Uploaded by Ay Han

Aufenthalts- und Asylrecht. Grundlagen und Vertiefung

advertisement
Dr. Reinhard Marx
Mainzer Landstr. 127a
60327 Frankfurt am Main
T.
0049-69-24271734
F.
0049-69-24271735
Re.Marx@t-online.de
www.ramarx.de
Ausländer- und Asylrecht Grundlagen und Vertiefung
1
Gliederung:
I.
Arten der Aufenthaltstitel
II.
Duldung (§ 60a AufenthG)
III.
Erteilung des Aufenthaltstitels
IV.
Verlängerung des Aufenthaltstitels
V.
Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG)
VI.
Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a bis § 9 c AufenthG)
B.
Eilrechtsschutz gegen die Versagung die Versagungsverfügung
I.
Antrag auf Anorndung der aufschiebenden Wirkung des Widespruchs
gegen die Versagungsverfügung nach § 80 nAbs. 5 VwGO
II.
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VGO
III.
Hauptsacheverfahren
C.
Aufenthaltserlaubnis zwecks Erwerbstätigkeit
I.
Aufenthaltstitel zur Ausübung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit
(§ 18 bis § 20 AufenthG)
II.
Türkische Arbeitnehmer
III.
Selbständige Erwerbstätigkeit (§ 21 AufenthG)
D.
Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung
(§ 27 bis § 36 AufenthG)
I.
Allgemeine Voraussetzungen
II.
Ehegattennachzug zu ausländischen Stammberechtigten (§ 30 AufenthG)
III.
Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen
(§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
IV.
Familiennachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen (§ 29 Abs. 2 AufenthG)
V.
Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG)
VI.
Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
VII. Eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten (§ 31 AufenthG)
VIII. Kindernachzug (§ 32 AufenthG)
XI.
Aufenthaltserlaubnis für den sorge- oder umgangsberechtigten Elternteil eines
minderjährigen ledigen Kindes (§ 36, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG)
E.
Ablauf des Asylverfahrens
I.
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
II.
Ausländerbehörde
III.
Bundespolizei
IV.
Aufnahmeeinrichtung
V.
Einleitung des Asylvefahrens
VI.
Sachverhaltsaufklärung
VII.
Internationaler Schutz (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG)
F.
Aufenthaltsbeendigung
I.
Erlöschensgründe
II.
Auflösende Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
III.
Nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG)
IV.
Widerruf (§ 52 AufenthG)
V.
Rücknahme (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in Verb. mit § 48 VwVfG)
VI.
Nicht nur vorübergehende Ausreise
VII. Ausweisung (§ 53 bis 56 AufenthG)
G.
Rechtsschutz im asylrechtlichen Hauptsacheverfahren
I.
Klageerhebung
II.
Eilrechtsschutz im Asylverfahren
3
4
4
23
28
38
40
40
50
52
52
53
65
67
70
70
92
94
94
95
96
96
108
113
117
117
119
119
119
120
134
140
143
143
144
145
147
147
149
151
170
170
179
2
I.
Arten der Aufenthaltstitel
§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zählt abschließend die Aufenthaltstitel auf:
Aufenthaltserlaubnis (§ 7 AufenthG)
Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG)
das Visum (§ 6 AufenthG)
die Erlaubnis zum Daueraufenthalt (§ 9a AufenthG)
Das Gesetz nennt die Aufenthaltserlaubnis:
- zum Zwecke der Studienbewerbung und des Studiums (§ 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG)
- zum Zwecke der Teilnahme an Sprachkursen, die nicht der Studienvorbereitung dienen
(§ 16 Abs. 5 AufenthG)
- zum Zwecke des Schulbesuchs in Ausnahmefällen (§ 16 Abs. 5 AufenthG)
- zum Zwecke der betrieblichen Aus- und Weiterbildung (§ 17 AufenthG)
- zum Zwecke der Erwerbstätigkeit (Abschnitt 4)
- aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen (Abschnitt 5)
- zum Zwecke der Familienzusammenführung (Abschnitt 6).
In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen im AufenthG nicht
vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden (§ 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).
Der Prüfung der einzelnen materiellen Voraussetzungen, unter denen ein Aufenthaltstitel
erteilt werden kann, voran geht zunächst stets die formelle Prüfung. Jemand kann einen
materiellen Anspruch haben, kann diesen aber unter Umständen nicht durchsetzen, weil
Regelerteilungsgründe nicht oder Versagungsgründe vorliegen. Illustrativ hierfür sind etwa
die Vorschriften gegen die Umgehung der Einreisevorschriften, die allerdings nach § 5 Abs. 2
Satz 2 AufenthG geheilt werden kann, sowie die Sperrwirkung der Ausweisung. Solange die
Sperrwirkung nicht befristet worden ist, ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch dann
gesperrt (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), wenn ein Rechtsanspruch auf die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis besteht. Deshalb ist stets eine sehr sorgfältige und präzise Prüfung der
formellen Erteilungsvoraussetzungen geboten.
Das AufenthG unterscheidet in Rechtsansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z.B. §
24 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2, § 26 Abs. 3, § 28 Abs. 1 Satz 1, § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 1, § 32
Abs. 1 bis 3, § 33, § 35, § 37 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AufenthG), in Regel- oder Sollansprüche
(§ 25 Abs. 3 Satz 1, § 25 Abs. 5 Satz 2, § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und in
Ermessenstatbestände. Ein Anspruch liegt vor, wenn die Ausländerbehörde nach einer
Rechtsvorschrift eine gebundene Entscheidung zu treffen hat. In diesem Fall werden nach der
auf die Regelerteilungs- und Versagungsgründe bezogenen formellen Prüfung lediglich die
anspruchsbegründenden Voraussetzungen der Rechtsvorschrift geprüft und findet
gegebenenfalls eine volle inhaltliche und rechtliche Kontrolle durch das Verwaltungsgericht
statt.
Nach überwiegender Auffassung liegt ein Anspruch auch dann vor, wenn das Gesetz einen
Regelanspruch festlegt. Auch in diesem Fall ist „im Regelfall“ eine gebundene Entscheidung
zu treffen, ohne dass Raum für eine Ermessensausübung besteht. Die Beurteilung, ob ein
Regel- oder Ausnahmefall vorliegt, obliegt der Ausländerbehörde und unterliegt der
uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Diese Grundsätze gelten auch für den
Sollanspruch (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Auch in diesem Fall ist im Regelfall so zu
verfahren, wie es das Gesetz bestimmt. Ob im atypischen Ausnahmefall im
Anwendungsbereich der Norm und auf ihren Inhalt bezogen automatisch Ermessen auszuüben
ist, ergibt sich jeweils aus dem materiellen Recht und der Systematik des Gesetzes. Bei dieser
Beurteilung handelt es sich um die Auslegung einer Sollnorm. So wird etwa in den
Nachzugsfällen, in denen ein gesetzlicher Anspruch vorliegt und zugleich eine atypische
Fallkonstellation im Blick auf die Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG
glaubhaft gemacht wird, nicht nach Ermessen entschieden.
3
Die Mehrzahl der Erteilungsgründe des AufenthG sind als Ermessensnormen ausgestaltet
(vgl. z. B. § 16 bis § 21 AufenthG). Hier hat die Ausländerbehörde zunächst die
tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm zu ermitteln und anschließend im
Rahmen der Ermessensausübung die maßgebenden öffentlichen und individuellen Belange
und Interesse festzustellen, ihr Gewicht zu bestimmen und gegeneinander abzuwägen. Die
gerichtliche Kontrolle ist auf Ermessensfehler (§ 114 VwGO), also Ermessensmangel,
Ermessensfehlgebrauch oder Ermessensüberschreitung sowie auf die Überprüfung der
tatsächlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm beschränkt. Eine Ermessensreduzierung
(auf Null) ist nicht mit einem gesetzlichen Anspruch identisch. Sofern das Gesetz den Begriff
des gesetzlichen Anspruchs verwendet (z.B: § 10 Abs. 1 AufenthG), ist die
Ermessensreduzierung deshalb nicht eingeschlossen, wohl aber, wenn der Begriff Anspruch
verwendet wird, wie etwa in § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt., § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), da nur
eine Entscheidungsalternative besteht.1
II. Duldung (§ 60a AufenthG)
Bei der Duldung handelt es sich um die „zeitweise Aussetzung der Abschiebung“ (§ 60a
Abs. 2 AufenthG), also nicht um einen besonderen Aufenthaltstitel. Vielmehr dokumentiert
die Duldung einen nicht rechtmäßigen Aufenthalt und beseitigt nicht die Ausreisepflicht nach
§ 50 Abs. 1 AufenthG. Allerdings ist der geduldete Aufenthalt als solcher nicht strafbar (vgl.
§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Wird die Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4 AufenthG)
nicht als Ausweisersatz ausgestellt, erfüllt der Duldungsinhaber indes den Straftatbestand
nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (vgl.§ 58 Nr. 2 AufenthV).2 Die Duldung erlischt mit der
Ausreise (vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG).
III.
Erteilung des Aufenthaltstitels
1.
Funktion des Prüfungsschemas
Die Rechtsvorschriften über die Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels sollen
sicherstellen, dass die Zuwanderung politisch gesteuert werden kann. In der
Verwaltungspraxis kommt daher der strikten Einhaltung der entsprechenden Vorschriften für
die Begründung und Fortführung eines rechtmäßigen Aufenthaltes eine besondere Funktion
zu. Bei jedem ausländerrechtlichen Sachverhalt sind die Vorschriften über die Erteilung und
Verlängerung des Aufenthaltstitels von Bedeutung. Da die Fallgestaltungen in ihrem
zeitlichen Ablauf, ihrer faktischen Komplexität und ihrer materiell-rechtlichen Ausprägung
häufig sehr kompliziert sind, empfiehlt sich für die anwaltliche Beratung und Vertretung die
Verwendung eines Prüfungsschemas, wie es in Schaubild 1 graphisch dargestellt und in
diesem Abschnitt im Einzelnen erläutert wird.
Für die Bearbeitung ausländerrechtlicher Verfahren soll das Prüfungsschema dem Anwalt die
rechtliche Durchdringung des zur Prüfung gestellten Sachverhalts erleichtern. Es empfiehlt
sich deshalb, jeden ausländerrechtlichen Sachverhalt anhand dieses Schemas zu untersuchen.
Wegen der sehr formalen und aufeinander abgestimmten Einreise- und
Verlängerungsvorschriften kann die Verwendung des Prüfungsschemas einerseits dazu
führen, dass erfolglose Prozesse vermieden werden und die Verhandlungslösung mit der
Ausländerbehörde gesucht wird. Andererseits soll es dem Anwalt Hilfestellungen in den
Fällen geben, in denen nicht zwingend Vorschriften der Durchführung des
Verwaltungsverfahrens im Inland im Wege stehen.
1
A.A. Hans-Peter Welte, InfAuslR 2006, 50 (52).
4
2.
Erlaubnisfreier und genehmigungsbedürftiger Aufenthalt
a) Allgemeines
Das AufenthG unterscheidet den erlaubnisfreien vom genehmigungsbedürftigen
Aufenthalt. § 4 Abs. 1 AufenthG bekräftigt den traditionellen Erlaubnisvorbehalt, dass
Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels
bedürfen, sofern nicht durch Gemeinschaftsrecht, Assoziationsrecht zwischen der EWG und
Türkei (vgl. § 4 Abs. 5 AufenthG) oder durch Rechtsverordnung ein Aufenthaltsrecht besteht.
b) Erlaubnisfreier Aufenthalt
Die AufenthV regelt im Abschnitt 2 die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels.
Nach § 15 AufenthV richtet sich die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die
Einreise und den Aufenthalt von Ausländern für Kurzaufenthalte nach Gemeinschaftsrecht,
insbesondere nach dem SDÜ. Dieses trägt der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes
und insbesondere der EU-Visum-Verordnung Nr. 539/2001 (EUVisaVO) Rechnung. Die
Verordnung bewirkt eine weitgehende Verdrängung des nationalen Rechts und regelt in § 1
Abs. 2, dass sichtvermerksfreie Drittstaatsangehörige (EUVisaVO Anhang II) für einen
Aufenthalt, der drei Monate nicht überschreitet, nicht der Visumpflicht unterliegen. Zeitlich
über diese Dauer hinausgehende Aufenthalte werden nicht von der Verordnung erfasst und
unterliegen damit auch nicht dem gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang, sodass die
nationalen Vorschriften des AufenthG sowie der AufenthV Anwendung finden.
Allerdings regelt die Verordnung entsprechend der international üblichen Praxis nur die
Einreise über die EU-Außengrenzen und nicht die Einreise über die EU-Binnengrenzen und
nicht den Aufenthalt nach der Einreise. Der Aufenthalt nach dem Übertritt über eine EUAußengrenze wird vielmehr durch Art. 20 Abs. 1 SDÜ geregelt.3 Dieser macht das Recht
sichtvermerksfreier Drittstaatsangehöriger auf Bewegungsfreiheit im gesamten SchengenRaum von den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a), c) bis e) SDÜ abhängig. Art. 20
SDÜ begründet somit im Blick auf die Aufenthaltsvoraussetzungen die notwendige
Ergänzung zur EUVisaVO und deren Einreisebestimmungen. Art. 20 SDÜ und EUVisaVO
zusammen gewährleisten damit, dass aus der Einreise über eine EU-Außengrenze und dem
anschließenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ein rechtseinheitlicher
Vorgang entstehen kann.4 Inzwischen wird sogar davon ausgegangen, dass Art. 20 SDÜ den
Charakter von unmittelbar geltendem Unionsrecht aufweist und dementsprechend durch
EUVisaVO, Visakodex und Art. 20 SDÜ ein verbindliches, in sich geschlossenes System der
Sichtvermerksfreiheit von Drittstaatsangehörigen nach Anhang II der EUVisaVO bei
Kurzaufenthalten begründen.5 Maßgebend für das den erlaubnisfreien Aufenthalt regelnde
Gemeinschaftsrecht ist der Begriff des Kurzaufenthaltes. Ein Kurzaufenthalt ist nach § 1
Abs. 2 AufenthV ein Aufenthalt im gemeinsamen Gebiet der Schengen-Staaten von
höchstens drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten vom Tag der ersten
Einreise an.6
Nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ können sich sichtvermerksfreie Drittstaatsausländer im
Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten frei bewegen, höchstens jedoch drei Monate innerhalb
einer Frist von sechs Monaten vom Datum der ersten Einreise an. Nach Ablauf der Frist von
3
4
5
6
Westphal/Stoppa, InfAuslR 2001, 309 (309 f.), Ostgathe/Nowicke, ZAR 2005, 360.
Ostgathe/ Nowicke, ZAR 2005, 360 (361 f.).
Ostgathe/Nowicke, ZAR 2005, 362, mit Hinweisen.
S. hierzu Ostgathe/ Nowicke, ZAR 2005, 360.
5
sechs Monaten können sie erneut die ihnen nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ zustehenden Rechte auf
einen genehmigungsfreien Aufenthalt von drei Monaten innerhalb eines Zeitraumes von sechs
Monaten wahrnehmen. Für das Gemeinschaftsgebiet ordnet Art. 1 Abs. 2 EUVisaVO an, dass
Staatsangehörige der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer von der Visumpflicht
für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet, befreit sind. Maßgebend
für die Frage der erlaubnisfreien Einreise ist danach die Liste in Anhang II der EUVisaVO.
Diese Liste gilt sowohl für die EUVisaVO wie auch für Art. 20 Abs. 1 SDÜ. Die
erlaubnisfreie Einreise wie auch der erlaubnisfreie Aufenthalt sind also zunächst davon
abhängig, ob der Drittstaatsausländer auf der Anlage II der EUVisaVO verzeichnet ist.
Darüber hinaus steht der Aufenthalt unter dem Vorbehalt, dass es sich um einen
Kurzaufenthalt handelt. Nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ ist der Aufenthalt für drei Monate innerhalb
von sechs Monaten erlaubt. Hingegen ist nach Art. 1 Abs. 2 EUVisaVO nur ein Aufenthalt
von drei Monaten erlaubt.
Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Während SDÜ
und die EUVisaVO die Frage der Erwerbstätigkeit nicht regeln, bestimmt § 17 Abs. 1
AufenthV, dass die Befreiung entfällt, sofern im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausgeübt
wird. Da nach § 17 Abs. 1 AufenthV „für die Einreise“ ein Aufenthaltstitel erforderlich ist,
wenn die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit geplant ist, führt die bereits bei der Einreise
bestehende Erwerbsabsicht zur unerlaubten Einreise. Lag die entsprechende Absicht bei der
Einreise nicht nachweislich vor, führt dies allerdings nicht zu einer gleichsam rückwirkend
unerlaubten Einreise. Konsequenz ist, dass der Betreffende wegen unerlaubter Einreise
zurückgewiesen (§ 15 Abs. 1 AufenthG) und zurückgeschoben (§ 57 Abs. 1 Satz 1 AufenthG)
wird. Ihm kann mangels Vorliegens der entsprechenden Erteilungsvoraussetzungen kein
Aufenthaltstitel erteilt werden (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG kann dieser Rechtsversagungsgrund jedoch beseitigt werden.
c)
Genehmigungsbedürftiger Aufenthalt
Liegen die Voraussetzungen für einen erlaubnisfreien Aufenthalt nicht vor, bedürfen auch
visumsfreie Drittstaatsausländer der Genehmigung der Einreise und des Aufenthalts.
Beabsichtigen sie mithin einen längeren Aufenthalt oder die Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit, bedürfen ansonsten sichtvermerksfreie Drittstaatsausländer für die Einreise
und den Aufenthalt einer behördlichen Genehmigung (vgl. auch Art. 4 Abs. 3 EUVisaVO).
Darüber hinaus bedürfen visumpflichtige Drittstaatsausländer auch für einen Kurzaufenthalt
der vorherigen Genehmigung (§ 4 Abs. 1 AufenthG, Art. 21 SDÜ, Art. 1 Abs. 1 EuVisaVO).
Nach Art. 1 Abs. 1 der EUVisaVO benötigen die Drittstaatsausländer, die in Anhang I dieser
Verordnung aufgeführt sind, beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten ein
Visum. Eine Regelung, wonach im Anschluss an die Einreise auch für den Aufenthalt ein
Aufenthaltstitel erforderlich ist, enthält die Visum-Verordnung nicht. Insoweit ist nationales
Recht zu beachten. Danach fordert § 4 Abs. 1 AufenthG für den Aufenthalt den Besitz eines
Aufenthaltstitels.
d)
Gegenstandsbereich des Aufenthaltstitels
aa)
Funktion des Aufenthaltszwecks
Drittstaatsausländer bedürfen unabhängig davon, ob sie sichtvermerksfrei einreisen dürfen
oder nicht, für einen längerfristigen Aufenthalt oder für einen Aufenthalt zur Ausübung einer
Erwerbstätigkeit eines nationalen Aufenthaltstitels. Der Aufenthaltstitel wird zu den im
AufenthG bezeichneten unterschiedlichen Aufenthaltszwecken (Kapitel 2 Abschnitt 3 bis 7)
erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Das AufenthG allein enthält 54 unterschiedliche
Aufenthaltszwecke (vgl. Nr. 7.1.1.1 bis Nr. 7.1.1.2 VAH), von denen zehn zu einer
6
Niederlassungserlaubnis führen können (Nr. 7.1.1.2 VAH) und die übrigen zu einer
Aufenthaltserlaubnis. Der Zweck ist aus dem Aufenthaltstitel ersichtlich. Der Erteilungsgrund
wird in das Klebeetikett eingetragen. Damit wird neben dem Erteilungsgrund auch Art und
Umfang der Berechtigung zur Erwerbstätigkeit erkennbar (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
Je nach dem verfolgten Aufenthaltszweck ergeben sich aus dem Aufenthaltstitel
unterschiedliche Rechtsfolgen, etwa hinsichtlich der Möglichkeiten der Verfestigung, des
Familiennachzugs, der Erwerbstätigkeit oder des Zugangs zu sozialen Leistungen. Die strikte
Unterteilung der Aufenthaltstitel nach Aufenthaltszwecken schließt weder ein anfängliches
noch ein späteres Überlagern oder Zusammentreffen mehrerer Aufenthaltszwecke aus.7 Zwar
ist das Verhältnis mehrerer nacheinander oder gleichzeitig verfolgter Aufenthaltszwecke nicht
allgemein geregelt. Sie schließen sich teilweise aus (§ 16 Abs. 2 AufenthG), sind jedoch
teilweise auch nebeneinander zulässig (§ 16 Abs. 3 AufenthG). Teilweise werden mit dem
Aufenthalt notwendigerweise zwei Zwecke, z.B. Familienzusammenführung oder Wiederkehr
und Erwerbstätigkeit, verfolgt. Die Berufung auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären
Gründen hat hingegen zur Folge, dass die Behörde lediglich einen Anspruch auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis nach jeder in Betracht kommenden Vorschrift des 5. Abschnitts des
Kapitels II des AufenthG prüfen darf.8 Hat der Antragsteller etwa die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 oder Abs. 5 AufenthG beantragt und wird
nachträglich eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG erlassen, ist bei noch anhängigem
Antragsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob er auch die Voraussetzungen nach der
Anordnung erfüllt. Demgemäß hat das Verwaltungsgericht den Anspruch im anhängigen
Prozess nach allen in Betracht kommenden entsprechenden Vorschriften zu prüfen.9 Zu den
humanitären vom Klagebegehren erfassten Aufenthaltszwecken gehört damit auch die
Altfallregelung nach § 104a AufenthG.10 Das bedeutet aber nicht, dass die einzelnen im
humanitären Abschnitt geregelten Aufenthaltserlaubnisse zwangsläufig immer einen
einheitlichen, unteilbaren Streitgegenstand bilden. Insbesondere dann, wenn die
Aufenthaltserlaubnis nach einer Anspruchsgrundlage weniger Rechte vermittelt als die
übrigen Anspruchsgrundlagen, kann sie einen abtrennbaren, eigenständigen Streitgegenstand
bilden.11
Der Antragsteller ist gehalten, sei es im Antragsverfahren gegenüber der deutschen
Auslandsvertretung oder gegenüber der Ausländerbehörde den Erteilungsgrund präzis zu
bezeichnen. Dieser bestimmt den Umfang der Prüfung. Der Antragsteller mag während des
anhängigen Verfahrens die Angabe des Aufenthaltszwecks ändern. Ändert er den
Aufenthaltszweck nach Erteilung des Aufenthaltstitels, liegt ein Zweckwechsel vor. Häufig
mag darüber hinaus der Zweckwechsel während des Antragsverfahrens negative
Auswirkungen auf die behördliche Entscheidung haben, so etwa, wenn anstelle des zunächst
beantragten Visums zur Familienzusammenführung ein Visum zu Besuchszwecken beantragt
wird.
bb)
Zweckwechsel
Wird ein Aufenthaltstitel zu einem anderen Zweck, als der dem Aufenthaltstitel bislang
zugrunde liegende, erteilt, handelt es sich um einen Zweckwechsel. Die Ausländerbehörde
VG Köln, InfAuslR 2012, 183 (184), s. aber BVerwG, NVwZ-RR 2012, 44.
BVerwGE 126, 192 (194 f.) = NVwZ 2006, 1418 = InfAuslR 2007, 4; OVG NW, InfAuslR 2007, 109 = AuAS
2007, 86. hierzu Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl., 2011, S.
613.
9
OVG NW, InfAuslR 2007, 109 = AuAS 2007, 86; a.A. VG Frankfurt a.M., Urt. v. 2.2.2007 – 6 1326/06
(1).
10
BVerwGE 129, 226 (229) = InfAuslR 2008, 71 = AuAS 2008, 26 = ZAR 2008, 105; VGH BW, NVwZRR 2008, 730; BVerwG, InfAuslR 2011, 240 (242); a.A. OVG Hamburg, EZAR NF 98 Nr. 40.
11
BVerwG, InfAuslR 2011, 240 (241).
7
8
7
prüft, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für den nunmehr geltend gemachten
Erteilungsgrund vorliegen, keine Ausschlussgründe eingreifen und übt, soweit erforderlich,
Ermessen aus. Gibt sie dem den Zweckwechsel erstrebenden Antrag statt, wird eine neue
Aufenthaltserlaubnis erteilt. Im Falle der Versagung gilt die bisherige Aufenthaltserlaubnis
bis zum Ablauf ihrer Geltungsdauer weiter (Nr. 7.1.2.2 Satz 1 bis 3 VAH). Ein Zweckwechsel
ist grundsätzlich während des Studiums (§ 16 Abs. 2 AufenthG) sowie während einer
betrieblichen Aus- oder Weiterbildung ausgeschlossen.
Ein Zweckwechsel liegt auch vor, wenn zu dem bisherigen Aufenthaltszweck eine weiterer
hinzutritt oder von mehreren einer wegfällt. Nach der Eheschließung eines Erwerbstätigen
dient der Aufenthalt gleichzeitig zwei Zwecken. Nach der Auflösung der ehelichen
Lebensgemeinschaft entfällt der Zweck der Herstellung und Wahrung der familiären
Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) oder er geht in ein selbständiges
Aufenthaltsrecht über (§ 31 AufenthG). Einen Zweckwechsel stellt es nicht dar, wenn das
zum Zwecke des Kindernachzugs ausgestellte Visum nach Einreise in eine
Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wird. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen Antrag
auf Ersterteilung, sondern um einen Verlängerungsantrag.12
Die Berufung auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat jedoch zur Folge,
dass die Behörde einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach jeder in
Betracht kommenden Vorschrift des 5. Abschnitts des AufenthG zu prüfen hat. 13 Hat der
Antragsteller etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 oder Abs.
5 AufenthG beantragt und wird nachträglich eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG
erlassen, so ist bei noch anhängigem Antragsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob der
Antragsteller auch die Voraussetzungen nach der Anordnung erfüllt.
3.
Zeitpunkt des Antrags und der Behördenentscheidung
a) Zweck des zweiten Prüfungsschritts
Den ausländerrechtlichen Regelungen ist der Grundsatz zu entnehmen, dass der
Aufenthaltstitel grundsätzlich vor der Einreise in Form des Sichtvermerks (Visums) zu
beantragen ist. Lassen die Rechtsvorschriften die Antragstellung nach der Einreise nicht zu,
ist der Antrag stets zwingend vor der Einreise zu stellen. Der zweite Prüfungsschritt hat den
Zeitpunkt des Antrags, also die Frage zum Gegenstand, ob der Antrag vor oder nach der
Einreise zu stellen ist. Dies darf nicht mit der Frage verwechselt werden, ob Einreise und
Aufenthalt erlaubnisfrei sind. Wer etwa zu einem Kurzaufenthalt erlaubnisfrei einreisen darf,
muss weder vor noch nach der Einreise einen Antrag stellen. Beabsichtigt er hingegen einen
längerfristigen Aufenthalt oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, darf er grundsätzlich
nicht erlaubnisfrei einreisen, sondern muss den Antrag vor der Einreise stellen. Einige
Personengruppen können allerdings den Antrag nach der Einreise stellen.
Sichtvermerkspflichtige Drittstaatsausländer müssen auch bei einem beabsichtigten
Kurzaufenthalt den Antrag stets vor der Einreise stellen. Ein sichtvermerkspflichtiger
Drittstaatsausländer, der ohne Visum einreist, reist illegal ein und erfüllt einen Ausweisungssowie einen Straftatbestand (§§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1
AufenthG). Auch der weitere Aufenthalt kann ausweisungs- und strafrechtliche
Konsequenzen haben (§§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 AufenthG). Ist
der Antrag vor der Einreise zu stellen, sind Rechtsmittel gegen die Versagungsverfügung oder
andere behördliche Maßnahmen regelmäßig erfolglos, wenn keine Heilungsmöglichkeiten
über § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bestehen.
12
13
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726.
BVerwG, NVwZ 2006, 1418; OVG NW, InfAuslR 2007, 109.
8
b)
Antragstellung nach der Einreise
Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Antrag nach der Einreise in das Bundesgebiet
gestellt werden. Der Gesetzgeber hat diese Fälle in § 5 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 AufenthG
sowie in § 39 bis § 41 AufenthV geregelt.
c) Antragsbedürftigkeit des Verwaltungsverfahrens
Die Gewährung des Aufenthaltstitels setzt einen Antrag voraus (mitwirkungsbedürftiger
Verwaltungsakt).14 Gegenstand des behördlichen Verfahrens bildet ein konkreter, auf einen
bestimmten Aufenthaltszweck gerichteter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels.15 Der
Antrag ist sowohl für die Ersterteilung wie für die Verlängerung des Aufenthaltstitels
erforderlich (§§ 4 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1, 81 Abs. 4 AufenthG). Ergänzend ist die Vorschrift
des § 22 Satz 2 Nr. 1 des VwVfG des jeweiligen Landes heranzuziehen. Insbesondere bei
handschriftlichen Eintragungen des ausländischen Antragstellers auf den amtlichen
Vordrucken muss die Behörde stets den wirklichen Sinn des Antragsbegehrens ermitteln. Das
folgt aus der auch im öffentlichen Recht anzuwendenden Vorschrift des § 133 BGB, dem
zufolge bei der Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und
nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdruckes zu haften ist. Die Behörde hat den Antragsteller
zu diesem Zweck zu belehren, zu beraten und persönlich anzuhören (§§ 25, 28 VwVfG). Den
Antragsteller treffen andererseits besondere Mitwirkungspflichten (vgl. § 82 AufenthG).
d)
Kein formelles Antragserfordernis
Den Regelungen in §§ 4 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1, 80 Abs. 4, 81 AufenthG kann kein formelles
Antragserfordernis entnommen werden. Nach der Verwaltungspraxis ist der Antrag auf
Erteilung des Aufenthaltstitels dagegen durch Verwendung von Formblattmustern bei der
Auslandsvertretung bzw. der zuständigen Ausländerbehörde zu stellen. Allein der persönlich
in mündlicher oder schriftlicher Form oder schriftsätzlich durch den Rechtsanwalt gestellte
Antrag wird regelmäßig ohne persönliche, formblattmäßige Antragstellung nicht bearbeitet.
Die Rechtswirksamkeit des gestellten Antrags, insbesondere die Frage der Rechtzeitigkeit des
gestellten Antrags für den Eintritt der Fiktionswirkungen nach § 81 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4
AufenthG ist indes nicht von der Verwendung von Formblättern abhängig. Vielmehr hat die
Behörde jedes irgendwie geäußerte schriftliche, mündliche oder sonstwie geäußerte Begehren
als Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels zu behandeln, wenn sich
hieraus mit hinreichender Klarheit ein Antragsbegehren ergibt. Die Verwendung von
Vordrucken dient der effektiven Bearbeitung des Antrags und kann dem Antragsteller
nachträglich im Rahmen seiner ihm nach § 82 AufenthG obliegenden Mitwirkungspflichten
auferlegt werden. Jedenfalls wird durch das formlose Begehren rechtswirksam ein Antrag
gestellt.
d)
Antrag vor der Einreise
aa)
Zuständige Behörde
Der Antrag vor der Einreise ist bei der zuständigen diplomatischen oder berufskonsularischen
Vertretung (Auslandsvertretung), d.h. der Auslandsvertretung, in deren Amtsbezirk der
Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zu stellen (§ 71 Abs. 2 AufenthG). Es wird
sich in aller Regel, muss aber nicht zwingend das Herkunftsland des Antragstellers, sein. Für
die Erteilung von Schengen-Visa ist der Staat zuständig, in dem das Hauptreiseziel liegt (Art.
12 Abs. 2 Satz 1 SDÜ; Nr. II 1, 1.1). Für die Verlängerung eines Visums nach der Einreise ist
14
15
BVerwG, AuAS 1999, 218 (219).
Richter, NVwZ 1999, 726.
