besitz eines Visums ist oder sich visumfrei aufhalten darf, gilt bis zum Ablauf des Visums oder des rechtmäßigen visumfreien Aufenthaltes als erlaubt (§ 33 Satz 3 AufenthG). Diese Norm ist der früheren in § 33 Satz 2 AufenthG a.F. geregelten Erlaubnisfiktion nachgebildet, die allerdings allein an den Aufenthaltsstatus der Mutter anknüpfte. Besitzt die Mutter oder der Vater ein Visum oder darf sich der maßgebende Elternteil aufgrund einer Befreiung vom Erfordernis des Aufenthaltstitels (§ 41 Abs. 3 Satz 1 AufenthV) oder aufgrund der Fiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder § 81 Abs. 4 AufenthG ohne Visum im Bundesgebiet aufhalten, ist der Aufenthalt des Kindes für den entsprechenden Zeitraum erlaubt (Nr. 33.9 VAH). 3. Eigenständiges Aufenthaltsrecht (§ 34 Abs. 2, § 35 AufenthG) Mit Eintritt der Volljährigkeit wird die einem Kind im Rahmen des Kindernachzugs erteilte Aufenthaltserlaubnis zu einem eigenständigen, vom Zweck des Kindernachzugs unabhängigen Aufenthaltsrecht (§ 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Unter diesen Voraussetzungen finden § 27 sowie § 28 bzw. § 32 AufenthG keine Anwendung mehr (Nr. 34.2.1 VAH). Eine analoge Anwendung des § 31 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist vom Gesetzgeber nicht gewollt. Es besteht insoweit auch keine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes (Gesetzeslücke). Die Vorschrift des § 34 Abs. 2 AufenthG gewährt keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Ergibt sich ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht aus aus § 34 Abs. 1 in Verb. mit § 37 oder § 35 AufenthG, ist über den Verlängerungsantrag gemäß § 34 Abs. 3 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden.382 Wird die familiäre Lebensgemeinschaft mit den hier lebenden Eltern bzw. dem hier lebenden allein personensorgeberechtigten Elternteil vor Erreichung der Volljährigkeit beendet, bevor das Kind in den Genuss des eigenständigen Aufenthaltsrechts nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gelangt ist, kann diesem ein Aufenthaltstitel nach Maßgabe des § 36 AufenthG 382 OVG NW, InfAuslR 2006, 365 (366). 113 erteilt werden.383 Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht entsteht aber auch dann, wenn das Kind im Falle seiner Ausreise ein Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG hätte, die Aufenthaltserlaubnis in entsprechender Anwendung des § 37 AufenthG verlängert (§ 34 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) oder dem Kind eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG erteilt wird. Für die Niederlassungserlaubnis sieht § 35 Abs. 1 AufenthG Privilegierungen vor. Nach § 35 Abs. 4 AufenthG ist von den Erfordernissen der deutschen Sprachkenntnisse, der Unterhaltssicherung und der Unabhängigkeit von Sozialhilfe zwingend abzusehen, wenn diese wegen einer Krankheit oder Behinderung des Antragstellers nicht erfüllt werden können. Der Nachweis ist durch fachärztliche Stellungnahmen zu führen. 4. Ausschluss der Niederlassungserlaubnis (§ 35 Abs. 3 AufenthG) § 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG regelt abschließend, in welchen Fällen die Erteilung der Niederlassungserlaubnis versagt werden kann. Die Prüfung, ob Ausschlussgründe vorliegen, kommt erst in Betracht, wenn die Voraussetzungen nach § 35 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind. Die in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Delikte begrenzen indes nicht die Annahme eines Regelfalles nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG,384 d.h. der Regelfall kann auch angenommen werden, wenn die strafrechtlichen Verfehlungen weit über den durch § 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gezogenen Rahmen hinausgehen. Die Feststellung des Regelfalles nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist vielmehr an der Schranke von Art. 3 Abs. 3 ENA und Art. 8 EMRK auszurichten.385 Das BVerwG hat im Fall Mehmet die Ermessensnorm des § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG 1990 dahin ausgelegt, dass die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten eines besonderen Ausweisungsschutzes minderjähriger Ausländer bei der Verlängerungsentscheidung zu berücksichtigen sei. Die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 (jetzt § 56 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) getroffene gesetzgeberische Entscheidung sei bei der im Ermessen stehenden Verlängerungsentscheidung zu beachten. Denn mit dem Ausweisungsschutz für Minderjährige habe der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Auftrag zum Schutz der Familie, insbesondere der Beziehung zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern, konkretisiert.3863 Diese Rechtsprechung des BVerwG kann jedenfalls dahin verstanden werden, dass unabhängig von der Auslegung des § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG jedenfalls der Anspruch auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG am Maßstab des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu beurteilen ist. IX. Aufenthaltserlaubnis für den sorge- oder umgangsberechtigten Elternteil eines minderjährigen ledigen Kindes (§ 36, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) 1. Allgemeines Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen deutschen Kindes die Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge zu erteilen und zu verlängern. Anders als § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Vorschrift voraus, dass die familiäre Lebensgemeinschaft zur Ausübung der Personensorge hergestellt werden soll. Über den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis des nichtsorgeberechtigten Elternteils eines minderjährigen ledigen Deutschen, ist hingegen gemäß § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Bundesgebiet geführt wird. Im Blick auf ein ausländisches minderjähriges lediges Kind, das über den anderen Elternteil ein 383 OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (158) = AuAS 2004, 86. Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (158) = AuAS 2004, 86. 384 BayVGH, InfAuslR 2003, 57. 385 Marx, InfAuslR 2000, 9 (10); VG Bremen, InfAuslR 1998, 450 für § 21 Abs. 4 AuslG 1990. 386 Marx, InfAuslR 2000, 9 (10); VG Bremen, InfAuslR 1998, 450 für § 21 Abs. 4 AuslG 1990. 352OVG 114 verfestigtes Aufenthaltsrecht besitzt, fehlt ein gleichwertiger korrespondierender gesetzlicher Anspruch der Eltern oder eines Elternteils auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Das BVerfG wendet seine Rechtsprechung aber auch auf diesen Fall an.387 Hier wird zumeist eine Lösung über § 36, § 25 Abs. 5 oder § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG gesucht. Nach § 36 wie auch nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis nur zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erteilt. Diese einfachgesetzlichen Normen setzen für die Verwirklichung grundrechtlicher Ansprüche zu hohe Hürden. Daher wird in der Verwaltungspraxis zumeist eine Lösung über § 25 Abs. 5 AufenthG gesucht. Vorausgesetzt wird hierbei, dass das Kind über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfügt.388 Denn beim Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem nichtsorgeberechtigten Elternteil und seinem minderjährigen ledigen Kind besteht ein rechtliches Ausreisehindernis. Der Gesetzgeber hat es bislang vermieden, für nichtsorgeberechtigte Elternteile ausländischer minderjähriger lediger Kinder den Regelungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vergleichbare gesetzliche Erteilungsgründe festzulegen. Angesichts dessen ist die Lösung über § 25 Abs. 5 AufenthG in Anlehnung an § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nach Maßgabe verfassungsrechtlicher Grundsätze zu suchen. Die nachfolgenden Ausführungen betreffen sowohl den nichtsorgeberechtigten Elternteil eines minderjährigen ledigen deutschen Kindes wie den eines minderjährigen ledigen ausländischen Kindes. Für die erste Fallgruppe ist § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für die andere § 25 Abs. 5 AufenthG Rechtsgrundlage. Entscheidend ist das Kindeswohl, dessen Bedeutung in der Rechtswirklichkeit nicht anhand der Staatsangehörigkeit des Kindes relativiert werden kann. Während im Blick auf das deutsche Kind bereits die Staatsangehörigkeit die Berücksichtigung der Zumutbarkeit des Aufenthaltes im Herkunftsland des sorgeberechtigten Elternteils sperrt, steht beim ausländischen Kind der gefestigte Aufenthaltsanspruch des Kindes einer derartigen Betrachtung entgegen. Beim im Bundesgebiet geborenen Kind folgt dieser Anspruch aus § 33 AufenthG, im Übrigen aus dem auf Dauer angelegten Aufenthaltsanspruch des anderen Elternteils (vgl. § 32 AufenthG). Der EGMR weist ausdrücklich darauf hin, es stelle einen schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht dar, wenn einem ausländischen Kind mit verfestigtem Aufenthaltsrecht im Gebiet eines Vertragsstaates zugemutet werde, dem anderen Elternteil in das gemeinsame Herkunftsland zu folgen.389 Der Aufenthalt muss dem anderen ausländischen Elternteil und dem Kind im Herkunftsland des Elternteils jedoch möglich sein.390 Eine Abschiebung, die mit Art. 6 Abs. 2 GG unvereinbar ist, ist deshalb rechtlich unmöglich und begründet einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 AufenthG. Das BVerfG weist ausdrücklich darauf hin, dass der Verweis auf eine vorübergehende Trennung verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet.391 Da bei Kleinkindern die Entwicklung sehr schnell voranschreitet, ist schon eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG unzumutbar.392 2. Vaterschaftsanerkennung oder -feststellung 387 BVerfG (Kammer), InfAuslR 2008, 347. Nieders.OVG, EZAR 45 Nr. 2; OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 236, allgemein zum gefestigten Aufenthaltsrecht des stammberechtigten Familienangehörigen; s. auch § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. 389 EGMR, InfAuslR 2006, 255 (266) – Sezen. 390 BVerfG (Kammer), InfAuslR 2008, 347 (348). 391 BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000, 67 (69) = EZAR 622 Nr. 37 = NVwZ 2000, 59 = AuAS 2000, 43. 392 BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000, 67 (69) = EZAR 622 Nr. 37 = NVwZ 2000, 59 = AuAS 2000, 43; OVG Hamburg, B. v. 18. 10. 2000 – 2 Bs 237/00; OVG Saarland, InfAuslR 2003, 328 = NVwZ-RR 2003, 783; a. A. Nieders.OVG, InfAuslR 2003, 332 (333). 388 115 Bei nichtehelichen Beziehungen bedarf es beim Vater der Anerkennung der Vaterschaft, um aus dem Verwandtschaftsverhältnis zum Kind Aufenthaltsansprüche ableiten zu können. In der Verwaltungspraxis kommt insbesondere dem Erwerbsgrund nach § 4 Abs. 1 Satz 2, aber Abs. 3 Satz 1 StAG Bedeutung zu. Ist nur der Vater deutscher Staatsangehöriger, bedarf es zur Geltendmachung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes lediglich der Vaterschaftsanerkennung oder –feststellung. Erkennt der deutsche Vater seine Vaterschaft an, um dadurch der ausländischen Kindesmutter den Aufenthaltsanspruch nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu sichern, hat die Behörde dies hinzunehmen. Zweifel am wirksam abgegebenen Vaterschaftsanerkenntnis können deren zivilrechtliche und staatsangehörigkeitsrechtliche Wirkung nicht aufheben. Einwendungen gegen die inhaltliche Richtigkeit einer nach den §§ 1594 ff. BGB wirksam abgegebenen Vaterschaftsanerkenntnis außerhalb der Vaterschaftsanfechtungsklage sind daher auch bei erheblichen Zweifeln an der Richtigkeit nicht zugelassen.393 Durch Vaterschaftsanerkenntnis ist der Erklärende, auch wenn er nicht der biologische Vater ist, Vater im rechtlichen Sinne geworden. Er kann deshalb auch keine unwahren Angaben im Sinne des StGB und des AufenthG gegenüber der Ausländerbehörde machen.394 Allerdings können strafbare Handlungen durch den Erklärenden und die Kindesmutter „im Kontext der Anerkennung der Vaterschaft“ selbst begründet werden.395 Bei ehelichen wie nichtehelichen Kindern entfällt bei nachträglichem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes das Aufenthaltsrecht der Mutter. Verliert das von der ausländischen Mutter während der Ehe mit einem Deutschen geborene Kind die deutsche Staatsangehörigkeit, weil der Ehemann die Ehelichkeit (§ 1599 Abs. 1 BGB) erfolgreich angefochten hat396 und deshalb der auf § 4 Abs. 1 Satz 2 StAG gestützte Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes rückwirkend entfällt, liegt darin nicht eine unzulässige Entziehung oder der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit durch eine staatliche Maßnahme im Sinne des Art. 16 Abs. 1 GG. Die Mutter kann in diesem Fall nicht als ausländischer Elternteil eines deutschen Kindes eine Aufenthaltserlaubnis beanspruchen.397 Erhebt der deutsche Kindesvater nicht die Anfechtungsklage, blieb es bislang bei der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes. Seit dem 1. Juni 2008 ist jedoch durch Änderung des § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 6 BGB den zuständigen Landesbehörden ein Anfechtungsrecht eingeräumt worden, um bei kollusiven Zusammenwirken der Eltern die Ehelichkeit des Kindes und „missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen zu bekämpfen.“398 Das BVerfG hat diese Regelung kürzlich für verfassungswidrig erklärt.399 Dies hat weitreichende Auswirkungen. Mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit entfiel bislang auch für das Kind das weitere Aufenthaltsrecht.400 Vielmehr teilte es sein weiteres ausländerrechtliches Schicksal mit dem der Mutter. Offenbart die Mutter allerdings nachträglich den tatsächlichen Vater und erkennt dieser die Vaterschaft an, kann je nach dem Status des Vaters ein Aufenthaltsrecht von Kind und Mutter in Betracht kommen. In der Verwaltungspraxis ist eine derartige nachträgliche Offenbarung allerdings sehr selten. 393 OVG SA, InfAuslR 2006, 56 (58); OVG Berlin-Brandenburg, NVwZ-RR 2008, 826 (827), m.w.Hs. AG Nienburg/Weser, AuAS 2006, 128; a. A. LG Hildesheim, NStZ 2006, 360? 395 OLG Celle, AuAS 2006, 81. 396 VGH BW, ZAR 2007, 289 397 BVerfG (Kammer), InfAuslR 2007, 79 (80); VGH BW, AuAS 2001, 256; OVG SA, InfAuslR 2006, 56 (57); VG Düsseldorf, NJW 1986, 676 (677), Marx, in: GK-StAR, IV-2 § 4 StAG Rdn. 27; Reinhard Marx, in: GK-AufenthG, IV-2 § 28 AufenthG Rdn. 74 ff.; Hailbronner, AuslR, A 1, § 28 AufenthG Rdn. 8. 398 So BR-Drs. 52406, S. 15 f.; BT-Drs. 16/2433). 399 BVerfG, U. v. 17. 12. 2013 – 1 BvL 6/10 400 Demgegenüber ist offen, welche verfassungsrechtlichen Grenzen sich für die Rückgängigmachung des Staatssangehörigkeitserwerbs des Kindes durch rückwirkende Aufhebung des Aufenthaltstitels der Eltern (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG) ergeben (BVerwG, NVwZ 2007, 470 (471). 394 116 Tatsächliche Schwierigkeiten werden bei einer Täuschung über die Vaterschaft die Glaubhaftmachung einer familiären Gemeinschaft des Kindes mit seinem tatsächlichen Vater bereiten. Dem Aufenthaltsrecht der Mutter wird häufig ein Ausweisungsgrund wegen eines Personenstandsdeliktes entgegenstehen. Von vornherein ausgeschlossen ist eine derartige Fallkonstellation allerdings nicht.401 3. Ausländischer Elternteil ohne Personensorge Die Beziehung zwischen dem nichtsorgeberechtigten Elternteil und seinem Kind steht unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 2 GG.402 Darüber hinaus trifft die Vertragsstaaten der EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR aufgrund von Art. 8 EMRK die Verpflichtung, auf die Zusammenführung eines leiblichen Elternteils mit seinem Kind hinzuwirken. Es dient grundsätzlich dem Wohl des Kindes, seine Familienbindungen aufrechtzuerhalten. Diese zu zerreißen bedeutet, ein Kind von seinen Wurzeln abzuschneiden. Ein derartiger Eingriff kann nur unter „sehr gewichtigen Umständen“ gerechtfertigt werden. Dies gilt auch für den Ausschluss des Umgangsrechts für einen Vater.403 Der Gesetzgeber und dementsprechend die Rechtsprechung haben bislang zwar vorrangig die Beziehung des sorgeberechtigten Vaters zu seinem deutschen Kind behandelt. Das BVerfG hat diese durch die Staatsangehörigkeit des Kindes besonders geschützte Beziehung indes nur als einen Beispielsfall bezeichnet. Bestehe eine schützenswerte Beistandsgemeinschaft und könne diese Gemeinschaft nur im Bundesgebiet verwirklicht werden, „etwa“ weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar sei, dränge die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Interessen zurück.404 Maßgebend ist damit stets die auf das Kind bezogene Unzumutbarkeit, das Bundesgebiet zu verlassen. Daraus ergibt sich, dass immer dann, wenn die Mutter oder auch das Kind über ein gefestigtes Aufenthaltsrecht verfügt, das Kind nicht auf den Aufenthalt im Herkunftsstaat der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann. Damit liegt auch in diesem Fall eine durch das Ausländerrecht anzuerkennende schützenswerte Beistandsgemeinschaft vor.405 Aber auch dann, wenn das Asylverfahren der Kindesmutter noch nicht abgeschlossen und eine Verfahrensbeendigung nicht absehbar ist, ist es bei einem Kleinkind dem Vater nicht zuzumuten, vorzeitig auszureisen.406 Sofern kein Teil einer familiären Lebensgemeinschaft ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet hat, ist grundsätzlich kein hinreichender Anknüpfungspunkt dafür vorhanden, eine familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu führen. Regelmäßig ist in solchen Fällen darauf zu verweisen, die familiäre Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Herkunftsstaat oder – wenn die Familienangehörigen unterschiedliche Staatsangehörigkeiten haben – in einem der Herkunftsländer zu führen.407 Der Aufenthaltsanspruch des nichtsorgeberechtigten Elternteils setzt das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen diesem und dem Kind voraus. Es kommt hierfür auf das Bestehen einer Betreuungs- und Erziehungsgemeinschaft an, die nicht notwendigerweise in Form der Hausgemeinschaft mit dem Kind geführt werden muss. Häufig will der andere Elternteil, regelmäßig die Mutter, nicht das Zusammenleben mit dem anderen Elternteil und 401 So der Fall in OVG SA, InfAuslR 2006, 56. BVerfG (Kammer), NVwZ 1990, 455; BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26; VGH BW, InfAuslR 1993, 366 (367); s. auch § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. 403 EGMR, NJW 2004, 3397 = NVwZ 2005, 1165 (LS) – Görgülü. 404 BVerfG (Kammer), InfAuslR 2002, 171 (173) = NVwZ 2002, 849 = EZAR 020 Nr. 18; BVerfG (Kammer), NVwZ 2004, 606; BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26. 405 VG Koblenz, U. v. 9. 9. 2002 – 3 K 1123/02.KO; VG Aachen, InfAuslR 2003, 93; Mees-Asadollah, InfAuslR 2001, 178 (181). 406 VG Potsdam, InfAusl 2004, 113 (115). 407 BVerwG, EZAR 123 Nr. 1 = Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 53; s. auch BVerwG, InfAuslR 1999, 330 (331). 402 117 hat bereits aus diesem Grunde in die Abgabe der gemeinsamen Sorgeerklärung nach § 1626a Abs. 1 Nr.1 BGB nicht eingewilligt. Das Kind hat jedoch als Bestandteil des Kindeswohls ein Recht auf Umgang mit jedem Elternteil (§ 1684 Abs. 1 1. Hs. BGB). Von dem nichtsorgeberechtigten ausländischen Elternteil wird mehr als die lediglich bloße Ausübung des Umgangsrechts gefordert. Vielmehr muss dieser mit dem Kind in familiärer Gemeinschaft leben. Die aufenthaltsrechtliche Folgen knüpfen also an das Umgangsrecht an, erfordern darüber hinaus aber auch die Führung einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind (vgl. auch § 27 Abs. 1 AufenthG). Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter oder durch andere Personen oder durch soziale bzw. kirchliche Einrichtungen entbehrlich wird.408 Vielmehr kommt es auf eine konkrete Gesamtbewertung der tatsächlichen Gestaltung der Beziehung zwischen dem nichtsorgeberechtigten Elternteil und dem Kind an. Dabei erfordert die Gesamtbewertung der tatsächlich geführten Gemeinschaft stets auch die Berücksichtigung der konkreten Einschränkungen und Einwirkungen auf diese familiäre Gemeinschaft, die aufgrund der vorrangigen Ausübung des Sorgerechts des anderen Elternteils bestehen. Bloße Besuche und sonstige Kontakte wurden früher in der Rechtsprechung im Allgemeinen als Indizien auf eine nicht geschützte Begegnungsgemeinschaft angesehen. Dem hält das BVerfG entgegen, dass sich eine verantwortlich gelebte und dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-KindBeziehung „nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontaktes oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen“ ließen. Die Entwicklung eines Kindes werde nicht durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt.409 Der persönliche Kontakt des Kindes zum getrennt lebenden Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter diene in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Das Kind brauche beide Eltern.410 Haben die Eltern zuvor zusammen gelebt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass nach der Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft zwischen einem Kind und dem Elternteil, der ausgezogen ist, eine gegenseitige Verbundenheit fortbesteht.411 Aber auch außerhalb der persönlichen Begegnung kann sich Umgang ereignen, etwa durch Brief- und Telefonkontakte. Auch Telefonate seien somit Teil der Wahrnehmung des Umgangs und insoweit – zumal bei getrennten Wohnsitzen – auch Element familiärer Gemeinschaft. Dies muss in die ausländerrechtliche Würdigung angemessen einfließen. Entsprechend abgefasste eidesstattliche Versicherungen erfüllen dabei grundsätzlich die Darlegungsanforderungen an eine Glaubhaftmachung im Eilrechtsschutzverfahren und belegten mehr als nur lose und seltene Besuchskontakte. 4. Aufenthaltsrechtliche Folgen des Rechts auf Prozessführung Die Rechtsprechung leitet aus Art. 8 EMRK hieraus ein Recht auf Prozessführung im Familienrechtsstreit ab, das ein Recht auf Aufenthalt zur Wahrnehmung prozessualer Recht im umgangsrechtlichen Rechtsstreit nach § 1684 BGB unabhängig von der Frage begründet, ob der Kindesvater wegen der fehlenden Kooperation der Kindesmutter eine familiäre 408 BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27); BVerfG (Kammer), NVwZ 2006, 682 (683); OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 463 (464); OVG NW, NVwZ 2006, 717 = InfAuslR 2006, 126; VG Magdeburg, InfAuslR 2005, 315 (316). 409 BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27). 410 BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27). 411 OVG NW, NVwZ 2006, 717 (718) = InfAuslR 2006, 126 118 Beziehung zu seinem Kind herstellen kann412. Der EGMR bejaht einerseits eine aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgende staatliche positive Verpflichtung, die Fortführung des Familienlebens zu sichern, und andererseits eine negative Verpflichtung. keine Maßnahmen zu ergreifen, welche Familienbande zerreißen. Kommt der Staat der ihn treffenden positiven Verpflichtung nach, indem er gerichtliche Verfahren zur Einräumung des Umgangsrechts zur Verfügung stellt, verletzt er seine negative Verpflichtung, wenn die Ausländerbehörde dem betreffenden Elternteil während des gerichtlichen Prozesses den Aufenthalt nicht erlaubt. Unter diesen Voraussetzungen liegt ein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK vor.413 Macht der nichtsorgeberechtigte ausländische Elternteil glaubhaft, dass er sich gegenüber dem das Umgangsrecht vereitelnden anderen Elternteil nachhaltig und ernsthaft um die Ausübung des Umgangsrecht mit dem Kind, etwa durch Einschaltung des zuständigen Jugendamtes und nach Scheitern der behördlichen Vermittlungsbemühungen durch entsprechende gerichtliche Anträge, bemüht hat, kann sein verfassungsrechtlich (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) und einfachgesetzlich geschütztes Recht (§ 1684 Abs. 1 2. Hs. BGB) auf Herstellung der familiären Gemeinschaft nicht bezweifelt werden und kommt ihm hinsichtlich des Erfordernisses der Führung einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind eine Vorwirkung zu. Umgekehrt kann der Wille zur Herstellung und Führung der familiären Gemeinschaft nicht erkannt werden, wenn es der ausländische nichtsorgeberechtigte Elternteil an jeglichen Bemühungen fehlen lässt, seiner Verpflichtung zum Umgang mit dem Kind nach § 1684 Abs. 1 2. Hs. BGB nachzukommen. D. Ablauf des Asylverfahrens I. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Im Asylverfahren hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), das bis zum In-Kraft-Treten der entsprechenden Vorschriften des ZuwG Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hieß, eine Monopolzuständigkeit für asyl- und ausländerrechtliche Entscheidungen im Asylverfahren. Es prüft die Voraussetzungen für die Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 AsylVfG, den Flüchtlingdschutz nach § 3 Abs. 4 AsylVfG in Verb. mit § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit § 13 AsylVfG) und den subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG und trifft die entsprechende Sachentscheidung (§ 31 AsylVfG). Die asylrechtliche Sachentscheidung erlässt nicht mehr wie früher ein insoweit weisungsunabhängiger Bediensteter des Bundesamtes (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG a. F.). Vielmehr wird durch § 5 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der jetzt geltenden Fassung bestimmt, dass das Bundesamt als solches die Entscheidung nach Art. 16a Abs. 1 GG und § 3 Abs. 4 AsylVfG trifft. Für die Entscheidung über den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 2 bis 7 AsylVfG bestand bereits nach früherem Recht keine Weisungsunabhängigkeit. Zuständig für die Bearbeitung ist in aller Regel die nach dem Gesetz zuständige Außenstelle des Bundesamtes (§ 14 Abs. 1 AsylVfG). In der Verwaltungspraxis wird auch in den Fällen des § 14 Abs. 2 AsylVfG die Akte regelmäßig der örtlich nahe gelegenen Außenstelle zugewiesen. Im Rahmen des Asylfolgeantragsverfahrens ist grundsätzlich die Außenstelle zuständig, die auch im Erstverfahren für die Bearbeitung zuständig war (§ 71 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG). Das gilt selbst dann, wenn der Folgeantragsteller während des vorangegangenen Asylverfahrens im Rahmen der nachträglichen Umverteilung (§ 51 Abs. 1 AsylVfG) einem anderen Bundesland zugewiesen worden ist. Die in der Verwaltungspraxis des Bundesamtes 412 VG Hamburg, InfAuslR 2003, 91 (92), mit Verweis auf EGMR, NVwZ 2001, 547 (548) = EZAR 935 Nr. 10 = InfAuslR 2000, 473 - Ciliz; VG München, AuAS 2000, 122 MeesAsadollah, InfAuslR 2001, 178 (184). 413 EGMR, NVwZ 2001, 547 (548) = EZAR 935 Nr. 10 = InfAuslR 2000, 473 – Ciliz. 119 eingeführte elektronische Akte hat dazu geführt, dass häufig nach der Anhörung die Akte an eine andere Außenstelle zur Entscheidung abgegeben wird. Im Rahmen der asylverfahrensrechtlichen Sachentscheidung erlässt das Bundesamt darüber hinaus auch die Abschiebungsandrohung (§ 34, § 35 AsylVfG) Demgegenüber ist die Ausländerbehörde für den bloßen Vollzug aller im Rahmen des Asylverfahrens getroffenen ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig. Sie ist darüber hinaus während des Asylverfahrens – nach Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung – für die ausländerrechtliche Behandlung des ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich zugewiesenen Asylsuchenden zuständig (vgl. § 60 Abs. 3 AsylvfG) Das Asylverfahren wird damit durch den Grundsatz der Trennung von anordnender und vollziehender Behörde geprägt. Dies ist dem Gedanken der Verfahrensbeschleunigung geschuldet, der in Art. 16a Abs. 4 GG seinen verfassungsrechtlichen Ort gefunden hat. Die Konzentration aller auch ausländerrechtlichen Entscheidungen beim Bundesamt kann im Rahmen des Asylfolgeantragsverfahrens zu verzwickten verfahrensrechtlichen Problemen sowie Rechtsschutzproblemen führen (vgl. § 71 Abs. 5 AsylVfG). Auch bei der Behandlung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2–7 AufenthG (subsidiärer Schutzstatus) kann es zu Abgrenzungsproblemen kommen, weil das Bundesamt für die Entscheidung über zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zuständig ist und die Ausländerbehörde inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse zu beachten hat und die gebotene präzise Differenzierung nicht stets mit der erforderlichen Klarheit möglich ist. Gegenseitige Unterrichtungspflichten zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde (§§ 40, 54 AsylVfG) sollen die Effektivität des Vollzugs sicherstellen, führen aber häufig zu Reibungsverlusten. Der für die Sachkompetenz des Bundesamtes maßgebende asylrechtliche Antragsbegriff des § 13 Abs. 1 AsylVfG bezieht sich nicht auf die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes (Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG). Dem Bundesamt obliegt die Prüfung dieser Abschiebungshindernisse jedoch nach Stellung eines Asylantrags (§ 24 Abs. 2 AsylVfG). Es hat darüber hinaus festzustellen, ob im Einzelfall derartige Hindernisse vorliegen (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Dies ist der Grund dafür, dass in allen Fällen, in denen zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach Abschluss eines Asylverfahrens geltend gemacht werden, das Bundesamt für die Prüfung und Entscheidung zuständig ist. Derartige Abschiebungshindernisse können aber auch unabhängig von einem Asylantrag geltend gemacht werden. In diesen Fällen ist die Ausländerbehörde zuständig, weil nach § 24 Abs. 2 AsylVfG die Zuständigkeit des Bundesamtes für die Prüfung von Abschiebungshindernissen nur begründet wird, wenn diese im Zusammenhang mit einem Asylantrag geltend gemacht werden. Allerdings bestimmt § 72 Abs. 2 AufenthG, dass die Ausländerbehörde nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entscheidet. II. Ausländerbehörde Die Ausländerbehörde ist – wie ausgeführt – für den bloßen Vollzug aller im Rahmen des Asylverfahrens getroffenen ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig. Sie ist darüber hinaus während des Asylverfahrens – nach Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung – für die ausländerrechtliche Behandlung des ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich zugewiesenen Asylsuchenden zuständig (§ 58, § 60 Abs. 3 AsylVfG). Begrenzt der Antragsteller sein Schutzbegehren auf die Abschiebungshindernisse des § 60 Abs. 2–7 AufenthG (subsidiärer Schutz) und enthalten seine Behauptungen keinen Hinweis auf Verfolgungsgründe, ist nicht 120 von einem Asylantrag auszugehen.414 Nach der Gegenmeinung ist demgegenüber von einer ausländerbehördlichen Zuständigkeit auch dann auszugehen, wenn mit dem auf § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zielenden Antrag in der Sache Verfolgung geltend gemacht wird. Diese Ansicht dürfte mit dem asylrechtlichen Antragsbegriff nach § 13 Abs. 1 AsylVfG und der darauf beruhenden Monopolzuständigkeit des Bundesamtes indes kaum zu vereinbaren sein. Die Sachkompetenz für einen Antrag nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, der nicht im Zusammenhang mit einem Asylantrag gestellt wird, liegt bei der zuständigen Ausländerbehörde (§ 72 Abs. 2 AufenthG). Wegen der weitreichenden Folgen ist in Zweifelsfällen durch die Ausländerbehörde näher aufzuklären, ob der Antragsteller tatsächlich um Asyl nachsucht, d. h. sich gegenüber einer drohenden Abschiebung nicht lediglich auf humanitäre und andere verfolgungsunabhängige Gründe beruft, sondern die Gefahr einer ihm drohenden Verfolgung geltend macht.415 Sie hat in jedem Fall eines Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG das Bundesamt zu beteiligen (§ 72 Abs. 2 AufenthG). Bei der Stellungnahme des Bundesamtes handelt es sich um eine nicht selbständig anfechtbare verwaltungsinterne Stellungnahme. III. Bundespolizei Die Bundespolizei ist eine Polizeibehörde und deshalb nicht für asylrechtliche Entscheidungen zuständig. Sie entscheidet aber in eigener Zuständigkeit über die Einreiseverweigerung gegenüber Asyl begehrenden Antragstellern (§ 18 Abs. 2 AsylVfG) und ist nach dem Gesetz nicht verpflichtet, das Bundesamt hierbei zu beteiligen. Im Rahmen des Flughafenverfahrens ist die Bundespolizei Herrin des ausländerrechtlichen Verfahrens (§ 18a AsylVfG), während das Bundesamt die Sachherrschaft im asylrechtlichen Verfahren hat (§ 18a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 AsylVfG). Die Kompetenzen der Bundespolizei folgen den asylrechtlichen Entscheidungen. Als zwingende Folge der qualifizierten Asylablehnung hat die Bundespolizei die Einreise zu verweigern (§ 18a Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Umgekehrt hat die Bundespolizei die Einreise zu erlauben, wenn das Bundesamt mitteilt, dass über den Asylantrag kurzfristig nicht entschieden werden kann (§ 18a Abs. 6 Nr. 1 AsylVfG). IV. Aufnahmeeinrichtung Für die Erstaufnahme ist die Aufnahmeeinrichtung zuständig (§§ 44 ff. AsylVfG). Sie nimmt den Asylsuchenden, der nach § 14 Abs. 1 AsylVfG zur Stellung des Asylantrags bei der Außenstelle des Bundesamtes verpflichtet ist, auf oder leitet ihn an die für ihn zuständige Aufnahmeeinrichtung weiter (§ 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Erst mit der persönlichen Meldung des Asylsuchenden bei der für die Bearbeitung seines Asylantrags zuständigen Außenstelle des Bundesamtes wird der Asylantrag rechtswirksam gestellt. Vorher spricht das Gesetz nicht von einem Asylantrag, sondern von einem Asylersuchen (vgl. §§ 18 Abs. 1 1. Hs., 18 a Abs. 1 Satz 1 1. Hs., 19 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG). Eine schriftliche Antragstellung ist daher in den Fällen des § 14 Abs. 1 AsylVfG nicht möglich. Im Falle anwaltlicher Vertretung sollte dem Asylsuchenden der anwaltliche Schriftsatz zwecks Übergabe bei der Meldung nach § 22 AsylVfG mitgegeben werden. Vor 414 415 OVG Rh-Pf, AuAS 1995, 118 (119); a. A. VGH BW, AuAS 1994, 104. OVG Rh-Pf, AuAS 1995, 118 (119). 