9
die Ausländerbehörde zuständig (§ 6 Abs. 3 AufenthG). Unterhält die Bundesrepublik in
einem Staat keine Auslandsvertretung oder kann sie vorübergehend keine Visa erteilen,
richtet sich die Zuständigkeit für die Visaerteilung nach der Vertretungsregelung der
Schengen-Staaten (Nr. 71.2.1. Satz 4 VAH). Die Antragstellung hat persönlich oder durch den
legitimierten Vertreter zu erfolgen. Die Antragstellung setzt die Anwesenheit des
Antragstellers im jeweiligen Staat voraus, sie kann aber bereits während des
Besuchsaufenthaltes vom Bundesgebiet aus vorbereitet und begleitet werden. Die
erforderliche persönliche Vorsprache bei der Botschaft ist in diesem Fall nach der Rückkehr
in den Heimatstaat geboten. Die Zuständigkeit der Auslandsvertretung entfällt allerdings,
wenn der Antragsteller mit dem Ziel in das Bundesgebiet eingereist ist, hier seinen
Daueraufenthalt zu begründen.16
Das Visum kann mit Ermächtigung der zuständigen Auslandsvertretung oder des Auswärtigen
Amtes ausnahmsweise auch von einer anderen als der für den gewöhnlichen Aufenthalt des
Antragstellers zuständigen Auslandsvertretung, zumeist also einer grenznahen
Auslandsvertretung erteilt werden (Nr. 71.2.2 VAH). Das Auswärtige Amt kann auch durch
Weisung nach § 71 Abs. 2 AufenthG eine örtlich unzuständige Auslandsvertretung
ermächtigen, ein Visum zu erteilen. Allerdings enthält das geltende Recht über das frühere
Recht (vgl. § 9 Abs. 1 AuslG 1990; § 9 Abs. 2 DVAuslG) weit hinausgehende Ausnahmen
von der Anwendung der Voraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach kann
ungeachtet der Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 2
Satz 1 AufenthG der Aufenthaltstitel erteilt werden, wenn die Voraussetzungen eines
Rechtsanspruchs erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht
zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). In der
Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach der zweiten
Alternative in besonders gelagerten Einzelfällen, in denen bisher eine grenznahe
Auslandsvertretung zur Visumerteilung ermächtigt wurde, auf die Nachholung des
Visumverfahrens verzichtet werden kann.
Praxisrelevant ist insbesondere die Beantragung eines Schengenvisums zu Besuchszwecken.
Das Verfahren richet sich nach dem Visakodex. Versagungsgrund ist hier das „Risiko der
rechtswidrigen Einwanderung“:
BVerwG, NVwZ 2011, 1201 und BVerwG, NVwZ 2012, 976,
OVG Hamburg, AuAS 2013, 242 und OVG Hamburg, AuAS 2014, 256,
BayVGH, InfAuslR 2013, 372.
Sofern kein bloßer Kurzaufenthalt geplant ist, hat die Auslandsvertretung grundsätzlich die
Zustimmung der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde
einzuholen (§ 31 AufenthV). Die Auslandsvertretung entscheidet ungeachtet dessen in eigener
Verantwortung über das Visum aufgrund der jeweils maßgebenden materiellen Vorschriften
der §§ 5 ff. AufenthG. Die Zustimmung der Ausländerbehörde für einen Aufenthalt von
länger als drei Monaten oder zu Erwerbszwecken ist zwingende Voraussetzung für die
Erteilung des Visums. Wird sie verweigert, muss der Antrag abgelehnt werden.17 Andererseits
liegt es im grundsätzlich weiten Ermessen der Auslandsvertretung, ob sie einen Sichtvermerk
erteilt, auch wenn die Ausländerbehörde bereits zugestimmt hat.18 Die Auslandsvertretung
muss nachträglich ihr bekannt werdende Tatsachen, welche die Ausländerbehörde noch nicht
16
OVG Berlin, InfAuslR 2004, 200 = AuAS 2004, 122.
17
BVerwG, InfAuslR 1990, 326 (327); Teipel, ZAR 1995, 163 (164).
BVerwG, InfAuslR 1990, 326 (327).
18
10
kennt, berücksichtigen. Sie hat entweder die Ausländerbehörde erneut mit dem Vorgang zu
befassen oder sie kann ihr Ermessen ohne erneute Beteiligung der Ausländerbehörde mit der
Folge ausüben, dass der Antrag abgelehnt wird.19 Diese Rechtsprechung ist freilich auf
Rechtsansprüche nicht anwendbar.
Das Zustimmungsverfahren bleibt ein behördeninternes Verfahren, auch wenn in der
Verwaltungspraxis die Einholung der Zustimmung oft vom Antragsteller selbst beantragt wird
oder die Ausländerbehörde eine Vorabzustimmung erteilt oder versagt. Unterbleibt das
vorgesehene Zustimmungsverfahren, kann es bis zur Klageerhebung nachgeholt werden.
Weder die Zustimmung noch deren Versagung ist ein Verwaltungsakt und deshalb nicht
selbständig anfechtbar. Es fehlt insoweit an der gebotenen Außenwirkung (§ 35 VwVfG). Im
Verwaltungsprozess hat die obligatorische Mitwirkung der Ausländerbehörde nach § 31
AufenthV die notwendige Beiladung der entsprechenden Körperschaft zur Folge (§ 65 Abs. 2
VwGO). Die Zustimmung ist bis zur Visumerteilung rücknehmbar oder widerrufbar, falls die
für sie maßgebenden Voraussetzungen nicht vorlagen oder nachträglich wegfallen. Nach
diesem Zeitpunkt ist die Rücknahme ausgeschlossen.
bb)
Vorabzustimmungsverfahren
Die Ausländerbehörde kann auf Antrag des einreisewilligen Antragstellers oder eines Dritten
in dringenden Fällen, im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, eines
öffentlichen Interesses oder im Falle des § 18 oder § 19 AufenthG der Visumerteilung vor der
Beantragung des Visums bei der Auslandsvertretung zustimmen (Vorabzustimmung).20 In der
Verwaltungspraxis wurde bereits früher von dieser Möglichkeit in den Fällen Gebrauch
gemacht, in denen wegen der Anwendung zwingender Versagungsgründe der Antrag nicht im
Bundesgebiet gestellt werden konnte. Aufgrund der Vorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG wird die Bedeutung der Vorabzustimmung in der Praxis abnehmen. In der
Verwaltungspraxis wurde die Praxis der Vorabzustimmung zunehmend restriktiver
gehandhabt. Zunächst wurde früher lediglich bei Rechtsansprüchen von der
Vorabzustimmung Gebrauch gemacht. Schließlich mussten für die Erteilung der
Vorabzustimmung zusätzlich besondere humanitäre Gründe nachgewiesen werden. Nach dem
Wortlaut des § 31 Abs. 3 AufenthV kann diese Verwaltungspraxis keinen Bestand mehr
haben. Vielmehr ist eine großzügige Handhabung angezeigt.
Regelmäßig erteilt die zuständige Auslandsvertretung nach Vorlage der Vorabzustimmung
das Visum. Es bleibt aber eine Entscheidung der Auslandsvertretung (§ 71 Abs. 2 AufenthG).
In seltenen Ausnahmefällen lehnt die Auslandsvertretung allerdings ungeachtet der
Vorabzustimmung den Antrag ab. Der beratende Rechtsanwalt kann diese Fälle nicht
vorhersehen. Er sollte sich dennoch auf das Verfahren der Vorabzustimmung einlassen und
den Mandanten auf die regelmäßig lediglich theoretische Möglichkeit der deutschen
Auslandsvertretung hinweisen, der Vorabzustimmung nicht Folge zu leisten.
Muster:
Antrag auf Erteilung der Vorabzustimmung (§ 31 Abs. 3 AufenthV)
Landrat des Kreises…
Ausländerbehörde
Betr.: Erteilung der Vorabzustimmung
19
20
Oliver Maor, ZAR 2005, 185 (189).
S. hierzu Teipel, ZAR 1995, 163 (164).
11
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich beziehe mich auf die Ihnen vorliegende Vollmacht sowie das mit Ihnen am … geführte
fernmündliche Gespräch und beantrage,
dem Antragsteller zum Zwecke der Visumerteilung gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG durch das deutsche Generalkonsulat in Istanbul eine Vorabzustimmung zu
erteilen bzw. dem Generalkonsulat per Faxschreiben mitzuteilen, dass der Erteilung
des Visums zugestimmt wird.
cc)
Rechtsmittel
Wird das beantragte Visum abgelehnt, ist die Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland,
vertreten durch das Auswärtige Amt, zu richten. Ein Widerspruchsverfahren findet nicht statt.
Zuständiges Verwaltungsgericht ist das Verwaltungsgericht Berlin (§ 52 Nr. 2 Satz 4 VwGO).
Der Rechtsweg ist nur bei der Versagung eines nationalen Visums ausgeschlossen (§ 83 Satz
1 AufenthG). Interessengerecht ist die gerichtliche Auseinandersetzung über die Versagung
eines Visums zu touristischen Zwecken ohnehin nicht. Hier kann der außerrechtliche Behelf
der Remonstration erhoben werden, um von der Behörde die für die Versagung maßgebenden
Gründe zu erfahren und durch sach- und fallbezogenen Gegenvortrag auf die behördliche
Entscheidung Einfluss nehmen zu können
Visumentscheidungen bedürfen der Schriftform (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Sie werden
jedoch weder begründet noch mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen (§ 77 Abs. 2
AufenthG). In der Verwaltungspraxis wird teilweise eine kurze standardisierte Begründung
gegeben. Der Antragsteller erfährt selten die maßgeblichen Versagungsgründe. Ist lediglich
ein Besuchervisum beantragt worden, kann gegen die Versagung kein Rechtsmittel eingelegt
werden (§ 83 Satz 1 AufenthG). Aus diesem Grund wird in der Verwaltungspraxis der
außerrechtliche Rechtsbehelf der Remonstration erhoben. In der Verwaltungspraxis wird dem
Bevollmächtigten im Beteiligungsverfahren nach § 31 AufenthV nach schriftlicher
Zustimmung durch die zuständige Auslandsvertretung durch die Ausländerbehörde
Akteneinsicht gewährt.
Auf die Remonstration hin hat die Behörde die Gründe für die Ablehnung mitzuteilen. Da
regelmäßig neue Gründe und Nachweise vorgelegt werden, kann die Remonstration auch als
neuer Antrag behandelt werden. Durch Erhebung der Remonstration erfährt der Antragsteller
die Ablehnungsgründe und kann im Rahmen des Remonstrationsverfahrens
Gegenvorstellungen erheben. Ob der Bevollmächtigte in diesem Stadium des
Verwaltungsverfahrens ein Akteneinsichtsrecht hat, ist umstritten. Ist die Visumentscheidung
anfechtbar und entschließt der Antragsteller sich zur Klageerhebung, ist diese wegen der
fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung innerhalb eines Jahres nach Zustellung zu erheben (vgl.
§ 58 Abs. 2 VwGO).
Muster :
Remonstration gegen die Versagung des Visums
Botschaft der Bundesrepublik Deutschland
– Visaabteilung –
12
Betr.:
Sehr geehrte Damen und Herren,
unter Vollmachtsvorlage bitte ich
im Rahmen der Remonstration um Überprüfung Ihrer Verfügung vom sowie um
Mitteilung der diese tragenden Gründe.
Scheitern außergerichtliche Einigungsbemühungen in den Fallen eines beantragten
Daueraufenthaltes, kann Verpflichtungsklage beim zuständigen Verwaltungsgericht Berlin
gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben werden. Die angefochtene Verfügung ist die
Versagungsentscheidung
in
Gestalt
des
Remonstrationsbescheides.
Beim
Remonstrationsbescheid handelt es sich nicht um einen Widerspruchsbescheid. Dieser ersetzt
vielmehr die ursprüngliche Versagungsentscheidung. Das früher zuständige Obergericht hatte
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dem Rechtssuchenden selbstredend auch im Falle der
Visumversagung die Möglichkeit der Beantragung des Erlasses einer einstweiligen
Anordnung nach § 123 VwGO eröffnet wird.21
Muster:
Verpflichtungsklage und einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO auf
Erteilung des Visums
An das
Verwaltungsgericht Berlin
Verpflichtungsklage und
Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO
der türkischen Staatsangehörigen
– Klägerin/Antragstellerin –
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch das Auswärtige Amt
– Beklagte/Antragsgegnerin –
wegen Visumserteilung
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich die Klage und werde beantragen:
Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung der Verfügung des Generalkonsulats der
Bundesrepublik Deutschland Izmir vom , zugestellt am , der Klägerin ein Visum zur
Durchführung des Ehetermins vor dem Standesamt Frankfurt am Main am zu erteilen.
Des Weiteren wird beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu
verpflichten, zur Durchführung des Ehetermins vor dem Standesamt Frankfurt am Main
am und ausschließlich auf diesen Zweck begrenzt ein Visum für die Dauer von einer
Woche zu erteilen.
4.
Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG)
a) Funktion der Erteilungsvoraussetzungen
Die Vorschrift des § 5 AufenthG fasst die Erteilungs- und Versagungsvorschriften der §§ 6–9
AuslG 1990 in vereinfachter Form zusammen. Die Differenzierung des früheren Rechtes in
21
OVG NW, Beschl. v. 28.7.1999–17 B 1409/99.
13
zwingende Versagungsgründe nach § 8 AuslG 1990 für Rechtsansprüche und in – bei
Ermessenstatbeständen zusätzlich zu prüfenden – Regelversagungsgründen (§ 7 Abs. 2 AuslG
1990) hatte sich in der Praxis nicht bewährt. Daher unterscheidet § 5 AufenthG mit Ausnahme
von Abs. 1 Nr. 3 nicht mehr danach, ob ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines
Aufenthaltstitels besteht oder nach Ermessen entschieden werden kann. In dieser Vorschrift
werden die Erteilungsvoraussetzungen von grundlegendem staatlichen Interesse festgelegt.
Abweichende Regelungen finden sich in § 5 Abs. 3 AufenthG und in den spezialgesetzlichen
Erteilungsvorschriften. Während nach bisherigem Recht die Versagungsgründe regelmäßig
zwingender Natur waren (vgl. §§ 8 Abs. 1, 17 Abs. 2, 24 Abs. 1 Nr. 6, 27 Abs. 1 Nr. 5 AuslG
1990), löst das geltende Recht diese Rigidität auf und legt in § 5 Abs. 1 AufenthG
Regelerteilungsvoraussetzungen für alle Aufenthaltstitel und in § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG
Erteilungsvoraussetzungen für die Aufenthaltserlaubnis und die Niederlassungserlaubnis fest.
Zwar sind die Erteilungsgründe des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ebenso wie die des § 8 Abs. 1
AuslG 1990 zwingender Natur. Das Gesetz enthält jedoch in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
Ausnahmen hiervon.
b)
Begriff des Regelfalles
Die Worte „in der Regel“ in § 5 Abs. 1 1. Hs. AufenthG stellen einen unbestimmten
Rechtsbegriff dar, dessen Anwendung durch die Behörde der vollen gerichtlichen
Überprüfung unterliegt. Danach beziehen sich die in § 5 Abs. 1 AufenthG genannten Gründe
auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender
Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind durch einen „atypischen Geschehensablauf“
gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht
des gesetzlichen Regelversagungsgrundes beseitigt.22 Danach liegt etwa dann ein
Ausnahmefall vor, wenn der Versagung des Aufenthaltstitels höherrangiges Recht
entgegensteht, insbesondere die Versagung mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen
(Ehe und Familie, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) unvereinbar ist.23
c) Die einzelnen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG
aa)
Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG)
Die Erteilung des Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt
gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Mit dieser Regel-Erteilungsvoraussetzung soll die
Inanspruchnahme
öffentlicher
Mittel
verhindert
werden.
Zweck
dieser
Erteilungsvoraussetzung ist es daher, die öffentlichen Haushalte davor zu bewahren, den
Lebensunterhalt eines Ausländers mit öffentlichen Mitteln sichern zu müssen.24 Der
tatsächliche Bezug von Sozialleistungen stellt bereits einen Regelversagungsgrund nach § 5
Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Nr. 6 AufenthG dar. Der Sozialleistungsbezug des deutschen
Ehegatten rechtfertigt allerdings nicht die Ausweisung nach § 55 Nr. 6 AufenthG und damit
nicht die Annahme des Regelversagungsgrundes nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Dies mag
anders sein, wenn der Sozialleistungsbezug des deutschen Ehepartners gerade auf der
Unterhaltspflichtverletzung des ausländischen Ehepartners beruht.25
22
23
24
25
BVerwGE 94, 35 (43, 44) = EZAR 028 Nr. 2.
BVerwGE 102, 12 (17) = InfAuslR 1997, 16; BVerwG, InfAuslR 1997, 240 (241); 1999, 332 (333).
OVG Berlin, InfAuslR 2006, 277 (278).
OVG NW, InfAuslR 1999, 67 (68).
14
BVerwG, InfAuslR 2011, 182 – BVerwG, NVwZ-RR 2012, 330 - BVerwG, NVwZ-RR 2012,
333 - BVerwG, NVwZ 2013, 1339 –BVerwG, InfAuslR 2013, 364
bb)
Geklärte Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1a AufenthG)
Nach § 5 Abs. 1a AufenthG wird für die Erteilung des Aufenthaltstitels regelmäßig
vorausgesetzt, dass die Identität des Antragstellers und, falls er nicht zur Rückkehr in einen
anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit geklärt ist. Identität und
Staatsangehörigkeit sind im Regelfall durch die Vorlage eines gültigen Passes (§ 3 in Verb.
mit § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nachzuweisen. Praktische Bedeutung hat dieser
Regelerteilungsgrund vorrangig für die Erteilung des Aufenthaltstitels vor der Einreise. Da
der Antragsteller nicht im Besitz eines Passes ist (s. aber Art. 28 StlÜb), greift § 5 Abs. 1
Nr. 1a AufenthG ein. Sowohl für die Erteilung wie für die Verlängerung des Aufenthaltstitels
muss die Identität des Antragstellers geklärt sein. Ausnahmen können nach § 5 Abs. 3 Satz 2
AufenthG zugelassen werden.26
Die zweite Alternative der Vorschrift zielt auf Staatenlose. Sofern diese einen Reiseausweis
eines anderen Staates, zumeist des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes, besitzen, muss
dieser im Zeitpunkt der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels noch eine
Rückkehrberechtigung enthalten. Die Staatenlosigkeit als solche stellt kein gegenüber der
Ausländerbehörde feststellungsfähiges Rechtsverhältnis dar, weil sich aus dieser nicht
unmittelbar Rechte und Pflichten des Antragstellers und der Behörde ergeben. Vielmehr stellt
sie allein ein Tatbestandsmerkmal für unterschiedliche, sich aus verschiedenen Rechtsnormen
ergebende Rechtsbeziehungen dar. Die Staatenlosigkeit kann zwar ein tatsächliches
Abschiebungshindernis vermitteln, muss es aber etwa bei Übernahmebereitschaft eines
anderen Staates nicht.27
Sofern ein gültiger Pass oder Passersatz nicht nachgewiesen werden kann, sind die Identität
und Staatsangehörigkeit durch andere geeignete Mittel nachzuweisen (z.B. Geburtsurkunde,
andere amtliche Dokumente). Als Drittstaatsangehörige sind auch Personen zu behandeln, bei
denen noch nicht geklärt ist, ob sie Deutsche oder Unionsbürger sind (Nr. 5.1.1.3 Satz 3
VAH). Die zur Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit erforderlichen Maßnahmen
nach § 49 Abs. 1 und 2 AufenthG veranlasst grundsätzlich die Ausländerbehörde (§ 71 Abs. 4
AufenthG). Eine Aufenthaltserlaubnis, die vom Antragsteller unter Angabe falscher
Personalien erwirkt worden ist und die auf den falschen Namen lautet, ist jedenfalls dann
nicht nach § 44 VwVfG nichtig, wenn sie mit einem Passfoto des Betroffenen verbunden und
diesem zuzuordnen ist.28
cc)
Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
Die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis setzt nach § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Es reicht die Erfüllung
eines Ausweisungstatbestandes aus. Ob die Ausweisung im Einzelfall fehlerfrei verfügt
werden könnte, ist hingegen unerheblich. Daher ist keine hypothetische Prüfung
durchzuführen, ob der Antragsteller ausgewiesen werden könnte oder würde, und ob der
Ausweisung Schutzvorschriften entgegenstehen. Bei der Feststellung, ob ein
Ausweisungsgrund vorliegt, ist daher unbeachtlich, ob die Ausweisungsbeschränkungen des §
56 AufenthG gegeben sind (Nr. 5.1.2.1 VAH). Hat die Behörde aber bei einem Ausländer, der
nach Art. 3 Abs. 3 ENA besonderen Ausweisungsschutz genießt, auf die Ausweisung
verzichtet, kann sie sich nachträglich nicht auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen.
26
27
28
BVerwG, InfAuslR 2013, 324.
OVG Hamburg, InfAuslR 2005, 311
VGH BW, AuAS 2004, 245 (246).
15
Grundsätzlich liegt nach Nr. 5.1.2.1 VAH auch dann ein Ausweisungsgrund vor, wenn das im
EFA für den dort begünstigten Personenkreis geregelte Verbot der Ausweisung wegen
Sozialhilfebedürftigkeit vorliegt. Begründet wird dies damit, dass das EFA lediglich der
Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit, nicht aber der Versagung der Erteilung und
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus diesem Grund entgegenstehe. Das geltende Recht
weicht indes von der früheren Rechtslage ab. Nach der früheren Rechtslage lag ein
Ausweisungsgrund vor, wenn der Unterhaltsberechtigte Sozialhilfe tatsächlich in Anspruch
nahm oder – zwar nicht in Anspruch nahm, aber – in Anspruch nehmen musste (vgl. § 46
Nr. 6 AuslG 1990). Lag das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten unter der Grenze, die
nach dem Regelsatz bei Berücksichtigung aller Unterhaltsberechtigten erreicht werden
musste, lag ein Ausweisungsgrund vor, so dass die Aufenthaltsgenehmigung regelmäßig
weder erteilt noch verlängert wurde. Nach geltendem Recht liegt nur noch dann ein
Ausweisungsgrund vor, wenn ein Unterhaltsberechtigter tatsächlich Sozialhilfe in Anspruch
nimmt (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Die zweite Alternative ist weggefallen, so dass ein
zu geringes Einkommen bezogen auf alle Unterhaltsberechtigten dem Antragsteller nicht
mehr entgegengehalten werden kann.
Der Ausweisungsgrund muss jedoch noch aktuell vorliegen, darf also nicht verbraucht sein.
Es muss dadurch also aktuell eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu befürchten sein (Nr.
5.1.2.2 (VAH). Je gewichtiger jedoch der Ausweisungsgrund ist, umso weniger strenge
Voraussetzungen sind an die Prüfung des aktuellen Vorliegens einer Gefährdung zu stellen.
Ausweisungsgründe nach § 53, § 54 und § 55 Nr. 1 bis 3 AufenthG liegen solange vor, wie
eine Gefährdung fortbesteht. Längerfristige Obdachlosigkeit, Sozialhilfebezug und
Inanspruchnahme von Erziehungshilfe (§ 55 Nr. 5 2. Alt., Nr. 6 und 7 AufenthG) können
demgegenüber keine Grundlage für die Versagung bilden, wenn diese Umstände
zwischenzeitlich weggefallen sind. Ein Ausweisungsgrund ist unter dem Gesichtspunkt des
Vertrauensschutzes auch dann unbeachtlich, wenn er aufgrund einer Zusicherung der
Ausländerbehörde verbraucht ist (Nr. 5.1.2.2 VAH).
Da es sich um einen Regelerteilungsgrund handelt, sind atypische Ausnahmefälle zu
berücksichtigen. Dabei sind die Dauer der Aufenthaltszeit, in der keine Straftaten begangen
wurden, im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer zu setzen. Ein langjähriger Aufenthalt im
Bundesgebiet und die damit regelmäßig einhergehende Integration kann unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine atypische Fallgestaltung in
der Weise begründen, dass schutzwürdige Belange des Antragstellers im Bundesgebiet zu
berücksichtigen sind und ein Aufenthaltstitel je nach dem Grad der Entfremdung vom
Herkunftsland grundsätzlich nur noch zur Gefahrenabwehr aus wichtigem Grund versagt
werden darf (Nr. 5.1.4.1 VAH). Hat der Antragsteller die Inanspruchnahme
sozialhilferechtlicher Leistungen etwa wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit oder eines
unverschuldeten Unfalls nicht zu vertreten und hält er sich seit vielen Jahren rechtmäßig im
Bundesgebiet auf, ist dieser Umstand insbesondere dann zu seinen Gunsten zu gewichten,
wenn er aufgrund seiner Sondersituation dem deutschen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung
steht oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit einen ergänzenden Bezug von Leistungen
nach SGB II oder SGB XII erforderlich macht ((Nr. 5.1.4.2 VAH). Dies gilt auch bei der
Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG (Nr. 5.1.4.2 VAH). Bei
langjährigem Aufenthalt ist auch zu berücksichtigen, ob diese Leistungen nur in geringer
Höhe oder nur für eine Übergangszeit in Anspruch genommen werden (Nr. 5.1.4.3 VAH). Bei
Obdachlosigkeit kann eine Abweichung von der Regel gerechtfertigt sein, wenn es sich um
einen Ausländer handelt, der zusammen mit seinen Familienangehörigen seit längerer Zeit im
Bundesgebiet lebt, beschäftigt ist und folglich seine Existenzgrundlage und die seines
16
Ehegatten sowie seiner minderjährigen Kinder verlieren würde, wenn er mangels
Aufenthaltstitel das Bundesgebiet verlassen müsste und ihm unter Berücksichtigung seines
Lebensalters im Heimatstaat der Aufbau einer Existenzgrundlage nicht mehr ohne weiteres
zumutbar wäre (Nr. 5.1.4.4 VAH).
dd)
Interessen der Bundesrepublik (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG)
Soweit kein Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, darf der Aufenthalt
des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland
beeinträchtigen oder gefährden. Für das Vorliegen eines Anspruchs kommt es nicht allein
darauf an, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Anspruchsnorm erfüllt sind. Ein
Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ist vielmehr grundsätzlich nicht gegeben, wenn
trotz Vorliegens der anspruchsbegründenden Tatbestandsvoraussetzungen einer
Anspruchsnorm eine der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen, z.B. die Sicherung des
Lebensunterhalts, nicht vorliegen und hiervon nur nach behördlichem Ermessen abgewichen
werden kann.29 In einem solchen Fall findet § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG mithin Anwendung.
Der Regelversagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG stellt eine Art Auffangtatbestand
für die Ermessensverwaltung dar. Die Ausländerbehörde hat unter Berücksichtigung des
bisherigen Werdegangs des Antragstellers eine Prognoseentscheidung zu treffen Nr. 5.1.3.0,
Satz 5 VAH). Der Begriff der Interessen der Bundesrepublik Deutschland umfasst in einem
weiten Sinne sämtliche öffentlichen Interessen. Die Regelerteilungsvoraussetzung erfordert
nicht die Beeinträchtigung eines „erheblichen“ öffentlichen Interesses. Eine Gefährdung
öffentlicher Interessen ist anzunehmen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der
Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet öffentliche Interessen mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit beeinträchtigen wird (Nr. 5.1.3.0 VAH). Unverändert gehört das
öffentliche Interesse an der Einhaltung des Aufenthaltsrechts einschließlich der
Einreisevorschriften zu den öffentlichen Interessen. Dieses Interesse ist verletzt, wenn der
Antragsteller in das Bundesgebiet einreist und sich die Art des von ihm angestrebten und
danach erteilten Aufenthaltstitels mit dem tatsächlich angestrebten Aufenthaltstitel oder –
Zweck nicht deckt. Auch im Visumverfahren findet der Regelerteilungsgrund bereits im
Stadium der Gefährdung Anwendung, ohne dass sich die Gefahr in einer tatsächlich
feststehenden Interessenbeeinträchtigung verwirklicht haben muss (Nr. 5.1.3.1.1 VAH).
ee)
Einhaltung der Visumvorschriften
§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestimmt als Voraussetzung für die Erteilung eines
längerfristigen oder dauerhaften Aufenthaltstitels, dass das Visumverfahren nicht nur
ordnungsgemäß, sondern auch unter vollständiger Angabe insbesondere des
Aufenthaltszwecks durchgeführt worden ist. Mit § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird die
Funktion des Visumverfahrens als wichtigstes Steuerungsinstrument der Zuwanderung
gewährleistet (Nr. 5.2.1 VAH). Dieser Versagungsgrund trägt mithin dem öffentlichen
Interesse Rechnung, die Einreise auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg zu steuern und zu
kontrollieren. Dies verbietet es grundsätzlich, den ohne das ordnungsgemäße Visum
begründeten Aufenthalt nachträglich im Wege der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu
legalisieren.
Im Blick auf die Ermessensverwaltung findet dieses öffentliche Interesse bereits und
zusätzlich im Regelversagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG seinen Ausdruck. Die
29
OLG Sachsen, AuAS 2006, 242 (243).
17
Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt nur zum Tragen, wenn ein
Visum erforderlich ist. Dies ist nicht der Fall, soweit der Antragsteller nach § 39 bis § 41
AufenthV den Aufenthaltstitel nach der Einreise einholen darf. Darüber hinaus sind die
Ausnahmen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu beachten. Dem Antragsteller, der bereits eine
Aufenthaltserlaubnis besitzt und deren Verlängerung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels
zu einem anderen Zweck begehrt, kann bei dieser Gelegenheit ein früherer Visumverstoß
nicht mehr vorgehalten werden (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV).
Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder einer
Niederlassungserlaubnis vorausgesetzt, dass die Einreise mit dem erforderlichen Visum
erfolgte (Nr. 1) und die für die Erteilung des Visums maßgeblichen Angaben bereits im
Visumantrag gemacht wurden (Nr. 2). Diese Vorschrift entspricht § 8 Abs. 1 Nr. 1 und 2
AuslG 1990. Die Versagungsgründe nach § 8 AuslG 1990 hatten zwingenden Charakter und
standen der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung aus Rechtsgründen entgegen. Das galt
nicht nur für Rechtsansprüche, sondern erst recht für Ermessensentscheidungen. An diese
Rechtslage knüpft § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG an. Regelfall dieser Norm ist mithin, dass die
Zustimmung der Ausländerbehörde nicht eingeholt wurde (vgl. § 31 AufenthV). Nach ihrem
Zweck, eine wirksame Einreisekontrolle bereits vor der Einreise zu gewährleisten, erfasst die
Norm indes auch den Fall, dass die Ausländerbehörde aufgrund der Angaben des
Antragstellers im Visumantrag einem Visum zugestimmt hat, das den nach der Einreise
hervorgetretenen Aufenthaltszweck gar nicht erlaubt (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG).
Bei der Prüfung des Versagungsgrundes ist bezogen auf den konkreten Antrag stets die Frage
zu beantworten, ob der Antragsteller ausnahmsweise den von ihm beantragten Aufenthaltstitel
erst nach der Einreise einholen darf. Dies richtet sich nach § 39 bis § 41 AufenthG. In diesem
Fall greift der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht ein. Ist dies nicht der
Fall, liegt der besondere Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor, weil
insoweit nach § 4 Abs. 1 AufenthG Sichtvermerkszwang besteht. Für den nunmehr
beantragten Aufenthaltstitel fehlt das „erforderliche Visum“. Allerdings kann der Verstoß
gegen den Versagungsgrund des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nach Maßgabe des § 5 Abs. 2
Satz 2 AufenthG geheilt werden.