121 der persönlichen Meldung nach § 22 AsylVfG liegt zwar noch kein Asylantrag vor, die Behörden haben jedoch zwingend den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG und aus völkerrechtlichen Gründen auch den Schutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 6 AufenthG zu beachten und dürfen deshalb gegenüber dem „Asylsuchenden“ keine aufenthaltsbeendenden oder verhindernden Maßnahmen ergreifen, sondern haben diesen an die zuständigen Behörden weiterzuleiten. Darüber hinaus entsteht das gesetzliche Aufenthaltsrecht nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht erst mit der wirksamen Asylantragstellung, sondern bereits mit dem Nachsuchen um Asyl bei einer amtlichen Stelle.416 Auch wenn der um Asyl Ersuchende seiner dementsprechenden Verpflichtung aus § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht Folge leistet, dürfen Abschiebungsmaßnahmen nicht ohne weiteres durchgeführt werden. Vielmehr sieht das Gesetz hierfür das Verfahren nach § 66 AsylVfG vor (vgl. auch § 67 Abs. 2 AsylVfG). Damit kann die frühere Rechtsprechung, wonach auch fernmündlich oder per Telefax gestellte Anträge als wirksamer Antrag zu behandeln waren, 417 nicht mehr uneingeschränkt Anwendung finden. Auf diesem Weg übermittelte Erklärungen sind zwar nach wie vor von allen in Betracht kommenden Behörden (Bundes-, allgemeine Polizei- und Ausländerbehörden) zu beachten. Ein Asylantrag setzt jedoch die persönliche Meldung bei der Aufnahmeeinrichtung und die anschließende Antragstellung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes voraus. An die Verletzung der unverzüglichen Meldepflicht knüpfen die Regelungen des §§ 20 ff. AsylVfG einschneidende verfahrensrechtliche Sanktionen (s. unten). V. Einleitung des Asylverfahrens 1. Antragsabhängiges Verfahren Ungeachtet zwingender verfassungs- und völkerrechtlicher Verpflichtungen (Art. 16a Abs. 1 GG, Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK, Art. 3 Übereinkommen gegen Folter, Art. 7 IPbpR, § 60 Abs. 1, Abs. 2 bis 7 AufenthG) wird das Asylverfahren nur aufgrund eines Antrags eingeleitet (§§ 1 Abs. 1, 14, 23 Abs. 1 AsylVfG). Es handelt sich damit um ein antragsabhängiges Verfahren im Sinne von § 22 Satz 2 Nr. 1 VwVfG. Nach § 13 Abs. 1 AsylVfG liegt ein Asylantrag vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Verfolgungsschutz oder internationalen Schutz sucht. Die Bundespolizei und andere Behörden haben demnach jede schriftlich, mündlich oder sonst wie geäußerte Erklärung, der sich ein Wille des Antragstellers auf Schutzsuche entnehmen lässt, als Asylantrag zu behandeln. Nach der Legaldefinition des Asylantrags kommt es also darauf an, ob sich dem in welcher Weise auch immer geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er Verfolgungsschutz sucht. Das anzuwendende VwVfG des Bundes schreibt weder einen bestimmten Mindestinhalt noch eine Begründung vor. Der Antragsteller muss weder den Begriff „Asyl“ verwenden noch reicht es aus, wenn allein dieses Wort benutzt wird.418 Im Zweifel ist jedoch davon auszugehen, dass Asyl begehrt wird, wenn dieser Begriff in den Erklärungen des Antragstellers enthalten ist.419 Denn für die Auslegung von Willenserklärungen gilt im Verwaltungsrecht § 133 BGB entsprechend. Danach ist bei der Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am 416 BayObLG, NVwZ 1993, 811; Marx, Kommentar zum AsylVfG, § 13 Rn 8. 417 VG Wiesbaden, InfAuslR 1990, 177; VG Karlsruhe, NJW 1988, 664. OVG NW, NVwZ-RR 1989, 390. OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110. 418 419 122 buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Eines Rückgriffs auf den Antragsbegriff bedarf es ohnehin nur in Zweifelsfällen.420 Es versteht sich von selbst, dass ein wirksamer Antrag auch durch die Abgabe fremdsprachiger Erklärungen begründet werden kann. Die Behörden haben insbesondere im Hinblick auf bestehende Sprachprobleme sowie die häufig beim ersten Kontakt mit Behörden auftretenden psychischen Hindernisse bei der Erforschung des wirklichen Willens keine zu hohen Anforderungen zu stellen.421 Nur dann, wenn ausnahmsweise aufgrund der Erklärungen Zweifel am Antragsziel entstehen, haben die angesprochenen Behörden durch eine sorgfältige Anhörung zu überprüfen, ob der Antragsteller inhaltlich um Verfolgungsschutz nachsucht. Dies kann nur dann verneint werden, wenn außer Zweifel steht, dass das Vorbringen bei verständiger Würdigung und Berücksichtigung der gesamten Umstände des Falles inhaltlich kein Asylbegehren darstellt.422 Genaue Kenntnis der rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Asylrecht oder Flüchtlingsschutz ist nicht erforderlich. Es reicht vielmehr aus, wenn sich aus den erkennbaren Umständen ergibt, dass der Antragsteller Furcht vor Verfolgung hat. Für die Ausländerbehörden und die Bundespolizei ist es regelmäßig unschwer erkennbar, mit welchem Ziel ein Ausländer um Schutz nachsucht. Insbesondere bei unmittelbar einreisenden Ausländern verengt sich schon aufgrund der äußeren Umstände die Bandbreite der möglichen in Betracht kommenden Anträge auf das Antragsziel der Schutzsuche vor Verfolgung. Die Situation im Herkunftsland des Einreisenden qualifiziert sein Begehren in aller Regel als Asylantrag.423 Daher ist zur Qualifizierung des Schutzbegehrens als Antrag im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylVfG in aller Regel ein Mindestmaß an Begründung nicht erforderlich. Zwar befreit § 13 Abs. 1 AsylVfG vom Formerfordernis. Dies bedeutet indes nicht, dass auf das Vorhandensein eines hinreichend erkennbaren und bestimmten Willens des Antragstellers verzichtet werden könnte. Für miteingereiste ledige Kinder, die noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet haben und nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels sind, wird die Antragstellung unabhängig vom Willen des gesetzlichen Vertreters fingiert (§ 14a Abs. 1 AsylVfG). Reist ein derartiges Kind nachträglich ein oder wird es hier geboren, trifft die gesetzlichen Vertreter wie die Ausländerbehörde eine unverzügliche Anzeigepflicht (§ 14a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG). Mit Zugang der Anzeige beim Bundesamt gilt der Antrag unabhängig vom entgegenstehenden Willen der gesetzlichen Vertreter als gestellt (§ 14a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG). Muster: Asylrechtlicher Antragsschriftsatz mit Begründung An das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – zuständige Außenstelle – wird persönlich durch Antragsteller übergeben 42422 Ahmed Azizi, geb. 2.5.1967, Paktia/Afghanistan VG Düsseldorf, InfAuslR 1988, 273 VG Wiesbaden, Beschl. v. 20.12.1991 – II/1 G 21435/91. 422 OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110. 423 OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110. 424 Im Zeitpunkt der Antragsformulierung ist die zuständige Außenstelle nicht bekannt. Der Mandant ist darauf hinzuweisen, dass er bei seiner Vorsprache Sorge dafür zu tragen hat, dass der – in einem verschlossenen Umschlag enthaltene – Antragsschriftsatz zur Akte des Bundesamtes gelangt und nicht bei der Aufnahmeeinrichtung verbleibt 420 421 123 Sehr geehrte Damen und Herren, unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, den Antragsteller als Asylberechtigten anzuerkennen. 42523 I. Zunächst wird darauf hingewiesen, dass die nachfolgende Begründung lediglich die tatsächlichen Schlüsselelemente des Kernvorbringens beschreibt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit im Hinblick auf sämtliche erheblichen Sachverhaltselemente, auf die zeitliche Abfolge der dargelegten Ereignisse sowie auf sonstige tatsächliche Umstände zu erheben. Die nachfolgende Begründung soll die persönliche Anhörung vorbereiten, jedoch nicht ersetzen. Die Anhörung ist der Ort, an dem durch konkrete Befragung der genaue Sachverhalt aufzuklären ist. Auf die Glaubhaftigkeit der konkreten Schilderung des asylrechtlich erheblichen Sachverhalts während der persönlichen Anhörung kommt es entscheidend an (BVerfGE 94, 166 (200 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1976, 678). Die Art der persönlichen Einlassung des Antragstellers während seiner persönlichen Anhörung, seine Persönlichkeit, insbesondere seine Glaubwürdigkeit spielen bei der Würdigung und Prüfung der Tatsache, ob er gute Gründe zur Gewissheit der Behörde dargetan hat, eine entscheidende Rolle (BVerwG, DVBl. 1963, 145). Dementsprechend kann durch das Gespräch zwischen dem Antragsteller und dem Einzelentscheider während der Anhörung am besten sichergestellt werden, dass der Sachverhalt umfassend aufgeklärt, die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen im Sachvorbringen auf der Stelle nachgegangen wird (Hess.VGH, ESVGH 31, 259). Aus fehlenden Sachverhaltselementen, Ungenauigkeiten und etwaigen Ungereimtheiten in der nachfolgenden Begründung können deshalb für die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben des Antragstellers keine diesem nachteilige Schlussfolgerungen gezogen werden. Dem Antragsteller wurde diese Gesetzeslage sowie die entsprechende Rechtsprechung im Rahmen des anwaltlichen Beratungsgesprächs erläutert. Er wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der anwaltliche Schriftsatz nur die Kernelemente seines asylrechtlichen Sachvorbringens beschreibt und deshalb in diesem nicht erwähnte Einzelheiten in der Anhörung von ihm vorzutragen sind, das Bundesamt andererseits aber von Amts wegen verpflichtet ist, entsprechend seiner verfahrensrechtlichen Fürsorgepflicht ihm erkennbare mögliche Widersprüche, Ungereimtheiten und sonstige Unklarheiten von Amts wegen aufzuklären und sich insbesondere nicht lediglich auf die Entgegennahme des Sachvorbringens beschränken darf. Der Antragsteller wurde darüber hinaus darüber belehrt, dass es wesentlich für eine verfahrensrechtlich einwandfreie Gestaltung der Anhörung ist, dass er nicht nur zu Beginn der Anhörung, sondern sachbezogen auch während der Anhörung je nach Sachlage in einer seiner Person gemäßen Art und Weise über das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn und die Entscheidung über sein Ersuchen ankommt, und dass er deshalb darauf vertrauen darf, dass das Bundesamt die Anhörung loyal sowie verständnisvoll führt (s. zu den entsprechenden Amtspflichten BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678). Der Antragsteller wurde insbesondere darüber belehrt, dass das Bundesamt ihm das Recht einzuräumen hat, zunächst den Sachverhalt von sich aus zusammenhängend darzustellen, und es die Pflicht des Bundesamtes ist, anschließend durch gezielte Nachfragen und Vorhalte den Sachverhalt im Einzelnen aufzuklären und den Antragsteller auf Widersprüche und Ungereimtheiten hinzuweisen. II. Der Antragsteller hat am Paktia verlassen und reiste am aus Afghanistan aus. Er ist am in das Bundesgebiet eingereist.24 Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit. Er hat sich an oppositionellen Aktivitäten gegen die afghanischen Behörden beteiligt Der Antragsteller ist drei Mal für die Dauer von jeweils ca. drei Wochen durch die afghanischen Behörden festgehalten worden. Nähere Darlegungen erfolgen während der Anhörung. Nach der letzten Festnahme verdichteten sich die Anzeichen, dass die Behörden gegen den Antragsteller Beweise für seine oppositionellen Aktivitäten gesammelt hatten. Am 425 Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ Abs. 4 AsylvfG) wird damit automatisch geltend gemacht (§ 13 Abs. 2 1. Hs. AsylVfG), wie auch die Feststellung von Abschiebungshindernissen (§§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). 124 wurde er durch einen Schulfreund, der bei den Behörden im Sicherheitsbereich tätig ist, über seine bevorstehende Festnahme informiert. Er tauchte deshalb sofort unter und ließ seine Familie durch Dritte über seine Situation informieren. Nachdem der Antragsteller die Fluchtvorbereitung abgeschlossen hatte, reiste er ca. zwei Wochen danach nach Pakistan aus. 2. Persönliche Meldepflicht (§ 23 Abs. 1 AsylVfG) Nach § 23 Abs. 1 AsylVfG ist der Antragsteller, der in der für ihn zuständigen Aufnahmeeinrichtung aufgenommen worden ist, verpflichtet, persönlich zur Asylantragstellung zu erscheinen. Diese persönliche Meldepflicht setzt voraus, dass er verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§ 14 Abs. 1, § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Für Antragsteller, die ihr Asylbegehren nicht bei der Außenstelle des Bundesamtes, sondern unmittelbar beim Bundesamt geltend machen müssen (§ 14 Abs. 2 AsylVfG), gilt dagegen die Wohnpflicht des § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht. Daher trifft diese Personen auch nicht die persönliche Meldepflicht nach § 23 Abs. 1 AsylVfG. Sie haben den Antrag nach § 14 Abs. 2 AsylVfG vielmehr unmittelbar schriftlich bei der Zentrale des Bundesamtes zu stellen. Aber auch diese Personengruppe ist vom Bundesamt persönlich anzuhören (§ 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Es wird vorher schriftlich geladen (§ 25 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG). Der Zweck von § 23 Abs. 1 AsylVfG ist die unverzügliche Einleitung des Asylverfahrens bei unmittelbar einreisenden Asylsuchenden (§ 14 Abs. 1 AsylVfG), um ebenso unverzüglich die Direktanhörung (§ 25 Abs. 4 AsylVfG) durchführen und das Verwaltungsverfahren zum Abschluss bringen zu können. Dementsprechend soll der Asylsuchende auch unverzüglich seiner Meldepflicht nachkommen. Eine besondere Ladung zur Anhörung erfolgt bei Durchführung der Anhörung nicht (§ 25 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Die Vorschriften über die Direktanhörung werden heute nicht mehr so streng gehandhabt wie im Zeitpunkt ihrer Entstehung 1992. Dagegen sind Antragsteller nach § 14 Abs. 2 AsylVfG ausnahmslos vorher rechtzeitig zu laden (§ 25 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG). Die Vorschrift begründet eine sofortige Meldepflicht. Nur in den Fällen, in denen die Aufnahmeeinrichtung dem Antragsteller einen besonderen Termin zur Meldung bei der Außenstelle des Bundesamtes gibt, entfällt die unverzügliche Meldepflicht. An ihre Stelle tritt die Meldepflicht zum genannten Termin (§ 23 Abs. 1 2. Hs. 2. Alt. AsylVfG). Das ist die Regelpraxis. Die in § 23 Abs. 1 AsylVfG vorgesehene Verwaltungspraxis trägt den Besonderheiten Rechnung, die sich aus der Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung und den Bearbeitungskapazitäten des Bundesamtes ergeben. Danach regelt sich die persönliche Meldepflicht des Asylantragstellers nach § 14 Abs. 1 AsylVfG wie folgt: Zuständig für die Aufnahme des Asylsuchenden ist grundsätzlich die Aufnahmeeinrichtung, bei der er sich meldet (§ 46 Abs. 1 Satz 1, § 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). In Fällen, in denen genügend Aufnahmekapazitäten und Bearbeitungsmöglichkeiten des Bundesamtes für das Herkunftsland des Antragstellers verfügbar sind (§ 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und dieser in der Aufnahmeeinrichtung, bei der er sich zunächst gemeldet hat, zu wohnen hat, besteht unverzügliche Meldepflicht bei der Außenstelle des Bundesamtes. Einer besonderen Terminssetzung bedarf es nicht. Aber auch in diesen Fällen wird dem Asylsuchenden regelmäßig ein Termin zur Meldung bei der Außenstelle des Bundesamtes von der Aufnahmeeinrichtung genannt. § 23 Abs. 1 AsylVfG begründet eine persönliche Meldepflicht des Antragstellers zur wirksamen Antragstellung bei der für ihn zuständigen Außenstelle des Bundesamtes. Demgegenüber begründet § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die persönliche Meldepflicht bei der Aufnahmeeinrichtung. Erst mit der persönlichen Meldung bei der zuständigen Außenstelle 125 des Bundesamtes wird das Asylverfahren eingeleitet. Macht der Antragsteller sein Begehren bei der Bundespolizei oder einer Ausländerbehörde geltend, sucht er nach dem Wortlaut dieser Vorschriften lediglich um Asyl nach. Diese Behörden leiten den Antragsteller an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiter (§ 18 Abs. 1 2. Hs., § 19 Abs. 1 2. Hs., § 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Ist diese zugleich zuständige Aufnahmeeinrichtung im Sinne von § 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, ist der Antragsteller neben seiner Meldepflicht nach § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zusätzlich zur persönlichen Meldung bei der dortigen Außenstelle des Bundesamtes zwecks Antragstellung verpflichtet (§ 23 Abs. 1 AsylVfG). Wird er einer anderen Einrichtung zugewiesen (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG), wird die persönliche Meldepflicht nach § 23 Abs. 1 AsylVfG durch Fristsetzung geregelt. Erst mit der Meldung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes nach Erreichen der zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung wird das Asylverfahren eingeleitet. 3. Das Dublin-Verfahren (Verordnung (EG) Nr. 343/2003/Verordnung (EU) Nr. 604/2013) a) Funktion des Dubliner Verfahrens Am 19. Juli 2013 ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III – VO) in Kraft getreten.426 Sie wird auf alle Anträge Anwendung finden, die nach dem 1. Januar 2014 in der Union gestellt werden. Anders als die frühere Verordnung, die nur auf Anträge anwendbar war, mit denen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt wurde (Art. 1, 2 Buchst. c) Verordnung (EG) Nr. 3 343/2003), bezeichnet der in Art. 1 der neuen Verordnung verwandte Begriff „Asylantrag“ alle Anträge auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. h) RL 2011/95/EU, schließt also auch den unionsrechtlichen subsidiären Schutz ein. Die Verordnung verstärkt den Schutz von unbegleiteten Minderjährigen und Familienangehörigen und weitet auch die Ermessensklauseln aus. Grundlegendes Ziel ist, das Verfahren für die Asylsuchenden transparenter zu gestalten und ihren Mitwirkungsrechte zu stärken. Durch die Erweiterung des Antragsbegriffs kann das Zuständigkeitssystem durch Beschränkung auf den subsidiären Schutz vor Erteilung der Zustimmung427 nicht mehr erreicht werden. Wird der Asylantrag jedoch von vornherein oder nachträglich vor der Erteilung der Zustimmung auf den nationalen subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG) beschränkt, findet auch die neue Verordnung keine Anwendung (umstritten). b) Familieneinheit Es bleibt bei der vorrangigen Berücksichtigung des Grundsatzes der Familieneinheit.428 Stets ist darauf zu achten, dass die Verordnung im Einklang mit der EMRK und der Charta angewandt wird. Die Achtung des Familienlebens hat Vorrang (Erwägungsgrund 14). Anträge von Familienangehörigen sollen möglichst gemeinsam, also durch einen Mitgliedstaat, geprüft werden, um sicherzustellen, dass diese sorgfältig geprüft werden, Entscheidungen kohärent sind und die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden (Erwägungsgrund 15). Wie früher wird die Familie nur zusammengeführt, wenn im angestrebten Mitgliedstaat bereits ein Familienmitglied ein Aufenthaltsrecht aufgrund der Statuszuerkennung besitzt oder über den Asylantrag eines Familienmitglieds noch keine erste Sachentscheidung getroffen worden ist (Art. 7 und 8 Verordnung (EG) Nr. 343/2003). Ergänzend gewinnt aber die humanitäre Klausel in Art. 17 Abs. 2 besondere Bedeutung. S: hierzu Marx,Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung, in: ZAR 2014, 5. So noch EuGH, - InfAuslR 2012, 296 (297) = NVwZ 2012, 817 Rdn. 39, 42, 47 - Kastrati; VG Frankfurt am Main, InfAuslR 2011, 366 (367) = AuAS 2011, 189; Sigmaringen, InfAuslR 2012, 237; VG München, U. v. 8. 9. 2010 – M 2 K 09.50582; Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (58); Löper, ZAR 2000, 16 (17); a.A. Nieders.OVG, AuAS 2008, 114; VG Regensburg, NVwZ-RR 2004, 692 (693) = AuAS 2004, 213); VG Regensburg, B. v. 9. 2. 2012 – RO 9 E 12.30035;VG Saarlouis, B. v. 14. 6. 2010 – 10 L 528/10. 428 BVerfG (Kammer), AuAS 2001, 7 (8) = InfAuslR 2000, 364; VG Gießen, AuAS 2005, 70. 426 427 126 Durch die Erweiterung der Verordnung auf den subsidiären Schutz wird der Begünstigtenkreis im Übrigen dadurch erweitert, dass ein Familienmitglied, das aufgrund des subsidiären Schutzstatus einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat hat, die Zusammenführung vermittelt. Art. 9 bis 11 regeln im Einzelnen die Frage der Zusammenführung von Familienangehörigen. Diese Vorschriften zur Zusammenführung beruhen auf dem Begriff des Familienangehörigen nach Art. 2 Buchst. g). Dabei wird grundsätzlich vorausgesetzt, dass die Mitglieder der Familie bereits im Herkunftsland zusammengelebt haben. Danach kann zunächst der Antragsteller mit seinem Ehegatten oder nicht verheirateten Partner, sofern dieser mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt und mit dem nicht verheirateten Partner, sofern nach nationalem Recht nicht Paare ausländerrechtlich wie verheiratete Paare behandelt werden, zusammengeführt werden (Art. 2 Buchst. h) erster Spiegelstrich). Ob der Antragsteller mit einem nichtverheirateten oder gleichgeschlechtlichen Partner zusammengeführt werden kann, richtet sich nach dem Recht des Mitgliedstaates, dessen Zuständigkeit geprüft wird. 429 Ist der bereits im Bundesgebiet lebende Familienangehörige in seiner Eigenschaft als international Schutzberechtigter aufenthaltsberechtigt (§ 25 Abs. 2 AufenthG), ist die Bundesrepublik für die Behandlung des Asylantrags der Familienangehörigen zuständig, sofern die Betroffenen dies schriftlich beantragen (Art. 9). Verlässt der Partner den Antragsteller oder reist er aus dem Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, aus, bleibt es bei der Zuständigkeit nach Art. 9. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob die Partner bereits im Herkunftsland zusammengelebt haben. Die Rechtsprechung hat die Vorläufernorm auch in dem Fall angewandt, in dem der im Bundesgebiet lebende Angehörige als Kontingentflüchtling im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG war,430 nicht jedoch, wenn der Ehegatte lediglich eine Aufenthaltserlaubnis nach anderen Rechtsvorschriften besaß. Für die Zusammenführung der Angehörigen zu einem Mitglied, der im Aufnahmemitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, über den noch keine Erstentscheidung getroffen wurde, gilt dies grundsätzlich nicht (Art. 10). Leben minderjährige Kinder im Bundesgebiet, kommt eine Zusammenführung der Eltern oder eines Erwachsenen, der nach nationalem Recht oder den dortigen Gepflogenheiten mit diesen gleichbehandelt wird, mit den Kindern in Betracht, sofern diese ledig sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt (Art. 2 Buchst. h) zweiter Spiegelstrich). Halten sich der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder den Gepflogenheiten des Aufenthaltsstaates für den Minderjährigen verantwortlich ist, im Bundesgebiet auf, kann der ledige minderjährige Antragsteller mit diesen zusammengeführt werden (Art. 2 Buchst. h) dritter Spiegelstrich). Umgekehrt können diese Bezugsperson mit dem ledigen Minderjährigen, dem im Aufnahmemitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde, zusammen geführt werden (Art. 2 Buchst. h) vierter Spiegelstrich). Besitzt der ledige Minderjährige diese Rechtsstellung nicht, richtete sich die Zusammenführung nach den Regelungen für unbegleitete Minderjährige. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) der Verordnung ist die Trennung mehrerer Familienmitglieder und/oder unverheirateter minderjährige Geschwister, die gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe einen Asylantrag in demselben Mitgliedstaat stellen, zu vermeiden, und ist deshalb der Mitgliedstaat zuständig, der nach den Zuständigkeitskriterien für den größten Teil von ihnen zuständig ist. Für den Begriff der zeitlichen Nähe ist nicht allein die Verfahrensrationalität, sondern auch der Grundsatz maßgebend, dass Familienmitglieder möglichst nicht getrennt werden sollen.431 Auch wenn daher nicht mehr die Möglichkeit besteht, ein gemeinsames Verfahren durchzuführen, soll die 429 430 431 Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 79. VG Meiningen, U. v. 21. 10. 2010 – 3 K20127/10 Me. Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rdn. 56. 127 Trennung vermieden werden: Andernfalls ist nach Buchst. b) der Mitgliedstaat zuständig, der hiernach für die Prüfung des von dem ältesten von ihnen gestellten Asylantrags zuständig ist. Damit ist die frühere Rechtsprechung, die gegen die Trennung der Familienmitglieder keine rechtlichen Bedenken hatte,432 überholt. Liegen die Voraussetzungen nach Art. 9 bis 11 und auch nach Art. 16 Abs. 1 und 17 Abs. 2 nicht vor, kann aus inlandsbezogenen Erwägungen die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat aus rechtlichen Gründen unzulässig sein. So geht die Rechtsprechung davon aus, dass die Überstellung rechtlich unzulässig ist, wenn eine häusliche Gemeinschaft des Antragstellers mit einem Elternteil im Bundesgebiet besteht,433 einem Elternteil das gemeinsame Sorgerecht zusteht434oder persönliche Beziehungen zu im Bundesgebiet lebenden Kindern bestehen.435 In derartigen Fällen ist auch - etwa bei einem Kleinkind oder bei hohem Alter eines Familienangehörigen, Schwangerschaft oder schwerwiegenden Krankheitsgründen einschließlich psychischer Erkrankungen wegen der gemeinsamen Verfolgungs- und Fluchterlebnisse - zu prüfen, ob die Voraussetzungen der humanitären Klausel des Art. 16 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vorliegen. c) Humanitäre Klauseln (Art. 16 Abs. 1 und 17 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013) Die humanitären Klauseln nach Art. 17 Abs. 2 und Art. 16 Abs. 1, welche die humanitären Klauseln des Art. 15 Verordnung (EG) Nr. 3434/2004 abgelöst haben, wurden grundlegend umgestaltet. Auch wenn ihre Anwendung im Ermessen steht, darf die Behörde nicht ohne nähere Prüfung ihrer Voraussetzungen lediglich formal auf die vorrangigen Kriterien verweisen. Vielmehr hat sie entsprechend dem primärrechtlich verankerten Anspruch auf Achtung des Familienlebens vorrangig die Zusammenführung zu erwägen (Erwägungsgrund 14). Es besteht damit eine besondere Prüfungs- und Begründungspflicht. Es sind stichhaltige Gründe zu bezeichnen, warum auf der Trennung der Angehörigen bestanden oder eine Zusammenführung nicht für erforderlich erachtet wird. Auch sollen Anträge von Familienangehörigen möglichst gemeinsam, also durch einen Mitgliedstaat geprüft werden, um die Mitglieder einer Familie nicht voneinander zu trennen (Erwägungsgrund 15). War bislang streitig, ob die humanitäre Klausel nur auf die Zusammenführung anwendbar war oder auch die Trennung der Angehörigen verhindern sollte, regelt nunmehr Art. 17 Abs. 2 die Zusammenführung und Art. 16 sowohl die Zusammenführung wie auch die Vermeidung der Trennung. Dies beruht auf der Rechtsprechung des EuGH, wonach Art. 15 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nicht nur auf die Zusammenführung, sondern auch auf die Vermeidung der Trennung gemünzt ist.436 Im wechselseitigen Verhältnis können sich Kinder und Eltern sowie Geschwister untereinander auf diese Vorschrift berufen. Ferner kommen auch andere Verwandtschaftsverhältnisse, wie etwa die Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter437 oder generell Beziehungen zwischen verschwägerten Verwandten und auch Verwandtschaftsverhältnisse nicht ersten Grades für die Anwendung der humanitären Klausel in Betracht. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 folgt, dass es auf ein BVerfG (Kammer), B. v. 24. 7. 1998 - 2 BvR 99/97; VG Frankfurt/M, InfAuslR 1996, 331; VG Gießen, NVwZ-Beil. 1996, 27; VG Berlin, B. v. 25. 4. 1996 - VG 33 X 138/96; VG Ansbach, NVwZ-Beil. 2001, 61 = InfAuslR 2001, 247; Huber, NVwZ 1996, 1069 (1074); Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (57); Löper, ZAR 2000, 16 (22); dagegen Achermann, Schengen und Asyl, S. 79 (112); Marx, EJML 2001, 7 (22)) 433 Nieders.OVG, B. v. 13. 10. 2010 – 4 ME 14/10, 4 B 4/10. 434 VG Kassel, B. v. 10. 7. 2013 – 1 L 656/13.KS.A. 435 VG Magdeburg, B. v. 20. 2. 2008 – 9 B 434/07 MD; VG Würzburg, U. v. 26. 7. 2007 – W 5 K 07.30121. 436 EuGH, NVwZ-RR 2013, 69 (70) Rdn. 31 – K. 437 EuGH, NVwZ-RR 2013, 69 (70) Rdn. 39 ff, – K. 432 128 Ersuchen des an sich zuständigen Mitgliedstaates zur Übernahme der Zuständigkeit des Aufenthaltsstaates nicht ankommt. Dies ergibt sich aus der Abgrenzung zu Art. 17 Abs. 2, der ein solches Ersuchen voraussetzt. Für die Vorläufernorm von Art. 16 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 hat der EuGH festgestellt, es komme allein auf die Darlegung der Hilfsbedürftigkeit im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 an. Die Voraussetzung, dass die verwandtschaftlichen Beziehungen bereits im Herkunftsland bestanden haben müssen, erscheint nicht gerechtfertigt.438 Im Blick auf miteinander verheiratete Flüchtlinge hat der EGMR unter Hinweis auf Art. 8 und 14 EMRK festgestellt, es dürfe bei deren Zusammenführung nicht danach unterschieden werden, ob diese bereits im Herkunftsland verheiratet waren oder nicht.439 Aus der Begründung dieser Entscheidung folgt, dass der EGMR den „ausländerrechtlichen Status“ wie den „Flüchtlingsstatus“ als „sonstigen Status“ im Sinne von Art. 14 EMRK versteht und für die Diskriminierung auf die Situation vergleichbarer Gruppen mit einem derartigen Status abstellt.440 Ein sachlich gerechtfertigter Grund, danach zu unterscheiden, ob die Familienangehörigen bereits im Herkunftsland zusammen gelebt haben oder nicht, ist nicht ersichtlich. Zweck der Vorschrift ist, wegen einer aktuellen Hilfsbedürftigkeit der abhängigen Personen dem Familienmitglied die Hilfeleistung, Unterstützung und familiäre Fürsorge zu ermöglichen. Diese wiederum ist nicht deshalb weniger wirksam, weil die Verwandten im Herkunftsland nicht zusammen gelebt haben. d) Systemische Schwachstellen (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013) Die neue Verordnung regelt erstmals das Problem „systemischer Schwachstellen“ des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen“ im an sich zuständigen Mitgliedstaat. Die Übernahme der Verantwortung der Zuständigkeit nach Fortsetzung der Zuständigkeitsprüfung steht nicht im Ermessen des prüfenden Mitgliedstaates, vielmehr wird diese kraft Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 angeordnet. Nach Ansicht des EuGH dürfen Überstellungen nicht auf der Grundlage einer unwiderleglichen Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in dem für die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, durchgeführt werden, weil dies mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zur grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 unvereinbar“ ist.441 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 bestimmt nunmehr, dass der Antragsteller nicht an den an sich zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden darf, wenn es „wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung“ im Sinne von Art. 4 GRCh (Art. 3 EMRK) mit sich bringen. Die Voraussetzungen müssen nicht kumulativ, sondern können auch alternativ vorliegen. Die Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 GRCh wegen systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen wird nicht dadurch zu einer Nichtverletzung, weil das Asylverfahren keine derartigen Mängel aufweist. Wer diese Folgerung nicht ziehen will, muss diesen Fall über Art. 17 Abs. 1 im Wege der Ermessensreduktion lösen. e) Ermessensklauseln (Art. 17 Verordnung (EU) Nr. 604/2013) Die neue Verordnung gestaltet das frühere in Art. 3 Abs. 2 und 3 und Art. 15 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 enthaltene Konzept der Ermessensklauseln grundlegend um. Die Souveränitätsklausel des Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 wird nunmehr in Art. 438 Janetzek, Asylmagazin 2013, 2 (7). EGMR, U. v. 6. 11. 2012 – Nr. 22341/09, Rdn. 55 – Hode and Abdi. 440 EGMR, U. v. 6. 11. 