BVerwG, NVwZ 2011, 495 und BVerwG, NVwZ 2011, 871 (zur Dänemark-Ehe)
Hess.VGH, InfAuslR 2013, 370 (Kindeswohl)
VGH BW, AuAS 2012, 258 (Pflegebedürftigkeit)
VGH BW, AuAS 2011, 256 (Kindernachzug)
OVG Hamburg, InfAuslR 2013, 71 (FamilienzusammenführungsRL)
VG Berlin, NVwZ-RR 2012, 621 (Visakodex)
ff)
Passpflicht (§§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG)
Nach § 3 Abs. 1 AufenthG besteht Passpflicht, also die Pflicht zum Besitz eines gültigen und
anerkannten Passes. Die Erfüllung dieser Pflicht erstreckt sich einerseits auf die Einreise (§ 14
Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und andererseits auf die Erteilung und Verlängerung eines
Aufenthaltstitels (§ 5 Abs. 1 Nr. 4, § 8 Abs. 1 AufenthG). Pass ist ein Ausweisdokument, das
als Identitätsnachweis dient und zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt. Die
andauernde Geltungsdauer des Passes und die Rückkehrberechtigung sind danach zentrale
Erteilungsvoraussetzungen. Die Geltungsdauer des Passes ist für die Festsetzung der
Geltungsdauer des Aufenthaltstitels maßgebend. Auf § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG beruht der
18
Grundsatz, dass die Geltungsdauer des befristeten Aufenthaltstitels nicht die Gültigkeitsdauer
des Passes überschreiten darf. Zum Reisedokument nach § 5 AufentV s. BVerwG, InfAuslR
2011, 339). Die Passpflicht besteht unabhängig von der Pflicht zur Mitführung des Passes
oder Passersatzes beim Grenzübertritt (§ 13 Abs. 1 AufenthG) und den ausweisrechtlichen
Pflichten nach § 48 AufenthG, § 56, § 57 AufenthV. Durch den Besitz eines gültigen Passes
wird den Behörden die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a
AufenthG) sowie die Rückkehrberechtigung seines Inhabers ohne weiteres ermöglicht. Ein
gültiger Pass, den ein Staat an seine Angehörigen ausstellt, beinhaltet die völkerrechtlich
verbindliche Erklärung des ausstellenden Staates, dass der Inhaber sein Staatsangehöriger ist
(Nr. 3..0.8 VAH). Diesen Staat trifft deshalb nach allgemeinem Völkerrecht gegenüber dem
Aufenthaltsstaat eine Verpflichtung auf Rückübernahme des Passinhabers.
Da ausschließlich der Staat, dessen Staatsangehörigkeit ein Ausländer besitzt, rechtlich zur
Feststellung der Namensführung berechtigt ist, gilt der in einem solchen Pass eingetragene
Name des Inhabers als rechtlich verbindlich festgestellt. Aufgrund dessen erübrigt sich eine
Identitätsfeststellung nach § 49 AufenthG (Nr. 3.0.8 VAH). Stellt hingegen ein Staat einen
Passersatz an eine Person aus, die dieser nicht als eigenen Staatsangehörigen in Anspruch
nimmt, wird die Feststellungsbefugnis zur Namensführung nicht ausgeübt, sondern nur der
Inhaber bezeichnet. Wie weit die Indizwirkung der Eintragungen im Passersatz reicht, hängt
vom jeweiligen Einzelfall ab (Nr. 3.0.9 VAH).
Der Regelerteilungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG erfordert, dass der Antragsteller
passpflichtig ist und weder einen Pass noch einen Passersatz besitzt. Er betrifft also nicht die
nach §§ 5 ff. AufenthV von der Passpflicht befreiten Personen. Ausländer, die nach § 2 Abs. 2
Nr. 1 AufenthG von der Anwendung des AufenthG ausgenommen sind, unterliegen gemäß §
8 FreizügG/EU nur einer dort geregelten Ausweispflicht. Ein Verstoß gegen diese führt für
sich allein nicht zu einer die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahme. Die Passpflicht
erstreckt sich nicht auf die Ausländer, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG von der
Anwendung des AufenthG ausgenommen sind. Ein Verstoß gegen die Passpflicht ist nach §
95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG strafbewehrt. Ein Verstoß gegen die Passpflicht liegt
nicht vor, wenn der Pass in Verwahrung genommen wird (Nr. 3.1.4 VAH). Verstößt ein
Unionsbürger gegen die Passpflicht, handelt er lediglich ordnungswidrig (vgl. § 10
FreizügG/EU). Ein Verstoß gegen die Pass- und Visumpflicht liegt nicht vor, wenn der
Ausländer einen gültigen Aufenthaltstitel besitzt, aus einem seiner Natur nach lediglich
vorübergehenden Grund mit einem gültigen Pass das Bundesgebiet verlässt, diesen im
Ausland verliert und innerhalb der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels mit einem neuen Pass
in das Bundesgebiet einreist (Nr. 3.0.3 VAH). Es ist jedoch § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zu
berücksichtigen.
ff)
Versagungsgrund nach § 5 Abs. 4 AufenthG
Der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 4 AufenthG findet Anwendung, wenn ein
Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 oder Nr. 5a AufenthG vorliegt. Der Versagungsgrund gilt
uneingeschränkt sowohl für Aufenthaltstitel, die im Ermessenswege erteilt werden können,
wie auch für solche, auf die ein gesetzlicher Anspruch besteht (Nr. 5.4.2 VAH). Ebenso wie
bei § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist es nicht erforderlich, dass der Antragsteller auch
ermessensfehlerfrei ausgewiesen werden könnte. Insoweit wird auf die entsprechenden
Ausführungen zum Regelerteilungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verwiesen.
Der Aufenthaltstitel ist nach § 5 Abs. 4 AufenthG zu versagen, wenn die Voraussetzungen des
§ 54 Nr. 5 AufenthG erfüllt sind. Danach reichen Tatsachen aus, welche die Schlussfolgerung
rechtfertigen, dass der Antragsteller einer Vereinigung angehört, die den Terrorismus
19
unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Auf
zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Versagung indes
nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründet. Mit dem
Hinweis auf „sicherheitsgefährdendes Handeln“ in § 5 Abs. 4 Satz 2 AufenthG hat der
Gesetzgeber für die Rechtsanwendung hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er
keinen substanzlosen Unterstützungsbegriff schaffen wollte, sondern einen an
schwerwiegende Straftaten und darauf beruhender individueller Verantwortlichkeit
ausgerichteten Handlungsbegriff. Die Definition des Befreiungstatbestandes ist deshalb
bereits bei der Auslegung und Anwendung des Versagungsgrundes erheblich.
Durch den Verweis auf § 54 Nr. 5a AufenthG knüpft der Gesetzgeber an die
Vorgängervorschrift des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG 1990 an, die durch das
Terrorismusbekämpfungsgesetz mit Wirkung zum 1. Januar 2002 eingeführt worden war, um
die Einreise von Personen zu verhindern, die terroristische oder gewaltbereite Aktivitäten
begehen oder unterstützen. Dieser Versagungsgrund bezweckt die „Abwehr von
Sicherheitsgefährdungen durch Gewaltanwendung“. Schutzgut ist „insbesondere auch die
Fähigkeit des Staates, Beeinträchtigungen und Störungen seiner Sicherheit nach innen und
außen abzuwehren.“ Der Verdacht der Gefährdung der freiheitlich demokratischen
Grundordnung, einer Beteiligung an Gewalttätigkeiten bei Verfolgung politischer Ziele oder
eines öffentlichen Aufrufs zur Gewaltanwendung reicht nicht aus, selbst wenn die Annahme
sich auf Tatsachen stützt.
Nach § 73 Abs. 2 Satz 1 AufenthG können die Ausländerbehörden vor der Erteilung oder
Verlängerung eines Aufenthaltstitels die bei ihr gespeicherten personenbezogenen Daten an
die dort bezeichneten Sicherheitsbehörden übermitteln. Nach Nr. 73.2.1 VAH enthält diese
Vorschrift darüber hinaus auch eine Rechtsgrundlage für Anfragen der Ausländerbehörden
bei den Sicherheitsbehörden. Ebenso wie vor der Visumerteilung müsse auch vor
aufenthaltsrechtlich wichtigen Entscheidungen die Möglichkeit gegeben sein, das Wissen
aller mit der Bekämpfung des Terrorismus befassten staatlichen Stellen für die Feststellung
des Versagungsgrundes nach § 5 Abs. 4 AufenthG heranzuziehen. Für eine Regelanfrage in
Ansehung bestimmter Herkunftsländer stellt die Vorschrift indes keine Rechtsgrundlage dar.
Dagegen spricht bereits der Gesetzeswortlaut („können“). Es muss daher für die Übermittlung
wie für die Anfrage ein konkreter Anlass bestehen.
In begründeten Fällen können Ausnahmen vom Versagungsgrund des § 5 Abs. 4 Satz 1
AufenthG zugelassen werden (§ 5 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die Ausnahmevorschrift bezieht
sich auf beide Fallvarianten des § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG und setzt voraus, dass die
Antragsteller sich gegenüber den zuständigen Behörden offenbart und glaubhaft von seinem
sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand nimmt. Insoweit obliegt die Beurteilung den
Sicherheitsbehörden.
gg)
Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG)
Ausweisung und Abschiebung bewirken ein Einreise- und Aufenthaltsverbot (gesetzliche
Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Das gilt auch für Maßnahmen nach altem
Recht (vgl. § 102 Abs. 1 AufenthG). Sie führen zudem zu einer Ausschreibung zur
Einreiseverweigerung im SIS (Art. 96 Abs. 3 SDÜ) und bewirken damit eine Einreisesperre
für das gesamte Gebiet der Schengen-Staaten. Die Wirkungen von Ausweisung und
Abschiebung betreffen auch Gemeinschaftsangehörige. Es liegt daher ein zwingender
20
Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) vor, der durch antragsgemäße Befristung
aufgehoben werden kann (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Ausnahmen sind nach §§ 23a Abs. 1
Satz 1, 25 Abs. 1–5 AufenthG zulässig.
Der Zweck der Sperrwirkung, eine effektive Kontrolle der Wiedereinreise sicherzustellen,
wird insbesondere an der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG deutlich. Während nach
der früheren Rechtsprechung des BVerwG eine der Ausweisung beigefügte Frist bereits vor
30
der Ausreise ablaufen konnte,
sodass ohne zwischenzeitliche Ausreise der Aufenthalt
legalisiert werden konnte, beginnt nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Frist erst mit dem
Tag der Ausreise oder Abschiebung zu laufen,31 sdass eine Ausweisung nicht durch
Befristung des Versagungsgrundes während des Inlandsaufenthaltes unterlaufen werden kann.
Ist der Antragsteller indes erneut eingereist, bedarf es für den Fristbeginn nicht der erneuten
Ausreise.32 Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts darf die Aufhebung
der Sperrwirkung nicht von der Ausreise abhängig gemacht werden.33
Die Sperrwirkung der Ausweisung tritt unmittelbar kraft Gesetzes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1
AufenthG) ein. Umstritten ist, ob für den Eintritt der Sperrwirkung der Ausweisung
Vollziehbarkeit vorauszusetzen ist. Bei der Abschiebung tritt die Sperrwirkung mit dem
tatsächlichen Vollzug ein. Die Abschiebungsandrohung reicht nicht.
hh)
Sperrwirkung des abgelehnten Asylantrags (§ 10 Abs. 3 AufenthG)
§ 10 Abs. 3 AufenthG legt eine abgestufte Sperrwirkung fest: Ist der Asylantrag unanfechtbar
abgelehnt oder vom Antragsteller zurückgenommen worden, darf vor der Ausreise nur nach
dem humanitären Vorschriften (§ 22 bis § 26 AufenthG) ein Aufenthaltstitel erteilt werden,
d.h. der Zugang zu anderen Aufenthaltstiteln ist versperrt. Ist hingegen der Aufenthaltstitel
nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt worden, darf überhaupt kein Aufenthaltstitel erteilt
werden, d.h. es findet nicht lediglich eine eingeschränkte, sondern eine absolute Sperrwirkung
Anwendung. § 10 Abs. 3 AufenthG bezweckt, dass Antragsteller, deren Asylantrag
unanfechtbar abgelehnt worden ist, nur eingeschränkt die Möglichkeit erhalten, einen
Aufenthaltstitel zu erlangen. Die eingeschränkte wie absolute Sperrwirkung findet für den
Fall des Verzichts (§ 14a Abs. 3 AsylVfG) sowie in den Fällen, in denen ein Anspruch auf
Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), keine Anwendung.
Die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hindert auch die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 22 bis § 26 AufenthG. Dies ist, wie der Vergleich zwischen § 23a
Abs. 1 Satz 1 und § 25 Abs. 5 AufenthG verdeutlicht, ungereimt. Während über die
30
BVerwGE 60, 284 (285); 69, 137 (141).
31
32
OVG Bremen, InfAuslR 1998, 442 (443); VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (434).
OVG Hamburg, InfAuslR 1992, 250 (251); BVerwG, InfAuslR 2000, 176 (180) = AuAS 2000, 74.
33
Vgl. auch EuGH, NJW 1983, 1250 (1251).
21
Aufenthaltserlaubnis nach § 23a AufenthG in Abweichung von allen gesetzlichen
Erteilungsvoraussetzungen entschieden wird, ist etwa den Sollansprüchen nach § 25 Abs. 3
Satz 1 und Abs. 5 Satz 2 AufenthG die Sperrwirkung entgegenzuhalten. Dadurch wird ein
rechtmäßiger Aufenthalt unmöglich gemacht.
Der Bescheid des Bundesamtes muss ausdrücklich auf die Norm des § 30 Abs. 3 AsylVfG
verweisen. Eine qualifizierte Asylablehnung nach § 30 Abs. 1 und 2 AsylVfG begründet nur
die eingeschränkte Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Nicht durchdacht
erscheint, dass der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eines Kind, dessen
Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird,
die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auch dann entgegenzuhalten ist, wenn der
Antrag der Eltern bzw. des personensorgeberechtigten Elternteil nicht gesperrt wird. Lässt der
asylrechtliche Statusbescheid die maßgebliche Rechtsgrundlage der qualifizierten
Asylablehnung offen, kann die Ausländerbehörde dem Antrag auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis nicht die absolute Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG
entgegenhalten. In diesem Fall findet aber die eingeschränkte Sperrwirkung Anwendung, d.h.
der Aufenthaltstitel darf nur nach Maßgabe des humanitären Abschnitts des AufenthG erteilt
werden. Wird ein Klageverfahren durchgeführt und die Klage abgewiesen, kann die absolute
Sperrwirkung keine Anwendung finden. Das Verwaltungsgericht prüft nämlich im
Hauptsacheverfahren nicht die Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils. Jedenfalls in
den Fällen, in denen im Eilrechtsschutzverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage
angeordnet wird, liegt dem die gerichtliche Einschätzung zugrunde, dass die Voraussetzungen
für das Offensichtlichkeitsurteil nicht vorliegen. Die absolute Sperrwirkung findet deshalb
keine Anwendung.
Hat der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z. B. § 28 Abs. 1,
§ 30 Abs. 1, § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG), ist über diesen durch die Ausländerbehörde eine
Entscheidung herbeizuführen. Die Sperrwirkung findet weder in der eingeschränkten noch in
der absoluten Form Anwendung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Der Ermessensreduzierung
auf Null ist dem Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht rechtlich gleichgestellt.34
Dafür spricht, dass § 10 Abs. 1 AufenthG den Begriff „gesetzlicher Anspruch“, § 10 Abs. 3
Satz 3 AufenthG hingegen den Begriff „Anspruch auf Erteilung“ verwendet. Die
Rechtsprechung des BVerwG hatte sich zunächst nur im Blick auf gesetzliche Ansprüche
gegen die Einbeziehung der Ermessensreduktion gewandt.35 Im Blick auf § 9 Abs. 1 Nr. 2
AuslG 1990, der ebenfalls den Begriff „Anspruch auf Erteilung“ verwendet, hat das BVerwG
sich indes ebenfalls gegen die Einbeziehung der „Ermessensreduzierung auf Null“
ausgesprochen. Es hat dies damit begründet, die Ermessensreduzierung begründe keinen
gesetzlichen Anspruch. Insoweit gelte nichts anderes als in den Fällen eines gesetzlichen
Anspruchs.36
Im Falle eines „Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels“ (§ 10 Abs. 3 Satz 3
AufenthG) steht damit § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei krankheitsbedingten oder sonstigen
Härtegründen der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. In diesem Falle kann der
Antrag im Bundesgebiet bearbeitet werden (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG). Im Falle
BVerwGE 132, 382 (390) = InfAuslR 2009, 224; VG Freiburg, InfAuslR 2005,388 (390), für den gleich
gelagerten Fall des § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG; wohl auch Klaus Dienelt, ZAR 206, 120 (122 f.); so auch
Nieders.MdI, Informations- und Schulungsmaterial zum ZuwG, August 2004, S. 19; dagegen Frank Wenger,
Kommentar zum ZuwG, § 10 AufenthG Rdn. 5.; Nr. 10.3.1 VAH, anders jedoch Nr. 5.2.3 VAH. Nr. 10.3.1
VAH; offen gelassen Jochen Zühlke, ZAR 2006, 280..