2012 – Nr. 22341/09, Rdn. 47 ff. – Hode and Abdi. 441 EuGH, NVwZ 2012, 417 (420 f.) Rdn. 99 ff – N.S.; EuGH, U. v. 14. November 2013 – Rs. C-4/11 Rdn. 33 – Puid; Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406; Marx, NVwZ 2012, 409; EuGH Puid 439 129 17 Abs. 1 aufgegriffen, die Drittstaatenregelung des Art. 3 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 in Art. 3 Abs. 3, die in Art. 15 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 enthaltene humanitäre Klausel wird nunmehr durch Art. 17 Abs. 2, die frühere Regelung des Art. 15 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 durch Art. 16 Abs. 1 übernommen. Im letzteren Falle ist die Regelanordnung beibehalten worden. Bei abhängigen Personen wird also in der Regel die Zuständigkeit übernommen. Nur in atypischen Ausnahmesituationen kann hiervon abgewichen werden. Darlegungs- und beweispflichtig hierfür ist der prüfende Mitgliedstaat. Bei Übernahme der Zuständigkeit für abhängige Personen nach Art. 16 Abs. 1 kommt es nicht auf die Zustimmung des an sich zuständigen Mitgliedstaats, wohl aber auf die des Antragstellers an. Art. 16 Abs. 1 regelt den Fall, in dem sich der Antragsteller bereits im gewünschten Mitgliedstaat aufhält. Zwar wird dort auch der Fall der Zusammenführung angesprochen. Dies hat aber wohl eher die Funktion, den zuvor beschriebenen Kreis der abhängigen Personen und die Vermeidung der Trennung wie die Zusammenführung einheitlich im Kontext darzustellen. Schwerpunkt von Art. 16 Abs. 1 ist die Vermeidung der Trennung, während die näheren mit der Zusammenführung verbundenen Probleme eigenständig in Art. 16 Abs. 2 geregelt werden. 4. Selbsteintrittsrecht (Art. 17 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013) Ob eine förmliche Übernahme der Zuständigkeit ergehen muss oder diese auch stillschweigend erfolgen442 oder nur in eindeutigen Fällen bejaht werden kann,443 ist umstritten. Insbesondere wird kritisiert, dass eine inhaltliche Sachprüfung nicht ohne Weiteres in eine stillschweigende Übernahme der Zuständigkeit umgedeutet werden könne.444 Demgegenüber wird eingewandt, es komme auf die Art der Anhörung an. Werde der Antragsteller nicht bloß routinemäßig zu den Umständen des Reisewegs und der Einreise, sondern auch zu den Asylgründen befragt, folge hieraus eine konkludente Ausübung des Selbsteintrittsrechts.445 Diese Streitfrage ist nunmehr geklärt. Die Behörde hat den Antragsteller im Rahmen der Prüfung des zuständigen Mitgliedstaats persönlich dazu anzuhören, ob sich Familienmitglieder, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung im Unionsgebiet aufhalten, um diese Umstände bei der Entscheidung berücksichtigen zu können (Art. 5 Abs. 1 in Verb. mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. c)). Beschränkt sich die Anhörung auf diesen Prüfungsgegenstand, wird man hierin keine stillschweigende Übernahme erkennen können. Wird aber inhaltlich zu den Asylgründen angehört, liegt hierin eine implizite Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1. Die früher umstrittene Frage, ob nur der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylsuchende aufhält, vom Selbsteintritsrecht Gebauch machen kann,446 ließ der früheren Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/203 offen. Hingegen kann nach Art. 17 Abs. 1 ein Mitgliedstaat nur für einen bei ihm gestellten Asylantrag die Zuständigkeit übernehmen. In ihrem Vorschlag für die nunmehr geltende Verordnung hatte die Kommission zwar am bloßen Ermessenscharakter der Souveränitätsklausel festgehalten, die Klausel jedoch um Härtegründe („compassionate reasons“) erweitern wollen.447 Im weiteren Gesetzgebungsprozess wurde dieser Vorschlag So Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 148. So Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 76. 444 VG Schwerin, AuAS 1996, 227 (228); VG Arnsberg, U. v. 15. 12. 2009 – 4 K 1756/09.A; VG Hamburg, B. v. 2. 3. 2010 – 15 AE 44/10; Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 76; Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rdn. 64. 445 BayVGH, InfAuslR 2010, 467 (468); Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 148. 446 Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 76. 447 Commission of the European Communities, Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council establishing the criteria and mechanisms for determining the Member State responsible for examining an application for international protection logded in one of the Member States by a third-countrynational or a stateless person, COM(2008)820, S. 35. 442 443 130 nicht aufgegriffen. Dieser entspricht jedoch einer weit verbreiteten Verwaltungspraxis, die auch unions- und konventionsrechtlich gefordert ist. Liegen in der Person des Asylsuchenden und/oder in seinem persönlichen oder familären Umfeld dringende Umstände vor, ist das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten gar nicht angesprochen, sondern vorrangig der Schutz des Einzelnen. So drängt sich die Ausübung des Selbsteintrittsrechts auf, wenn die Überstellung humanitären Interessen des Asylsuchenden zuwiderläuft, weil hiervon besonders schutzbedürftige Personen im Sinne von Art. 21 RL 2013/33/EU betroffen sind, etwa Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Personen, Schwangere, erkrankte Personen mit Unterstützungsbedarf, Personen mit psychischen Störungen, ältere Personen, unterstützungsbedürftige Frauen, Familien mit kleinen Kindern, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt einschließlich Geschlechtsverstümmelungen oder andere schwere Gewalttaten im Herkunftsland oder auf der Flucht erlitten haben.448 In all diesen Fällen wären sie bei der Überstellung mit besonderen Schwierigkeiten im an sich zuständigen Mitgliedstaat konfrontiert, also gegenüber anderen Asylsuchenden in vergleichbarer Lage in einer besonders schutzbedürftigen Situation. Daher spricht Vieles für eine Ermessensausübung zugunsten des Antragstellers, wenn nicht sogar für eine Ermessensreduktion. Art. 17 Abs. 1 hat insoweit auch eine Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 ergänzende Funktion. Liegen die dort geregelten Voraussetzungen vor, kommt eine unmittelbare Anwendung dieser Normen in Betracht. Bestehen jedoch keine für die Anwendung dieser Normen erforderlichen verwandtschaftlichen Beziehungen im prüfenden Mitgliedstaat, greift ergänzend Art. 17 Abs. 1 ein. Gerade die besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne der Aufnahmerichtlinie haben einen Anspruch auf unverzüglich einsetzende Fürsorge, deren Wirksamkeit nicht durch belastende und ihre Not verschärfende Zuständigkeitsprüfungen und Überstellungen hinausgeschoben werden darf. 5. Verfahren zur Prüfung des zuständigen Mitgliedstaates a) Ablauf des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens Das Verfahren zur Zuständigkeitsprüfung wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Asylantrag gestellt wird (Art. 20 Abs. 1). Dementsprechend prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, der in ihrem Hoheitsgebiet an ihrer Grenze oder in den Transitzonen gestellt wird (Art. 3). Der Asylantrag gilt als gestellt, wenn den zuständigen Behörden ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Bei einem nicht schriftlich gestellten Antrag sollte die Frist zwischen der Geltendmachung des Asylersuchens und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein (Art. 20 Abs. 2). Sobald der Antrag gestellt wird, unterrichten die zuständigen Behörden den Antragsteller über die Anwendung der Verordnung und insbesondere über deren Ziele, die Folgen einer weiteren Antragstellung in einem anderen Mitgliedstaat sowie die Folgen eines Umzugs in den zuständigen Mitgliedstaat, über die Kriterien, die für diese Prüfung maßgebend sind, das persönliche Gespräch in diesem Verfahren und die Möglichkeit, Angaben über die Anwesenheit von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung im Unionsgebiet zu machen, einschließlich der (Glaubhaftmachungs- und Beweis-) Mittel, mit denen der Antragsteller diese Angaben unterstützen kann, die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung und gegebenenfalls zur Beantragung einer Aussetzung des Verfahrens (Art. 4 Abs. 2). Diesen Unterrichtungspflichtwn kann auch im Rahmen des Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rdn. 62; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 145; VG Frankfurt am Main, NVwZ 2011, 764 für eine ärztlich nachgewiesene Posttraumatische Belastungsstörung. 448 131 persönlichen Gesprächs genügt werden (Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2). Informationspflichten und persönliches Gespräch (Art. 5 Abs. 1) dienen dem Ziel, alle für die Durchführung der Zuständigkeitsprüfung erforderlichen Informationen und Beweismittel möglichst zeitnah und erschöpfend zu erhalten. Die Verordnung unterscheidet klarer als früher in Übertragung (Art. 19) und Übernahme der Zuständigkeit im Rahmen des Aufnahme- (Art. 21 und 22) und Wiederaufnahmeverfahrens (Art. 23 bis 25). Die Übertragung erfolgt kraft Verordnung wegen Erlöschens der Pflichten des bislang zuständigen Mitgliedstaates aus Art. 18 Abs. 1. Die Übernahme setzt die Abgabe einer Willenserklärung des zuständigen Mitgliedstaats im Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren voraus. Das Aufnahmeverfahren bleibt im Wesentlichen unverändert. In diesem prüft der Mitgliedstaat, bei dem erstmals der Asylantrag gestellt wird, welcher Mitgliedstaat für dessen Prüfung zuständig ist. Hingegen wird im Wiederaufnahmeverfahren durch den Mitgliedstaat, bei dem ein erneuter Asylantrag gestellt wurde oder in dem sich der Betroffene aufhält, geprüft, ob er ein Ersuchen an den zuständigen Mitgliedststaat um Wiederaufnahme stellen kann (Art. 23 Abs. 1). In beiden Fällen wird ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller durchgeführt. Dieses ist zwingend und zeitnah, in jedem Fall aber, bevor über die Überstellung entschieden wird, zu führen (Art. 5 Abs. 1 und 3). Nur wenn der Antragsteller flüchtig ist oder aufgrund der Unterrichtung bereits sachdienliche Angaben gemacht hat, sodass der zuständige Mitgliedstaat bestimmt werden kann, kann auf das persönliche Gespräch verzichtet werden. Im letzteren Fall ist dem Antragsteller aber abschließend vor der Entscheidung Gelegenheit zu geben, alle erforderlichen Informationen vorzulegen (Art 5 Abs. 2). b) Übertragung der Zuständigkeit (Art. 19 Verordnung (EU) Nr. 604/2013) Wurde früher die Übertragung der Zuständigkeit aufgrund eines Aufenthaltstitels, der freiwilligen Ausreise von mehr als drei Monaten aus dem Unionsgebiet oder der behördlich veranlassten Ausreise (Art. 16 Abs. 2 bis 4 Verordnung (EG) Nr. 343/2003) im Rahmen des Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren in Kapitel V der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 geregelt, wird nunmehr die Übertragung in Kapitel V der Übernahme der Zuständigkeit im Rahmen des Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahrens (Kapitel VI) vorangestellt. Damit wird bereits in systematischer Hinsicht klargestellt, dass die Übertragung nicht Teil des Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung nach Maßgabe der Kriterien nach Art. 7 ff. ist. Vielmehr wird in einem Fall die Zuständigkeit kraft Verordnung auf den Ausstellerstaat des Aufenthaltstitels übertragen. Für die anderen Fällen wird angeordnet, dass das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates dann nicht aufgrund der sich aus der früheren Einreise und dem früheren Aufenthalt ergebenden Kriterien erfolgen kann, wenn die Aufnahmepflichten nach Art. 18 Abs. 1 erloschen sind (Art. 29 Abs. 2 UAbs. 1). c) Wiederaufnahmeverfahren (Art. 23 bis 23 Verordnung (EU) Nr. 604/2013) Das Wiederaufnahmeverfahren wurde durch die geltende Verordnung grundlegend neu gestaltet und weitgehend dem Aufnahmeverfahren, insbesondere hinsichtlich der maßgebenden Fristen angepasst. Dem Verfahren liegt im typischen Ausgangsfall des Art. 23 ein Antrag zugrunde, der durch einen Antragsteller gestellt wurde, der bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat. Während im Aufnahmeverfahren erst noch der zuständige Mitgliedstaat anhand der festgelegten Kriterien ermittelt werden muss, steht er im Wiederaufnahmeverfahren bereits grundsätzlich fest. Aufgrund der Kriterien für die Zuständigkeit, insbesondere der in Art. 8 bis 11 sowie Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2, kann aber auch ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung in Betracht kommen. Der Antragsteller hat entweder im prüfenden Mitgliedstaat einen – neuen - Asylantrag gestellt 132 oder hält sich dort ohne Aufenthaltstitel auf, ohne einen Asylantrag zu stellen. Dabei unterscheidet die Verordnung drei verschiedene Fallgruppen von Antragstellern, nämlich jene, die während der Antragsprüfung den zuständigen Mitgliedstaat verlassen, während der Antragsprüfung ihren Antrag zurückgezogen oder nach Ablehnung des Antrags diesen Mitgliedstaat verlassen haben (Art. 23 Abs. 1 in Verb. mit Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) bis c)). Art. 23 regelt das Verfahren für die Antragsteller, die einen – erneuten – Asylantrag gestellt haben, Art. 24 hingegen behandelt die Antragsteller, die sich, ohne einen Asylantrag zu stellen, dort ohne Aufenthaltstitel aufhalten. Wird ein erneuter Asylantrag gestellt, stellt der Mitgliedstaat für den Fall, dass ein Eurodactreffer nach Art. 9 Abs. 5 Verordnung (EU) Nr. 603/2013 erzielt wird, so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Treffermeldung das Wideraufnahmeersuchen (Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1). Wird das Wiederaufnahmeersuchen auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System gestützt, ist es innerhalb von drei Monaten, nachdem der Asylantrag gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten. Da die Verordnung keine Regelungen zur Frist zwischen Geltendmachung des Asylersuchens und dem Abgleich mit dem Eurodacsystem enthält, muss sich der Mitgliedstaat Verzögerungen bei der Ermöglichung der Asylantragstellung im Rahmen der Fristberechnung zurechnen lassen. Zwar können hierfür keine starren Fristen festgelegt werden. Die Zweimonatsfrist für Eurodactreffer kann jedoch einen Hinweis dafür geben. Wird dem Antragsteller nicht innerhalb dieser Frist die förmliche Asylantragstellung ermöglicht,449 tritt daher die Rechtsfolge des Art. 23 Abs. 3 ein und geht die Zuständigkeit auf den säumigen Mitgliedstaat über. Da eine dem Art. 21 Abs. 2 korresponierende Regelung im Wiederaufnahmeverfahren nicht vorgesehen ist, gibt es hier kein Dringlichkeitsverfahren. Wird das Wiederaufnahmeersuchen nicht innerhalb der maßgebenden Frist gestellt, wird der prüfende Mitgliedstaat zuständig (Art. 23 Abs. 3). Die Auffassung, die mangels einer entsprechenden Regelung in Art. 20 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 eine analoge Anwendung der für das Aufnahmeersuchen geltenden Fristregelung (Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003) abgelehnt hatte, vielmehr insoweit ein fristungebundenes Ersuchen für zulässig erachtete450 ist überholt. Vor der Stellung des Ersuchens hat der prüfende Mitgliedstaat jedoch zu prüfen, ob er selbst oder ein anderer als der bislang zuständige Mitgliedstaat aufgrund der vorrangigen Kriterien in Art. 8 bis 11 sowie Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 zuständig ist. Insoweit können zwischen dem Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung und dem der erneuten Antragstellung neue Ereignisse etwa durch die Einreise von Familienmitgliedern oder Verwandten in das Unionsgebiet, durch Krankheiten und dadurch bedingten Betreuungsbedarf oder aufgrund anderer Umstände aufgetreten sein. Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet so rasch wie möglich, in jedem Fall aber nicht später als einen Monat, nachdem er mit dem Ersuchen befasst wurde, über dieses. Stützt das Ersuchen sich auf Angaben aus dem EurodacSystem, verkürzt sich diese Frist auf zwei Wochen (Art. 25 Abs. 1). d) Überstellung (Art. 29 Verordnung (EU) Nr. 604/2013) Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme des Antragstellers zu, setzt der ersuchende Mitgliedstaat diesen von der Entscheidung in Kenntnis, sie in den Dies ist für das deutsche Verfahrensrecht wegen der Unterscheidung in Meldung als Asylsuchender (§ 22 Abs. 1 AsylVfG) und förmlicher Antragstellung (§ 23 Abs. 1 AsylVfG) von praktischer Relevanz. 450 VG Regensburg, B. v. 10. 10. 2012 – RN 9 E 12.30323; VG Regensburg, B. v. 5. 7. 2013 – RN 5 S 13.30273; VG Trier, B. v. 30. 7. 2013 – 1 L 891/13.TR; VG Karlsruhe, B. v. 11. 7. 2013 – 3 K 1276/13; Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 171; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 210; a.A. VG Düsseldorf, B. v. 1. 10. 2013 – 26 L 1872/13.A) 449 133 ersuchten Mitgliedstaat zu überstellen, sowie gegebenenfalls von der Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen. Anstelle des Asylsuchenden kann auch der Rechtsanwalt oder – beistand informiert werden (Art. 26 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr.604/2013). Die Entscheidung muss eine Rechtsbehelfsbelehrung einschließlich des Rechts, die aufschiebende Wirkung zu beantragen, und der maßgebenden Rechtsbehelfsfristen sowie Informationen über die Frist für die Durchführung der Überstellung mit erforderlichen Angaben über den Ort und den Zeitpunkt, an dem oder zu dem sich der Asylsuchende zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt, enthalten (Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1). Es ist sicherzustellen, dass der Antragsteller zusammen mit der Überstellungsentscheidung Angaben zu Personen oder Einrichtungen erhält, die sie rechtlich beraten können, sofern diese Angaben nicht bereits erteilt wurden (Art. 26 Abs. 2 UAbs. 2). Im Bundesgebiet wird nach § 31 Abs. 1 Satz 4 vorgegangen und die Entscheidung unmittelbar an den Antragsteller zugestellt. Dem Anwalt oder Beistand soll und wird in der Verwaltungspraxis ein Abdruck zugeleitet (§ 31 Abs. 1 Satz 6). Die maßgebenden Fristen beginnen jedoch mit der Zustellung an den Antragsteller. Die weiteren unionsrechtlichen Pflichten sind bislang nicht gesetzlich umgesetzt worden. § 31 Abs. 1 ist daher richtlinienkonform im Sinne der bezeichneten Pflichten anzuwenden. Enthält die Rechtsbehelfsbelehrung die vorgegebenen Hinweise, die für die Einlegung des Rechtsbehelfs einschließlich des Eilrechtsschutzantrags erforderlich sind, nicht, ist sie unrichtig erteilt und setzt die Rechtsbehelfsfrist nicht in Gang.451 Das Bundesamt ist also gut beraten, in der Rechtsbehelfsbelehrung die erforderlichen Hinweise zu geben und/oder durch Zuziehung eines Dolmetschers die Zustellung an den Antragsteller persönlich durchzuführen und über die Rechtsbehelfsbelehrung eine Niederschrift aufzunehmen. Der die Überstellung durchführende Mitgliedstaat darf es nicht lediglich bei der korrekten Zustellung der Überstellungsentscheidung allein belassen. Vielmehr hat er den ersuchten Mitgliedstaat rechtzeitig über alle für die zum Schutze des Antragstellers erforderlichen Daten, aber auch nur über diese, umfassend zu informieren. Dies gilt in Besonderheit im Blick auf die medizinische Versorgung. Die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 will ersichtlich die bisherige Praxis, bei der die zu überstellenden Personen weitgehend auf sich allein angewiesen waren, im Wege des besseren Verwaltungskooperation zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten verbessern. Im Falle der zwangsweisen Durchführung der Überstellung wird der Mitgliedstaat diese Daten im Wege der kontrollierten oder begleiteten Ausreise an die Behörden des Zielstaates übermitteln, sodass sichergestellt ist, dass bei der Ankunft im Zielstaat die dort zuständigen Behörden umfassend informiert sind. Der vollziehende Mitgliedstaat stellt sicher, dass die Überstellung in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt wird (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 2). Erforderlichenfalls stellt er ein Laissez-passer aus. Der zuständige teilt dem vollziehenden Mitgliedstaat gegebenenfalls mit, dass der Antragsteller eingetroffen oder nicht innerhalb der vorgegebenen Frist erschienen ist (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 3 und 4). Anders als nach Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 stehen die freiwillige, kontrollierte und begleitete Ausreise nicht gleichrangig nebeneinander. Vielmehr wird in Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1 allein auf die freiwillige Ausreise hingewiesen. Daraus kann gefolgert werden, dass zunächst stets die freiwillige Ausreise zu ermöglichen ist und den ersuchenden Mitgliedstaat insoweit die Informationspflichten im Sinne von Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1 und Art. 31 im besonderen Maße treffen. Die Überstellung des Antragstellers aus dem ersuchenden in den ersuchten Mitgliedstaat erfolgt nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaates nach 451 BVerwG, NVwZ-RR 2000, 325; Hess.VGH, EZAR 633 Nr. 5; OVG NW, NVwZ-RR 1998, 595; OVG NW, InfAuslR 2005, 123; OVG MV, NVwZ-RR 2005, 578 (579). 134 Abstimmung der beteiligten Staaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchens durch den ersuchten Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung gemäß Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 hat. Die Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Antragstellers nicht erfolgen konnte, oder höchstens achtzehn Monate, wenn der Antragsteller flüchtig ist (Art. 29 Abs. 2 Satz 2). Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme verpflichtet und wird von seinen Pflichten nach Art. 18 Abs. 1 befreit. Die Zuständigkeit und damit auch die Pflichten nach Art. 18 Abs. 1 gehen auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (Art. 29 Abs. 2). Dasselbe gilt, wenn die Jahresfrist bei inhaftierten oder die Achtzehnmonatefrist bei flüchtigen Antragstellern abgelaufen ist. Wurde der Antragsteller irrtümlich überstellt oder wird einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung stattgegeben, nimmt der Mitgliedstaat, der die Überstellung durchgeführt hat, die Person wieder auf (Art. 29 Abs 3) und wird damit zuständiger Mitgliedstaat. Mit den Überstellungsfristen enthält die Verordnung ein weiteres Zuständigkeitskriterium für den Fall, dass die Überstellung dem Gebot, das Verfahren zügig durchzuführen (Erwägungsgrund Nr. 4), zuwider nicht innerhalb der vorgesehenen Frist durchgeführt wird.452 Dies folgt aus Art. 19 Abs. 2 Satz 1. Die Frist beginnt mit der Annahme des Ersuchens453, also nicht erst mit der Zustellung an den Antragsteller. Die Annahme wird vor dem Erlass der Überstellungsentscheidung gegenüber dem ersuchenden Mitgtliedstaat erklärt. Der maßgebende Zeitpunkt muss in den Akten dokumentiert werden. Die Fristverlängerung setzt eine ausdrückliche Entscheidung des ersuchenden Mitgliedstaats über die Verlängerung vor Ablauf der Sechsmonatsfrist voraus, die er im ausdrücklichen Einvernehmen mit dem ersuchten Mitgliedstaat zu treffen hat. Die Frist wird bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen also nicht automatisch verlängert.454 Ob ein stillschweigendes Einvernehmen bereits darin liegt, dass der ersuchende dem ersuchten Mitgliedstaat vor Fristablauf über die Verzögerungsgründe informiert, eine Fristverlängerung geltend macht und der ersuchte Mitgliedstaat hierauf schweigt, ist umstritten.455 Wird ein Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung, dem aufschiebende Wirkung zukommt, eingelegt, beginnt die Überstellungsfrist erst nach der endgültigen Entscheidung über den Rechtsbehelf zu laufen (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 letzter Hs.). Zwar hat der Rechtsbehelf gegen die Überstellung nach § 75 Satz 1 keine aufschiebende Wirkung. Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 letzter Hs. nimmt aber entgegen seinem Wortlaut Art. 27 Abs. 3 insgesamt und damit alle drei Optionsklauseln in Bezug. Mit § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. hat der Gesetzgeber die Option nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) gewählt, sodass anders als bislang durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs und die Beantragung von Eilrechtsschutz die Überstellungsfrist hinausgeschoben wird. Nach der Rechtsprechung des EuGH beginnt die Frist nicht bereits mit dem Beschluss im Eilrechtsschutzverfahren, mit dem die Durchführung der Überstellung ausgesetzt wird, sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die damit der Durchführung nicht VG Aachen, U. v. 25. 7. 2007 – 8 K 1913/05.A. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 192. 454 Thür.OVG, B. v. 28. 12. 2009 – 3 EO 469/09; VG Münster, InfAuslR 2008, 372; VG Münster, B. v. 30. 12. 2010 – 2 L 576/10.A; VG Braunschweig, B. v. 5. 10. 2010 – 1 B 172/10; VG Hamburg, U. v. 15. 3. 2012 – 10 A 227/11; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 197. 455 So VG Berlin, B. v. 14. 12. 2009 – VG 33 L 260.09.A; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 198; a.A. VG Hamburg, U. v. 15. 3. 2012 – 10 A 227/11; VG Braunschweig, B. v. 5. 10. 2010 – 1 B 172/10; offen gelassen Thür.OVG, B. v. 28. 12. 2009 – 3 EO 469/09; VG Münster, InfAuslR 2008, 372 (374). 452 453 135 mehr entgegenstehen kann456, also mit dem Eintritt der Rechtskraft des klageabweisenden Urteils, zu laufen. Wird jedoch der Eilrechtsschutzantrag zurückgewiesen, die Überstellung gleichwohl nicht vorgenommen und später der Klage stattgegeben, beginnt die Frist mit der Zustellung des zurückweisenden Beschlusses im Eilrechtsschutzverfahren zu laufen.457 Die Frist wird mit dem Aussetzungsbeschluss unterbrochen und beginnt mit Zustellung der unanfechtbaren Hauptsacheentscheidung erneut zu laufen.458 VI. 1. Sachverhaltsaufklärung Grundrechtsverwirklichung durch Verfahrensschutz Das Grundrecht auf Asyl bedarf, soll es seine Funktion in der sozialen Wirklichkeit entfalten, geeigneter Organisationsformen und Verfahrensregelungen sowie einer grundrechtskonformen Anwendung des Verfahrensrechts, soweit dies für den effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist.459 Die verfassungsrechtliche Asylrechtsnorm sichert nicht nur materiell das Asylrecht des politisch Verfolgten. Der Bestimmung kommt auch verfahrensrechtliche Bedeutung zu. Allgemein fordert die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte auch im jeweiligen Verfahrensrecht Geltung. Diesem Grundsatz entsprechend muss auch das Asylgrundrecht dort auf die Verfahrensgestaltung Einfluss haben, wo es um das grundgesetzlich garantierte Recht des Betroffenen auf Asyl geht.460 2. Umfang des Untersuchungsgrundsatzes Die Behörde hat von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts bis hin zur Grenze der Unmöglichkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Verfahrens von Bedeutung ist.461 Das Bundesamt bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen. Hierbei ist es zwar an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 24 Abs. 1 VwVfG). Wie im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht werden jedoch auch im Asylverfahren Umfang und Reichweite des Untersuchungsgrundsatzes im konkreten Einzelfall durch den Tatsachenvortrag des Antragstellers (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) bestimmt. Der Umfang der Ermittlungspflichten wird damit durch die individuellen Mitwirkungspflichten begrenzt.462 Der Prognoseprüfung selbst geht die Sammlung und Sichtung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen voraus. Von einer solchermaßen sachgerecht und methodisch einwandfrei erarbeiteten Prognosebasis kann nur die Rede sein, wenn die Tatsachenermittlungen einen hinreichenden Grad an Verlässlichkeit aufweisen und dem Umfang nach zureichend sind.463 Das Bundesamt kann sich im Einzelfall zur Überprüfung der EuGH, NVwZ 2009, 139 (140) = InfAuslR 2009, 139 = EZAR NF 96 Nr. 2 Rdn. 46 – Petrosian; Hess.VGH, AuAS 2011, 269 (270); VGH BW, AuAS 20012, 213 (215); Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 196; Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 165. 457 VG Stuttgart, U. v. 8. 4. 2010 – A 12 K 3445/09. 458 VGH BW, AuAS 20012, 213 (215); Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 165. 459 BVerfGE 56, 216 (236) = EZAR 221 Nr. 4 = NJW 1981, 1436; BVerfGE 65, 76 (94) = EZAR 630Nr. 4 = NVwZ 1983, 735 = InfAuslR 1984, 58 . 460 BVerfGE 52, 391 (407) = EZAR 150 Nr. 1 = NJW 1980, 516. 461 BVerwG, DÖV 1983, 647; BVerwG, InfAuslR 1984, 292 = EZAR 610 Nr. 13 = NVwZ 1984, 591; § 24 VwVfG, § 24 AsylVfG, § 86 VwGO 462 BVerwG, DVBl. 1963, 145; BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwGE 66, 237 = EZAR 630 Nr. 1 = InfAuslR 1983, 76; s. auch § 25 Abs. 1, 2 AsylVfG: 456 463 BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993, 146 (149); BVerwGE 87, 141 (150) = EZAR 200 Nr. 27 = NVwZ 1991, 384. 136 Angaben des Antragstellers einer Vielzahl von Erkenntnisquellen bedienen. Hierzu gehören insbesondere auch die nach § 21 AsylVfG weitergeleiteten Unterlagen. Das wichtigste Erkenntnismittel ist aber der Antragsteller selbst. Dementsprechend hat § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG auch die zwingende Anhörung beibehalten. Die Asylbegründung und die Anhörung bezeichnen den Untersuchungsgegenstand im konkreten Einzelfall. Die Art der Einlassung und der Eindruck von der Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers ermöglichen dem Bundesamt eine konkrete Überprüfung der von ihm vorgetragenen Tatsachen. Die Erfahrung des Einzelentscheiders, die Geeignetheit seiner Fragetechnik, sein Wissen aus Parallelverfahren sowie die verständige Leitung und verfahrensrechtliche Fürsorge für den Antragsteller sind wichtige Erkenntnismethoden, um die Wahrheit der vorgetragenen persönlichen Erlebnisse überprüfen zu können. Gutachten und Auskünfte können hierbei regelmäßig wenig weiterhelfen. Lediglich zur Aufklärung der allgemeinen rechtlichen und politischen Situation im Herkunftsland des Antragstellers gewinnen Gutachten und Auskünfte eine erhebliche verfahrensrechtliche Bedeutung. Bei der Bewertung des Wahrheitsgehaltes der vorgetragenen persönlichen Erlebnisse kommt es jedoch zuallererst auf die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben sowie der persönlichen Glaubwürdigkeit des Antragstellers im Rahmen der freien Beweiswürdigung an. Deshalb ist es auch geboten, dass der Einzelentscheider mit dem Sachentscheider identisch ist. Da die Gestaltung des Asylverfahrens heute nahezu ausschließlich an verwaltungsorganisatorischen Interessen ausgerichtet ist, darüber hinaus die Einführung der elektronischen Akte es dem die Anhörung durchführenden Einzelentscheider technisch jederzeit ermöglicht, den Vorgang abzugeben, ist heute in der Verwaltungspraxis der die Anhörung durchführende Einzelentscheider zumeist nicht mehr mit dem für die Sachentscheidung verantwortlichen Einzelentscheider identisch. 2. Persönliche Anhörung des Antragstellers Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG ist das Bundesamt zur persönlichen Anhörung des Asylsuchenden verpflichtet, von der nur unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen abgewichen werden darf bzw. abzusehen ist.464 Diese Verpflichtung gilt für alle Asylanträge, d. h. sowohl für die nach § 14 Abs. 1 AsylVfG wie auch für die nach § 14 Abs. 2 AsylVfG gestellten Anträge. Allerdings ist bei Asylfolgeanträgen die Anhörung nicht zwingend vorgeschrieben (vgl. § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG). Die persönliche Anhörung ist das zentrale Herzstück des Asylverfahrens. Sie ist heute jedoch aufgrund des institutionalisierten Klimas des Misstrauens sowie der ausländerrechtlichen Vorprägung der Tatsachenfeststellung zum „Ort des verdichteten Misstrauens“ entartet. In dem auf die Prüfung individueller Verfolgungsbehauptungen angelegten Verfahren ist die persönliche Anhörung von maßgeblicher Bedeutung.465 Das wichtigste Erkenntnismittel ist der Antragsteller selbst. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung im Asylverfahren gesteigerte Bedeutung zu.466 Der Asylsuchende befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es damit entscheidend an.467 Marx, Probleme der Kommunikation und Darstellung der Lebenswirklichkeitr von Flüchtlingen im Asylverfahren, in: ZAR 2012, 417. 465 BVerfGE 54, 341 (359) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerwG, DVBl. 1963, 145; Hess. VGH, ESVGH 31, 259; OVG Hamburg, InfAuslR 1983, 187. 464 466 BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567; BVerwG, NVwZ 1990, 171 = InfAuslR 1989, 349. 