35
BVerwGE 101, 265 (271) = EZAR 011 Nr. 9 = InfAuslR 1997, 21; BVerwG, NVwZ-RR 2004, 687 =
EZAR 017 Nr. 21.
36
BVerwG, NVwZ-RR 2004, 687 (688).
34
22
eines Ermessenstatbestandes (z. B. § 16 Abs. 4, 30 Abs. 2, § 32 Abs. 4 AufenthG) muss der
Antragsteller indes ausreisen und ein Visumverfahren durchführen. Im Hinblick auf Art. 15,
18 und 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist die Anwendung der Sperrwirkung unvereinbar mit
Gemeinschaftsrecht. Dementsprechend wird nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG die
Sperrwirkung durchbrochen, wenn der Antragsteller den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis
nach § 25 Abs. 3 AufenthG für subsidiär Schutzberechtigte anstrebt. Die obergerichtliche
Rechtsprechung ging unter Hinweis auf den Sollcharakter des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG
von einem strikten Rechtsanspruch im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG aus, sofern es
der Ausländerbehörde nicht ausnahmsweise gelang, eine atypische Interessenlage
darzulegen.37 § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG macht im Hinblick auf § 25 Abs. 3 AufenthG eine
derartige Einschränkung nicht. Sie wäre auch mit Art. 15, 18 und 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG
unvereinbar. Im Hinblick auf § 25 Abs. 5 AufenthG ist die Anwendung der Sperrwirkung
jedenfalls insoweit ungereimt, soweit dringende inlandsbezogene Härtegründe für die
Entscheidung maßgebend sind.
IV.
Verlängerung des Aufenthaltstitels
1. Fortbestand der Ersterteilungsvoraussetzungen (§ 8 Abs. 1 AufenthG)
Bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels geht es um die weitere Aufenthaltsgewährung im
Anschluss an einen genehmigten Aufenthalt ohne Wechsel des Aufenthaltstitels. Dabei
gelten nach § 8 Abs. 1 AufenthG bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels im Rechts- wie
im Ermessensbereich grundsätzlich dieselben Rechtsvorschriften wie bei der Ersterteilung. Es
sind aber gesetzliche Erleichterungen zu berücksichtigen. Eine Zweckänderung wird nicht als
Verlängerungs-, sondern als Erstantrag mit allen verfahrensrechtlichen Konsequenzen
behandelt. Einen Zweckwechsel stellt es aber nicht dar, wenn das zum Zweck des
Kindernachzugs ausgestellte Visum nach Einreise in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt
wird. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen Antrag auf Ersterteilung, sondern um einen
Verlängerungsantrag.38
Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis befreit von den aufgezeigten verfahrensrechtlichen
Einschränkungen. Der befristete Aufenthaltstitel darf hingegen nur für einen Zeitraum erteilt
werden, für den die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen und gesetzliche Versagungsgründe
nicht gegeben sind. Daher ist die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels stets abhängig von der
Geltungsdauer des Reiseausweises (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Die Geltungsdauer der
Verlängerung ist grundsätzlich so zu bestimmen, dass sie am Tage nach dem Ablauf der
Geltungsdauer der bisherigen Geltungsdauer beginnt. Das gilt auch dann, wenn die Behörde
erst zu einem späteren Zeitpunkt über die Verlängerung der Geltungsdauer entscheidet (Nr.
8.1.4 Satz 1 und 2 VAH). Erfüllt der Antragsteller die zeitlichen Voraussetzungen für die
Erteilung der Niederlassungserlaubnis, soll die Ausländerbehörde ihn auf die Möglichkeit der
Antragstellung hinweisen (§ 82 Abs. 3 AufenthG). Werden die entsprechenden Nachweise
nicht vorgelegt, darf die Aufenthaltserlaubnis befristet verlängert werden (Nr. 8.1.3 VAH).
Eine zu einem früheren Aufenthaltstitel erteilte Zustimmung der Arbeitsverwaltung zu einer
Beschäftigung gilt im Rahmen ihrer zeitlichen Begrenzung fort, sofern das
Beschäftigungsverhältnis andauert (§ 14 Abs. 2 BeschVerfV).
Die Behörde hat vor der Verlängerung insbesondere den Zweck nach Kapitel 2 Abschnitt 3, 4,
5 oder 6 des AufenthG, die Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründe nach §§ 5
Abs. 2 Satz 1 und 10 AufenthG zu prüfen. Bei der Verlängerung findet die Sperrwirkung nach
37
38
Hess.VGH, U. v. 1. 9. 2006 – 9 UE 1650/06.
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726.
23
§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG keine Anwendung, weil diese bereits vor der Ersterteilung
zwingend zu beseitigen war. Die Gewährung eines befristeten Aufenthaltsrechts im Rahmen
der Ermessensverwaltung gibt dem Antragsteller zwar grundsätzlich keinen Anspruch auf
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Über die Verlängerung ist jedoch unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und des
Vertrauensschutzes zu entscheiden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass während
des bisherigen Aufenthaltes schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche oder sonstige
Bindungen zum Bundesgebiet entstanden sein können. In solchen Fällen ist im Rahmen einer
Güter- und Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beendigung des Aufenthaltes zumutbar ist
(z.B. Dauer des Aufenthalts, Grad der Verwurzelung, beanstandungsfreier Aufenthalt) und
sind darüber hinaus auch die in § 55 Abs. 3 AufenthG bezeichneten Belange zu
berücksichtigen.
Nicht um die Verlängerung des bisherigen Aufenthaltstitels, sondern um die Beantragung
eines neuen Aufenthaltstitels handelt es sich, wenn der Antragsteller die Verlängerung zu
einem anderen Aufenthaltszweck beantragt.39 Ein Übergang vom Deutschkurs zum
Überbrückungsstudium und Studium beinhaltet indes keinen Wechsel des Aufenthaltszwecks.
Ist die Verlängerung des Aufenthaltstitels nicht ausgeschlossen worden (vgl. § 8 Abs. 2
AufenthG), kann die Zweckänderung nach Ermessen genehmigt werden. Dabei können auch
im Gesetz nicht vorgesehene Aufenthaltszwecke berücksichtigt werden (§ 7 Abs. 1 Satz 3
AufenthG). Für die Prüfungsphase findet die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG
Anwendung.
Nach § 8 Abs. 3 AufenthG hat die Ausländerbehörde die Verletzung der nach § 44a Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 AufenthG bestehenden Pflicht zur Teilnahme am Integrationskurs bei der
Verlängerungsentscheidung zu berücksichtigen. Die Gründe, aus denen die Verpflichtung
hervorgeht, sind aktenkundig zu machen. Der Erlass eines gesonderten Bescheides über die
Teilnahmeverpflichtung ist nicht erforderlich, da die Behörde lediglich eine bereits
bestehende Pflicht rein verwaltungstechnisch berücksichtigt und keine eigenständige
Regelung – auch nicht in Form eines feststellenden Verwaltungsaktes – trifft (Nr. 8.3.2
VAH). Auf die nicht ordnungsgemäßen Teilnahme kann etwa durch die Bestimmung einer
kürzeren Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Verlängerungsentscheidung
reagiert werden (Nr. 8.3.5 VAH). Gegen die Versagung der Verlängerung dürfte regelmäßig
der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sprechen.
Die Verlängerungsversagung ist ausgeschlossen, wenn auf die Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis ein Rechtsanspruch besteht (s. aber § 8 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). § 8
Abs. 3 Satz 2 AufenthG bestimmt, dass bei einer im behördlichen Ermessen stehenden
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis die „wiederholte und gröbliche Verletzung“ der
Teilnahmepflicht der Antrag abgelehnt werden soll. Unter diesen Voraussetzungen kann die
Aufenthaltserlaubnis auch dann versagt werden, wenn ein Anspruch auf Verlängerung
lediglich nach dem AufenthG besteht. Im Hinblick auf Asylberechtigte, Flüchtlinge und
subsidiär Schutzberechtigte steht dem Art. 24 RL 2004/83/EG entgegen, weil dort eine
derartige Einschränkung nicht gemacht wird. Dies gilt auch die Familienangehörigen dieses
Personkreises (vgl. Art. 23 RL 2004/83/EG).
Es muss sich um eine gröbliche Verletzung der Teilnahmepflicht handeln. Gröblich ist mehr
als „grobe Fahrlässigkeit“ (vgl. hierzu § 20 Abs. 2 Satz 1, § 22 Abs. 3 Satz 2, § 23 Abs. 2 Satz
39
OVG NW, EZAR 014 Nr. 11; OVG NW, InfAuslR 2001, 212 = AuAS 2001, 86.
24
1 AsylVfG). Der Gesetzgeber hat bewusst den Begriff „grobe Fahrlässigkeit“ nicht
verwendet, weil ihm dies angesichts der gravierenden Folgen einer Versagungsentscheidung
nicht als verhältnismäßig erscheint. Der Betroffene muss also bewusst und gewollt sowie in
Kenntnis seiner entsprechenden Teilnahmeverpflichtung und darüber hinaus nach den
erkennbaren Umständen auch in einer Weise gegen seine Verpflichtung verstoßen, dass der
Vorwurf der gröblichen Pflichtverletzung berechtigt ist. Dies setzt voraus, dass er zuvor durch
die Behörde auf den Umfang seiner Verpflichtung und die Folgen einer Pflichtverletzung
hingewiesen worden ist. Aus den Gesamtverhalten des Betroffenen muss erkennbar sein, dass
er sich uneinsichtig, beharrlich, hartnäckig und wiederholt geweigert hat, der
Teilnahmeverpflichtung nachzukommen.
2.
Ausnahmen vom Erfordernis der Ersterteilungsvoraussetzungen
Der Grundsatz, dass bei der Verlängerung dieselben Vorschriften wie bei der Ersterteilung zu
beachten sind, findet etwa dann keine Anwendung, wenn ungeachtet der Einreise ohne
erforderliches Visum ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist.40 Ebenso ist im Rahmen der
Verlängerung des Aufenthaltstitels der Rückgriff auf einen Ausweisungsgrund unzulässig,
wenn dieser bei der Ersterteilung oder vorangegangenen Verlängerungsentscheidung der
Behörde bekannt war und nicht zuungunsten des Antragstellers gewertet wurde. 41 Sieht die
Behörde im Rahmen des § 5 Abs. 3 AufenthG von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ab, kann sie
darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender
Ausweisungsgründe, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen
Verfahrens sind, möglich ist (§ 5 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Macht die Ausländerbehörde in
derartigen
Fällen
nach
Verfahrensabschluss
nicht
unverzüglich
von
den
Ausweisungsmöglichkeiten Gebrauch, kann sie die entsprechenden Ausweisungsgründe nicht
dem Verlängerungsantrag entgegenhalten.
Darüber hinaus macht das Gesetz einige bedeutsame Ausnahmen: Bei Ehegatten kann die
Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltssicherungserfordernis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG) und vom Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) verlängert werden
(§ 30 Abs. 3 AufenthG). Es dürfen aber ernsthafte Bemühungen um die Sicherstellung des
Lebensunterhaltes gefordert werden. Die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG ist anwendbar. Bei Kindern kann die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden,
solange die Voraussetzungen für die Niederlassungserlaubnis noch nicht vorliegen (§ 34
Abs. 3 AufenthG). Demgegenüber bestimmte früher § 20 Abs. 4 AuslG 1990, dass die
Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhalts- und Wohnraumerfordernis zu verlängern
ist. In der Verwaltungspraxis wurde indessen bei Sozialhilfebedürftigkeit regelmäßig die
Verlängerung versagt (vgl. Nr. 20.6.2.3 AuslG-VwV). Das geltende Recht wandelt den
Rechtsanspruch auf Verlängerung in einen Ermessenstatbestand um. Die Altergrenzen nach
§ 32 Abs. 1 bis 4 AufenthG sind bei der Verlängerung nicht mehr zu berücksichtigen.42
Solange kein eigenständiges Aufenthaltsrecht besteht (§ 34 Abs. 2 AufenthG), setzt die
Verlängerung die Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft mit mindestens einem
Elternteil voraus. Bei Wegfall des Zwecks (§ 27 Abs. 1 AufenthG) wegen der Ausreise der
40
41
VGH BW, InfAuslR 1995, 104 (105); VGH BW, InfAuslR 1988, 471 (472).
Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5.
42
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726.
25
Eltern ist die Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 37 AufenthG zu verlängern (§ 34
Abs. 2 Satz 2 AuslG). Sind beide Elternteile nach Erteilung und Verlängerung des
Aufenthaltstitels verstorben, kommt eine Verlängerung nach § 34 AufenthG nicht in Betracht.
Im Falle der Aufnahme bei oder der Betreuung durch Verwandte kommt aber wohl eine
Lösung nach § 36 AufenthG in Betracht. Solange die Voraussetzungen für die Erteilung der
Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG nicht gegeben sind, kann die
Aufenthaltserlaubnis bei Volljährigen nach Ermessen unter Berücksichtigung der
Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG verlängert werden.
3.
Rechtzeitige Antragstellung
Wesentlich für die Aufenthaltsverfestigung ist die rechtzeitige Antragstellung, da andernfalls
der für die Verfestigung erforderliche ununterbrochene rechtmäßige Aufenthalt unterbrochen
wird (s. aber § 26 Abs. 4 AufenthG). Fraglich ist, ob die verspätete Antragstellung die
Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unterbricht. Nach § 81 Abs. 4 AufenthG wird auch im Falle
der verspäteten Antragstellung vom Zeitpunkt der Antragstellung an die Erlaubnisfiktion
begründet. Dies spricht dafür, dass keine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit eintritt. Unklar
ist, ob die Rechtsprechung des BVerwG auch diesen Fall einschließt, da sie nur die
Verlängerung eines längerfristigen Visums als nationale Aufenthaltserlaubnis betrifft.43
Jedenfalls kann die Behörde über § 85 AufenthG die Unterbrechung heilen. Stellt der
Antragsteller am Tag nach Ablauf der Geltungsdauer den Verlängerungsantrag, tritt keine
Unterbrechung ein, da der Antrag auf den Beginn des Tages zurückwirkt. 44 Der Antragsteller
erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Da es sich indes um ein
gesetzliches Aufenthaltsrecht handelt, hat die Geltungsdauer der Bescheinigung keine
Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des verfahrensabhängigen Aufenthaltrechtes.
Beantragt der Antragsteller deshalb verspätet die Verlängerung der Geltungsdauer der
Bescheinigung, ist dies insoweit unschädlich (vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). Erst mit
Bekanntgabe der Versagungsverfügung wird die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts
unterbrochen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Im Falle der verspäteten Antragstellung bleibt es
aber bei der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes. Unterbrechungen bis zu
einem Jahr können indes außer Betracht bleiben (vgl. § 85 AufenthG). Wird die
Behördenentscheidung durch die Behörde selbst oder durch das Gericht aufgehoben, tritt
keine Unterbrechung ein (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Auch hier kann im Falle des
verspäteten Antrags § 85 AufenthG weiterhelfen.
4.
Ausschluss der Verlängerung (§ 8 Abs. 2 AufenthG)
§ 8 Abs. 2 AufenthG eröffnet der Ausländerbehörde die Möglichkeit, die Verlängerung der
Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis durch eine Nebenbestimmung (§ 36 VwVfG)
auszuschließen. Dies betrifft z.B. kurzfristige Arbeitsverhältnisse, bei denen eine
Verfestigung nicht zulässig ist (Saisonarbeitnehmer, Werkvertragsarbeitnehmer), oder
Aufenthalte
aufgrund
spezifischer
Postgraduiertenprogramme
der
Entwicklungszusammenarbeit, bei denen die Geförderten sich verpflichtet haben, nach
Abschluss der Hochschulförderung zurückzukehren. Auf diese Weise soll die
Ausländerbehörde von vornherein Klarheit über die fehlende Perspektive der
Aufenthaltsverfestigung schaffen (Nr. 8.2.1 AufenthG-VwV). Die Rechtsfolge der
Nichtverlängerbarkeit tritt entgegen Nr. 8.2.2 AufenthG-VwV nicht kraft Gesetzes ein. § 8
Abs. 2 AufenthG ist auch keine Nebenbestimmung (so Nr. 8.2.3 AufenthG-VwV), sondern
43
BVerwGE 140, 64 = InfAuslR 2011, 373 = NVwZ 2011, 1340 = AuAS 2011, 373; ausf. unter B I 1.