467 BVerfGE 94, 166 (200 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1976, 678 137 Die Art der persönlichen Einlassung des Asylsuchenden, seine Persönlichkeit, insbesondere seine Glaubwürdigkeit, spielen bei der Würdigung und Prüfung der Tatsache, ob er gute Gründe zur Gewissheit der Behörde dargetan hat, eine entscheidende Rolle.468 Durch ein Gespräch zwischen dem Asylsuchenden und dem Anhörer kann am besten sichergestellt werden, dass der Sachverhalt umfassend aufgeklärt und die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen im Sachvorbringen auf der Stelle nachgegangen wird.469 Zur Statusgewährung kann daher schon allein der Tatsachenvortrag des Antragstellers führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne glaubhaft sind, dass sich die Behörde von ihrer Wahrheit überzeugen kann.470 Daher ist die persönliche Anhörung grundsätzlich unverzichtbar. Der Asylsuchende hat schlüssig mit genauen Einzelheiten sowie erschöpfend die anspruchsbegründenden Tatsachen und Umstände vorzutragen. Da in aller Regel Beweismittel zur Überprüfung der Angaben nicht vorgelegt werden, muss der Einzelentscheider sich vom Wahrheitsgehalt der Sachangaben auf andere Weise überzeugen können. Ein abstrakter, allgemein gehaltener Vortrag vermittelt regelmäßig nicht den Eindruck, dass der Antragsteller die Vorgänge wirklich erlebt hat. Demgegenüber ist ein nachvollziehbares, im Blick auf zeitliche, örtliche und sonstige entscheidungserhebliche Umstände lebensnahes Sachvorbringen geeignet, die erforderliche Überzeugungsgewissheit zu vermitteln. Mit Blick auf die allgemeinen Verhältnisse genügt es, um Anlass zu weiteren Ermittlungen zu geben, wenn der Tatsachenvortrag die nicht entfernt liegende Möglichkeit aufzeigt, dass Verfolgung droht.471 Gegen diese Differenzierung wird in der Verwaltungspraxis häufig verstoßen, etwa indem dem Antragsteller vorgehalten wird, er habe zu den Motiven und Beweggründen der Verfolger oder zu zwischenzeitlich länger dauernden repressionsfreien Phasen keine plausiblen Erklärungen abgegeben. Derartige Umstände entziehen sich jedoch in aller Regel dem Einfluss sowie Erfahrungsbereich des Antragstellers. Gegebenenfalls hat daher das Bundesamt von Amts wegen die Art und Systematik der Repressionsmethoden sowie weitere erhebliche Umstände aufzuklären. Die Behörde hat die Verfahrensherrschaft. Sie hat mögliche Widersprüche, Ungereimtheiten und sonstige Unklarheiten von Amts wegen aufzuklären. Wesentlich für eine verfahrensrechtlich einwandfreie Gestaltung der Anhörung im konkreten Einzelfall ist, dass der Antragsteller in einer seiner Person gemäßen Art und Weise zu Beginn der Anhörung über das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn und die Entscheidung über sein Ersuchen ankommt, und dass der Bedienstete die Anhörung loyal sowie verständnisvoll führt.472 Daraus ergeben sich besondere Sorgfaltspflichten für die Belehrung des Asylsuchenden, die Verhandlungsführung sowie für die behördlichen Untersuchungspflichten. Zunächst ist alles zu vermeiden, was zu Irritationen und in deren Gefolge zu nicht hinreichend zuverlässigem Vorbringen in der Anhörung beim Bundesamt führen kann. Zwar können aus dem 468 BVerwG, DVBl. 1963, 145. Hess. VGH, ESVGH 31, 259. 470 BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567. 471 BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; 1984, 129; 1989, 350. 472 BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678. 469 138 Sachvorbringen zu den Reisemodalitäten wichtige Erkenntnisse zur Glaubhaftigkeit der Angaben und der Glaubwürdigkeit insgesamt gezogen werden.473 Jedoch darf die Aufklärung des Reiseweges nicht im Zentrum der Anhörung stehen. Insbesondere die Art der behördlichen Aufklärung des Reiseweges und die Dominanz, die dieser Sachkomplex während der Anhörung einnimmt, führen regelmäßig zu Irritationen und erheblichen Verunsicherungen bei den Asylsuchenden, die deshalb zu unzulänglichen und unvollständigen Angaben bei der anschließenden Darlegung der Asylgründe führen. Unzulässig ist darüber hinaus, dass der Einzelentscheider in die zusammenhängende Darlegung der Fluchtgründe dadurch interveniert, dass er Fragen zu völlig anderen Tatsachenkomplexen stellt und im späteren Verlauf der Anhörung dem Antragsteller Vorhaltungen macht, er habe bestimmte wesentliche tatsächliche Gesichtspunkte bei der Darlegung des in Rede stehenden Komplexes nicht angegeben. Eine derartige Befragungstechnik programmiert strukturell das Offensichtlichkeitsurteil (vgl. § 30 AsylVfG). Die vom BVerfG geforderte loyale und verständnisvolle Führung der Anhörung setzt demgegenüber voraus, dass dem Asylsuchenden zunächst die notwendige Zeit und Ruhe gegeben wird, von sich aus zusammenhängend die einzelnen Ereignisse und persönlichen Erlebnisse darzustellen. Der Vorprüfer hat sich hierbei darauf zu beschränken, durch verständnisvolle ergänzende Fragen dem Antragsteller zu helfen und ihn zu leiten und gegebenenfalls im Hinblick auf die Substanziierungspflichten auf mögliche rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen. Er mag auch den ausufernden Sachvortrag auf die wesentlichen Tatsachenfragen zurückführen, jedoch stets in einer Weise, die nicht zu Irritationen und Verunsicherungen führt. Das Bundesamt hat Widersprüchen im persönlichen Sachvortrag ebenso nachzugehen wie es auf Vollständigkeit des Sachvorbringens hinzuwirken hat.474 Ergeben sich zwischen dem bisherigen Sachvortrag und dem Vorbringen in der Anhörung oder innerhalb des Sachvortrags in der persönlichen Anhörung Widersprüche, sind diese an Ort und Stelle durch Vorhalte aufzuklären.475 Selbstverständlich ist es die Pflicht des Vorprüfers, Vorhalte zu machen und auf Widersprüche hinzuweisen, nachdem der Antragsteller den Sachverhalt zusammenhängend dargestellt hat. Derartige Vorhalte dienen ja gerade dazu, einerseits dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, Fehler und Erinnerungslücken zu überprüfen, sowie andererseits, tragfähige Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Nach den gemachten Erfahrungen der vergangenen Jahre unterbleiben derartige Vorhalte jedoch sehr häufig sowohl im Verwaltungs- wie auch im Verwaltungsstreitverfahren. Im schriftlichen Bescheid werden dem Asylsuchenden sodann angebliche Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten und Widersprüche in seinem Sachvorbringen entgegengehalten, ohne dass ihm in der Anhörung die Gelegenheit eingeräumt wurde, auf eine entsprechende gezielte Frage konkret Stellung nehmen zu können. Das BVerfG hat ausdrücklich hervorgehoben, dass bei gegebenem Anlass klärende und verdeutlichende Rückfragen zu stellen sind.476 Unterbleiben derartige Vorhalte, obwohl diese sich dem Bundesamt hätten aufdrängen müssen, dürfen dadurch entstehende Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten in der Darstellung des Verfolgungs- und Fluchtgeschehens dem 473 OVG NW, AuAS 1999, 66; OVG Rh-Pf, AuAS 1999, 67. OVG Saarland, InfAuslR 1983, 79. 475 BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 85 (88); 1991, 94 (95); 1992, 231 (233); s. auch BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678; BVerfG (Kammer), InfAuslR 1999, 273 (278); 2000, 254 (258), alle zur Verpflichtung zu klärenden Rückfragen; s. aber zum gerichtlichen Verfahren OVG Brandenburg, EZAR 631 Nr. 50. 474 476 BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678. 139 Antragsteller im Bescheid des Bundesamtes nicht zur Last gelegt werden; es sei denn, es handelt sich um derart wesentliche Fragen, dass man von einem durchschnittlich intellektuell veranlagten Asylsuchenden die Ausräumung derartiger Umstände aus eigener Initiative erwarten kann. Dies dürfte allerdings eher der Ausnahmefall sein. Daher ist die intellektuelle Unfähigkeit, einen Geschehensablauf im Zusammenhang zu schildern, sowohl bei der Sachverhaltsermittlung wie bei der Beweiswürdigung angemessen zu berücksichtigen.477 3. Praktische Empfehlungen zur Anhörung Der Rechtsanwalt oder die Rechtsanwältin wird häufig an der persönlichen Anhörung nicht teilnehmen können, weil der Asylsuchende nach Meldung (§ 22 AsylVfG) im Wege der Erstverteilung häufig einem anderen Bundesland zugewiesen und dort unmittelbar nach Antragstellung angehört wird (vgl. § 25 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG). Wenn mit dem Mandanten die Vertretung während der Anhörung vereinbart worden ist, sollte der Rechtsanwalt auf die aus § 14 Abs. 4 Satz 1 VwVfG folgende verfahrensrechtliche Verpflichtung des Bundesamtes hinweisen und dieses auffordern, die Anhörung zeitlich so zu gestalten, dass unter für den Verfahrensbevollmächtigten zumutbaren Bedingungen dessen Anwesenheit gewährleistet wird. Nur wenn die Anhörung am Tag der persönlichen Meldung durchgeführt wird, entfällt die Benachrichtigungspflicht (vgl. § 25 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Eine derartige Verwaltungspraxis ist jedoch nicht üblich und angesichts der weiterhin sinkenden Antragszahlen auch nicht gerechtfertigt. Der Rechtsanwalt sollte in der Antragsbegründung darauf hinweisen, dass er an der Anhörung teilnehmen wird und eine entsprechende Gestaltung erwartet. Notfalls ist mit der Referatsleitung oder der Zentrale des Bundesamtes Kontakt aufzunehmen, um das Anwesenheitsrecht des Bevollmächtigten zu sichern. Selbstverständlich muss der Rechtsanwalt gegebenenfalls seine Terminplanung ändern. Bereits festgesetzte gerichtliche und behördliche Termine hat das Bundesamt indes zu berücksichtigen. Da die Anwesenheit des Bevollmächtigten nicht stets gewährleistet ist, muss der Mandant bereits im Zusammenhang mit der Vorbereitung der schriftlichen Antragsbegründung über wichtige verfahrensrechtliche Obliegenheiten aufgeklärt werden und ist er erschöpfend und detailliert auf die persönliche Anhörung vorzubereiten. Auf folgende Gesichtspunkte ist der Mandant besonders hinzuweisen: Der Asylsuchende muss zunächst jeweils die Frage des Einzelentscheiders auf sich einwirken lassen, bevor er sie beantwortet. Ein häufiger Fehler im Asylverfahren besteht darin, dass mit der Antwort begonnen wird, bevor die Frage überhaupt zu Ende formuliert und übersetzt worden ist. Dies erschwert die Ermittlungen, kann aber auch zu gravierenden Widersprüchen führen. Der Asylsuchende darf eine Frage nicht beantworten, deren Wortlaut oder Wortsinn er nicht verstanden hat. Gerade die häufig komplizierten Rechtsfragen im Asylrecht lassen den Sinn der gestellten Fragen für die Asylsuchenden häufig nicht deutlich werden. Es ist deshalb das gute Recht des Antragstellers, um Wiederholung und gegebenenfalls um Erläuterung der Frage zu bitten. Der Asylsuchende muss bei seiner Antwort den mit der Frage angesprochenen wesentlichen Tatsachenkomplex erschöpfend, konkret, lebensnah und detailreich erläutern. Weniger wesentliche Randkomplexe kann er kurz abhandeln. Das umgekehrte Verfahren ist nicht selten, aber unter allen Umständen zu vermeiden. Es drängt sich andernfalls der Eindruck auf, der Antragsteller weiche sensitiven Fragen aus und trage lediglich eine „Verfolgungslegende“ vor. 477 Vgl. BVerwG, NVwZ 1990, 171. 140 Ganz wesentlich ist, dass der Antragsteller sich vor seiner Antwort selbst Rechenschaft darüber abgibt, ob er positives Wissen besitzt (eigener Erfahrungsbereich) oder lediglich Mutmaßungen über bestimmte Vorgänge und Ereignisse (Verfolgungsmotivationen, allgemeine Tatsachen) anstellen kann. Kleidet er Mutmaßungen in die Form bestimmter Tatsachen, wird er selbst bei Offensichtlichkeit des zugrunde liegenden Irrtums für das weitere Verfahren daran festgehalten, so dass häufig die Antragsablehnung und Klageabweisung wegen widersprüchlichen Sachvorbringens die Folge ist. Im Hinblick auf örtliche, zeitliche und andere Tatsachen ist der Antragsteller zu möglichst präzisen Angaben verpflichtet. Andererseits sind unter allen Umständen entsprechende Festlegungen zu vermeiden, wenn das Erinnerungsvermögen diese nicht trägt. Zur Vorbereitung auf die Anhörung darf der Antragsteller für sich die wesentlichen Daten chronologisch schriftlich ordnen und die Notizen während der Anhörung als Erinnerungsstütze verwenden. Unzulässig ist das Ablesen von schriftlichen Erklärungen, nicht indes die Verwendung schriftlicher Notizen während der Anhörung. Unterbricht der Einzelentscheider die Darlegung eines prozesshaften Ereignisses, so muss der Antragsteller darauf insistieren, dass er den Hergang im Gesamtzusammenhang darstellen kann. Notfalls hat er auf Protokollierung seiner Rüge zu bestehen. Er hat nach der Unterbrechung den Einzelentscheider darauf hinzuweisen dass es sein verfahrensrechtliches Recht und auch seine Pflicht ist, den Vorgang vollständig zu Ende zu erzählen. Nach dem Ende der Befragung hat der Antragsteller gewissenhaft zu prüfen, ob alle für ihn wesentlichen Umstände zur Sprache gekommen sind. Da das Bundesamt die Verfahrensherrschaft hat, muss er zunächst die vom Vorprüfer gestellten Fragen beantworten. Je nach der fachlichen Qualifikation des Vorprüfers werden deshalb häufig wesentliche Tatsachenkomplexe nicht ermittelt. Die Verwaltungsgerichte bürden hierfür in aller Regel dem Antragsteller die Verantwortung auf. Deshalb ist es von ganz entscheidender Bedeutung, dass nach Beendigung der Befragung durch das Bundesamt sowie – nochmals – nach dem Verlesen und der Übersetzung des Protokolls gewissenhaft geprüft wird, ob alle erheblichen Umstände dargelegt worden sind. Gegebenenfalls ist schriftliche Ergänzung des Protokolls zu beantragen. Das Protokoll hält die Angaben des Asylsuchenden fest. Aus der Natur der Sache heraus werden diese im Bürokratendeutsch zusammengefasst. Im Zweifel hat der Antragsteller darauf zu bestehen, dass seine Sichtweise und Formulierung wortgetreu festgehalten wird, weil er seinerseits durch die Gerichte in aller Regel an jeder Äußerung so festgehalten wird, wie sie schriftlich fixiert worden ist. Gegebenenfalls hat der Antragsteller auf schriftliche Niederlegung der Weigerung, seine Fassung zu protokollieren, zu bestehen. VII. Internationaler Schutz (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG) 1. Funktion des Flüchtlingsschutzes § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG macht den Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 A Nr. 2 GFK in Umsetzung von Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU zum Gegenstand des Asylverfahrens. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf diesem Flüchtlingsbegriff (Erwägungsgrund Nr. 5). Daher führt die Richtlinie gemeinsame Kriterien für die Flüchtlingsanerkennung ein (Erwägungsgrund Nr. 22) und legt zu diesem Zweck in Art. 4 bis 10 (§ 3a bis § 3e AsylVfG) Normen für die Bestimmung der Merkmale der Flüchtlingseigenschaft fest (Erwägungsgrund Nr. 23). Der Rat der Europäischen Union hatte am 29. April 2004 die Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) verabschiedet, die am 20. Oktober 2004 in Kraft getreten und bis spätestens zum 10. Oktober 2006 in das innerstaatliche Recht umzusetzen war. Am 13. Dezember 2011 ist die Änderungsrichtlinie 2011/95/EU verabschiedet worden und am 2. Januar 2012 in Kraft getreten. Sie hebt die Richtlinie 2004/83/EG auf und war bis spätestens zum 21. Dezember 2013 umzusetzen (Art. 39 Abs. 1). Mit dem am 1. Dezember 2013 in Kraft 141 getretenen Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (BGBl. I S. 3474) ist der Gesetzgeber seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachgekommen. Durch die Richtlinie 2011/95/EU wurden die Struktur der Richtlinie 2004/83/EG und die überwiegende Mehrzahl der Bestimmungen nicht geändert. Die Richtlinie regelt zwei unterschiedliche, sich ergänzende Schutzkonzeptionen: Nach Art. 2 Buchst. a) umfasst der »internationaler Schutz« die Flüchtlingseigenschaft (Art. 13) und den subsidiären Schutz (Art. 18). Dem trägt § 1 Abs. 1 Nr. 2 Rechnung. Art. 13 (§ 3 Abs. 1 und 4 1. Hs. AsylVfG) ist danach Rechtsgrundlage für den Flüchtlingsschutz, Art. 18 (§ 4 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG) für den subsidiären Schutz. Kapitel II der Richtlinie (Art. 4 bis 8) legt für beide Schutzformen zunächst gemeinsame tatbestandliche Voraussetzungen fest (§ 3c bis § 3e, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Umfasst hiervon sind auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen (Art. 4), insbesondere der Beweisstandard einschließlich der Regelvermutung nach Art. 4 Abs. 4, die Grundsätze zu den Nachfluchtgründen (Art. 5, die Konzeption des Wegfalls des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 8) einschließlich der Frage der nichtstaatlichen Verfolgungsakteure (Art. 6 Buchst. c)) sowie des internen Schutzes (Art. 8). Inhaltlich regelt die Richtlinie in Kap. III (Art. 9 und 10) die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes (§ 3a und § 3b), einschließlich der Verlust- und Ausschlussgründe (Art. 11 bis 12, 14, s. hierzu § 72, § 73, § 3 Abs. 2, 3 und 4 2. Hs. AsylVfG), und in Kap. V (Art. 15 bis 17) die Voraussetzungen sowie die Verlust- und Ausschlussgründe des subsidiären Schutzes. Kap. VI regelt die Zuerkennung (Art. 18) sowie Aberkennung und Beendigung (Art. 19) des subsidiären Schutzstatus. Schließlich enthalten Art. 21 bis 34 Regelungen zum Inhalt des Flüchtlings- und subsidiären Schutzes. Die Richtlinie 2011/95/EU verfolgt den Zweck, sicherzustellen, dass der internationale Schutz den Personen zuteil wird, die diesen verdienen. Ihr wesentliche Ziel ist es, ein Mindestmaß an Schutz in allen Mitgliedstaaten für Personen zu gewährleisten, die tatsächlich Schutz benötigen, und sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestmaß an Leistungen geboten wird (Erwägungsgrund Nr. 12). Für den Bereich des Flüchtlingsschutzes bestimmt Art. 78 Abs. 1 AEUV, dass alle unionsrechtlichen Maßnahmen zum Asylrecht in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und dem New Yorker Protokoll von 1967 stehen müssen. Aus der Entstehungsgeschichte der Konvention folgt, dass der Flüchtlingsbegriff großzügig ausgelegt werden und alle Personen erfassen sollte, die bis dahin als Flüchtlinge angesehen wurden (Art. 1 A Nr. 1). Die allgemeine Definition in Art. 1 A Nr. 2 GFK war dementsprechend stark durch die Erfahrungen der europäischen Staaten beeinflusst worden. Die materiellen Grundlagen des universellen Flüchtlingsschutzes waren damit aus der europäischen Praxis heraus entwickelt worden. Es fehlt andererseits ein verbindlicher Mechanismus, der für die nationale Staatenpraxis Leitlinien für die Auslegung und Anwendung des Flüchtlingsbegriffs vorgibt. Das Handbuch von UNHCR wird in der Staatenpraxis allgemein als Orientierungshilfe für die Auslegung von Konventionsnormen verwendet. Auch das BVerwG berücksichtigt bei der Auslegung von Konventionsnormen Stellungnahmen und insbesondere das Handbuch von UNHCR.478 Allerdings wurde das Handbuch bereits 1979 veröffentlicht und enthält es deshalb nicht zu allen Fragen des Flüchtlingsrechts und insbesondere der Konvention detaillierte Ausführungen. Zusätzlich zum Handbuch sind deshalb Empfehlungen des aus Staatenvertretern bestehenden Exekutivkomitees des Programms von UNHCR, denen in der Literatur der Charakter normativer Vorgaben für die Entwicklung des Flüchtlingsrechts zugewiesen wird,479 und aktuelle Richtlinien und sonstige Stellungnahmen des Büros von UNHCR als 478 479 BVerwGE 89, 231 (239) = EZAR 211 Nr. 3 = NVwZ 1992, 679. Sztucke, IJRL 1989, 285 (301 ff.). 142 Orientierungshilfe für die Auslegung von Konventionsnormen und damit auch von Normen der Qualifikationsrichtlinie heranzuziehen. Für die Mitgliedstaaten ergibt sich damit eine komplexe völkerrechtliche und supranationale Gemengelage. Sie dürfen in ihrer Asylpraxis unionsrechtliche Zweifelsfragen nicht selbst klären. Vielmehr haben sie im Wege des Vorabentscheidungsersuchens (Art. 267 AEUV) diese Frage dem EuGH vorzulegen. Aus unionsrechtlicher Sicht sind die Vorgaben des EuGH zwingend und haben Vorrang gegenüber nationalem Recht. Aus völkerrechtlicher Sicht sind sie Staatenpraxis im Sinne von Art. 31 Abs. 3 Buchst. a) VWRK. Die Hoffnung, dass der EuGH sich möglichst eng an die im Völkerrecht entwickelten Grundsätze zum Flüchtlingsschutz halten wird, damit die europäische nicht von der universellen Rechtsentwicklung im völkerrechtlichen Flüchtlingsschutz losgelöst wird, hat er mit seinen Entscheidungen insbesondere zum Widerruf und zum Ausschluss nicht erfüllt. Die Bedeutung der Qualifikationsrichtlinie als einer gemeinsamen Plattform für die Staatenpraxis einer so großen Staatengruppe wie sie die Union bildet, kann gar nicht unterschätzt werden. Vieles was sich nach Maßgabe der Richtlinie im Bereich des Flüchtlingsschutzes in der Union entwickeln wird, wird als Staatenpraxis maßgeblich die universelle Fortentwicklung der Konvention beeinflussen und damit auch Auswirkungen auf die Staatenpraxis außerhalb der Union gewinnen. Dies birgt andererseits aber auch die Gefahr in sich, dass für die spezifischen Zwecke der Mitgliedstaaten entwickelte Konzepte den universellen Charakter der Konvention insgesamt ändern können. In einigen Bereichen (z.B. Art. 5 Abs. 3 RL 2011/95/EU) sowie im Bereich der Terrorismusabwehr ist dieses Risiko bereits verwirklicht worden (Art. 14 Abs. 4 und 5 RL 2011/95/EU). Auffallend ist, dass die Richtlinie 2011/95/EU ebenso wie die ursprüngliche Richtlinie 2004/83/EG zwar die einzelnen begrifflichen Elemente des Flüchtlingsbegriffs – wie den Begriff der Verfolgung (Art. 9) einschließlich des Wegfalls des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 8) und die Anknüpfung der Verfolgung an die Konventionsgründe (Art. 10) – definiert, nicht jedoch den Begriff der Furcht vor Verfolgung.480 Da die Richtlinie für die Praxis der Mitgliedstaaten den völkerrechtlichen Flüchtlingsbegriff als Referenzrahmen des Sekundärrechts macht, ist dieser in der Praxis vollständig zu berücksichtigen. In den verfahrensrechtlichen Bestimmungen wird angeordnet, dass die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter zu berücksichtigen sind, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände, die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung gleichzusetzen sind (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2011/95/EU). Die Verfolgung nach § 3a AsylVfG ist Teilelement des Begriff der Verfolgungsfurcht und entsprechend auszulegen. Maßgebend ist, ob der Antragsteller eine begründete Furcht vor einer Verfolgung hat, wie sie in Art. 9 RL 2011/95/EU und § 3a AsylVfG inhaltlich bestimmt wird. Der Staatenpraxis zur GFK und dem Zweck der GFK entsprechend steht daher am Ausgangspunkt der Prüfung die Furcht vor Verfolgung. Alle für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen und Umstände sind aufzuklären (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2011/95/EU). Entsprechend der insbesondere in der angelsächsischen Staatenpraxis entwickelten Dogmatik, die bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft nach der »Verfolgungshandlung« (§ 3a AsylVfG) den »Wegfall des nationalen Schutzes« (§ 3c bis 3e AsylVfG) und im Anschluss daran den Kausalzusammenhang mit den Verfolgungsgründen (§ 3b AsylVfG) behandelt, ist im Anschluss an die Verfolgung der in Art. 6 bis 8 geregelte Wegfall des nationalen Schutzes (§ 3c bis § 3e AsylVfG) und anschließend der kausale Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen (Art. 9 Abs. 3 in Verb. mit 10, § 3b AsylVfG) zu prüfen. 480 Umfassende Darstellung der Richtlinie Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012. 143 2. Subsidiärer Schutz § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG macht den subsidiären Schutz vollständig zum Gegenstand des Asylverfahrens und insbesondere auch zum Inhalt des Antragsbegriffs (§ 13 Abs. 2 AsylVfG). Die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes werden wie die Asylberechtigung und der Flüchtlingsstatus im Asylverfahren ermittelt (§ 4 Abs. 1 2. Hs., Abs. 3 AsylVfG) und wie die flüchtlingsrechtliche Statusentscheidung (§ 3 Abs. 4 1. Hs. AsylVfG) verbindlich festgestellt (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die Ausländerbehörde wird auf den bloßen Vollzug der Entscheidung beschränkt. Der subsidiäre Schutz war hingegen bis zum 30. November 2013 nur unzulänglich umgesetzt worden. Das Bundesamt stellte fest, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 5 oder Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F. (Umsetzung von Art. 15 RL 2011/95/EU) vorlag. Anschließend erteilte die Ausländerbehörde die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, wenn keine Ausschlussgründe (§ 25 Abs. 3 Satz 2 2. Hs. AufenthG) vorlagen. Nunmehr prüft das Bundesamt die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz AsylVfG (Umsetzung von Art. 15 RL 2011/95/EU)) sowie die Ausschlussgründe (§ 4 Abs. 2, Abs. 4 AsylVfG) und stellt fest, ob subsidiärer Schutz zu gewähren ist (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die Ausländerbehörde erteilt die Aufenthaltserlaubnis. Anders als früher erhalten subsidiär Schutzberechtigte wie Flüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Die Rechtsstellung in den einzelnen Fachgesetzen knüpft an diese Aufenthaltserlaubnis an. Der Gesetzgeber hat damit im weiten Umfang das Ziel der Änderungsrichtlinie 2011/95/EU, subsidiär Schutzberechtigter mit Flüchtlingen rechtlich gleichzustellen, vollzogen. Durch § 104 Abs. 9 Satz 1 AufenthG wird sichergestellt, dass bei Altfällen die frühere Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG a.F. in eine nach § 25 Abs. 2 AufenthG umgewandelt wird, um auch die nach früherem Recht anerkannten subsidiär Schutzberechtigten in den Genuss der geltenden Rechtsstellung für diese Personengruppe kommen zu lassen. Die Richtlinie 2011/95/EU konzipiert den subsidiären Schutz (Art. 18) als Kategorie des »internationalen Schutzes« (Art. 2 Buchst. a)). Dem trägt der Gesetzgeber mit § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG Rechnung. Das Adjektiv „subsidiär“ bezieht sich auf den Flüchtlingsschutz, der Vorrang gegenüber dem subsidiären Schutzstatus hat. Subsidiär ist jedoch auch der Flüchtlingsschutz wie auch insgesamt der internationale Schutz gegenüber dem nationalen Schutz.481 Nach Erwägungsgrund Nr. 33 sollen Mindestnormen für die Merkmale des subsidiären Schutzes festgelegt werden. Der subsidiäre Schutzstatus soll die in der GFK festgelegte Schutzregelung für Flüchtlinge ergänzen. Es werden Kriterien eingeführt, die als Grundlage für die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus dienen. Die Kriterien sollen „völkerrechtlichen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte und bestehenden Praktiken in den Mitgliedstaaten entsprechen (Erwägungsgrund Nr. 35). Bis zur Inkraftsetzung der Ursprungsrichtlinie 2004/83/EG gab es keine speziellen unionsrechtlichen Vorschriften zum subsidiären Schutz. Bis dahin bestehende Verfahren in den Mitgliedstaaten wurden unter dem Begriff „de facto“-Flüchtlinge zusammengefasst, hatten aber als Ergebnis dramatisch unterschiedliche Schutzstandards zur Folge. Ungeachtet der seit Beginn der 1970er Jahre erhobenen Forderungen für eine einheitliche europäische Lösung ließ diese bis zur Verabschiedung der Rechtsakte der Union zum Gemeinsamen Asylsystem nach 2001 auf sich warten. Mit der Richtlinie 2004/83/EG unternahm die Union erstmals den Versuch, ein komplementäres oder subsidiäres Schutzsystem einzuführen, das zum System des Flüchtlingsschutzes hinzu trat.482 Jedoch sehen die EMRK und die Rechtsprechung des Zum Ganzen Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, S. 493 ff. Goodwin-Gill/ McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl., 2007, S. 325; McAdam, IRLJ 2005, 461. 481 482 144 EGMR einen rechtlich verbindlichen Rahmen vor, der maßgeblich für die Wahl der Kategorien von Begünstigten ist. Der Europarat hat darüber hinaus in einer Reihe von Beschlüssen die Anwendung gemeinsamer Kriterien für Personen vorgeschlagen, die zwar nicht unter die GFK fallen, aber gleichwohl internationalen Schutz benötigen Parliamentary Assembly Recommendation 773 (1976) on the Situation of De Facto Refugees, 817 (1977) on Certain Aspects of the Right to Asylum, Recommendation 1327 (1977) on the Protection and Reinforcement of the Human Rights of Refugees and Asylum Seekers in Europe, Recommendation 1525 (2001) on the UNHCR and the Fiftieth Anniversary of the Geneva Convention, Committee of Ministers, Recommendation (2001) 189). Demgemäß begründet die Kommission ihren Vorschlag, den subsidiären Schutzstatus einzuführen, damit, dass es in der Union keine speziellen Vorschriften zum subsidiären oder komplementären Schutz gebe. Jedoch würden die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR einen rechtlich verbindlichen Rahmen vorsehen, der maßgeblich für die Bestimmung der Berechtigten dieses Status sei.483 Folgerichtig erinnert Erwägungsgrund Nr. 34 RL 2011/95/EU die Mitgliedstaaten an ihre internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte. Daher schaffen die Regelungen zum subsidiären Schutz keine völlig neuen Rechtskategorien schutzbedürftiger Personen. Vielmehr dienen die in Art. 15 RL 2011/95/EU entwickelten Kategorien der Klarstellung und Kodifizierung der bestehenden Praxis in den Mitgliedstaaten. Die Richtlinie greift eine internationale Tendenz auf und regelt diese für die Praxis der Mitgliedstaaten verbindlich. Daneben verbleibt den Mitgliedstaaten die Kompetenz beim nationalen subsidiären Schutz. In der Bundesrepublik ist dieser in § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geregelt und wird vom Bundesamt nur behandelt, wenn ein Asylantrag im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylVfG gestellt wird (§ 24 Abs. 2, § 31 Abs. 3 AsylVfG). Wird kein Asylantrag gestellt, ist die Ausländerbehörde originär zuständig, hat aber das Bundesamt zwingend zu beteiligen (§ 72 Abs. 2 AufenthG). G. Aufenthaltsbeendigung I. Erlöschensgründe Der Aufenthaltstitel erlischt nach § 51 Abs. 1 AufenthG im Falle des Ablaufs seiner Geltungsdauer (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) einschließlich der nachträglichen Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), des Eintritts einer auflösenden Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), der Rücknahme des Aufenthaltstitels (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG), des Widerrufs des Aufenthaltstitels (§ 52 AufenthG), der Ausweisung (§§ 53–56 AufenthG), der Bekanntgabe einer Abschiebungsanordnung (§ 58a AufenthG), der nicht nur vorübergehenden Ausreise (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG) und wenn nach Erteilung eines Aufenthaltstitels nach §§ 22, 23 oder 25 Abs. 3–6 AufenthG ein Asylantrag gestellt wird (§ 51 Abs. 1 Nr. 8 AufenthG). II. Auflösende Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) Nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel im Falle des Eintritts einer auflösenden Bedingung. Es handelt sich um eine auflösende Bedingung im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG. § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bekräftigt lediglich einen allgemeinen Grundsatz. Danach wird der Verwaltungsakt unwirksam, wenn die auflösende Bedingung eintritt (vgl. § 158 Abs. 2 BGB). Der Verwaltungsakt kann später auch nicht infolge eines Rechtsbehelfes wieder aufleben.484 Darin unterscheidet sich die auflösende Bedingung von dem Verwaltungsakt, mit dem die Geltungsdauer eines Aufenthaltstitels beendet wird. In 483 484 Kommissionsentwurf KOM(2001)510 endg.; Ratsdok. 13620/01, in: BR-Drs. 1017/01, S. 28. BVerwGE 89, 357 (359) = NVwZ 1992, 570. 145 diesem Fall tritt eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht ein, wenn der Verwaltungsakt durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Die auflösende Bedingung muss dem Bestimmtheitserfordernis genügen. So wird es zwar für zulässig erachtet, als auflösende Bedingung die Einreichung einer Klage auf Scheidung oder die Auflösung oder den Eintritt der Ungültigkeit der Ehe zu bestimmen. Nicht hinreichend bestimmt ist jedoch die auflösende Bedingung, dass einer der Ehegatten gegenüber der Ausländerbehörde eine Erklärung darüber abgibt, dass die häusliche Gemeinschaft der Eheleute aufgehoben wurde, weil eine derartige Auflösung auch lediglich vorübergehender Natur sein kann und häufig auch ist.485 Darüber hinaus darf die auflösende Bedingung nicht verfügt werden, wenn dies auf eine unzulässige Umgehung einer in der konkreten Situation vom Gesetz angeordneten künftigen Ermessensausübung hinausläuft. Das ist etwa bei einer Eheauflösung der Fall, weil hier nach Ermessen über die nachträgliche Befristung zu entscheiden ist.486 Ebenso stellt die auflösende Bedingung „Aufenthaltstitel erlischt bei Sozialhilfebezug“ eine Umgehung des § 12 Abs. 2 AufenthG dar, weil diese Regelung die Sicherung des Lebensunterhaltes sicherstellen will und deshalb als Spezialregelung gegenüber einer auflösenden Bedingung zu verstehen ist.487 Der Erlass der auflösenden Bedingung ist anfechtbar.488 Da die Anordnung zumeist nicht in Form eines schriftlichen Verwaltungsaktes mit Rechtsbehelfsbelehrung erfolgt, können Rechtsbehelfe innerhalb der Jahresfrist (§ 58 Abs. 2 VwGO) eingelegt werden. Bei der Verknüpfung einer statusbegründenden Verfügung (Aufenthaltstitel) mit einer auflösenden Bedingung entspricht allein die Zulassung einer Anfechtung der Nebenbestimmung verbunden mit der Wirkung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO den Interessen der Beteiligten und der Rechtslage.489 Die Anfechtbarkeit der Nebenbestimmung hat mithin keinen Einfluss auf den Bestand des von der Behörde mit sofortiger Wirkung verfügten Bescheides. Demgegenüber entfällt wegen des unmittelbaren Eintritts der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit der Rechtsschutz, wenn die auflösende Bedingung eintritt.490 Trotz Ablaufs des Aufenthaltstitels kann die Anordnung einer auflösenden Bedingung nichtig sein mit der Folge, dass der frühere Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels und damit die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG wieder auflebt. Greift der Beteiligte die Beifügung der auflösenden Bedingung an, so ist deren Wirksamkeit ausgesetzt. Deshalb ist es unschädlich, wenn während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens die auflösende Bedingung eintritt.491 III. Nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) Der Aufenthaltstitel erlischt, wenn seine Geltungsdauer abgelaufen ist (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dadurch entsteht die Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG. Die Behörde kann diese Wirkung auch durch einen Verwaltungsakt, die 485 486 487 488 489 490 491 VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (125); so auch Hess. VGH, InfAuslR 2003, 418 (419). VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (126). Hess. VGH, InfAuslR 2003, 418 (419). VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124). VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124). VG Minden, InfAuslR 1999, 352. VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124). 146 nachträgliche Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, herbeiführen, wenn eine für die Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels wesentliche Voraussetzung nachträglich entfallen ist. Die Entscheidung liegt im behördlichen Ermessen. Die Wirksamkeit der den rechtmäßigen Aufenthalt beendenden nachträglichen Befristung des Aufenthaltstitels wird unbeschadet der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage nicht berührt (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Der Aufenthaltstitel wird demnach durch die Verfügung zeitlich beschränkt. Dadurch wird zugleich die Ausreisepflicht begründet (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Diese ist ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verfügung allerdings nicht vollziehbar (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Anders als die Ausweisung begründet die nachträgliche Befristung ebenso wenig wie der Ablauf der Geltungsdauer eines Aufenthaltstitels eine Sperrwirkung für die Einreise.492 Wird die nachträgliche Befristung durch eine behördliche oder eine unanfechtbare gerichtliche Entscheidung aufgehoben, so ist eine Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthaltes nicht eingetreten (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt lediglich für befristete Aufenthaltstitel. Die Niederlassungserlaubnis kann nicht nachträglich befristet werden (§ 9 Abs. 1 Satz 2 2. Hs. AufenthG). Liegen von Anfang an die für die Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels maßgebenden Voraussetzungen nicht vor, kommt nicht die nachträgliche Befristung, sondern die Rücknahme nach § 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG i.V.m. § 48 VwVfG in Betracht. Die nachträgliche Befristung ist unzulässig, wenn der Betroffenen aus einem anderen Grund ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erwachsen ist.493 Widerspruch und Klage gegen die nachträgliche Befristung haben aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO. Der Eintritt des Suspensiveffektes hemmt lediglich die Vollziehung, beseitigt indes nicht die Ausreisepflicht (§§ 50 Abs. 1, 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). § 84 Abs. 1 AufenthG ordnet den Wegfall der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Versagung der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels an und ist deshalb auf Rechtsbehelfe gegen die nachträgliche Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht anwendbar.494 Auch wenn der Betroffene sich im Ausland aufhält, ist der Erlass der Abschiebungsandrohung zulässig, sofern nicht eine auf Dauer gerichtete 495 Aufenthaltsbeendigung seitens des Betroffenen unterstellt werden kann. Da die nachträgliche Befristung in eine bestehende Rechtsposition eingreift, sind Widerspruch und Anfechtungsklage zu erheben. Die unter Vorbehalt der Aufhebung der Ausweisung bzw. der Zurückweisung des ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrags angeordnete sofortige Vollziehung der nachträglichen Befristung wird für zulässig erachtet. Es sei nicht zu beanstanden, wenn die Behörde durch die nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis unabhängig vom Ausgang des Ausweisungsverfahrens eine sofortige Aufenthaltsbeendigung erreichen wolle.496 Maßgebend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der nachträglichen Befristung ist nach überwiegender Ansicht die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten 492 BVerwGE 106, 302 (305) = EZAR 030 Nr. 6 = NVwZ 1998, 740 = InfAuslR 1998, 285. 106, 302 (305) = EZAR 030 Nr. 6 = NVwZ 1998, 740 = InfAuslR 1998, 285. BayVGH, InfAuslR 2003, 2. 12BVerwGE 493 494 Hess. VGH, AuAS 1997, 134 = EZAR 622 Nr. 29; OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 122 (123 f.); OVG NW, AuAS 2004, 242 VGH BW, InfAuslR 1997, 358 (359) = EZAR 622 Nr. 30 = VBlBW 1997, 434. 495 OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643 (646). 496 OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643 (645). 147 verwaltungsbehördlichen Entscheidung.497 Das gilt auch dann, wenn die Behörde den Aufenthaltstitel nicht zu einem bestimmten Datum, sondern bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit der Verfügung nachträglich befristet. Auch in diesem Fall wird die Befristung als rechtsgestaltende Maßnahme mit Bekanntgabe der Verfügung sofort wirksam mit der Folge, dass nach Erlass der Widerspruchsentscheidung eintretende Umstände unberücksichtigt bleiben. Demgegenüber wird vertreten, dass – sofern die Beschränkung zu einem früheren Zeitpunkt wirksam werden soll – für diesen Zeitpunkt festzustellen sei, ob eine wesentliche Voraussetzung im Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG entfallen sei. 498 Überwiegend wird indes die rückwirkende nachträgliche Befristung für unzulässig angesehen. Die Behörde kann die sofortige Vollziehung der nachträglichen Befristung des Aufenthaltstitels nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO anordnen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die gefestigte Rechtsprechung des BVerfG, derzufolge mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „stets ein besonderes, über die Voraussetzungen für die Ausweisung selbst hinausgehendes Erfordernis vorliegen muss“,499 fordert die obergerichtliche Rechtsprechung in diesem Fall, dass die Behörde ein besonderes, über die 500 Voraussetzungen für die Befristung hinausgehendes öffentliches Interesse darzulegen hat. Gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen. Der Antrag muss einen rechtlichen Vorteil schaffen können. Das ist nicht der Fall, wenn bereits aus anderen Gründen die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht eingetreten ist. Dies führt insbesondere bei Inhabern befristeter Aufenthaltstitel häufig zu Problemen. Selbst wenn die nachträgliche Befristung aufgehoben wird und deshalb nach § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG keine Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthaltes eingetreten ist, erlischt bei einem befristeten Aufenthaltstitel wegen des Eintritts der Unwirksamkeit des Aufenthaltstitels durch den Ablauf der Geltungsdauer das Aufenthaltsrecht (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG)501 und entsteht damit eine vollziehbare Ausreisepflicht. Daher ist im Falle der nachträglichen Befristung eines befristeten Aufenthaltstitels stets vor dem Ablauf der Geltungsdauer der Verlängerungsantrag zu stellen. Da nach dem Erlöschen des Aufenthaltstitels wegen der nachträglichen Befristung die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 4 AuslG nicht Anwendung findet, ist das weitere Aufenthaltsrecht durch einen einstweiligen Anordnungsantrag nach § 123 VwGO sicherzustellen. In diesem auf den Verlängerungsanspruch zielenden Verfahren wird im Grunde genommen ein Prüfungsdurchgriff auf die Verfügung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorgenommen werden müssen. Muster: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zur Sicherstellung des weiteren Aufenthaltes bei Ablauf der befristeten Aufenthaltserlaubnis bei nachträglicher Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG An das Verwaltungsgericht 497 BVerwG, NVwZ 1992, 177 = InfAuslR 1991, 268 = EZAR 103 Nr. 16; Hess. VGH, EZAR 103 Nr. 17; VGH BW, NVwZ-RR 2003, 385, . 498 OVG NW, AuAS 2004, 242. 499 BVerfG (Kammer), NVwZ 1996, 58 (59). 500 BayVGH, AuAS 1999, 170 (171); Hess. VGH, AuAS 1997, 134 (135) = EZAR 622 Nr. 29; OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 122; VGH BW, InfAuslR 1997, 358 (359 f.) = EZAR 622 Nr. 30. 501 VG Frankfurt/M., Urt. v. 4.11.1999 – 1 E 2175/98; bestätigt durch Hess. VGH, Beschl. v. 13.1.2000 – 12 UZ 97/00. 148 Antrag nach § 123 VwGO der marokkanischen Staatsangehörigen – Antragstellerin – gegen das Land Hessen, vertreten durch den Landrat des Kreises – Antragsgegner – Unter Vollmachtsvorlage stelle ich den Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO den Antragsgegner zu verpflichten, die Abschiebung bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Verfahren gegen die nachträgliche Befristung auszusetzen. IV. Widerruf (§ 52 AufenthG) § 52 AufenthG regelt die Widerrufsgründe abschließend. Die allgemeinen Verfahrensvorschriften über den Widerruf sind damit nicht ergänzend anwendbar. Über den Widerruf ist nach Ermessen zu entscheiden. Wird hiervon abgesehen, ist dies in den Akten zu vermerken. Eine erneute Prüfung von Widerrufsgründen ist danach nur zulässig, wenn neue Umstände aufgetreten sind. Ist es dem Betroffenen unmöglich, in zumutbarer Weise einen Pass zu erlangen (vgl. § 52 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), wird über den Widerruf unter Berücksichtigung des aufenthaltsrechtlichen Status entschieden. Sofern die Behörde vom Widerruf absieht, hat sie eine Bescheinigung über den Aufenthaltstitel nach § 48 Abs. 2 AufenthG zu erteilen. In Fällen von Asylberechtigten und Flüchtlingen setzt der Widerruf des Aufenthaltstitels (§ 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) den wirksamen Widerruf des Asylrechts bzw. des Status nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 AsylVfG voraus.502 Die Rechtsprechung erachtet allerdings den Ausspruch des Widerrufs des Aufenthaltstitels mit Wirkung für die Vergangenheit, und zwar bezogen auf den Zeitpunkt des Eintritts der Unanfechtbarkeit des asylrechtlichen Widerrufs für zulässig.503 Derartige Akrobatik hat sich mit § 75 Satz 2 und 3 AsylVfG erledigt. Denn die Behörde kann die sofortige Vollziehung des Widerrufs einer Aufenthaltserlaubnis anordnen. Grundsätzlich haben Rechtsmittel gegen den Widerruf aufschiebende Wirkung (vgl. § 84 Abs. 1 AufenthG). Der Widerruf begründet wegen der Erlöschenswirkung zwar die Ausreisepflicht des Betroffenen. Diese ist jedoch erst vollziehbar (vgl. § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), wenn der Widerruf vollziehbar ist. Die Behörde muss bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs besondere Gründe bezeichnen können. Die Begründung hat den selben Grundsätzen zu genügen, wie sie für die nachträgliche Befristung maßgebend sind.504 V. Rücknahme (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in Verb. mit § 48 VwVfG) Nach der Rechtsprechung kann der Aufenthaltstitel nach § 48 VwVfG zurückgenommen werden, wenn von Anfang an die für seine Erteilung maßgebenden Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.505 Eine Rücknahme kommt hingegen nicht in Betracht, wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt rechtswidrig erteilt worden ist und später zusätzlich eine Voraussetzung entfällt. Die Rückname kommt etwa in Betracht, wenn der Aufenthaltstitel aufgrund falscher Angaben oder Urkunden erlangt worden ist. Die Rücknahmevorschriften 502 VG Sigmaringen, InfAuslR 1999, 47. OVG NW, InfAuslR 2006, 427 (428). 504 VGH BW, EZAR 94 Nr. 2. 505 BVerwGE 98, 298 (305) = EZAR 019 Nr. 10 = NVwZ 1995, 1119; BayVGH, InfAuslR 2003, 54 (55); Hess. VGH, EZAR 033 Nr. 9; VG München, NVwZ-RR 2000, 722 (723); VG Wiesbaden, HessVGRspr. 1999, 781 (782); Hailbronner, AuslR, § 12 AuslG Rn 24; Nr. 12.2.2.0 AuslG-VwV; a.A. noch Hess. VGH, EZAR 103 Nr. 17, S. 7; VGH BW, InfAuslR 1989, 159 zur Rücknahme nach altem Recht. 503 149 werden insbesondere bei sog. Scheinehen angewendet, weil hier von Anfang an die Erteilungsvoraussetzungen nicht vorgelegen haben. Die Rücknahme eines Aufenthaltstitels ist nur bei einem von Anfang an rechtswidrigen Aufenthaltstitel zulässig. Hat der Betreffende die Rechtswidrigkeit zu vertreten, kann die Rücknahme auf den Zeitpunkt der Erteilung des Aufenthaltstitels angeordnet werden, im Übrigen mit Wirkung für die Zukunft. Enthält die Verfügung insoweit keine ausdrückliche Regelung, ist grundsätzlich von der Rückwirkung auszugehen.506 Bei nachträglich eintretender Rechtswidrigkeit kommt nicht die Rücknahme, sondern wegen der abschließenden Regelung in § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nur die nachträgliche Befristung in Betracht. Eine Änderung der Sach- und Rechtslage nach Erlass des Verwaltungsaktes kann zwar dazu führen, dass die Regelung in Widerspruch zum geltenden Recht gerät. Sie führt indes nicht zur Rechtswidrigkeit und Rücknehmbarkeit des Verwaltungsaktes.507 Will die Behörde eine rechtswidrig erteilte Aufenthaltserlaubnis zurücknehmen, hat sie bei der Ausübung des Rücknahmeermessens die für und gegen die Maßnahme sprechenden Gesichtspunkte zu identifizieren und gegeneinander abzuwägen. Die Rücknahme kann nur Bestand haben, wenn die Behörde die erforderliche Abwägung öffentlicher Interessen und schutzwürdiger privater Belange vorgenommen und dabei die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles berücksichtigt hat. Hat die Behörde die Rücknahme mit einer Ausweisungsverfügung verbunden, kann der Mangel des Rücknahnmeermessens wegen der unterschiedlichen Maßnahmen nicht mit Hinweis auf das Ausweisungsermessen geheilt werden. § 114 Satz 2 VwGO erlaubt nur die Nachholung defizitärer Ermessenserwägung im Prozess, nicht hingegen die erstmalige Ausübung des Rücknahmeermessens. Die Behörde hat im Rahmen des Rücknahmeermessens die in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführten Gesichtspunkte, die Grundrechte sowie die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen: Der Umstand, dass die Aufenthaltserlaubnis durch falsche Angaben und Vorlage einer unrichtigen Geburtsurkunde erschlichen wurde, schließt zwar eine Berufung auf Vertrauensschutz aus, ändert aber nichts am Erfordernis der Ausübung des Rücknahmeermessens. Dabei ist insbesondere auf die Folgen für die familiäre Lebensgemeinschaft Bedacht zu nehmen. Insbesondere hat die Behörde zu berücksichtigen, dass durch eine rückwirkende Rücknahme Auswirkungen auf staatsangehörigkeitsrechtlichen Erwerbstatbestand eines Kindes (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) eintreten können.508 Die Rechtsprechung des BVerwG kann aber nicht auf diesen Fall beschränkt werden. Vielmehr ist sie so zu verstehen, dass immer dann, wenn durch die Rücknahme das akzessorische Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen gefährdet wäre, eine besonders sorgfältige Ermessensausübung angezeigt ist. Dabei ist insbesondere dem aus Art. 8 EMRK fließenden Verwurzelungsanspruch Rechnung zu tragen. Keine Anwendung auf die Rücknahme finden die Grundsätze des intendierten Ermessens, bei der das Ermessen bereits vom Gesetz vorgezeichnet ist und deshalb ein bestimmtes Ergebnis dem Gesetz mit der Folge näher steht, dass nur ausnahmsweise eine Abwägung zwischen den öffentlichen und privaten Interessen erfolgt. Daher bedarf es bei der Rücknahme eines Aufenthaltstitels regelmäßig einer umfassenden Abwägung aller für und gegen die Rücknahme sprechenden Umstände, ohne dass ein Ergebnis für den Regelfall vorgezeichnet ist.509 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Rechtwidrigkeit im Sinne von § 48 VwVfG ist der Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Verfügung in Gestalt des Widerspruchsbescheides. Hat der Antragsteller vor der Rücknahme des Aufenthaltstitels einen Antrag auf Verlängerung 506 507 508 509 BVerwG, NVwZ 2007, 470 (471) = AuAS 2007, 3 (4) = ZAR 2007, 6. BayVGH, InfAuslR 2002, 54 (55); a.A. VG München, NVwZ-RR 2000, 722 (723). BVerwG, AuAS 2007, 3 (4). VGH BW, AuAS 2006, 149 (150 f.), bekräftigt durch BVerwG, AuAS 2007, 3 (4). 150 des Aufenthaltstitels gestellt, kann allein die Rücknahme die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht beenden. Dadurch wird die durch den Verlängerungsantrag ausgelöste Erlaubnisfiktion nicht beseitigt. Vorläufiger Rechtsschutz ist in diesem Fall nach § 80 Abs. 5 VwGO zu erlangen. Hinsichtlich der Versagungsverfügung ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs zu beantragen. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Rücknahme als solche richtet sich nach § 80 Abs. 5 VwGO. Denn gegen die Rücknahme ist Anfechtungsklage zu erheben. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der gebotenen Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung. Soweit nach Landesrecht ein Widerspruchverfahren vorgesehen und ein Widerspruch noch nicht ergangen ist, ist dies im Eilrechtsschutzverfahren der Zeitpunkt der Entscheidung der gerichtlichen Tatsacheninstanz.510 VI. Nicht nur vorübergehende Ausreise (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7, Abs. 2 und 9 AufenthG) Kraft Gesetzes erlischt der Aufenthaltstitel im Falle der nicht nur vorübergehenden Ausreise. Ist die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels bereits vorher abgelaufen, erlischt dieser nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, sondern nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. 511 Im Falle des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG tritt die Erlöschenswirkung im Zeitpunkt der Ausreise, im Falle des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erst nach Ablauf von sechs Monaten ein. Die Wirkung tritt nur ein, wenn objektiv feststeht, dass der Betroffene nicht nur vorübergehend das Bundesgebiet freiwillig verlassen hat. Auf die subjektiven Vorstellungen beim Ausreiseentschluss kommt es nicht an. Die Ausreise setzt indes den freien Entschluss zur Ausreise voraus. Daran fehlt es, wenn der Betroffene zur Strafverfolgung an ein anderes Land ausgeliefert wird, ohne dass es dabei auf seinen eigenen Willen ankommt.512 § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG ist nicht auf Asylberechtigte513 und wegen der rechtlichen Gleichstellung der Konventionsflüchtlinge mit den Asylberechtigten anders als nach früherem Recht auch nicht auf Flüchtlinge anwendbar (vgl. auch § 51 Abs. 7 AufenthG). Der Beginn der Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG wird durch wiederholte Einreisen innerhalb der Sechs-Monats-Frist unterbrochen, wenn diese wiederholten Kurzaufenthalte im Bundesgebiet die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet bestehen bleibt.514 Vertreten wird aber, dass eine längere als sechs Monate dauernde Ausreise mit zwischenzeitlichen kurzfristigen Einreisen ohne Überschreitung der Sechs-Monats-Frist, nicht zu Unterbrechung führt, wenn keine dauerhafte Ausreiseabsicht besteht.515 Die Entscheidung über den Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG steht im behördlichen Ermessen. Im Hinblick auf Antragsteller mit einem befristeten Aufenthaltstitel wird dem Antrag stattgegeben, wenn ein gesetzlicher Verlängerungsanspruch besteht oder der Auslandsaufenthalt aus Ausbildungs-, Berufsausbildungsgründen oder dringenden persönlichen Gründen erforderlich ist. Dem Antrag eines Antragstellers, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, soll regelmäßig stattgegeben werden (§ 51 Abs. 4 AufenthG). In der Rechtsprechung ist umstritten, ob trotz Ablaufs der Sechs-Monats-Frist dem Betroffenen die Nachweismöglichkeit des lediglich vorübergehenden Auslandsaufenthalts verbleibt. Zwar kann eine längere Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG grundsätzlich nicht nachträglich bestimmt werden, um das Erlöschen des Aufenthaltstitels rückgängig zu machen.516 510 511 512 513 514 515 516 VGH BW, AuAS 2006, 149. VG Köln, InfAuslR 2006, 20. VG Hannover, NVwZ-Beil. 2003, 103 (104). Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 114.. OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 2004, 73 (74) = AuAS 2003, 16. OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 449 Hess. VGH, InfAuslR 1999, 454 (455) = EZAR 019 Nr. 12; a.A. VG Stuttgart, InfAuslR 1998, 30 151 Die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich als Arbeitnehmer oder Selbständiger mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, sowie die Niederlassungserlaubnis des Ehegatten erlöschen im Falle eines längeren Auslandsaufenthaltes nicht, wenn deren Lebensunterhalt gesichert ist und kein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 AufenthG vorliegt (§ 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Sicherung des Lebensunterhaltes kann durch eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG nachgewiesen werden und muss dem Umfang nach den gesamten weiteren ins Auge gefassten Aufenthalt im Bundesgebiet sichern.517 Ebenso wenig erlischt die Niederlassungserlaubnis eines mit einem Deutschen in ehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Ausländers nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG, wenn kein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 AufenthG vorliegt (§ 51 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies gilt auch für den ausländischen Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft mit einem Deutschen (§ 27 Abs. 2 in Verb. mit § 51 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). § 51 Abs. 3 AufenthG fordert die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht, sodass die vorübergehende Ausreiseverweigerung allein wegen der bestehenden Wehrpflicht das Aufenthaltsrecht nicht zum Erlöschen bringt.518 Sonstige negative Folgen der Wehrpflicht werden danach nicht berücksichtigt. Der Betroffene hat gegebenenfalls nachzuweisen, dass er sich wegen der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht länger als sechs Monate im Ausland aufgehalten hat und rechtzeitig wieder eingereist ist. Rechtsschutz ist durch die Feststellungsklage zu erreichen. Gegenstand des Verfahrens ist ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen dem Betroffenen und der Behörde aufgrund einer ausländerrechtlichen Norm. Es geht mithin um eine konkrete Rechtsbeziehung und damit um mehr als das allgemeine Verhältnis zwischen Bürger und Staat.519 Mit der Verpflichtungsklage kann das Klageziel nicht erreicht werden. Denn die Behörde beschränkt sich auf den Hinweis auf die Gesetzeslage nach § 51 Abs. 1 AufenthG. Durch den Antrag auf Erlass eines Verwaltungsaktes kann das klägerische Ziel ebenfalls nicht erreicht werden. Denn im Streit steht ja gerade, ob ein einmal erteilter Verwaltungsakt und das darauf beruhende konkrete Rechtsverhältnis fortbestehen. Einstweiliger Rechtsschutz ist über § 123 VwGO zu erlangen. Verbindet die Behörde den Hinweis auf die Gesetzeslage mit einer Abschiebungsandrohung oder erfolgt der Hinweis im Rahmen einer Versagungsverfügung, ist der Rechtsschutz im Rahmen der jeweiligen Verfügung anzustreben. Muster: Feststellungsklage und Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO bei Streit um die Beendigung des Aufenthaltstitels wegen nicht nur vorübergehender Ausreise An das Verwaltungsgericht Klage/ Antrag nach § 123 VwGO der brasilianischen Staatsangehörigen – Klägerin/Antragstellerin – gegen das Land Hessen, vertreten durch den Landrat des Kreises – Beklagter/Antragsgegner – Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage: Es wird festgestellt, dass die Niederlassungserlaubnis der Klägerin weiter fortbesteht. 517 518 519 OVG NW, AuAS 2002, 86 (87). OVG NW, AuAS 2002, 86 (87). VG Bremen, InfAuslR 2006, 198 (201 f.). 152 Zugleich wird beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO den Antragsgegner zu verpflichten, die Abschiebung bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Feststellungsverfahren auszusetzen. VII. Ausweisung (§ 53 bis 56 AufenthG) 1. Funktion der Ausweisung Die Ausweisung hat ordnungsrechtlichen Charakter und soll einer künftigen Störung vorbeugen, nicht aber ein bestimmtes Verhalten ahnden. Sie stellt weder eine Strafe noch eine strafähnliche Maßnahme dar, sondern ist an ordnungsrechtlich orientiert.520 Rechtsgrundlage für die Ausweisung sind die Vorschriften der § 53 bis § 56 AufenthG in Verbindung mit völkerrechtlichen Schutznormen sowie unabhängig von den nationalen Vorschriften gemeinschaftsrechtliche Normen. Ausweisungsverfügungen, die vor dem 1. Januar 2005 auf der Grundlage von § 45 bis 48 AuslG 1990 ergangen sind, werden nach § 53 bis 56 AufenthG beurteilt, wenn bis zum 1. Januar 2005 noch nicht über den Widerspruch entschieden worden ist.521 Eine rechtswidrige bestandskräftige Ausweisung führt regelmäßig nicht zu einem Rücknahmeanspruch, sondern nur zu einem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung des Rücknahmeantrags.522 Nur wenn die Aufrechterhaltung der Verfügung „schlechthin unerträglich“ wäre, ist die Rücknahme geboten.523 Die Ausweisung ordnet verbindlich an, dass der Betroffene das Bundesgebiet zu verlassen hat (§§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), und begründet eine Sperrwirkung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) für die Aufenthaltnahme.524 Im Hinblick auf ihre weiteren Rechtswirkungen erledigt sich die Ausweisung nicht mit der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland.525 Die Ausweisung setzt einen erlaubten Aufenthalt nicht voraus, hat andererseits aber das Erlöschen des Aufenthaltstitels zur Folge (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG). Das wirksame Erlöschen des Aufenthaltstitels setzt keine Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung voraus. Der Aufenthaltstitel erlischt danach nicht bereits mit Erfüllung des objektiven Ausweisungstatbestandes, sondern erst mit Erlass der Ausweisungsverfügung. In diesem Zeitpunkt wird der Aufenthalt unrechtmäßig, ohne dass es darauf ankommt, ob die Verfügung vollziehbar ist. Anders verhält es sich bei der aufschiebend bedingten Ausweisung eines Asylbewerbers (vgl. § 56 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Diese entfaltet ihre Rechtswirkung erst mit dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Die behördliche Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung führt zum wirksamen Erlöschen des Aufenthaltstitels (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), ohne dass es auf die Unanfechtbarkeit der Verfügung ankommt; Wegfall der Erlaubnisfreiheit nach § 51 Abs. 5 Satz 1 AufenthG; Wegfall der Fiktionswirkung (§ 81 Abs. 3 und 4 AufenthG); Eintritt der Sperrwirkung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) und begründet die 520 BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 58. OVG NW, NVwZ 2005, 968. 522 BVerwG, NVwZ 2008, 1024. 523 BVerwG, NVwZ 2007, 709. 524 BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285. 80BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285. 525 BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285. 521 153 Zurückweisungsbefugnis (§ 15 Abs. 1 AufenthG). Das BVerwG hat festgestellt, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt nicht die Sperrwirkung der Ausweisung entgegensteht526 und bezieht dies nicht lediglich auf § 25 Abs. 5 AufenthG. Im Übrigen besteht im Verfahren auf Befristung der Ausweisung ein Anspruch, eine Obergrenze für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens festzulegen.527 2. Systematik des Ausweisungsrechts Das Ausländerrecht unterscheidet zwischen der zwingenden Ausweisung (§ 53 AufenthG), der Regelausweisung (§ 54 AufenthG) und der Ermessensausweisung (§ 55 AufenthG). Die Ausweisung hat einen ordnungsrechtlichen Zweck, sodass der Gesetzgeber typisierende Ausweisungstatbestände festlegen darf.528 Bei den Personen, die besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG genießen, werden die zwingende und Regelausweisung auf die jeweils nachfolgende Ausweisungsebene heruntergestuft (§ 56 Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG). Nach der Rechtsprechung trägt damit bereits das Gesetz dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung. Weitere Härten können und müssen nach dem BVerwG gegebenenfalls im Wege der Duldung oder der Befristung gemildert werden. 529 Die Abweichung von der Regelausweisung setzt einen „atypischen Geschehensablauf“ voraus, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt.530 Ob die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines Regelfalles vorliegen, unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle, da es sich hierbei um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt.531 Nur wenn die Prüfung ergibt, dass ein atypisches Ausnahmegeschehen vorliegt, wird das Ausweisungsermessen nach § 55 Abs. 3 AufenthG eröffnet.532 Wird dies verneint, bleibt es bei der Regelausweisung. Ein Ermessen wird nicht eröffnet. Liegt ein Ausnahmetatbestand vor, steht die Ausweisung danach im behördlichen Ermessen und erfolgt nach Maßgabe des § 55 Abs. 3 AufenthG. Dabei ist auch der Ausweisungstatbestand nach § 54 AufenthG mit dem ihm zukommenden Gewicht in die Güter- und Interessenabwägung einzubeziehen. Es kommt ihm indes nicht von vornherein ein ausschlaggebendes Gewicht zu. Die Behörde kann jedoch auch die Entscheidung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, offen lassen und unmittelbar – negativ – nach Ermessen entscheiden.533 3. Besonderer Ausweisungsschutz Das starre System des Ausweisungsrechts führt in der Verwaltungspraxis dazu, dass nur ganz ausnahmsweise ein atypischer Regelfall angenommen wird. Um das Mandat erfolgreich bearbeiten zu können, ist daher nach besonderen Schutznormen zu forschen. Diese enthält das 526 BVerwGE 129, 226 (239 f.) = InfAuslR 2008, 71 = AuAS 2008, 26; so auch VG Freiburg, InfAuslR 2008, 222 (223), unter Hinweis auf Art-. 8 EMRK. 527 Hess.VGH 2008, 7 (8). 528 BVerwG, InfAuslR 2000, 105 (106) = NVwZ-RR 2000, 320 = EZAR 031 Nr. 6. 529 BVerwG, InfAuslR 2000, 105 (106) = NVwZ-RR 2000, 320 = EZAR 031 Nr. 6. 530 BVerwG, InfAuslR 1995, 5 (6); 1996, 54; OVG NW, NVwZ-Beil. 1998, 57 (58); VGH BW, InfAuslR 1995, 232 (233) 531 BVerwG, InfAuslR 1995, 5 (6); 1996, 54; Hess. VGH, EZAR 032 Nr. 3; 032 Nr. 6; OVG Bremen, EZAR 032 Nr. 8; a.A. Hailbronner, JZ 1995, 127 (128). 532 BVerwGE 101, 247 (257); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173. 533 BVerwGE 101, 247 (257); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173. 154 Gemeinschaftsrecht für Unionsbürger sowie langfristig Aufenthaltsberechtigte und damit auch das Assoziationsrecht für türkische Arbeitnehmer und deren Angehörige sowie Art. 8 EMRK für faktische Inländer. Damit wird für die Zukunft das rigide und menschenrechtsfeindliche deutsche Ausweisungssystem signifikant in seiner Bedeutung verlieren. a) Ausweisungsschutz für Unionsbürger und drittstaatsangehörige Familienmitglieder aa) Allgemeine Grundsätze § 6 FreizügG/EU hat das Recht zur Aufenthaltsbeendigung im Blick auf Gemeinschaftsbürger grundlegend verändert. An die Stelle der Ausweisung tritt nach § 6 FreizügG/EU die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts. Das FreizügG/EU gilt für alle Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellte Personen. Es erfasst auch Unionsbürger, die nicht freizügigkeitsberechtigt sind. Die Vorschriften des FreizügG/EU sind zur Durchführung der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts erlassen worden, insbesondere zur Durchführung von Art. 39 Abs. 3 EGV. Sie sind folglich im Sinne der entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH auszulegen. Danach sind Ausnahmen von dem Grundsatz der Freizügigkeit eng zu verstehen.534 Ebenso folgt dies aus dem Umkehrschluss aus § 11 Abs. 2 FreizügG/EU.535 Die entgegenstehende Rechtsprechung des BVerwG, die allerdings auf der Grundlage zu § 1, § 12 AufenthG/EWG erging und nach der zu prüfen war, ob der von einer Ausweisung Betroffene auch die Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts erfüllte, 536 ist damit nicht mehr anwendbar. Der EuGH hatte bereits im Blick auf § 12 AufenthG/EWG festgestellt, dass ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen Grundlage für eine Ausweisungsverfügung ist.537 Das FreizügG/EU setzt die Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) um. Maßgebend für die Auslegung und Anwendung deutschen Rechts sind die Vorschriften der Art. 27 ff. der Richtlinie. Diese führt einen dreistufigen Ausweisungsschutz ein. Zunächst bestimmt Art. 27 RL 2004/38/EG, unter welchen Voraussetzungen ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger und seine Familienangehörigen sein Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlieren kann. Diese Vorschrift nimmt die Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH auf. Mit der zunehmenden Verfestigung des Aufenthaltsrechts steigen die materiellen Anforderungen. Nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts, also nach einem rechtmäßigen fünf Jahre dauernden Aufenthalt (Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG) ist eine Ausweisung nur noch aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ zulässig (Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Nach einem zehnjährigen Aufenthalt darf die Ausweisung nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit verfügt werden (Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU). bb) Ausweisungsschutz nach Art. 27 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU Für den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz gilt, dass die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein den Verlust der Freizügigkeit nicht rechtfertigt (Art. 27 Abs. 1 RL 2004/38/EG § 6 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. FreizügG/EU). Vielmehr darf diese nur ausschließlich auf das persönliche Verhalten des betroffenen Unionsbürgers gestützt EuGH, InfAuslR 2004, 268 (272) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri. Hess.VGH, InfAuslR 2005, 130OLG Hamburg, InfAuslR 2006, 118 (119). 