OVG Hamburg, InfAuslR 2000, 71 (72); a.A. OVG NW, InfAuslR 1999, 451 (452); OVG NW,
InfAuslR 2000, 115 (116); s. auch OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 106 = AuAS 2004, 61.
44
26
eine materielle Rechtsgrundlage für die Sperrung der Verfestigung. Hat die Behörde die Form
der auflösenden Bedingung gewählt, erlischt die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis
unabhängig von § 8 Abs. 2 AufenthG mit Eintritt der auflösenden Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr.
2 AufenthG). § 8 Abs. 2 AufenthG gibt der Ausländerbehörde vielmehr die Möglichkeit, von
vornherein den Zugang zur Verfestigung zu sperren. Stellt der Antragsteller gleichwohl den
Verlängerungsantrag, greifen die Wirkungen des § 81 Abs. 4 AufenthG ein. In der Sache steht
der Verlängerung der Geltungsdauer allerdings der Hinweis auf die Nichtverlängerbarkeit bei
der Ersterteilung entgegen. Erweist sich im Nachhinein, dass die Behörde den Hinweis auf die
Nichtverlängerbarkeit nicht hätte geben dürfen, steht § 8 Abs. 2 AufenthG der Verlängerung
nicht entgegen.
5.
Geltungsdauer des Aufenthaltstitel
Der erstmals erteilte Aufenthaltstitel wird grundsätzlich befristet erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 1
AufenthG). Ausnahmen gelten für hoch qualifizierte Ausländer, denen unter den
Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 AufenthG bereits bei der Einreise eine
Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann. Für die Gestaltung der Befristung der
Aufenthaltserlaubnis ist der beabsichtigte Aufenthaltszweck maßgebend (§ 7 Abs. 2 Satz 1
AufenthG). Grundsätzlich wird die bisherige Verwaltungspraxis wohl fortgeführt werden,
wonach die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels zunächst auf zwei Jahre, in besonders
gelagerten Fällen auf ein Jahr befristet wird, bis nach Ablauf von fünf Jahren des Besitzes der
Aufenthaltserlaubnis der Anspruch auf die Erteilung des Niederlassungserlaubnis entsteht
(vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Das Gesetz gibt für besondere Fallgruppen
bestimmte Fristen vor: So kann nach Abschluss des Studiums die Aufenthaltserlaubnis bis zu
einem Jahr verlängert werden (§ 16 Abs. 4 AufenthG). Das eigenständige Aufenthaltsrecht
des Ehegatten entsteht zunächst für die Dauer eines Jahres (§ 31 Abs. 1 AufenthG). Bei
selbständig Erwerbstätigen wird die Aufenthaltserlaubnis auf längstens drei Jahre befristet
(§ 21 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Anschließend entsteht unter den Voraussetzungen des § 21
Abs. 4 Satz 2 AufenthG ein Anspruch auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis.
Die Aufenthaltserlaubnis kann in der Regel nicht verlängert werden, wenn die zuständige
Behörde dies bei einem seiner Zweckbestimmung nach nur vorübergehenden Aufenthalt bei
der Erteilung oder der zuletzt erfolgten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen
hat (§ 8 Abs. 2 AufenthG). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt kraft Gesetzes ein.
§ 8 Abs. 2 AufenthG hat im früheren Recht keine direkte Entsprechung. Sie dürfte sich aber
im Wesentlichen auf Fälle beziehen, in denen nach früherem Recht eine
Aufenthaltsbewilligung (§ 28 AuslG 1990) erteilt wurde. Sie soll dementsprechend bei
kurzfristigen Aufenthalten, bei denen eine Aufenthaltsverfestigung nicht beabsichtigt ist, oder
bei
Aufenthalten
aufgrund
spezifischer
Postgraduiertenprogramme
der
Entwicklungszusammenarbeit, bei denen sich die Geförderten verpflichtet haben, nach
Abschluss der Hochschulfortbildung zurückzukehren, Anwendung finden.
Studenten haben demgegenüber nach Abschluss des Studiums unter den Voraussetzungen des
§ 16 Abs. 4 AufenthG grundsätzlich die Möglichkeit, innerhalb eines Jahres einen
Arbeitsplatz zu suchen und anschließend den Aufenthalt zu verfestigen. Zwar kann die
Behörde die Nichtverlängerbarkeit auch erst bei der Verlängerungsentscheidung anordnen. Es
muss sich aber um Fälle handeln, in denen für die Beteiligten von Anfang an der nur
vorübergehende Zweck des Aufenthaltes klar war. Andernfalls wäre eine derartige Praxis mit
dem verfassungskräftigen Grundsatz des Vertrauensschutzes kaum vereinbar.
Die Nichtverlängerbarkeit wird durch Nebenbestimmung angeordnet (§ 12 Abs. 2 Satz 1
AufenthG). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt nach der gesetzlichen Begründung
27
kraft Gesetzes ein. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Fristsetzung ist eine
Nebenbestimmung im Sinne von § 36 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG. Die Form der auflösenden
Bedingung ist auf Fristsetzungen nicht anwendbar. Ist die Frist abgelaufen und hat der
Betroffene rechtzeitig den Verlängerungsantrag gestellt, gilt der Aufenthalt zunächst als
rechtmäßig fort (§ vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). § 8 Abs. 2 AufenthG ordnet an, dass nach
Fristablauf in der Regel die Nichtverlängerbarkeit eintritt. Das Gesetz geht damit selbst davon
aus, dass die Nichtverlängerbarkeit nicht kraft Gesetzes eintritt. Vielmehr wird der Behörde
für den Regelfall die Möglichkeit der Versagung eingeräumt. Damit wird dem Antragsteller
allerdings nicht der Rechtsschutz genommen. Nach § 26 Abs. 2 AufenthG darf die
Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen
einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind.
V. Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG)
1.
Funktion der Niederlassungserlaubnis
Das AufenthG wandelt die Verfestigungsregelungen des alten Rechts grundlegend um. Das
geltende Recht kennt nur noch die Aufenthaltserlaubnis und die Niederlassungserlaubnis. Neu
hinzugekommen ist aufgrund der Umsetzung der Richtlinie 2003/109/EG die Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG nach §§ 9a ff. AufenthG, die gegenüber der Niederlassungserlaubnis
nach § 9 AufenthG weitergehende Recht im Gemeinschaftsgebiet und auch einen stärkeren
Ausweisungsschutz vermittelt. Grundsätzlich können alle Aufenthaltstitel des AufenthG in
das Verfestigungsstadium gelangen, wenn nicht im Einzelfall die Aufenthaltserlaubnis
entsprechend ihrer Zweckbestimmung nur einen vorübergehenden Aufenthalt zulässt (§§ 8
Abs. 2, 26 Abs. 2 AufenthG). Darüber hinaus erlaubte das alte Recht nicht den direkten
Sprung in die Verfestigung. Vielmehr setzte die stärkste Verfestigungsform, die
Aufenthaltsberechtigung, regelmäßig einen achtjährigen Besitz der Aufenthaltserlaubnis
voraus (vgl. § 27 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1990). Nunmehr erlaubt § 19 Abs. 1 AufenthG,
Hochqualifizierten unmittelbar zu Beginn des Aufenthalts im Bundesgebiet die
Niederlassungserlaubnis zu erteilen, vermittelt den besonderen Ausweisungsschutz aber erst
nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im
Grundsatz setzt die höchste Verfestigungsstufe indes den fünfjährigen Besitz der
Aufenthaltserlaubnis voraus (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Sämtliche Voraussetzungen für die
Erteilung der Niederlassungserlaubnis müssen im Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung vorliegen.45
Die Niederlassungserlaubnis fasst die früheren Verfestigungsstufen „unbefristete
Aufenthaltserlaubnis“ (§ 24 AuslG 1990) und „Aufenthaltsberechtigung“ (§ 27 AuslG 1990)
zusammen und regelt einen einheitlichen Verfestigungstitel, der grundsätzlich nach fünf
Jahren Besitz der Aufenthaltserlaubnis unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG
auf Antrag erworben wird. Das frühere Stufensystem ist damit aufgehoben. Die
Niederlassungserlaubnis gilt unbefristet. Die Geltungsdauer ist damit nicht begrenzt und kann
auch nicht durch nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) befristet werden.
Ebenso wenig dürfen der Niederlassungserlaubnis zwecks Befristung aufschiebende oder
auflösende Bedingungen beigegeben werden, da die Anordnung von Nebenbestimmungen
grundsätzlich unzulässig ist (§ 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis
berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung jeder nichtselbständigen und selbständigen
Erwerbstätigkeit (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt., § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs. AufenthG) und darf mit
45
BVerwG, InfAuslR 2002, 281 (282).
28
Ausnahme eines Verbotes bzw. einer Beschränkung der politischen Betätigung nach § 47
AufenthG (§ 9 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) und einer wohnsitzbeschränkenden Auflage im Falle
des § 23 Abs. 2 Satz 2 AufenthG grundsätzlich nicht mit Nebenbestimmungen versehen
werden, es sei denn, das AufenthG ordnet diese ausdrücklich an (§ 9 Abs. 1 Satz 2
AufenthG).
Die Niederlassungserlaubnis verleiht immer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht (Nr. 9.1.1
Satz 3 VAH). Damit löst sich die Akzessorietät des bisherigen Aufenthaltstitels auf. § 8 Abs.
1 AufenthG ist nicht mehr anwendbar. Unklar ist allerdings, ob die Niederlassungserlaubnis
nach § 26 Abs. 3 AufenthG ein dauerhaftes eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt oder
konzeptionell an den asylrechtlichen Status gebunden bleibt. Der Fortfall der
Erteilungsvoraussetzungen führt nicht zur Zurückstufung zur befristeten Aufenthaltserlaubnis.
Vielmehr kann die Niederlassungserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des § 52
AufenthG widerrufen werden. Der Wegfall der Erteilungsvoraussetzungen ist kein
Widerrufsgrund. Die Erlöschensgründe des § 51 AufenthG gelten allerdings auch für die
Niederlassungserlaubnis. Durch Ausweisung (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) erlischt danach die
Niederlassungserlaubnis. Es ist allerdings der erhöhte Ausweisungsschutz zu beachten (§ 56
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Wer einen längeren, sechs Monate übersteigenden
Auslandsaufenthalt beabsichtigt und nicht die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 AufenthG
erfüllt, muss zur Vermeidung des Verlusts des Aufenthaltsrechts den Antrag nach § 51 Abs. 1
Nr. 7AufenthG stellen, auf den er einen Sollanspruch hat (§ 51 Abs. 4 AufenthG). Gegen
derartige Verlustfolgen schützt letztendlich nur die Einbürgerung. Andererseits setzt die
Einbürgerung kein Stufenverhältnis dergestalt voraus, dass vor der Einbürgerung zunächst
eine Niederlassungserlaubnis erworben werden müsste (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG).
Die Niederlassungserlaubnis wird zumeist aufgrund eines gesetzlich geregelten
Rechtsanspruchs erworben. In einigen Sonderfällen steht ihre Erteilung im behördlichen
Ermessen (§ 19, § 21 Abs. 4 Satz 2, § 26 Abs. 4 AufenthG). In allen Fällen sind die
allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG neben den spezifischen
Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG zu erfüllen. Für Flüchtlinge, Asylberechtigte und
subsidiär Schutzberechtigte greift jedoch die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 1
AufenthG ein. Von den allgemeinen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG werden in
einer Reihe von Fällen bedeutsame Ausnahmen von den einzelnen Voraussetzungen oder
insgesamt (vgl. z.B. § 26 Abs. 3 AufenthG) zugelassen.
2.
Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis (§ 9 Abs. 2 bis 4
AufenthG
a)
Allgemeines
Die in § 9 Abs. 2 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen sind zusätzlich zu den
Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG zu prüfen. Anders als § 5 Abs. 1
Satz 1 1. Hs. AufenthG erkennt § 9 Abs. 2 AufenthG keine atypischen Ausnahmesituationen
an, lässt jedoch bedeutsame Ausnahmen im Blick auf einzelne Voraussetzungen kraft
Gesetzes zu (§ 19, § 21 Abs. 4, § 23 Abs. 2, § 28 Abs. 2, § 35, § 38 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis richtet sich in diesen Fällen ausschließlich nach
den dort genannten Voraussetzungen und den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5.
§ 9 Abs. 2 AufenthG ist hingegen auf die Sonderfälle nicht anwendbar (Nr. 9.1.2 Satz 2 und 3
AufenthG-VwV)..
Für die unbefristete Aufenthaltserlaubnis des alten Rechts hatte das BVerwG entschieden, es
bestehe nicht lediglich ein Anspruch auf Erteilung „zu einem beliebigen Zeitpunkt“, sondern
29
auch auf Legalisierung des aufenthaltsrechtlichen Status für die Vergangenheit. 46 Daher
konnte ein Antragsteller, der auf seinen Antrag eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis mit
Wirkung für die Zukunft erhalten hatte, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die
unbefristete Erlaubnis auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der
Antragstellung beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hatte.47 An dieser
Rechtsprechung ist auch für die Niederlassungserlaubnis festzuhalten. Notfalls ist für den
Fall, dass über den rechtzeitig mit den gesetzlich geforderten Nachweisen gestellten Antrag
nicht unverzüglich entschieden worden ist, auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis ex tunc
zu klagen.48 Die rückwirkende Erteilung hat zur Folge, dass der Antragsteller so zu behandeln
ist, dass er seit dem Zeitpunkt der Rückwirkung im Besitz der Niederlassungserlaubnis ist.
b) Besitz der Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
Grundlegende Voraussetzung für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis ist der
ununterbrochene Besitz der Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren. Hochqualifizierten kann
von vornherein eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden (§ 19 Abs. 1 AufenthG). Für
Asylberechtigte und Flüchtlinge, selbständig Erwerbstätige sowie deutsch-verheiratete
Antragsteller reicht der dreijährige Besitz der Aufenthaltserlaubnis aus. Dabei wird im ersten
Fall vorausgesetzt, dass das Bundesamt mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den
Widerruf oder die Rücknahme nicht vorliegen (§§ 26 Abs. 3, 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Für
die anderen Personen, die aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis besitzen (vgl.
§ 25 Abs. 3 und 5 AufenthG), sind sieben Jahre Besitz der Aufenthaltserlaubnis gefordert
(§ 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Insoweit sind die Anrechnungsregeln des § 26 Abs. 4 Satz 2
und § 102 Abs. 2 AufenthG zu beachten. Bei mehreren Asylverfahren wird nur die Dauer des
der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unmittelbar vorangegangenen Asylverfahrens
berücksichtigt.
Im Zeitpunkt der Entscheidung muss der Besitz der Aufenthaltserlaubnis noch andauern.
Gefordert wird ein ununterbrochener Besitz von fünf Jahren. § 85 AufenthG findet auch im
Rahmen des § 9 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG Anwendung.49 Damit wird allerdings nicht die
zeitliche Lücke, die durch die kurzfristige Unterbrechung entstanden ist, angerechnet Denn
angerechnet werden können nur rechtmäßige Aufenthaltszeiten. Nicht unterbrochen wird der
Besitz der Aufenthaltserlaubnis bei rechtzeitiger Verlängerung der Geltungsdauer wegen der
Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG. Im Falle der Versagung der Verlängerung der
Geltungsdauer tritt dann keine Unterbrechung ein, wenn die Behörde von sich aus oder
aufgrund gerichtlicher Verpflichtung die Geltungsdauer verlängert (§ 84 Abs. 2 Satz 3
AufenthG). Zeiten des Besitzes eines nationalen Visums werden angerechnet (§ 6 Abs. 4 Satz
3 AufenthG). Unterbrochen wird der Besitz der Aufenthaltserlaubnis durch einen
Auslandsaufenthalt, der nach Maßgabe des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG zum Erlöschen
der Aufenthaltserlaubnis führt. Reist der Betroffene erneut ein und erhält er eine
Aufenthaltserlaubnis, werden auf den anschließend gestellten Antrag auf Erteilung der
Niederlassungserlaubnis die Zeit des früheren Besitzes der Aufenthaltserlaubnis oder
46
BVerwG, NVwZ 1996, 1225 (1226) = EZAR 017 Nr. 9; BVerwG, NVwZ 1998, 191 (192) = EZAR 015
Nr. 15; BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485;
ebenso Richter, NVwZ 1999, 726 (727); dagegen Renner, NVwZ 1993, 729 (733).