536 BVerwGE 121, 296 (311) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. 537 EuGH, InfAuslR 2006, 299 (301)= NVwZ 2006, 1151 = EZAR 10 Nr. 4 – Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland. 534 535 155 werden.538 Der rechtmäßige Verlust der Rechtsstellung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers setzt damit zunächst voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächlich und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU).539 Dieser Maßstab verweist anders als der polizeirechtliche Gefahrenbegriff nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss.540 Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. FreizügG/EU).541 Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.542 Ein Mitgliedstaat kann etwa den Verbrauch von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutze der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt. Auch insoweit hängt aber die Zulässigkeit der Ausweisung von den konkreten Umständen des Einzelfalls, insbesondere von dem persönlichen Verhalten des Betroffenen ab.543 Soweit die Rechtsprechung früher bei den gefährlichen und schwer zu bekämpfenden Rauschgiftdelikten pauschal einen Vorrang des Interesses am Schutz der Bevölkerung bejahte und deshalb insbesondere gegenüber Drogenhändlern die Anforderungen an einen spezialpräventiven Ansatz für die Ausweisung nicht hoch ansetzen wollte,544 ist diese überholt. Formelhafte behördliche Ausführungen zur Wiederholungsgefahr genügen nicht den Anforderungen an individualisierbare Feststellungen.545 Eine vom Einzelfall losgelöste Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.546 Ob die Begehung der Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich ebenfalls nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilen. Anhaltspunkte hierfür können sich insbesondere auch aus einer Verurteilung wegen der in § 53, § 54 AufenthG bezeichneten Straftaten ergeben. Dies ist indes nicht im Sinne einer Regelvermutung zu verstehen. Erforderlich und ausschlaggebend ist vielmehr in jedem Fall die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und die insoweit anzustellende Gefährdungsprognose. Das Erfordernis der 538 BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Hinweis auf EuGH, NVwZ 2004, 1099. 539 EuGH, NVwZ 2004, 1099 (1101); EuGH, EZAR 810 Nr. 1 = NJW 1983, 1250; BVerwGE 57, 61 (64) = EZAR 126 Nr. 1; VGH BW, EZAR 124 Nr. 12. 540 BVerwGE 121, 296 (304 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. 541 EuGH, NVwZ 2004, 1099 (1101). 542 BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Verweis auf EuGH, Slg. 1975; 297 = NJW 1975, 1096; so bereits BVerwGE 49, 60 = NJW 1976, 494; BVerwG, InfAuslR 1988. 543 BVerwGE 121, 296 (305) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18 544 VGH BW, InfAuslR 2001, 206 (207); OVG NW, InfAuslR 2004, 224 (227 f.); s. aber VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 66. 545 VG Hamburg, InfAuslR 2002, 188 (189). 546 BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Verweis auf EuGH, Slg. 1975; 297 = NJW 1975, 1096; so bereits BVerwGE 49, 60 = NJW 1976, 494; BVerwG, InfAuslR 1988. 156 gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach Art. 27 Abs. 2 2. UAbs. RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU besagt nicht, dass eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene künftig die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 39 Abs. 3 EGV beeinträchtigen wird.547 Ob eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nicht gleichsam automatisch – bereits aus der Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung – geschlossen, sondern nur aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Dabei sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist u.a., ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird, und was gegebenenfalls aus einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) folgt. Fehlt es danach bereits an einer gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für wichtige Rechtsgüter, so darf die Feststellung des Verlustes der Rechtsstellung nicht verfügt und aufrechterhalten werden.548 Nach der Rechtsprechung kann eine auf konkreten Prognosetatsachen beruhende Wiederholungsgefahr bei schwerwiegender Kriminalität auch dann nicht ohne weiteres unterstellt werden, wenn sich der Betroffene nach der Begehung der letzten Straftat etwa über mehrere Jahre straffrei verhalten und jedenfalls für diesen Zeitraum die Prognose widerlegt hat, er könne rückfällig werden. Selbst wenn der geltend gemachten Stabilisierung auch während der Haftzeit keine besondere Bedeutung zuzumessen wäre, so fehlt es doch in Ansehung des mehrjährigen straffreien Aufenthalts an brauchbaren Anhaltspunkten für die Annahme, der Betroffene werde nach Haftentlassung erneut versuchen, seinen Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch Straftaten zu finanzieren.549 Die gebotene Prognose erfordert daher stets zureichende individualisierbare Feststellungen,550 wozu insbesondere auch eine persönliche Anhörung des Betroffenen gehört.551 Die Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) steht einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung grundsätzlich entgegen.552 Für die Strafaussetzung der Reststrafe (§ 57 StGB) gilt dies indes nicht.553 Sie kann jedoch gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr sprechen.554 Die Gefahrenprognose der Ausländerbehörde darf sich im Hinblick auf die vom Strafgericht oder vom Bewährungshelfer festgestellte günstige Sozialprognose insbesondere nicht als unzutreffend erweisen.555 cc) Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte (Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 4 FreizügG/EU) 547 BVerwGE 121, 296 (305 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. BVerwGE 121, 296 (306) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18. 549 Hess. VGH, InfAuslR 2004, 144 (146). 550 VG Hamburg, InfAuslR 2000, 432. 551 VG Hamburg, InfAuslR 2002, 188 (189), gegen OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 420 (421) = EZAR 034 Nr. 10. 552 BVerwGE, 57, 61 (66 f.); BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1120); VGH BW, InfAuslR 2001, 206 (207): 553 BVerwG, InfAuslR 1988, 1; VGH BW, InfAuslR 1992, 158 (159); OVG NW, InfAuslR 2004, 195 (196). 554 BVerwG, InfAuslR 1988, 1 (2). 555 Hess.VGH, EZAR 034 Nr. 1; a.A. OVG NW, InfAiuslR 2004, 195 (196). 548 157 Nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG dürfen gegen daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen eine Ausweisung nur aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ verfügen. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU setzt diese Norm um. Nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erwerben Unionsbürger und deren Familienangehörigen bzw. Lebenspartner das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Die Gesetzesbegründung enthält allerdings keine Hinweise darauf, wie dieser Auseisungsschutz inhaltlich konkretisiert werden kann. Aus der Entstehungsgeschichte wird indes deutlich, dass es sich um einen besonders starken Ausweisungsschutz handelt. Zwar wollte die Kommission für die Daueraufenthaltsberechtigten die Ausweisung völlig ausschließen. Mit dieser Auffassung konnte sie sich jedoch nicht durchsetzen.556 Es muss aber davon ausgegangen werden, dass Daueraufenthaltsberechtigte nur noch unter ganz besonders strengen Voraussetzungen ausgewiesen werden können. Die Ausweisungsschwelle liegt zwischen der erheblichen Gefahr (Art. 27 Abs. 2 2. UAbs. RL 2004/38/EG) und den zwingenden Gründen des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG. dd) Zwingende Gründe nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU Nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG darf eine Ausweisung gegen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, sowie gegen minderjährige Unionsbürger nur noch aus zwingenden Gründen verfügt werden. Die Einbeziehung der drittstaatsangehörigen Familienangehörigen § 6 Abs. 5 FreizüG/EU in den Schutz der dritten Stufe ist nach Art. 37 RL 2004/38/EG zulässig.557 Bei Minderjährigen wird kein Mindestaufenthalt vorausgesetzt. Der Begriff der „zwingenden Gründe“ ist erheblich enger als der der „schwerwiegenden Gründe“ und erfordert einen „besonders hohen Schweregrad“ der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit.558 Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/38/EG verlangt keinen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt.559 Bei Auslandsaufenthalten kommt es unter Berücksichtigung von Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG auf die Gesamtdauer, die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die hierfür maßgeblichen Gründe an. Maßgeblich ist. ob sich aufgrund der Abwesenheiten der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen verlagert hat. Der Umstand, dass er zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe zwangsweise in den Aufnahmemitgliedstaat zurück gebracht wurde und die Haftzeit, können für die Prüfung heran gezogen werden, ob die Integrationsverbindungen abgerissen sind.560 Die Vorschrift erfordert kein Durchlaufen der vorangegangenen Stufen und damit den Nachweis des Daueraufenthaltsrechts.561 Die zwingenden Gründe müssen durch die Mitgliedstaaten festgelegt werden. In Abgrenzung zu den beiden ersten Stufen muss es sich um außergewöhnlich schwere Straftaten handeln. Nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU können zwingende Gründe nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtkräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr 556 Hailbronner, ZAR 2004, 299 (303). Welte, ZAR 2009, 336 (342). 558 EuGH, InfAuslR 2011, 45 (47) = NVwZ 2011, 221 Rn 40 f. – Tsakouridis. 559 VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357); Welte, ZAR 2009, 336 (342). 560 EuGH, InfAuslR 2011, 45 (46) = NVwZ 2011, 221 Rn 33 f. und 38 – Tsakouridis. 561 VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357); a.A. Welte, ZAR 2009, 336 (342). 557 158 ausgeht. Bei mehreren Verurteilungen erfolgt keine Kumulation. Vielmehr muss eine dieser Verurteilung mindestens den Strafrahmen von fünf Jahren überschritten haben. 562 Es handelt sich lediglich um ein Mindeststrafmaß. Die Behörde hat anschließend zu prüfen, ob ein Schutzgut der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik betroffen ist 563 und eine Wiederholungsgefahr besteht. Die abstrakt auf den Strafrahmen abstellende Fallgruppe ist mit Unionsrecht unvereinbar.564 Vielmehr ist stets nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung zu prüfen, ob eine außergewöhnlich schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit besteht. Der Begriff der öffentlichen Ordnung, der die Wahrung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zum Gegenstand hat, unterscheidet sich wesentlich vom Begriff der öffentlichen Sicherheit. Daher ist es verfehlt, in den Gründen der öffentlichen Sicherheit lediglich eine quantitative Steigerungsform der Gründe der öffentlichen Ordnung zu sehen.565 Als Ausnahme von der durch die Grundfreiheiten etablierten Freizügigkeit ist der Begriff der öffentlichen Sicherheit eng auszulegen.566 Es handelt sich um einen unionsrechtlich auszulegenden Begriff, sodass seine Tragweite nicht einseitig von jedem Mitgliedstaat ohne Nachprüfung der Organe der Gemeinschaft bestimmt werden darf.567 Der Begriff der öffentlichen Sicherheit, auf den sich § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU bezieht, ist nicht im Sinne des allgemeinen Polizeirechts zu verstehen, sondern verweist auf die innere und äußere Sicherheit des Staates. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit kann als Beschränkung der Freizügigkeit nur geltend gemacht werden, wenn für die Existenz des Staates wesentliche Belange gefährdet sind.568 Dabei umfasst dieser sowohl die äußere wie auch die innere Sicherheit des Staates, der sich auf sie beruft.569 Die innere Sicherheit umfasst den Bestand des Staates, seiner Einrichtungen und wichtigen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung.570 Der betroffene Staat darf sich hierbei allerdings nicht auf die bloße Feststellung einer möglichen Gefährdung seiner Einrichtungen beschränken. Vielmehr muss er auch qualifiziert dartun, dass eine Anwendung der unionsrechtlichen Regeln der Freizügigkeit solche Folgen für seine innere Sicherheit zeitigen würde, die er trotz der ihm zur Verfügung stehenden Mittel nicht anders abwenden könnte und denen er trotzdem nicht gewachsen wäre.571 Grundsätzlich beschränkt der EuGH den Begriff der zwingenden Gründe auf den engen Sicherheitsbegriff und bestätigt damit die Rechtsprechung und Lehre, wonach die Ausweisung wegen zwingender Gründe nicht dem privaten Rechtsgüterschutz, sondern nur dem Schutz des Bestands und der Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen und den zwischenstaatlichen Beziehungen dient, sodass insbesondere die Verurteilung wegen eines Staatsschutzdeliktes und terroristischer Aktivitäten eine Ausweisung aus zwingenden Gründen rechtfertigen kann.572 Eine Ausnahme macht der EuGH 562 BayVGH, InfAuslR 2009, 267 (268). VGH BW, InfAuslR 2008, 439. 564 EuGH, InfAuslR 2011, 45 (48) = NVwZ 2011, 221 Rn 51 – Tsakouridis; Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33 f. 565 Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33. 566 EuGH, Rs. C-348/96 – Calfa, Slg. 1999, I-11, Rn 20 ff. 567 EuGH, Rs. 41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn 18/19; Rs. 36/75 – Rutili, Slg. 1975, 1219, Rn 26/28; Rs. 30/77 – Boucherau, Slg. 1977, 1999, Rn 33/35. 568 EuGH, Rs. 72/83 – Campus Oil Limited, Slg. 1984, 2727, Rn 34. 569 EuGH, Rs. C-367/89 – Richardt, Slg. 1991, I-4621, Rn 22. 570 EuGH, Rs. 72/83 – Campus Oil Limited, Slg. 1984, 2727, Rn 34. 571 EuGH, Rs. 231/83 – Cullet, Slg. 1985, 305, Rn 33; Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I6959, Rn 55 f. 572 VGH BW, InfAuslR 2008, 439; VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (358); Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33 f.; Welte, ZAR 2009, 336 (342); VGH BW, InfAuslR 563 159 wegen des außergewöhnlichen Charakters der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit bei „bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln.“ Um zu beurteilen, ob bei einer Verurteilung wegen eines derartigen Deliktes die Ausweisung verhältnismäßig ist, „sind insbesondere die Art der begangenen Zuwiderhandlung, die Dauer des Aufenthaltes des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat, die seit der Begehung der Zuwiderhandlung vergangene Zeit und das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit sowie die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen“ zu berücksichtigen.573 Nicht der private Rechtsgüterschutz, sondern wie auch bei terroristischen Taten, rechtfertigt die aus den internationalen Vernetzungen folgende besonders schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit danach die Ausweisung. ee) Verbot der Anwendung der Ausweisungssystematik nach § 53 bis 56 AufenthG Nach der Rechtsprechung des EuGH stehen Art. 39 EGV und Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder einer innerstaatlichen Praxis entgegen, wonach die Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt werden. Da nach Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG allein das persönliche Verhalten maßgebend und eine vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen unzulässig sind, wird diese Rechtslage durch die nunmehr geltende Freizügigkeitsrichtlinie bestätigt. Mit diesen Grundsätzen ist die zwingende Ausweisung nicht vereinbar. Vielmehr haben die Behörden in jedem Einzelfall einen angemessenen Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere unter Wahrung der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des Familienlebens vorzunehmen.574 Das BVerwG hat bereits wenig Monate nach Orfanopolous und Oliveri seine frühere Rechtsprechung geändert und dies damit begründet, dass das System der Regelausweisung für den Gerichtshof den Anschein erwecke, dass bei der Erfüllung der gesetzlichen Regeltatbestände ein gewisser Automatismus oder jedenfalls eine „Vermutung“ bestehe, den Betroffenen trotz Berücksichtigung familiärer Umstände auszuweisen. Hieraus folge, dass § 47 AuslG 1990, jetzt § 53, § 54 AufenthG als Rechtsgrundlage für die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ausscheide. Diese dürften nur noch nach § 12 AufenthG/EWG, jetzt § 6 FreizügG/EU in Verbindung mit § 45, § 46 AuslG 1990, jetzt § 55 AufenthG auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. § 12 AufenthG/EWG sei dabei vorrangig und nicht lediglich ergänzend zu § 45, § 46 AuslG 1990 zu prüfen.575 ff) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage Nach der Rechtsprechung des EuGH ist bei der Ausweisung von Gemeinschaftsangehörigen in Abweichung vom deutschen Recht für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den Tag der letzten mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichtes abzustellen. Begründet 2009, 268; OVG NW, NVwZ-RR 2010, 79 (LS), beide Vorabentscheidungsersuchen zu dieser Frage an den EuGH; zum Sicherheitsbegriff des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG siehe auch VG Münster, EZAR NF 40 Nr. 10. 573 EuGH, InfAuslR 2011, 45 (47 f.) = NVwZ 2011, 221 Rn 44–56 – Tsakouridis. 574 EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri. 575 BVerwGE 121, 296 (302 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18; BVerwGE 121, 315 (321) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 224 = InfAuslR 2005, 26; bekräftigt BVerwG, NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38; so auch OLG Karlsruhe, InfAuslR 2007, 118. 160 wird dies damit, dass Art. 3 RL 64/221/EWG einer innerstaatlichen Praxis entgegenstehe, wonach die innerstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet seien, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Gemeinschaftsangehörigen verfügten Ausweisung ein Sachvorbringen zu berücksichtigen, das nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt sei und das den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen könne, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche Ordnung darstellen würde. Dies sei vor allem der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Ausweisungsverfügung und der Beurteilung durch das zuständige Gericht liege.576 Da Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG eine gegenwärtige Gefahr voraussetzt, bleibt es bei der bisherigen Rechtslage. b) Ausweisungsschutz für langfristig Daueraufenthaltsberechtigte (Art. 12 RL 2003/109/EG) Der Gesetzgeber hat die langfristig Aufenthaltsberechtigten in das rigide Korsett des deutschen Ausweisungsrechts gesteckt (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AufenthG). Hiergegen ist nach dem Grundsatz der richtlinienkonformen Anwendung nationalen Rechts unmittelbar auf Art. 12 RL 2003/109/EG zurückzugreifen. Zutreffend ist zwar, dass der dreistufige Ausweisungsschutz nach Art. 27 bis 28 RL 2004/38/EG nicht auf den Ausweisungsschutz nach der Daueraufenthaltsrichtlinie übertragen werden kann. Zur Bestimmung der gegenwärtigen, hinreichend schweren Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit sind jedoch dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie sie der EuGH und im Anschluss daran das BVerwG für den Ausweisungsschutz der Unionsbürger entwickelt haben. Endgültige Klärung wird jedoch erst durch den EuGH erfolgen können, wobei für die Daueraufenthaltsrichtlinie Art. 68 Abs. 1 Satz 1 EGV bestimmt, dass unterinstanzliche Gerichte nicht befugt sind, dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens eine Frage der Gültigkeit oder Auslegung von auf Titel IV EGV gestützten Rechtsakten vorzulegen.577Nach Inkrafttreten der Richtlinie hat der EuGH aus dem Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung abgeleitet, dass eine Ausweisung nur auf das persönliche Verhalten des Betroffenen gestützt werden könne und nationale Regelungen, die automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung eine Ausweisung verfügten, mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar seien.578 Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG setzt eine konkrete Einzelfallentscheidung voraus. Die Ausweisung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist nur zulässig, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Bereits der Wortlaut gebietet damit eine Berücksichtigung des persönlichen Verhaltens und ist mit dem Automatismus des deutschen Ausweisungsrechtes unvereinbar.579 Verstärkt wird dies auch durch die Aufzählung der Ermessensbelange in Art. 12 Abs. 3 RL 2003/109/EG, die nur dahin verstanden werden können, dass in jedem konkreten Einzelfall eine Ermessensentscheidung nach Maßgabe der in Art. 12 Abs. 3 RL 2003/109/EG bezeichneten Vorgaben zu treffen ist. c) Ausweisungsschutz für assoziationsrechtlich privilegierte türkische Arbeitnehmer Das BVerwG hat festgestellt, dass wegen Orfanopolous und Oliveri auch bei türkischen Staatsangehörigen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen können, von veränderten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Ausweisung auszugehen sei. Zwar beziehe sich Orfanopolous und Oliveri auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger. 576 577 578 579 EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri. S. hierzu ter Steeg, ZAR 2006, 268. EuGH, InfAuslR 2004, 268 (272) = NVwZ 2004, 1099– Orfanopoulos und Oliveri. EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275) = NVwZ 2004, 1099– Orfanopoulos und Oliveri 161 Diese Entscheidung sei jedoch hinsichtlich ihrer materiell-rechtlichen Grundsätze auf türkische Staatsangehörige, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, zu übertragen.580 Ausdrücklich stellt das BVerwG fest, dass im Blick auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Arbeitnehmer die zwingende und Regelausweisung unzulässig sei. Das deutsche Ausweisungsrecht darf danach auch nicht ergänzend angewendet werden. Vielmehr finden für die Gefährdungsprognose wie für die Ermessensgrundsätze sowie für den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt die für Unionsbürger maßgeblichen Grundsätze Anwendung.581 Aus der Übertragung der für Unionsbürger geltenden Grundsätze auf assziationsrechtlich privilegierte türkische Arbeitnehmer ergibt sich, dass eine Ausweisung in diesen Fällen nicht nach dem System der zwingenden und Regelausweisung, sondern ausschließlich nur aus spezialpräventiv motivierten Erwägungen zulässig ist.582 Diese Grundsätze waren allerdings bereits vor der Klarstellung durch das BVerwG anerkannt. Nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gelten die Rechte aus dem ARB 1/80 vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 besitzen, beurteilt sich folglich wegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nach Gemeinschaftsrecht.583 Zwar kann die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung angesehen werden. Doch ist die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eng auszulegen, sodass eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen kann, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Störung der öffentlichen Ordnung darstellt. Die auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Ausweisung ist daher unzulässig.584 Eine – nach deutschem Recht – verfügte Regelausweisung, die aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung für eine bestimmte Straftat zum Zwecke der Generalprävention verfügt werde, ist deshalb mit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 unvereinbar.585. Mit unionsrechtlichen Grundsätzen ist es deshalb unvereinbar, die Ausweisung tragend oder auch nur mittragend auf andere als in der persönlichen Gefährlichkeit des Betroffenen liegende generalpräventive Erwägungen zu stützen. Die Annahme, die Ausweisung könne neben primär spezial- auch aus hilfsweise und ergänzend vorgebrachten generalpräventiven Gründen verfügt werden, ist mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar. Generalpräventive Erwägungen sind nur zulässig, wenn und soweit die Ausweisung ausschließlich – etwa bei den nicht durch Gemeinschaftsrecht privilegierten türkischen Staatsangehörigen ohne 580 BVerwGE 121, 315 (318 f.) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; so auch Hess.VGH, InfAuslR 2005, 184 (185 f.); a.A. OVG NW, EZAR 19 Nr. 7. 581 BVerwGE 121, 315 (319 f.) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; BVerwG, NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAs 2006, 38. 582 BVerwGE 121, 315 (319) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; BVerwG, NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAs 2006, 38; OVG NW, AuAS 2006, 125 )(126); Harald Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1226). 583 BVerwGE 101, 247 (263) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1123) = EZAR 035 Nr. 20 = InfAuslR 1997, 296; BVerwG, NVwZ 1999, 303 (305) = EZAR 037 Nr. 1; BayVGH, NVwZ-RR 2002, 696 (697) = InfAuslR 2002, 348; VGH, EZAR 033 Nr. 9; OVG NW, NVwZ-Beil. 1998, 58 (59); VGH BW, EZAR 035 Nr. 28; VGH BW, NVwZ-RR 2001, 134 (137) = EZAR 029 Nr. 13; VGH BW, InfAuslR 2002, 375 (378); Vormeier, in: GK-AuslR, § 45 AuslG Rn 191; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, S. 571 m.Hw.; VGH BW, InfAuslR 1999, 59 (66 f.); OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 169 (172); a.A. OVG Bremen, EZAR 032 Nr. 8; Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1226). 584 EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) = NVwZ 2000, 1029 - Nazli; Hess. VGH, InfAuslR 2000, 428 = EZAR 029 Nr. 12. 585 EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) = NVwZ 2000, 1029 – Nazli. 162 Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 – auf nationales Recht gestützt werden kann.586 Derzeit ist umstritten, ob Art. 28 RL 2004/38/EG auch auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Arbeitnehmer Anwendung findet. Es liegen dem EuGH hierzu Vorabersuchen deutscher Verwaltungsgerichte vor. Für die Anwendbarkeit der Richtlinie spricht, dass der EuGH in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte soweit wie möglich auf Assoziationsberechtigte übertragen werden müssen. Bei der Bestimmung des Umfangs von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 stellt der EuGH darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von Unionsbürgern ausgelegt wird. Es kommt danach darauf an, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung eine „tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung“ vorliegen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.587 Nach dem Zweck der Richtlinie 2003/38/EG und bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des EuGH und diesem folgend des BVerwG stellt diese eine weitere Konkretisierung und Ausgestaltung des Art. 39 Abs. 3 EGV dar. Der EuGH hat die Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen auf Assoziationsberechtigte übertragen. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass dies bei der Richtlinie 2004/38/EG anders zu sehen sein könnte. Vielmehr erscheint die „Stufenfolge“ der Ausweisungseinschränkungen nach Art. 28 RL 2004/38/EG, also das Erfordernis von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bei Daueraufenthaltsberechtigten und das grundsätzliche Ausweisungsverbot nach zehnjährigem Aufenthalt als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und ist deshalb eine Anwendung auf Assoziationsberechtigte geboten.588 Demgegenüber verweist die Gegenmeinung allein darauf, dass die Freizügigkeitsrichtlinie nach ihrem Wortlaut nur auf Unionsbürger Anwendung finde.589 Inzwischen liegt diese Frage aufgrund eines deutschen Vorabersuchens590 dem EuGH zur Klärung vor. d) Insbesondere Ausweisungsschutz für Familienangehörige Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 Neben den nach Art. 6 ARB 1/80591 erworbenen Rechten kommt für den unionsrechtlichen Ausweisungsschutz insbesondere Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 eine besondere Bedeutung zu. Danach haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörigen türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts setzt zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das ebenfalls auf Gemeinschaftsrecht beruht. Die Voraussetzung eines fünfjährigen Aufenthaltes ist auch erfüllt, wenn der Familienangehörige in Deutschland geboren ist und stets dort gelebt hat.592 586 BVerwG, NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38. EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) – Nazli; EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15) – Cetinkaya; EuGH, InfAuslR 2005, 252 (354) – Aydinlik. 588 Hess.VGH, InfAuslR 2006, 393 = AuAS 2006, 231 = NVwZ 2006, 1311 (LS); Hess.VGH, InfAuslR 2007, 98; VG Karlsruhe, U. v. 9. 11. 2006 – 2 K 1559/06; a.A. Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 287 (288) = InfAuslR 2005, 453; Nieders.OVG, NVwZ 2006, 1304; Nieders.OVG, B. v. 5. 10. 2005 – 11 ME 247/05; OVG NW, InfAuslR 2006, 257 (258) = AuAS 2006, 124 (125). 589 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2005, 654 (655) 590 VGH BW, InfAuslR 2008, 439 (nur LS); VG Berlin, AuAS 2009, 5. 591 S. hierzu § … Rdn… 592 BVerwG, NVwZ 2006, 475 = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38. 587 163 Nach der Rechtsprechung des EuGH verliert der Betroffene das Recht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nur, wenn die Voraussetzungen für eine Ausweisung nach Art. 14 ARB 1/80 vorliegen oder wenn er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt.593 Aus dieser Rechtsprechung wird in der Kommentarliteratur geschlossen, dass Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 keine anspruchsvernichtende Regelung entsprechend Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 enthalte. Freiwillige oder unfreiwillige Arbeitslosigkeit sei deshalb für die Ausübung der Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 unschädlich. Der assoziationsrechtliche Anspruch aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 diene gerade nicht der Verwirklichung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, sondern der sozialen Integration der Familie.594 Aus dieser Rechtsprechung des EuGH folgt, dass Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 den Familienangehörigen zwar Zugang zu einer Beschäftigung gewährt, ihnen aber keine Verpflichtung auferlegt, eine solche auszuüben.595 Damit wird Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 in der Praxis zum zentralen Anknüpfungspunkt für das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht und verliert Art. 6 ARB 1/80 damit an Bedeutung.596 Die Nichtaufnahme einer Beschäftigung führt ebenso wenig zum Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 wie eine längere Abwesenheit vom Arbeitsmarkt wegen einer mehrjährigen Inhaftierung mit anschließender Drogentherapie. Vielmehr unterliegt nach der Rechtsprechung des EuGH das Aufenthaltsrecht des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 lediglich zweierlei Beschränkungen: Einerseits ermöglicht es Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80, das Aufenthaltsrecht unter den dort genannten Voraussetzungen zu beschränken. Zum anderen verliert der Familienangehörige bei dauerhafter Ausreise ohne berechtigte Gründe die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. 597 Ungeklärt ist, ob die Verbüßung einer Freiheitsstrafe in der Türkei zum Verlust der Rechtsstellung führt.598Die Vorschrift lässt es deshalb nicht zu, dass die hieraus folgenden Rechte wegen einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, der sich eine Drogentherapie anschließt, wegen längerer Abwesenheit vom Arbeitsmarkt beschränkt werden.599 e) Ausweisungsschutz nach Art. 8 EMRK für „faktische Inländer“ Wer sich auf den besonderen Ausweisungsschutz des Europarechts nicht berufen kann, kann nach den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR600 für „faktische Inländer“ entwickelt worden sind, besonderen Ausweisungsschutz genießen, der allerdings im Rahmen der §§ 53 ff. AufenthG materialisiert wird, deren Rigidität indes mildert. Das BVerwG hatte zunächst vorsichtig angedeutet, dass bei „faktischen Inländern“ die Ausweisung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kollidieren könne.601 In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber durch die Regelung der zwingenden Ausweisung nicht die Schutznorm von Art. 8 EMRK habe aufheben wollen.602 Die Rechtsprechung bleibt jedoch ungeachtet des EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15 f.) – Cetinkaya. Gutmann, in: GK AufenthG, IX – Art. 7 Rdn. 87. 595 EuGH, NVwZ 2007, 1393 (1395), § 35 = ZAR 2007, 365 – Derin; Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 314. 596 Mallmann, ZAR 2006, 50 (54). 597 EuGH, NVwZ 2007, 1393 (1395), § 35 = ZAR 2007, 365 – Derin, mit Hw. Auf EuGH-Rspr. 598 So Nieders.OVG, InfAuslR 2009, 54 (56). 599 EuGH, InfAuslR 2005, 13 (16) – Cetinkaya; Hess.VGH, InfAuslR 2005, 132 = NNVwZ-RR 2005, 571; OVG Rh-Pf, InfAuslR 2005, 238 (241); VGH BW, InfAuslR 2007, 49 (50); Otto Mallmann, ZAR 2006, 50 (52). 600 Zur aktuellen Rechtsprechung s. EGMR, InfAuslR 2008, 333 – Maslow I; EGMR, InfAuslR 2008, 333 – Maslow II; EGMR, InfAuslR 2008, 336 – Emre; EGMR, InfAuslR 2008, 333 – Chair; EGMR, NVwZ 2008, 59 = InfAuslR 2007, 425 – Polat;EGMR, NVwZ 2007, 1279 – Üner; s. auch Truchseß, InfAuslR 2007, 332. 601 BVerwG, NVwZ 1999, 303 (305) = InfAuslR 1999, 54; ebenso BayVGH, InfAuslR 2001, 123 (124); VGH BW, InfAuslR 2001, 119 (121) = NVwZ-Beil. 2001, 17 = EZAR 032 Nr. 16; VG Berlin, InfAuslR 2003, 313 (320); VG Oldenburg, InfAuslR 2003, 433 (435) = AuAS 2003, 21; weniger kritisch BerlVerfGH, NVwZRR 2001, 61 (62); VG München, InfAuslR 2002, 365 (366) = AuAS 2002, 150. 602 VGH BW, InfAuslR 2001, 286 (288) = NVwZ-Beil. 2001, 81 = EZAR 031 Nr. 7; VGH BW, NVwZBeil. 2001, 51 = InfAuslR 2002, 2; VGH BW, AuAS 2003, 64 (66); s. auch BayVGH, AuAS 2003, 5. 593 594 164 abstrakten Bekenntnisses zu Art. 8 EMRK in der konkreten Umsetzung rigide. So bringt sie Art. 8 EMRK z.B. erst bei einem ledigen und kinderlosen Angehörigen der zweiten Generation zur Anwendung, wen, wenn keinerlei Bindungen zum Heimatstaat mehr bestehen. Die Rechtsprechung geht jedoch davon aus, dass solche über die Familie vermittelte Bindungen im Regelfall vorhanden sind.603 Es geht hier um lebensgeschichtlich an das Bundesgebiet gebundene Delinquenz und soziale Fehlentwicklungen, auf die deshalb auch ausschließlich im Bundesgebiet mit den herkömmlichen, auf Straftaten und abweichendes Verhalten reagierenden strafrechtlichen und individualpsychologischen Maßnahmen, insbesondere aber mit erzieherischen und sozialpolitischen Mitteln, geantwortet werden sollte. Gegen die restriktive Rechtsprechung bilden sich gegenläufige Tendenzen heraus. So wird darauf hingewiesen, es sei einem Ehepartner nicht zuzumuten, dem ausgewiesenen Ehegatten in dessen Herkunftsland oder in ein anderes Land zu folgen. Stelle der Betroffene eine vergleichweise geringe Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, könne die Ausweisung nach Art. 8 EMRK unverhältnismäßig sein. Seien die Interessen des Ehepartners schutzwürdig und ihm eine Begleitung des Ehegatten nicht zumutbar, sei eine Ausweisung nur zulässig, wenn hinreichend gewichtige spezialpräventive Gründe vorliegen würden. Fehlten derartige Gründe, sei die Ausweisung unverhältnismäßig.604 Daraus ist zu schließen, dass eine generalpräventiv begründete Ausweisung mit Art. 8 EMRK unvereinbar ist. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass Art. 8 EMRK inhaltlich einen über das deutsche Ausweisungsrecht hinausgehenden Schutz gewähre. Der EGMR verlange in jedem Einzelfall eine umfassende Abwägung, bei der je nach dem Gewicht der Belange des Ehegatten generalpräventive Gründe als Rechtfertigung für die Ausweisung ausscheiden können.605 Inzwischen werden auch in der deutschen Rechtsprechung erhebliche Bedenken gegen eine generalpräventiv begründete Ausweisung gegenüber faktischen Inländern angemeldet. 606 Das BVerwG hat diese jedoch zurückgewiesen.607 Die Rechtsprechung des EGMR räumt den öffentlichen Interessen nicht von vornherein über die Kategorie des Regelfalles ein zunächst die individuellen Interessen überragendes Gewicht bei. Darüber hinaus wird bei der Prüfung des Regelfalles anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur eine „Grobabwägung“ vorgenommen.608 Die vom EGMR geforderte Herstellung eines „ausgewogenen Gleichgewichtes zwischen den betroffenen Interessen“ bedarf jedoch einer Feinabwägung, d. h. einer Ermessensentscheidung nach Maßgabe des § 55 Abs. 3 AufenthG609 und erlaubt erst recht keine generalpräventiv begründete Ausweisung. Eine sachgerechte dogmatische Verarbeitung des vom EGMR entwickelten konventionsrechtlichen Ausweisungsschutzes hat daher zur Folge, dass zunächst – losgelöst von der Regel-Ausnahme-Typik des deutschen Ausweisungssystems – die betroffenen Interessen ermittelt und in ihrem jeweiligen Gewicht bestimmt werden müssen. Auch die obergerichtliche Rechtsprechung muss einräumen, dass das deutsche Ausweisungssystem den Anforderungen des Art. 8 EMRK nicht vollständig 603 VGH BW, AuAS 2003, 75 (78) = NVwZ-RR 2003, 307. 604 OVG Bremen, InfAuslR 2004, 328 (331). OVG Bremen, InfAuslR 2004, 328 (331). 606 BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300; BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 946; OVG Bremen, InfAuslR 2008, 163; OVG NW, NVwZ 2008, 450; VG Schleswig, InfAuslR 2009, 114; s. auch VerGH Wien, InfAuslR 2008, 30; s. insbesondere VGH BW, InfAuslR 2011, 293; VGHBW, InfAuslR 2011, 377; VGH BW, AuAS 2012, 53 607 BVerwGE 142, 29; BVerwG, InfAuslR 2013, 217; BVerwG, NVwZ 2013, 733 608 Barth, NVwZ 1998, 1031 (1035). 609 A.A. wohl OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1999, 205 = InfAuslR 1998, 496. 605 165 gerecht werde.610 Konturen wegen der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung anhand des Maßstabs des Art. 8 Abs. 2 EMRK seien aber nur in „außergewöhnlichen Fällen“ denkbar. Diese müssten entweder hinsichtlich des gesteigerten Gewichts der Schutzgüter (Privat- und Familienleben) oder hinsichtlich der geminderten Bedeutung der öffentlichen Ausweisungszwecke signifikante Besonderheiten aufweisen.611 4. Ausweisungsrechtlicher Rechtsschutz a) Zweck und Funktion des Eilrechtsschutzverfahrens Der Aufenthaltstitel erlischt mit Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG; § 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990). Der Aufenthalt wird also mit Bekanntgabe der Verfügung unrechtmäßig und es entsteht die Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG), der unverzüglich nach Ablauf der Ausreisefrist Folge zu leisten ist (§ 50 Abs. 2 AufenthG). Rechtsmittel gegen die Ausweisungsverfügung entfalten aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO). Die Behörde kann aber die sofortige Vollziehung der Ausweisungsverfügung anordnen (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Hiergegen kann Eilrechtsschutz beim zuständigen Verwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragt werden. Mit der Stattgabe des Eilrechtsschutzantrags entfällt die Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung. Die Ausreisefrist wird bis zur unanfechtbaren Entscheidung über die Ausweisungsverfügung unterbrochen (§ 50 Abs. 3 AufenthG). Wird der Antrag unanfechtbar zurückgewiesen, hat der Betroffene für die spätere mündliche Verhandlung im ausweisungsrechtlichen Hauptsacheverfahren aus Art. 6 EMRK ein Recht auf Teilnahme und dementsprechend einen inhaltlich derart beschränkten Anspruch auf Erteilung eines Visums.612 Für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit gilt der Aufenthalt ungeachtet der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit als fortbestehend (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Der Betroffene darf also während des Schwebezustandes zwischen der Antragstellung und der Entscheidung des Verwaltungsgerichts sowie des Beschwerdegerichts ein bestehendes Arbeitsverhältnis fortsetzen und darüber hinaus auch eine neue Erwerbstätigkeit aufnehmen. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG modifiziert also aus pragmatischen Gründen den Berechtigungsinhalt nach § 4 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, erlaubt mit anderen Worten die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ohne Aufenthaltstitel. Der Betroffene hat einen Anspruch auf eine behördliche Bescheinigung seiner Beschäftigungserlaubnis.613 Ziel des ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrags ist die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels. Widerspruch und Klage lassen unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die (innere) Wirksamkeit der Ausweisungsverfügung, also die Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), unberührt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990). Ziel des Eilrechtsschutzantrags ist also nicht die Erhaltung der inneren Wirksamkeit, sondern die Hemmung der Vollziehung (Vollziehbarkeitshemmnis). Wird die Ausweisungsverfügung durch das Gericht oder die Behörde aufgehoben, tritt eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht ein (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG), die innere Wirksamkeit der Ausweisungsverfügung wird mithin rückwirkend beseitigt. b) Stillhalteabkommen 610 VGH BW, AuAS 2003, 64 (66) = NVwZ-RR 2003, 304. VGH BW, AuAS 2003, 64 (66) = NVwZ-RR 2003, 304. 611 612 613 EGMR, InfAuslR 2006, 349 – Kaya. OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); Nr. 4.3.1 VAH. 166 Der Eilrechtsschutzantrag entfaltet ebenso wenig wie die Beschwerde aufschiebende Wirkung. Es ist indes allgemein anerkannt, dass die Behörde ungeachtet dessen allgemein die verfassungsrechtliche Obliegenheit trifft, während eines Gerichtsverfahrens um vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich von Maßnahmen des Verwaltungszwangs abzusehen. 614 Deshalb nimmt die Verwaltung üblicherweise auf Anfrage oder Empfehlung des Gerichts von einem Vollzug während des Eilverfahrens Abstand („Stillhalteabkommen“). Hierauf besteht indes kein ausdrücklich geregelter Anspruch.615 Für das Gemeinschaftsrecht enthält Art. 31 Abs. 2 RL 2004/38/EG (§ 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU) ein zwingendes Abschiebungsverbot während des anhängigen Eilrechtschutzverfahrens. Andererseits wird die Behörde auch unabhängig von einer richterlichen Aufforderung im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht für verpflichtet gehalten, den Abschluss des Verfahrens abzuwarten.616 Es wird darüber hinaus vertreten, dass die Behörde unmittelbar aus Verfassungsrecht verpflichtet ist, dem Bürger zumindest eine erstinstanzliche Überprüfung des Behördenbescheids im Eilrechtsschutzverfahren zu ermöglichen und bis zu diesem Zeitpunkt – auch ohne einen ausdrücklichen Hängebeschluss – keine vollendeten Tatsachen zu schaffen.617 Im Allgemeinen halten die Behörden die Stillhalteabkommen ein. Es empfiehlt sich allerdings, im Eilrechtsschutzantrag unmittelbar nach dem Hauptantrag und erneut im Beschwerdeverfahren ausdrücklich eine entsprechende gerichtliche Empfehlung an die Ausländerbehörde zu beantragen. In der Rechtsprechung ist darüber hinaus anerkannt, dass auch während des Beschwerdeverfahrens eine behördliche Obliegenheit besteht, vom Vollzug 618 aufenthaltsbeendender Maßnahmen Abstand zu nehmen. Im Bundesland Hessen besteht seit 1990 die allgemein eingehaltene Übung, dass die Ausländerbehörden auch während eines Eilrechtsschutzverfahrens in der zweiten Instanz vom Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen absehen. Falls dennoch im Einzelfall Vollzugsmaßnahmen geplant sind, werden diese dem Beschwerdegericht mindestens zwei Wochen vorher angekündigt und entscheidet dieses unverzüglich vor dem vorgesehenen Vollzugstermin.619 Anders als im erstinstanzlichen Eilrechtsschutzverfahren kann bei drohender Verletzung des Stillhalteabkommens keine Vorsitzendenentscheidung (vgl. § 80 Abs. 8 VwGO) getroffen werden, da § 80 Abs. 8 VwGO im Beschwerdeverfahren nicht entsprechend anwendbar ist.620 In diesem Fall kann aber der Erlass eines Hängebeschlusses beantragt werden. c) aa) Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags Form des Antrags 614 Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162; OVG Berlin, NVwZ 2001, 1424; VG Berlin, InfAuslR 2001, 253 = AuAS 2001, 158; s. hierzu auch Andreas Fichser-Lescano, InfAuslR 2006, 317. 615 Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162. 616 Hess. VGH, NVwZ-RR 1992, 34 (35); Andreas Fichser-Lescano, InfAuslR 2006, 317. 617 VG Berlin, InfAusl 2001, 253 (254) = AuAS 2002, 158 (159). 618 Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162; s. hierzu auch FischerLescano, InfAuslR 2006, 317 (318). 619 620 Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318. Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318. 167 Da die Ausweisung ein belastender Verwaltungsakt ist, ist Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen. Die Sperrwirkung greift nicht, wenn die Ausweisung bereits im Rahmen summarischer Kontrolle ernstlichen Zweifel begegnet.621 In der Hauptsache ist Anfechtungswiderspruch bzw. Anfechtungsklage zu erheben. Will der Betroffene zugleich Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG geltend machen und hat er zuvor kein Asylverfahren betrieben, kann eine isolierte Feststellung eines derartigen Verbotes im Ausweisungsverfahren nicht beantragt werden. Dieses Ziel muss der Betroffene in einem gesonderten Verfahren verfolgen.622 Dem kann nicht zugestimmt werden. Vielmehr ist im Ausweisungsverfahren inzidenter zu prüfen, ob derartige Abschiebungshindernisse bestehen. bb) Rechtsschutzbedürfnis Die Hauptsache (Widerspruch oder Anfechtungsklage) muss noch anhängig sein. Der Eilrechtsschutzantrag ist nicht fristgebunden, kann also jederzeit gestellt werden. Nach unanfechtbarer Zurückweisung des Antrags kann allerdings nur noch beim Gericht der Hauptsache ein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestellt werden. Entsprechend den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsprozessrechts ist der Eilrechtsschutzantrag nicht fristgebunden (s. aber § 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG, § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG), sondern kann während der Anhängigkeit der Hauptsache jederzeit gestellt werden. Die Gefahr des Vollzugs der Ausweisungsverfügung wird aber regelmäßig Anlass geben, den Eilrechtsschutzantrag unverzüglich zu stellen. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist dem untergetauchten Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis nicht zuzubilligen. Dieses bestehe solange nicht, wie er sich im Rahmen der ihm in seinem ausländerrechtlichen Belangen obliegenden Mitwirkungspflicht (vgl. § 82 Abs. 1 AufenthG) nicht wieder der ausländerbehördlichen Kontrolle unterstelle. Dafür genüge es regelmäßig nicht, dass ein „untergetauchter“ Ausländer durch seinen Prozessbevollmächtigten und/oder Dritte, zu denen auch nahe Familienangehörige zu zählen seien, gegenüber dem Gericht und/oder der Ausländerbehörde eine neue Anschrift mitteile, unter der er nunmehr tatsächlich wieder erreichbar sei, ohne vorher weder persönlich bei der Ausländerbehörde vorzusprechen noch persönlich die notwendige melderechtliche Neuerfassung zu beantragen. Soweit der Betroffene befürchte, weiterhin Gefahr zu laufen, von der Behörde abgeschoben zu werden, bleibe es ihm unbenommen, erneut um Eilrechtsschutz nachzusuchen.623 Eines der zentralen Probleme im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren wird dadurch aufgeworfen, dass der Antrag an der bereits aus anderen ausländerrechtlichen Gründen bestehenden Ausreisepflicht des Antragstellers scheitern kann. Bei inhaftierten Ausländern bedeutet die Verhaftung häufig einen derart gravierenden Einschnitt in die konkreten Lebensverhältnisse, dass die Verteidigung gegen den Strafvorwurf im Zentrum des individuellen Interesses steht. Antragsteller mit einem befristeten Aufenthaltstitel vergessen darüber häufig, dass sie rechtzeitig die Verlängerung des Aufenthaltstitels beantragen müssen. Haben sie den Antrag nicht vor Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels gestellt, tritt nach Fristablauf Ausreisepflicht ein (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG). In diesem Fall fehlt dem ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrag das Rechtsschutzbedürfnis, weil bereits aus anderen als ausweisungsrechtlichen Gründen Ausreisepflicht besteht. Nach der Rechtsprechung muss nämlich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil erbringen können.624 Eine Ausnahme wird in Betracht gezogen, wenn mit der 621 OVG SA, AuAS 2008, 5 (6). VG Köln, B. v. 28. 12. 2005 – 12 K 6395/05. 623 OVG NW, InfAuslR 2005, 146 (147). 624 Hess. VGH, NVwZ-Beil. 1997, 57; Hess. VGH, AuAS 1999, 161 (162); 2002, 125 (126); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173; OVG NW, InfAuslR 2000, 113 (114); OVG NW, InfAuslR 2001, 502; OVG NW, 622 168 Ausweisung zugleich ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt worden oder mit der Ausweisung eine Abschiebungsandrohung verbunden ist.625 Einschränkend wird eingewandt, es komme darauf an, ob dem Betroffenen aus der jeweiligen Ausreiseverpflichtung ausländerbehördliche Vollstreckungsmaßnahmen drohten. Dabei sei von dem Grundsatz auszugehen, dass es zwischen den auf verschiedenen Verwaltungsakten oder sonstigen Grundlagen beruhenden Ausreiseverpflichtungen und deren sofortiger Vollziehbarkeit keinen logischen oder anderweitigen inhaltlichen Vorrang oder ein sonstiges Prioritätsverhältnis gebe. Vielmehr habe die Ausländerbehörde beim Zusammentreffen mehrerer Ausreiseverpflichtungen zu entscheiden, welche Verpflichtung sie nach Vollziehbarkeit zwangsweise durchsetze.626 Hat die Behörde etwa vor dem Erlass der Ausweisungsverfügung die bereits bestehende Ausreiseverpflichtung nicht durchgesetzt, ist davon auszugehen, dass Vollzugsmaßnahmen, die im Zusammenhang mit einer Ausweisungsverfügung geplant werden, sich auf die aufgrund der Ausweisung begründete Ausreiseverpflichtung beziehen. In diesem Fall kann trotz anderweitig bereits bestehender, behördlich indes nicht durchgesetzter Ausreiseverpflichtung dem auf die Ausweisungsverfügung bezogenen Eilrechtsschutzantrag das Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden.627 Gegen jede ausländerrechtliche Maßnahme, d.h. gegen die Versagungs- wie die Ausweisungsverfügung, ist einstweiliger Rechtsschutz zu beantragen.628 Auch wenn die Behörde nicht die sofortige Vollziehung der Ausweisungsverfügung angeordnet hat, muss gegen die mit dieser Verfügung zugleich erfolgte Versagung der begehrten Verlängerung des Aufenthaltstitels Eilrechtsschutz beantragt werden.629 Zwar beschränkt sich die Rechtswirkung des Sofortvollzugs der Versagungsverfügung auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht. Denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lässt auch bei Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs die innere Wirksamkeit der Ausweisung unberührt und bewirkt die kraft Gesetzes nach § 84 Abs. 1 AufenthG sofort vollziehbare Versagung der beantragten Verlängerung des Aufenthaltstitels ohnehin, dass der Betroffene zur Ausreise verpflichtet ist. Der Betroffene hat aber jedenfalls einen rechtlichen Vorteil, weil die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht vorläufig suspendiert wird, wenn der auf die Versagungsverfügung bezogene Eilrechtsschutzantrag Erfolg hat. 630 Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht zu prüfen, ob der auf § 80 Abs. 5 VwGO zielende ausweisungsrechtliche Eilrechtsschutzantrag in einen einstweiligen Antrag nach § 123 VwGO umgedeutet werden kann.631 Eine derartige Umdeutung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn nach dem Sachvortrag Abschiebungshindernisse, inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse oder andere mit ausländerrechtlichen Verteidigungsmitteln durchsetzbare Ansprüche in Betracht kommen. cc) Antragsbefugnis des Ehegatten Auch der deutsche oder ausländische Ehegatte wird durch die sofortige Vollziehung der gegen den anderen Ehegatten gerichteten Ausweisung in seinem persönlichen Schutzbereich betroffen und hat deshalb aus eigenem Recht eine Antragsbefugnis im InfAuslR 2000, 113; OVG Bremen, NVwZ-RR 1999, 204; OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643; VGH BW, NVwZ 1992, 702.; OVG SA, AuAS 2008, 5 (6). 625 OVG SA, AuAS 2008, 5 (7). 626 Hess. VGH, AuAS 2002, 215 (126). 627 Hess. VGH, AuAS 2002, 215 (126). 628 VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (296). 629 Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901). 630 Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90. 631 Hess. VGH, AuAS 1999, 161 (162). 169 ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren.632 Die obergerichtliche Rechtsprechung beruft sich auf die Rechtsprechung des BVerwG, der zufolge der Ehegatte aus eigenem Recht aufgrund von Art. 6 Abs. 1 GG durch die gegen den anderen Ehegatten gerichtete Versagungsverfügung belastet wird.633 Versäumt danach die Ausländerbehörde die Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung gegenüber dem deutschen oder ausländischen Ehegatten, gilt für diesen ungeachtet des Eintritts der Bestandskraft der Verfügung wegen Fristversäumnis im Hinblick auf den durch die Ausweisung belasteten Ehegatten nicht die Monatsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO. Der Rechtsbehelf des Ehegatten gegen die ihm gegenüber bekannt gegebene Ausweisungsverfügung begründet aufschiebende Wirkung. Will die Behörde die Ausweisung durchsetzen, muss sie auch gegenüber dem Ehegatten die sofortige Vollziehung unter besonderer Abwägung der Belange des Ehegatten im öffentlichen Interesse anordnen.634 Wird der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels gegen die Ausweisung gestellt, obwohl die Behörde keine auf diese Verfügung bezogene sofortige Vollziehung angeordnet hat, fehlt dem Antrag der Ehefrau zwar insoweit das Rechtsschutzbedürfnis. Hat die Behörde in der Ausweisungsverfügung indes zugleich einen Verlängerungsantrag abgelehnt, entfaltet das Rechtsmittel bezogen auf die Versagungsverfügung keine aufschiebende Wirkung (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). In diesem Fall fehlt dem Eilrechtsschutzantrag der Ehefrau insoweit nicht das Rechtsschutzbedürfnis.635 d) Begründetheit des Eilrechtsschutzantrags Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage war bislang im allgemeinen Ausweisungsverfahren ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung.636 Nunmehr hat das BVerwG entschieden, dass es in allen Ausweisungsverfahren auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt und begründet dies mit der entsprechenden Rechtsprechung des EGMR.637 Das Verwaltungsgericht hat anhand der üblichen verwaltungsprozessualen Grundsätze die Begründetheit des Eilrechtsschutzantrags zu prüfen. Ist die Ausweisungsverfügung offensichtlich rechtswidrig, entfällt danach das öffentliche Vollzugsinteresse. Ist hingegen die angefochtene Verfügung offensichtlich rechtmäßig, fällt dies bei der anschließenden Interessenabwägung zwischen den öffentlichen Vollzugsinteressen und den individuellen Interessen zu Lasten des Antragstellers ins Gewicht. Das Verwaltungsgericht hat im summarischen Eilrechtsschutzverfahren insbesondere zu prüfen, ob die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittelt und eingehend gewürdigt, insbesondere auch Einsicht in die Strafakten genommen hat.638 Nach Erlass der Ausgangsverfügung eingetretene Umstände bleiben, werden berücksichtigt. 632 VGH BW, InfAuslR 1999, 419; VGH BW, EZAR 44 Nr. 2; Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 8; Hess. VGH, InfAuslR 2002, 362; Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901); VG Wiesbaden, AuAS 2004, 50. 633 BVerwGE 102, 12 (15) = InfAuslR 1997, 16 (17) = EZAR 023 Nr. 8; Hess. VGH, InfAuslR 2002, 362; VGH BW, EZAR 44 Nr. 2. 634 Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 8. 635 Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901). 636 BVerwGE 101, 247 (250) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwGE 102, 63 (64) = EZAR 035 Nr. 18 = NVwZ 1997, 1123 = InfAuslR 1997, 63; BVerwGE 102, 249 (251) = EZAR 033 Nr. 10 = NVwZ 1997, 685 = InfAuslR 1997, 193; BVerwG, InfAuslR 1995, 150 (151); BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1120); OVG NW, EZAR 34 Nr. 2. 637 BVerwGE 130, 20 (22) = NVwZ 2008, 434 = InfAuslR 2008, 156 = AuAS 2007, 40. 638 BVerfGE 51, 386 (399). 170 Unverändert gilt die frühere Rechtsprechung des BVerfG fort, der zufolge für die sofortige Vollziehung ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich ist, das über jenes Interesse hinausgeht, das die Verfügung selbst trägt.639 Dies hat das BVerfG in einer Kammerentscheidung später bestätigt: Die Ausweisung ist in jedem Fall eine schwerwiegende Maßnahme, die nicht selten tief in das Schicksal des Ausländers und seiner Familienangehörigen eingreift. Ihr Gewicht wird durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung erheblich verschärft. Für die Verbindung der Ausweisung mit der Anordnung des Sofortvollzugs muss danach wegen des mit ihr verbundenen schwerwiegenden Eingriffs und mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „stets ein besonderes, über die Voraussetzungen für die Ausweisung selbst hinausgehendes Erfordernis vorliegen“.640 Es muss mithin die begründete Besorgnis bestehen, die von dem Betroffenen ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich schon vor Abschluss der Hauptsache realisieren. Der allgemeine Verdacht einer Belangbeeinträchtigung genügt nicht. Ein unbestimmter Verdacht oder die abstrakte Möglichkeit einer Gefährdung reichen nicht aus, das besondere Vollzugsinteresse zu begründen.641 Durch § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO hat sich jedoch der maßgebende Zeitraum erheblich verkürzt. Die aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels endet nach geltender Rechtslage nicht mit dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Vielmehr endet die aufschiebende Wirkung bzw. tritt infolgedessen die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des ausgewiesenen Ausländers ein, wenn die Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist und drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungspflicht des gegen die ablehnende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels verstrichen sind, also fünf Monate nach Zustellung des klageabweisenden Urteils.642 Muster: Vorläufiger Rechtsschutz gegen Ausweisungs- und Versagungsverfügung nach § 80 Abs. 5 VwGO An das Verwaltungsgericht Antrag des russischen Staatsangehörigen – Antragsteller – gegen Stadt, vertreten durch die Oberbürgermeisterin – Antragsgegnerin – wegen Ausländerrecht Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt: 1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Ausweisungsverfügung des Landrates des Kreises vom , zugestellt am , wird angeordnet. 2. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Verfügung des Landrates des Kreises vom , zugestellt am , wird wiederhergestellt. Es wird gebeten der Antragsgegnerin mitzuteilen, 639 BVerfGE 35, 382 (402); 38, 52 (58); 69, 220 (228); BayVGH, InfAuslR 2004, 244; s. hierzu auch ausführlich Strieder, InfAuslR 2006, 211 (213 ff.). 640 BVerfG (Kammer), NVwZ 1996, 58 (59); zu den Anforderungen an die Begründung s. auch Strieder, InfAuslR 2006, 211. 641 BVerfGE 35, 382 (404); 38, 52 (58); s. hierzu auch OVG Hambueg, InfAuslR 2005, 198 (199); VG Stuttgart, InfAuslR 1999, 79. 642 OVG Hamburg, InfAuslR 2005, 198 (199) 171 dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zu einer Entscheidung des Gerichts die Abschiebung nicht vollzogen wird e) Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO Auch im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren kann nach unanfechtbarer Zurückweisung des Eilrechtsschutzantrags ein Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestellt werden. Das Abänderungsverfahren ist kein Rechtsmittelverfahren, sondern ein gegenüber dem Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO selbständiges und neues Eilrechtsschutzverfahren. Es setzt voraus, dass ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO formell unanfechtbar abgeschlossen worden ist und hat als Verfahrensgegenstand die Frage, ob die ergangene rechtskräftige Entscheidung für die Zukunft aufrechterhalten bleiben soll. Deshalb kann die Entscheidung auch nur geändert und nicht etwa aufgehoben werden. Allenfalls in Ausnahmefällen wird in der Rechtsprechung eine rückwirkende Aufhebung erwogen, etwa dann, wenn die frühere Entscheidung auf einem schweren Verfahrensfehler oder auf einer in jeder Hinsicht unzutreffenden Tatsachengrundlage beruht.643 Voraussetzung ist aber, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache nicht verfristet ist. Denn ein verfristeter Rechtsbehelf vermag mangels Anfechtbarkeit des bestandskräftig gewordenen Bescheides von vornherein keine aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO auslösen. Die aufschiebende Wirkung solle die Schaffung irreparabler Tatsachen verhindern, die sich aus der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes ergeben könnten. Komme hingegen die Gewährung von Eilrechtsschutz wegen eindeutiger Verfristung des an sich statthaften Rechtsmittels nicht mehr in Betracht, bestehe auch für den Eintritt der aufschiebenden Wirkung kein hinreichender Anlass mehr.644 Sofern das Rechtsmittel fristgemäß eingelegt worden war, kann jedoch auch nach unanfechtbarer Zurückweisung des Eilrechtsschutzbeschluss erneut Eilrechtsschutz im Wege des Abänderungsverfahrens beantrag werden. Legt der Antragsteller nach unanfechtbarer Zurückweisung seines Eilrechtsschutzantrags ärztliche Stellungnahmen vor, aus denen sich infolge der Unterbringung zur Therapie gemäß § 64 StGB eine positive Entwicklung im Hinblick auf die Bewältigung seiner Drogenabhängigkeit ergibt, haben sich gegenüber dem vorangegangenen Verfahren die Gewichte deutlich verschoben, sodass dem Eilrechtsschutz im Abänderungsverfahren – bezogen auf die Versagungsverfügung – der Erfolg nicht versagt werden kann.645 F. Rechtsschutz im Asyslverfahren I.. Klageerhebung § 74 Abs. 1 AsylVfG ordnet für die Klageerhebung im Asylprozess kürzere Fristen als nach allgemeinem Verwaltungsprozessrecht an. Besondere Vorschriften über die Klageerhebung selbst sind dem Gesetz nicht zu entnehmen. Insofern gelten die allgemeinen Vorschriften. Darüber hinaus enthält das Gesetz besondere Begründungsfristen mit Präklusionswirkungen (vgl. § 74 Abs. 2 AsylVfG). 1. Formelle Erfodernisse Die Klage muss bei dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht erhoben werden. Bei der örtlichen Zuständigkeit handelt es sich um eine von Amts wegen zu beachtende Prozessvoraussetzung.646 Insbesondere in den Fällen, in denen während der Klagefrist eine Zuweisungsentscheidung (§§ 50 f. AsylVfG) erlassen wird, ist zu prüfen, welches 643 644 645 646 VGH BW, InfAuslR 2005, 313 (314 f.) = AuAS 2005, 170. VGH BW, NJW 2004, 2690. OVG SH, AuAS 2001, 87. BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301). 172 Verwaltungsgericht zuständig ist. Nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ist in Streitigkeiten nach dem AsylVfG und wegen Verwaltungsakten der Ausländerbehörde gegen Asylsuchende das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Asylantragsteller mit Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde entweder seinen Wohnsitz oder in Ermangelung dessen seinen Aufenthalt hat oder seinen letzten Wohnsitz oder Aufenthalt hatte.647 Maßgebend für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit des Gerichts ist der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit, d. h. der Zeitpunkt des Eingangs der Klage beim Gericht. 648 Die nachträgliche länderübergreifende Verteilung bewirkt wegen des Grundsatzes perpetuatio fori keine Änderung in der gerichtlichen Zuständigkeit.649 Entscheidend für die Bestimmung des Gerichtsstandes ist ausschließlich die Zustimmung der Ausländerbehörde, die in dem der Klageerhebung vorangegangenen Verteilungsverfahren im Hinblick auf den Kläger örtlich zuständige Ausländerbehörde geworden ist. Maßgebend für das Vorliegen der die Gerichtszuständigkeit begründenden behördlichen Zustimmung ist im Übrigen der Zeitpunkt der Erhebung der Klage 650. Es ist also für die den Gerichtsstand begründende behördliche Zustimmung die Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylVfG maßgebend.651 Wird ein Asylsuchender im Bezirk einer Ausländerbehörde aufgegriffen und in Untersuchungshaft genommen bzw. zum Zwecke der Haft in den Bezirk einer anderen Ausländerbehörde überstellt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass dies mit Einverständnis der Ausländerbehörde erfolge, als die für den Haftort zuständige Behörde zuständig ist.652 Hat der Asylsuchende indes unerlaubt den ihm zugewiesenen Aufenthaltsbereich verlassen und wird er in einem anderen Bundesland aufgegriffen und zwecks Rückführung festgenommen, ist das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Asylsuchende mit Zustimmung der Ausländerbehörde seinen Aufenthalt zu nehmen hat.653 Liegen bei einem Folgeantrag die Voraussetzungen des § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylVfG vor, wonach eine räumliche Beschränkung im Folgeantragsverfahren fortgilt, ist das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Antragsteller gemäß § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylVfG seinen Aufenthalt zu nehmen hatte.654 Ist der Rechtsbehelf trotz ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung beim örtlich nicht zuständigen Verwaltungsgericht erhoben worden, ist gemäß § 17 Abs. 2 GVG Antrag auf Verweisung an das zuständige Verwaltungsgericht zu stellen. Dies gilt auch im Eilrechtsschutzverfahren.655 Die Verweisung erhält, auch wenn sie erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist erfolgt, die Rechtshängigkeit der Sache (vgl. § 83 VwGO i.V.m. § 17b Abs. 1 Satz 2 GVG).656 Dies gilt jedoch nicht für die schuldhaft bei einem unzuständigen 647 648 649 650 651 652 653 654 655 656 BVerwG, InfAuslR 1983, 76. BVerwG, InfAuslR 1985, 149 (150) = EZAR 611 Nr. 7. Thür. OVG, AuAS 1997, 24. BVerwG, BayVBl. 1986, 504. BVerwG, BayVBl. 1986, 504; OVG Hamburg, EZAR 611 Nr. 5. Hess. VGH, EZAR 611 Nr. 9. VG Berlin, InfAuslR 1994, 379 (380). VG Schleswig, AuAS 1993, 228. BayVGH, NVwZ-RR 1993, 668; VG Berlin, InfAuslR 1994, 379. BGH, NJW 1986, 2255; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1996, 181; OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995, 251. 173 Gericht erhobenen Rechtsbehelfe.657 Ebenso wenig erhält die Einreichung einer an das zuständige Gericht adressierten Klage bei einem unzuständigen Gericht die Rechtshängigkeit.658 In diesem Fall ist das Gericht, bei dem das Schriftstück eingeht, obwohl es dort nicht eingehen sollte, zu einer prozessualen Behandlung weder verpflichtet noch überhaupt berechtigt, sondern allenfalls nur gehalten, die Eingabe zurückzusenden oder weiterzuleiten. Die versehentliche Zuleitung an ein anderes als das angesprochene Gericht unterscheidet sich damit nicht vom sonstigen Irrläufer des Schriftstückes an einen beliebigen Dritten. Im Gegensatz zum Rechtsirrtum, der zur Anrufung des falschen Gerichts führt und den der Gesetzgeber nachsichtig behandelt hat, ist sie daher ebenso wenig fristunschädlich wie eine sonstige Nachlässigkeit bei der Übermittlung fristgebundener Schriftstücke.659 Der Beschluss, mit dem sich das Verwaltungsgericht für unzuständig erklärt sowie das Verwaltungsstreitverfahren an das nach seiner Auffassung zuständige Verwaltungsgericht verweist, ist für dieses analog § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindend.. Im Rahmen des § 83 Satz 1 VwGO bedeutet dies, dass das Berufungsgericht bei der Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils von einer in dem Urteil ausdrücklich oder stillschweigend bejahten örtlichen Zuständigkeit des betreffenden Verwaltungsgerichts ohne weiteres auszugehen hat. 660 Auch wenn sich erst im Antragsverfahren nach § 78 Abs. 4 AsylVfG herausstellen sollte, dass das erstinstanzliche Verwaltungsgericht örtlich unzuständig ist, darf daher das Berufungsgericht die Sache nicht an das örtlich zuständige Berufungsgericht verweisen. Abweichend von der allgemeinen Klagefrist von einem Monat für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (§ 74 VwGO) ist nach § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG die Klage gegen alle Entscheidungen nach dem AsylVfG innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung zu erheben. Die verkürzte Klagefrist gilt damit für alle Rechtsstreitigkeiten nach dem AsylVfG, seien sie verfahrens-, aufenthalts- oder verteilungsrechtlicher Art. Eine zusätzliche Verschärfung erfolgt durch § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG. Danach wird die Klagefrist auf eine Woche nach Zustellung verkürzt, wenn der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO innerhalb einer Woche zu stellen ist. Mit dem Verweis auf § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in dieser Vorschrift ist klargestellt, dass in allen asylverfahrensrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren die Klagefrist mit der Frist für den Eilrechtsschutzantrag zusammenfällt. Ordnet das Gesetz an, dass zur Gewährleistung des Abschiebungsschutzes der vorläufige Rechtsschutzantrag binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Abschiebungsandrohung zu stellen ist (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG), ist abweichend von § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG auch die Klage binnen einer Woche zu erheben. Die verkürzte Klagefrist ist bei unbeachtlichen (§ 29 Abs. 1 AsylVfG) und bei offensichtlich unbegründeten oder als solche geltenden Asylbegehren (§§ 29a, 30 AsylVfG) zu beachten. Überdies verweisen die Vorschriften über den Folgeantrag (§ 71 Abs. 4 1. Hs. AsylVfG) sowie über den Zweitantrag (§ 71a Abs. 4 AsylVfG) auf die Bestimmungen des § 36 AsylVfG, so dass in diesen Fällen ebenfalls die einwöchige Klagefrist zu beachten ist (§ 74 Abs. 1 2. Hs. i.V.m. §§ 36 Abs. 3 Satz 1, 71 Abs. 4 1. Hs. oder 71a Abs. 4 AsylVfG). Für das Asylfolgeantragsverfahren gilt dies indes nur, wenn das Bundesamt nach § 71 Abs. 4 AsylVfG eine erneute Abschiebungsandrohung erlässt. Geht es nach § 71 Abs. 5 AsylVfG 657 658 659 660 OVG Rh-Pf, NJW 1981, 1005; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1996, 181 f.; VGH BW, NJW 1988, 222. OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995, 251 f. OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995, 251 f. BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301); offen gelassen Thür. OVG, AuAS 1997, 24. 174 vor, bleibt es bei der Klagefrist nach § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG. Eilrechtsschutz ist in diesem Fall nach § 123 VwGO zu beantragen. Die Klage ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht zu erheben (§ 81 Abs. 1 VwGO). Der Urkundsbeamte hat den anwaltlich nicht vertretenen Asylkläger sachgerecht zu belehren und insbesondere auch auf die Notwendigkeit mehrerer Klageerhebungen sowie gegebenenfalls auf die Erforderlichkeit der Stellung eines Eilantrags nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG hinzuweisen. Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen (§ 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie soll einen bestimmten Antrag enthalten (§ 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die schriftliche Klage ist in deutscher Sprache abzufassen (§ 55 VwGO, § 184 GVG). Das gilt auch für den der deutschen Sprache nicht mächtigen Asylsuchenden.661 Die Klageschrift muss vom Kläger oder dessen Verfahrensbevollmächtigten eigenhändig unterschrieben sein. Ist die Unterschrift nicht einmal andeutungsweise erkennbar, wie z.B. durch ein Handzeichen, ist das Erfordernis der Schriftform nicht gewahrt.662 Dem Schriftformerfordernis genügt eine Unterschrift mittels Faksimile-Stempel nicht.663 Dem Erfordernis der Schriftlichkeit kann jedoch auch ohne eigenhändige Namenszeichnung genügt sein, wenn sich aus anderen Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den Rechtsverkehrswillen ergibt.664 Insoweit ist ein Handzeichen ausreichend.665 Eine Heilung des Mangels der Unterschrift durch Vollziehung nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist ist nicht möglich.666 Die Klage muss Kläger, Beklagten und Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen (§ 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zur ordnungsgemäßen Klageerhebung und zur Bezeichnung des Klägers gehört grundsätzlich auch die Angabe der ladungsfähigen Adresse des Klägers.667 Demgegenüber ist anerkannt, dass die Berufungsschrift lediglich die Angabe enthalten muss, für wen und gegen wen das Rechtsmittel eingelegt wird.668 Der Kläger muss jedoch nicht ausdrücklich benannt werden. Es genügt, wenn sich aus der Berufungsschrift oder aus anderen dem Berufungsgericht innerhalb der Rechtsmittelfrist vorgelegten Unterlagen eine hinreichende Bestimmung des Klägers ergibt. Die Person des Berufungsführers muss mithin innerhalb der Rechtsmittelfrist für das Gericht erkennbar werden.669 Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten (§ 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Beantragt der Kläger die uneingeschränkte Aufhebung des angefochtenen Bescheides, stellt er indes schriftsätzlich mit der Klageerhebung lediglich einen auf die Asylanerkennung gerichteten Antrag und erst in der mündlichen Verhandlung den Verpflichtungsantrag nach § 60 Abs. 1 und § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, so ist die Klage in Ansehung der in der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge nicht als verfristet anzusehen.670 BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301); offen gelassen Thür. OVG, AuAS 1997, 24. EGH Hamm, BRAK-Mitt. 4/1990, 249. 663 VG Darmstadt, HessVGRspr. 1994, 6; 1994, 71; VG Wiesbaden, HessVGRspr. 1994, 7; 1995, 31 (32). 664 BVerwG, NVwZ 1989, 555 = NJW 1989, 1175; VGH BW, ESVGH 39, 320. 665 EGH Hamm, BRAK-Mitt. 4/1990, 249. 666 OVG NW, NVwZ 1991, 582. 667 Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 179 (180); OVG NW, NVwZ-RR 1994, 124 (125); 1997, 390; OVG NW, AuAS 1998, 236 (237). 668 BGH, NJW 1994, 1879. 669 BGH, NJW 1994, 1879. 670 OVG Hamburg, NVwZ-Beil. 1998, 44 (45) = AuAS 1998, 115; zur Auslegung von Klageanträgen in einem ähnlich gelagerten Fall s. BFH, NVwZ-RR 1998, 408. 661 662 175 § 67 Abs. 3 Satz 1 VwGO bestimmt, dass der Bevollmächtigte eine schriftliche Vollmacht einzureichen hat. Aus § 67 Abs. 3 Satz 2 1. Hs. VwGO folgt andererseits, dass die Wirksamkeit der Klage nicht von dem gleichzeitigen Nachweis abhängig ist. Der Umstand allein, dass eine Vollmacht weder zusammen mit dem Rechtsbehelf noch später nachgereicht worden ist, berechtigt das Gericht noch nicht, den Rechtsbehelf nach Ablauf einer gewissen Frist als unzulässig zurückzuweisen. Eine derartige Verfahrensweise verletzt das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf Gehör671 Denn das Gericht darf keine Überraschungsentscheidungen treffen. Gerade im Hinblick auf die Möglichkeit einer Nachreichung der Vollmacht muss dem Bevollmächtigten deshalb zu erkennen gegeben werden, dass die Vollmacht bisher nicht vorgelegt wurde, dies jedoch zur Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsbehelfs für erforderlich erachtet wird. Dazu ist im Allgemeinen ausreichend, dass die Prozessvollmacht angefordert wird. Insbesondere bei rechtlich nicht vorgebildeten Bevollmächtigten kann es sich empfehlen, entsprechend der Vorschrift des § 67 Abs. 3 Satz 2 2. Hs. VwGO eine Frist zu setzen. Diese hat jedoch keine ausschließende Wirkung, sondern eine gesteigerte Warnfunktion in dem Sinne, dass nach Fristablauf mit der Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs nicht mehr zugewartet werden braucht.672 Legt der Prozessbevollmächtigte jedoch auch nach wiederholter gerichtlicher Erinnerung keine Vollmacht vor und stellt sich heraus, dass er den Rechtsbehelf lediglich fristwahrend im vermuteten Interesse des Auftraggebers erhoben hat, ist der Rechtsbehelf nach dem BVerwG mit der Folge abzuweisen, dass dem Prozessbevollmächtigten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen sind.673 Die schriftliche Vollmacht muss wie eine Willenserklärung im Sinne des § 126 BGB vom Auftraggeber unterzeichnet sein Im Rahmen dieser Vorschrift ist es anerkanntermaßen unerheblich, in welcher Reihenfolge Text und Unterschrift gesetzt werden. Demgemäß sind Blankounterschriften, denen erst später ein Text vorgestellt wird, nach allgemeiner Ansicht formwirksam. Das Prozessrecht verbietet es daher nicht, dass der Auftraggeber seinem Rechtsanwalt mehrere unterschriebene, im Übrigen aber unausgefüllte Vollmachtsformulare übergibt und ihn ermächtigt, sie nach eigener Entscheidung von Fall zu Fall zu ergänzen – erst dadurch entsteht die konkrete Prozessvollmacht – und zu verwerten.674 Auch eine bereits vor Jahren erteilte Vollmacht bleibt unter diesen Voraussetzungen wirksam.675 bb) Zustellung an den Prozessbevollmächtigten Ist ein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind Zustellungen oder Mitteilungen des Gerichts an diesen zu richten (§ 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Solange der Vollmachtsvertrag im Innenverhältnis fortbesteht, findet § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO Anwendung. Besteht daher das Auftragsverhältnis noch fort, weil der Kontakt des Rechtsanwaltes zum Auftraggeber abgerissen ist und dieser daher im Innenverhältnis den Auftrag nicht kündigen kann, ist gemäß § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO ungeachtet der Mandatsniederlegung nach wie vor an den Verfahrensbevollmächtigten zuzustellen.676 671 BVerwG, InfAuslR 1985, 166; a. A. BFH, NVwZ-RR 2000, 263, Setzung einer Ausschlussfrist unmittelbar nach Klageeingang ist zulässig. 672 BVerwG, InfAuslR 1985, 166. 673 BVerwG, NJW 1960, 593; s. aber § 83b Abs. 1 AsylVfG. 674 675 676 BVerwG, InfAuslR 1983, 309. BFH, NVwZ 1998, 662 (663). BVerwG, InfAuslR 1984, 90; BVerwG, NVwZ 1985, 337; Hess. VGH, NVwZ 1998, 1313 (1314). 176 Das Gericht kann nach dieser Rechtsprechung, etwa bei Kenntnis von dem unterbrochenen Kontakt an den Rechtsanwalt, eine Betreibensaufforderung gemäß § 81 AsylVfG zustellen, mit der Folge, dass nach Fristablauf die Klage mit allen für den Auftraggeber nachteiligen Folgen als zurückgenommen gilt. Wer als Rechtsanwalt oder Rechtsanwältin dem Gericht Mitteilung macht, dass der Kontakt zum Mandanten unterbrochen ist, muss diese prozessuale Vorgehensweise bedenken. Vor einer entsprechenden Mitteilung an das Gericht sind daher alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Kontakt zum Mandanten wiederherzustellen. Dazu gehören auch Anfragen bei der zuständigen Ausländerbehörde und bei Dritten. Andererseits ist es unzumutbar, Akten über Jahre lediglich zu verwalten, wenn der Mandant jeglichen Kontakt unterbrochen hat und auch keine Möglichkeiten erkennbar sind, diesen wiederherzustellen. Bei Zustellung an mehrere Prozessbevollmächtigte, beginnt die Rechtsmittelfrist mit der ersten Zustellung zu laufen. Nach § 173 VwGO in Verb. mit § 84 Satz 1 ZPO sind mehrere Bevollmächtigte eines Beteiligten berechtigt, sowohl gemeinschaftlich als auch einzeln den Beteiligten zu vertreten. Bei der Bestellung mehrerer Prozessbevollmächtigter kann daher die Zustellung an jeden von ihnen gemäß § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 8 Abs. 4VwZG wirksam bewirkt werden. Wird an jeden von ihnen zugestellt, ist die zeitlich erste Zustellung für den Lauf der Frist für alle Prozessbevollmächtigten maßgebend, ohne dass es auf Kenntnis des jeweils anderen Prozessbevollmächtigten von der weiteren Zustellung ankommt 677 Das Gericht soll an den Verfahrensbevollmächtigten in Anerkennung der besonderen Stellung des Rechtsanwaltes als Organ der Rechtspflege die Zustellung durch Empfangsbekenntnis (§ 5 Abs. 2 VwZG) vornehmen.678 Wechselt der Asylsuchende nach Zustellung den Rechtsanwalt und erhebt dieser die Klage, wird häufig bereits durch den bisherigen Rechtsanwalt die Klage erhoben worden sein. In Kooperation mit dem bisherigen Verfahrensbevollmächtigten, gegebenenfalls durch Anfrage an das Verwaltungsgericht ist zu klären, welche Klage zuerst eingegangen ist und anschließend die später erhobene Klage zurück zu nehmen. Denn der letzteren steht das Prozesshindernis der Rechtshängigkeit im Wege. Nimmt der frühere Bevollmächtigte die Klage zurück, obwohl diese zuerst eingegangen ist, erwächst der Bescheid in Bestandskraft, de zweite Klage wird als unzulässig zurück gewiesen. Allerdings kann ihm bereits vor Klageerhebung die Vollmacht entzogen worden sein. In diesem Fall ist die von ihm erhobene Klage mangels Nachweises einer Vollmacht unzulässig. Bei einem beharrlichen Verschweigen des Aufenthaltsortes des Klägers wird wegen der damit einhergehenden groben Verletzung der Mitwirkungspflichten das Rechtsschutzinteresse verneint. Vorauszusetzen ist indes ein beharrliches Verschweigen. Bei einmaligem Verstoß gegen die Verpflichtung zur Mitteilung des Aufenthaltsortes wird dies nicht angenommen.679 Zweifel am Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses sind mithin erst dann begründet, wenn der Kläger sich beharrlich weigert, seine Adresse bekannt zu geben. Das Verwaltungsgericht muss wiederholt aufgefordert haben, eine ladungsfähige Adresse mitzuteilen.680 Wird dem Verwaltungsgericht bekannt, dass der Kläger nach „unbekannt abgemeldet“ ist, bedarf es ebenfalls einer vorherigen Aufforderung, eine ladungsfähige Adresse mitzuteilen.681 Häufig 677 BVerwG, AuAS 1998, 260. Thür.OVG, AuAS 1999, 195 (196); OVG MV, NVwZ 2002, 113, zu den Voraussetzungen der Zustellung durch Empfangsbekenntnis 679 Hess. VGH, Hess. VGRspr. 1988, 41; 1988, 47; s. auch BVerfG (Kammer), AuAS 1996, 31, zur Zurückweisung des einstweiligen Anordnungsantrags eines im Kirchenasyl „untergetauchten Asylsuchenden“. 680 Hess. VGH, Hess. VGRspr. 1988, 41; Hess. VGH, InfAuslR 1990, 291 (292). 681 Hess. VGH, EZAR 630 Nr. 9, S. 2; BayVGH, AuAS 1999, 98. 678 177 erfolgen derartige Abmeldungen ohne Wissen des Klägers oder der Aufsichtsperson in der Gemeinschaftsunterkunft durch den Hotelbesitzer oder Vermieter. Tritt der Asylsuchende im Asylverfahren unter falschem Namen auf, so wird nach der Rechtsprechung der Bescheid auch dann wirksam zugestellt, wenn er an den Kläger unter seinem falschen Namen gerichtet wird. Voraussetzung für eine wirksame Bekanntgabe nach § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG sei lediglich, dass der Kläger als Adressat wirklich existiere, nicht hingegen, dass er unter falschem Namen aufgetreten sei. Denn dies berühre seine tatsächliche Identität nicht. Auf diese allein komme es jedoch an.682 Dementsprechend kann der Kläger unter dem Namen, den er dem Bundesamt angegeben hat und unter dem der Bescheid an ihn zugestellt worden ist, Klage erheben. Eine ganz andere Frage betrifft die Notwendigkeit, zur Durchsetzung des Klageanspruchs die Identitätstäuschung im Rahmen der Klagebegründung Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bestehen, wenn der Kläger ausgereist ist.683 Betreibt er nach Ausreise das Verfahren ordnungsgemäß weiter und bekundet unter Bezeichnung nachvollziehbarer Gründe sein fortbestehendes Interesse an der Erlangung eines positiven Verpflichtungsurteils, kann das Rechtsschutzbedürfnis hingegen nicht verneint werden. So lange die dem Urteil eigenen Wirkungen rechtlich möglich und auch mithilfe des Gerichts, eben durch gerichtliche Entscheidung, erreichbar sind, kann ein objektives Interesse am Ergehen einer richterlichen Entscheidung grundsätzlich nicht verneint werden.684 2. Begründung der Klage Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG sind die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Entscheidung anzugeben. Die Begründungsfrist knüpft damit nicht an die Klagefrist des § 74 Abs. 1 AsylVfG an. Vielmehr beginnen mit Zustellung Rechtsbehelfs- und Begründungsfrist einheitlich zu laufen. Während die Klagefrist nach Ablauf von zwei Wochen (§ 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG) bzw. von einer Woche (§ 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG) nach Zustellung endet, läuft die Begründungsfrist nach Ablauf eines Monats nach Zustellung einheitlich für alle Klagen – auch für die im Zusammenhang mit einem Eilrechtsschutzantrag nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG erhobene Klage – ab (§ 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG). Wohl in stillschweigender Anknüpfung an die Rechtsprechung des BVerwG zum Umfang der Darlegungslast in Asylverfahren differenziert die Gesetzesbegründung zwischen den Mitwirkungspflichten des Asylsuchenden einerseits und den aus dem Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) folgenden gerichtlichen Verpflichtungen andererseits. Der Asylsuchende berufe sich regelmäßig auf Umstände, die in seinem persönlichen Lebensbereich lägen und daher nur von ihm selbst vorgetragen werden könnten. Auch die Beweismittel, die diese Umstände belegen könnten (insbesondere Zeugen und Urkunden), könne vielfach nur der Kläger selbst benennen. Komme er seiner hieraus folgenden Mitwirkungspflicht nicht oder nur unzureichend nach, führe dies zu erheblichen Verfahrensverzögerungen. Dem solle durch die zwingende Begründungsfrist in § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG Rechnung getragen werden.685 682 683 BayVGH, EZAR 210 Nr. 12. BVerwG, InfAuslR 1985, 278 (279) = EZAR 630 Nr. 19; BVerwG, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 10. 684 BVerwGE 81, 164 (166) = EZAR 205 Nr. 10 = NVwZ 1989, 673; s. auch BVerfGE 56, 216 (243 f.) = DVBl. 1981, 623 = DÖV 1981, 453 = NJW 1981, 1436; BVerfGE 67, 43 (57) = NJW 1984, 2028 = InfAuslR 1984, 216; ebenso OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 1998, 60 = AuAS 1998, 58. 685 BT-Drs. 12/2062, S. 40. 178 Unberührt von dieser Darlegungspflicht bleibe der Untersuchungsgrundsatz nach § 86 Abs. 1 VwGO. Deshalb müssten die Gerichte beispielsweise Ermittlungen über die allgemeine politische Lage im Herkunftsland des Asylklägers, soweit erforderlich, auch weiterhin von Amts wegen vornehmen. Als generelle Faustregel zur Handhabung der fristgebundenen Begründungspflicht wird man daher sagen können, dass innerhalb der Begründungsfrist sämtliche den individuellen Lebensbereich des Klägers betreffende Tatsachen und Beweismittel anzugeben sind. Dies erfordert insbesondere eine konkrete und detaillierte Auseinandersetzung im Einzelnen mit den im angefochtenen Asylbescheid erhobenen Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben innerhalb der Begründungsfrist. Sie sind innerhalb dieser Frist nach Möglichkeit erschöpfend auszuräumen. Ausreichend ist aber, dass dem Grunde nach Tatsachen und Umstände vorgetragen werden, die geeignet sind, Glaubhaftigkeitsbedenken auszuräumen. Ergänzendes Sachvorbringen nach Fristablauf, das sich auf dem Grunde nach bereits vorgetragene Tatsachen bezieht, bleibt rechtlich zulässig. Das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel bleibt unberührt (§ 74 Abs. 2 Satz 4 AsylVfG). Der Anknüpfungszeitpunkt hierfür ist das Fristende nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG. Tatsachen und Beweismittel, die nach dieser Frist bekannt werden, können nachträglich vorgebracht werden und unterliegen keiner besonderen Fristbestimmung. Spät vorgetragene neue Tatsachen können aber Zweifel an deren Glaubhaftigkeit aufkommen lasssen. Mit Beweismitteln sind in erster Linie vorhandene Urkunden und Zeugen gemeint, die nur der Kläger selbst benennen kann. Es genügt insoweit deren „Angabe“, d. h. die Vorlage der Urkunde oder Benennung des Zeugen. Die Präzisierung des Beweisthemas wie auch die Angabe der ladungsfähigen Anschrift des benannten Zeugen können nachgeholt werden. Vielfach wird der Kläger auch erst nach Ablauf der Begründungsfrist Kenntnis von vorhandenen Zeugen erlangen. Tatsächliche Ausführungen zur allgemeinen politischen und rechtlichen Situation im Herkunftsland des Klägers bleiben jederzeit möglich. Dies trifft auch auf die zur Aufklärung der allgemeinen Situation im Herkunftsland dienenden Beweismittel zu. Insoweit ist das Gericht nach § 86 Abs. 1 VwGO ohnehin gehalten, von Amts wegen jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts bis zur Grenze des Zumutbaren zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Verwaltungsstreitverfahrens von Bedeutung ist. Rechtsausführungen sind ebenfalls jederzeit möglich. Denn das Gericht hat über das Klagebegehren nach seiner eigenen Rechtsauffassung zu entscheiden. Rechtsausführungen des Klägers haben daher lediglich anregende Funktion bzw. bereiten das Rechtsgespräch in der mündlichen Verhandlung vor. Dem entspricht es, dass sie jederzeit vorgetragen werden können. Der Umfang des fristgebundenen Begründungserfordernisses wird also durch die den Kläger treffende Darlegungspflicht bestimmt. Der Asylsuchende braucht nur in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine in sich stimmige und widerspruchsfreie Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen. Hinsichtlich der allgemeinen Umstände ist ein Asylsuchender oft in einer schwierigen Lage. Denn seine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen sind häufig auf einen engeren Lebenskreis begrenzt und liegen zudem stets einige Zeit zurück. Daher würde seine Mitwirkungspflicht überdehnt, wollte man auch insofern einen Tatsachenvortrag verlangen, der seinen Anspruch lückenlos zu tragen vermöchte und im Sinne der zivilprozessualen Verhandlungsmaxime schlüssig zu sein hätte. Insofern muss es genügen, um das Gericht zu Ermittlungen zu veranlassen, wenn sich aus den vom Kläger vorgetragenen Tatsachen – ihre 179 Wahrheit unterstellt – die nicht entfernt liegende Möglichkeit ergibt, dass ihm bei Rückkehr politische Verfolgung droht.686 Der Inhalt der fristgebundenen Begründungspflicht ist damit nach Maßgabe dieser Grundsätze zu bestimmen. Innerhalb der Begründungsfrist sind vom Kläger sämtliche in seine persönliche Erlebnissphäre fallenden Ereignisse und Vorkommnisse, die Anlass zur Flucht gegeben hatten oder sich auf Aktivitäten im Bundesgebiet beziehen, erschöpfend und detailliert darzulegen. Da im angefochtenen Asylbescheid häufig eine Reihe von Einwänden gegen die persönliche Glaubwürdigkeit bzw. die Glaubhaftigkeit der Sachangaben erhoben werden, ist eine konkrete Auseinandersetzung mit diesen nach Maßgabe der genannten Grundsätze erforderlich. Häufig werden Glaubhaftigkeitsbedenken auch aus Erkenntnissen zur allgemeinen Situation im Herkunftsland abgeleitet. Hier reicht es aus, wenn der Kläger substanziiert den Hergang der Ereignisse darlegt, so wie er ihn erlebt hat. Ist dieses Sachvorbringen in sich schlüssig, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die vom Bundesamt verwertete Erkenntnisquelle die ihr beigemessene Aussagekraft hat. Erforderlichenfalls ist von Amts wegen aus Anlass des Sachvortrags weiter aufzuklären oder ist zu diesem Zweck Beweisantrag zu stellen. Musterklage: Asylanerkennung, internationaler Schutz An das Verwaltungsgericht Verpflichtungsklage der angolanischen Staatsangehörigen – Klägerin – gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Leiter der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – Beklagte – wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage: Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom .., zugestellt am.. , verpflichtet festzustellen, dass die Kläger Asylberechtigte sind und ihnen die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 1. Hs. AsylVfG zuzuerkennen; hilfsweise: den Klägern den subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zuzuerkennen; hilfsweise den Klägern den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zuzuerkennen. II. Eilrechtsschutz im Asylverfahren Das asylrechtliche Eilrechtsschutzverfahren hat seinen verfassungsrechtlichen Ort in Art. 16a Abs. 4 GG. Die Regelungen in § 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG setzen die verfassungsrechtliche Beschleunigungsmaxime um. Das BVerfG beschreibt die Funktion des Art. 16a Abs. 4 GG so, dass durch diese Norm in Verb. mit Art. 16a Abs. 3 GG das vorläufige Bleiberecht des 686 BVerwG, InfAuslR 1981, 156; 1983, 76; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507. 180 Asylsuchenden beschränkt werden soll.687 Diese Verfassungsnorm gilt für die Fälle des Art. 16a Abs. 3 GG und damit insbesondere für offensichtlich unbegründete Asylbegehren im Sinne des § 30 AsylVfG. Die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Anfechtungsklage hat keine aufschiebende Wirkung (§ 75 AsylVfG). Will der Antragsteller für das weitere Verfahren sein Verbleibsrecht sicherstellen, muss er deshalb abweichend vom allgemeinem Verwaltungsprozessrecht binnen Wochenfrist einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in Verb. mit § 80 Abs. 5 VwGO stellen. Wegen § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG ist auch die Klage innerhalb dieser Frist zu erheben. Wird kein einstweiliger Rechtsbehelf eingelegt, wird die Abschiebungsandrohung (§§ 34 und 35 AsylVfG) nach Ablauf der einwöchigen Ausreisefrist vollziehbar. Wird zwar der Eilrechtsschutzantrag innerhalb der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG gestellt, die Klage jedoch erst nach Ablauf der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG erhoben, ist der einstweilige Antrag als unzulässig zurückzuweisen. Anders als im normalen Verwaltungsstreitverfahren, in dem der einstweilige Antrag jederzeit wiederholt werden kann, sofern die Anfechtungsklage fristgemäß erhoben worden ist, folgt aus der Fristgebundenheit des Eilrechtsschutzantrags das Verbot der Wiederholung.688 Da bei Versäumung der Klagefrist die Klage unzulässig ist, das Eilrechtschutzverfahren im Asylverfahrensrecht seine Eigenart als Mittel des einstweiligen Rechtsschutzes, das in Abhängigkeit zum Hauptsacheverfahren steht, jedoch nicht verliert,689 teilt es das rechtliche Schicksal des Anfechtungsprozesses. Der Gesetzgeber hat keine Begründungsfrist festgelegt. Im Hinblick auf die das Gericht betreffende Entscheidungsfrist (vgl. § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG) kann ein unterbliebener oder unvollständiger Sachvortrag einschneidende Rechtsfolgen haben. Auch kann die Präklusionswirkung nach § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG eingreifen. Zwar hindert das Gesetz das Verwaltungsgericht nicht, bereits vor Ablauf der Frist nach § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG zu entscheiden. Vielmehr geht diese Norm davon aus, dass die Entscheidung „innerhalb“ von einer Woche nach Ablauf der einwöchigen Ausreisefrist getroffen werden „soll“. Es spricht jedoch vieles dafür, dem Antragsteller zur möglichst umfassenden Begründung seines Rechtsschutzbegehrens entgegenzukommen und deshalb nicht unmittelbar nach Ablauf der Wochenfrist zu entscheiden. Gegebenenfalls ist das Verwaltungsgericht darauf hinzuweisen, dass der Antrag innerhalb der Frist des § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG begründet werden wird. Muster: Klage und Eilrechtsschutzantrag bei Ablehnung des Folgeantrags nach § 71 Abs. 5 AsylVfG An das Verwaltungsgericht Klage und Eilrechtsschutzantrag der türkischen Staatsangehörigen – Klägerin/Antragstellerin – gegen die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch den Leiter der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – Beklagte/Antragsgegnerin – wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage: 687 688 689 BVerfGE 94, 166 (190 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678. VGH BW, VBlBW 1985, 466 = DÖV 1986, 296. BVerfG, EZAR 631 Nr. 4. 181 Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom .., zugestellt am.. , verpflichtet festzustellen, dass die Klägerin Asylberechtigte ist und ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen; hilfsweise: zu verpflichten, der Klägerin subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 1, und 7 Satz 2 AufenthG zuzuerkennen; hilfsweise zu verpflichten, der Klägerin subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zuzuerkennen Des weiteren beantrage ich, die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass aufgrund der Klageerhebung ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird. (Variante bei Zuständigkeit einer zentralen, für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde: die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass diese dem Regierungspräsidium … mitteilt, dass aufgrund der Klageerhebung ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird.) Des Weiteren wird gebeten, der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in … aufzugeben, der Ausländerbehörde in … den gerichtlichen Hinweis zu übermitteln, dass im Hinblick auf den anhängigen Eilrechtsschutzantrag bis zur einer gerichtlichen Entscheidung die Abschiebung ausgesetzt wird. (Variante bei Zuständigkeit einer zentralen, für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde: der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in … aufzugeben, der Ausländerbehörde in … den gerichtlichen Hinweis zu übermitteln, dass diese dem Regierungspräsidium in … den Hinweis übermittelt, dass im Hinblick auf den anhängigen Eilrechtsschutzantrag bis zur einer gerichtlichen Entscheidung die Abschiebung ausgesetzt wird. Muster: Eilrechtsschutzverfahren nach § 71 Abs. 5 AsylVfG in Verb. mit § 123 VwGO An das Verwaltungsgericht Klage und Eilrechtsschutzantrag der türkischen Staatsangehörigen – Klägerin/Antragstellerin – gegen die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch den Leiter der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – Beklagte/Antragsgegnerin – wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage: (wie zuvor) 182 Ich stelle den Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom anzuordnen. 183