47
BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485
(486).
48
BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485
(486).
30
Niederlassungserlaubnis, wenn der Antragsteller im Zeitpunkt der Ausreise im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis war, abzüglich der Zeit der dazwischen liegenden
Auslandsaufenthalte, die zum Erlöschen der Niederlassungserlaubnis führten, angerechnet.
Angerechnet werden höchstens vier Jahre (§ 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Ist die Zeit des
Auslandsaufenthaltes länger als die Voraufenthaltszeit, werden danach keine Zeiten
angerechnet (Nr. 9.4.3.1 Satz 3 VAH). Ist für die Erlangung der Niederlassungserlaubnis eine
kürzere Dauer als fünf Jahre erforderlich, kann bei entsprechend langer Voraufenthaltszeit
bereits unmittelbar nach der Einreise die Niederlassungserlaubnis erteilt werden (Nr. 9.4.3.1
Satz 4 VAH).
Führt der Auslandsaufenthalt nicht zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts, werden höchstens
sechs Monate für jeden Auslandsaufenthalt, der nicht zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis
führte, angerechnet (§ 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG). Die Anrechnung ist nur möglich,
wenn der Antragsteller während des Auslandsaufenthaltes im Besitz der Aufenthaltserlaubnis
war. War die Aufenthaltserlaubnis während des Auslandsaufenthaltes wegen Ablauf der
Geltungsdauer erloschen, kann die Zeit danach nicht angerechnet werden (Nr. 9.4.2 VAH).
Daraus folgt, dass ein nur vorübergehender Auslandsaufenthalt, der nicht nach § 51 Abs. 1
Nr. 6 oder Nr. 7 AufenthG zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt, auf die
erforderliche Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
AufenthG angerechnet wird. Läuft während eines derartigen Auslandsaufenthaltes, der als
solcher nicht zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt, die Geltungsdauer der
Aufenthaltserlaubnis ab, wird die Zeit danach nicht angerechnet. Die Behörde kann aber nach
§ 85 AufenthG die Unterbrechung heilen, sodass die Zeit ab Verlängerung der Geltungsdauer
berücksichtigt wird.
Den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis stehen diejenigen Zeiten gleich, in denen
der Antragsteller zwar keinen Aufenthaltstitel besessen, aber nach der von der
Ausländerbehörde oder dem Verwaltungsgericht inzident vorzunehmenden Prüfung einen
Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis gehabt hat.50 Nicht angerechnet werden Zeiten
der Untersuchungshaft und anschließenden Strafhaft, der fiktiven Abschiebungsaussetzung
nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG und der Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG). Demgegenüber sind nach § 85 AufenthG außer Betracht gebliebene
Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unschädlich, d.h., diese Zeiten sind
auf die geforderte Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis anzurechnen.
Auf die Art und Rechtsgrundlage der Aufenthaltserlaubnis kommt es grundsätzlich nicht an.
Für generelle Ausnahmen fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmungen.
Deshalb eröffnet eine nach dem AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis unabhängig von dem
ihr zugrunde liegenden Erteilungsgrund den Zugang zur Verfestigung. Für die
Aufenthaltsbefugnis enthalten § 26 Abs. 4, § 102 Abs. 2, § 104 Abs. 2 AufenthG spezielle
Übergangsregelungen. Daraus folgt, dass Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbefugnis nach §
9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht berücksichtigt werden können, da die Verfestigung
insoweit über § 26 Abs. 4 AufenthG speziell geregelt wird.
Unklar war, ob Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbewilligung vor dem 31. Dezember 2004
angerechnet werden können. Die Verwaltungspraxis lehnte dies bislang ab. Der Gesetzgeber
hatte zwar zunächst lediglich für die Fortgeltung der Aufenthaltsbewilligung über § 101 Abs.
2 AufenthG eine Übergangsregelung getroffen. Daraus konnten keine Anhaltspunkte für die
Anrechnung bei der Verfestigung entnommen werden. Die frühere Rechtsprechung hatte
50
BVerwGE 118, 166 (169), mit Verweis auf BVerwGE 115, 352 (356).
31
entscheidungserheblich darauf abgestellt, ob der Antragsteller im Zeitpunkt der
Behördenentscheidung im Besitz einer verlängerungsfähigen Aufenthaltserlaubnis war. Unter
dieser Voraussetzung wurden auch Zeiten einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 4 AAV
angerechnet, obwohl nach § 4 Abs. 6 AAV die Erteilung einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis gesperrt war. Als maßgebend für die Anrechung wurde angesehen, dass
„eine Aufenthaltsverfestigung durch jede Eingliederung des Ausländers in das wirtschaftliche
und soziale Leben der Bundesrepublik Deutschland“ eintrete. Die für die Fünfjahresfrist
maßgebende „Integrationskomponente“ werde auch dadurch erfüllt, dass der Betroffene sich
zunächst nur befristet im Bundesgebiet hätte aufhalten dürfen. Eine Unterscheidung nach
verschiedenen Aufenthaltszwecken sei mithin nicht geboten.51
Dies spricht dafür, alle Formen der früheren Aufenthaltsgenehmigung bei der Anrechnung
unter der Voraussetzung zu berücksichtigen, dass der Betroffene im Zeitpunkt der
Entscheidung im Besitz einer verlängerungsfähigen Aufenthaltsgenehmigung war. Nunmehr
hat der Gesetzgeber indes bestimmt, dass die Zeit eines rechtmäßigen Aufenthaltes zum
Studium oder zur Ausbildung nur zur Hälfte angerechnet wird (§ 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG).
Ursprünglich ließen sich dem AufenthG keine Regelungen entnehmen, die eine
Berücksichtigung der Aufenthaltserlaubnis nach § 16 AufenthG im Rahmen des § 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AufenthG ausschlossen.52 Die Vorschrift des § 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG ist so
gefasst, dass er sowohl die Aufenthaltsbeweilligung des § 28 AuslG 1990 wie auch die
Aufenthaltserlaubnis nach § 17, § 17 AufenthG erfasst.
Sicherung des Lebensunterhalts (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 in Verb. mit § 2 Abs. 3
AufenthG)
Der Gesetzgeber erachtet die Unterhaltssicherung für derart zentral, dass er dieses Erfordernis
wiederholt, obwohl bereits § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG dies verlangt und bei der Entscheidung
über die Niederlassungserlaubnis die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen ohnehin zu
beachten sind. Maßgebend für den Begriff der Unterhaltssicherung ist die Legaldefinition in
§ 2 Abs. 3 AufenthG. Für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder
seelischen Krankheit oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können, entfällt die
Nachweispflicht (§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG).
c)
d)
Kein Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
Grundsätzlich sind zusätzlich zu den besonderen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG
auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu berücksichtigen. Daher ist bei der
Entscheidung über die Niederlassungserlaubnis auch zu prüfen, ob der Antragsteller für seine
Familienangehörigen oder für sonstige Haushaltsangehörige Sozialleistungen in Anspruch
nimmt (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 in Verb. mit § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Dabei hat die
Ausländerbehörde aber zusätzlich zu prüfen, ob der Sozialleistungsbezug von
Familienangehörigen den mit dem abstrakten Regelerteilungsgrund verbundenen Zweck
überhaupt berührt. Das kommt dann in Betracht, wenn die begehrte Aufenthaltsverfestigung
auch tatsächlich die mit dem Regelerteilungsgrund geschützten fiskalischen Interessen der
Bundesrepublik beeinträchtigt. Das ist regelmäßig und typischerweise der Fall, wenn der
Ehegatte und die minderjährigen ledigen Kinder des Antragstellers Sozialleistung beziehen,
weil deren aufenthaltsrechtlicher Status mit dem Aufenthaltsrecht des Vaters und Ehemannes
51
52
Nieders.OVG, AuAS 2002, 26 (27).
Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 14; a.A. Nr. 9.2.1.2 VAH.
32
zusammenhängt und nach § 9 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verfestigt wird, falls diesem ein
Niederlassungserlaubnis erteilt wird.53
Eine in diesen Fällen mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis notwendigerweise
verbundene „Verfestigung“ auch des Sozialleistungsbezugs der Familienangehörigen
widerspricht den fiskalischen Interessen der Bundesrepublik. Das muss für alle
Fallkonstellationen gelten, in denen die Aufenthaltsverfestigung zugleich Auswirkungen auf
die Aufenthaltsrechte von Familienangehörige und andere Personen hat, deren
Sozialhilfebezug sich der Antragsteller im Sinne eines abstrakten Regelerteilungsgrundes
entgegen halten lassen muss. In allen anderen Fällen jedoch, in denen der
aufenthaltsrechtliche Status dieses Personenkreises – und damit auch der den
ausländerrechtlichen Anforderungen zuwiderlaufende Sozialleistungsbezug – von der
Rechtsstellung des Antragstellers unabhängig ist, werden die fiskalischen Interessen der
Bundesrepublik tatsächlich nicht nachteilig betroffen und steht eine teleologische Auslegung
der Berücksichtigung des Sozialleistungsbezugs entgegen.54
Das gilt beispielsweise auch, wenn ein deutscher Familienangehöriger des Antragstellers
Sozialleistungen in Anspruch nimmt. Unter solchen Umständen kann der nach dem abstrakten
Gesetzeswortlaut vorliegende Ausweisungsgrund des „Sozialleistungsbezugs“ in seiner
Funktion als Regelerteilungsgrund einer Aufenthaltsverfestigung nicht entgegenstehen. Leiten
die ausländischen Eltern ihr Aufenthaltsrecht in keiner Weise von dem Antragsteller ab und
hat die Erteilung der Niederlassungserlaubnis weder auf das Aufenthaltsrecht der Eltern des
Antragstellers noch auf deren Sozialleistungsbezug Auswirkungen, hat die dem Antragsteller
erteilte Niederlassungserlaubnis keine rechtlich oder tatsächlich erhebliche Rückwirkung auf
die Situation der Eltern.55
e)
Altersvorsorge (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG)
aa)
Anwendungsbereich der Vorschrift
§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG lehnt sich an § 27 Abs. 2 Nr. 3 AuslG 1990 an. Neu ist die
Anrechnungsregel nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 2. Hs. AufenthG. Im Gesamtergebnis bedeutet
diese Regelung aber eine Verschärfung der Verfestigungsregelungen. Da die Zwischenstufe
der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis abgeschafft worden ist, für die das Erfordernis der
Altersvorsorge nicht galt, wird den Antragstellern, die keine 60 Monate Pflichtbeiträge oder
vergleichbare Aufwendungen nachweisen können, die Verfestigung verweigert mit der Folge,
dass bis zum Nachweis der Altersvorsorge bei jeder Verlängerung die
Ersterteilungsvoraussetzungen nachgewiesen werden müssen (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG). Da
der Einbürgerungsanspruch nicht den Nachweis der Altersvorsorge voraussetzt (vgl. § 10
Abs. 1 Satz 1 StAG), kann anstelle der Niederlassungserlaubnis die Einbürgerung beantragt
Für Asylberechtigte und Flüchtlinge sowie selbständig Erwerbstätige gilt dieses Erfordernis
nicht (vgl. § 26 Abs. 3, § 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Antragsteller, die vor dem 1. Januar
2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis waren, müssen nicht den
Nachweis der Altersvorsorge erbringen (§ 104 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies gilt auch für
Antragsteller, die sich in einer Ausbildung befinden, die zu einem anerkannten schulischen
oder beruflichen Bildungsabschluss führt (§ 9 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Maßgebend ist, dass
die Schulausbildung mit einem Abschluss endet. Deshalb wird auch der Besuch der
Berufsfachschule berücksichtigt, nicht aber ein Praktikum, Volontariat oder
53
54
55
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142).
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142).
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142 f.).
33
Berufsvorbereitungsmaßnahmen. Die Ausbildung muss sich allgemein für den Abschluss
eignen und das Erreichen des Abschlusses darf nicht von vornherein unmöglich sein. Es ist
aber keine individuelle Erfolgsprognose anzustellen. Ebenso entfällt die Nachweispflicht für
Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder
Behinderung keine Altersvorsorge leisten können (§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG).
bb)
Umfang der Altersvorsorge
Die Versorgung im Alter braucht anders als der laufende Unterhalt nicht gesichert sein.
Anwartschaften müssen aber in der vorgeschriebenen Form und Höhe nachgewiesen werden.
Die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG geforderten Beiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung ergeben eine Anwartschaft auf Leistungen bei Erwerbs- oder
Berufsunfähigkeit sowie Erreichen des Rentenalters. Die ersatzweise zugelassene private
Vorsorge muss nach Art und Höhe ähnliche Leistungen gewährleisten. „Vergleichbar“ sind
alle Werte. Die private Altersvorsorge muss nach den gegenwärtigen Verhältnissen und
Berechnungsmethoden Bezüge erwarten lassen, die ähnlich wie die gesetzliche Rente dem
bisherigen Lebenszuschnitt angemessen sind. Die weitere Entrichtung von Beiträgen wird
unterstellt, indes nicht verlangt und geprüft. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung
führen zum Erwerb eines Anspruchs auf Rente, einerseits für den Zeitpunkt des Ausscheidens
aus dem Erwerbsleben mit Erreichen der entsprechenden Altersgrenze sowie andererseits im
Falle eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben infolge Erwerbs- oder
Berufsunfähigkeit. Diese beiden Ansprüche bilden den Maßstab für die Vergleichbarkeit der
gesetzlichen mit der privaten Altervorsorge (Nr. 9.3.2.1 Satz 4 VAH).
Der Nachweis von Aufwendungen für einen Anspruch auf Versicherungsleistungen, die
denen aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar sind, setzt nicht voraus, dass der
Antragsteller im Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis einen
Versorgungsanspruch erworben hat, der den Lebensunterhalt ausreichend sichert.
Entscheidend ist, ob unter der Voraussetzung, dass die private Altersvorsorge weitergeführt
wird, Ansprüche in gleicher Höhe erworben werden, wie sie entstehen würden. wenn der
Antragsteller sechzig Monatsbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hätte und
künftig weitere Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten würde (Nr. 9.2.3.1
Satz 1 und 2 VAH). Ist der Rentenfall bereits eingetreten, kommt es nur auf die Entrichtung
der Beiträge für 60 Monate in der Vergangenheit an. Die Höhe der tatsächlichen
Rentenleistungen hat allerdings für die Sicherung des Lebensunterhalts Bedeutung.
Grundlage für die Ermittlung sowohl im Blick auf die gesetzliche wie auch auf die private
Altersvorsorge ist ein Einkommen, mit dem der Lebensunterhalt des Antragstellers gesichert
ist (Nr. 9.2.3.1 Satz 5 VAH). Danach reicht es für den Nachweis der Altersvorsorge aus, dass
der
Antragsteller
im
fraglichen
Zeitraum
ein
sozialversicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis ausgeübt hat, dessen monatliche Einkünfte oberhalb des
sozialhilferechtlichen Regelsatzes liegen. Entsprechendes gilt für die private Altersvorsorge.
Anzurechnen sind Zeiten der Kinderbetreuung und der häuslichen Pflege. Voraussetzung ist,
dass Ausfallzeiten aufgrund einer Erwerbstätigkeit oder aus sonstigen Gründen
versicherungsrechtlich überhaupt anzusetzen sind. Rentenrechtliche Zeiten, die allein durch
Kindererziehung angerechnet werden, genügen dann nicht, wenn überhaupt keine
Versicherungsansprüche aufgrund eigener Beitragsleistungen im Rahmen einer
Erwerbstätigkeit erlangt werden, weil der Antragsteller niemals im Inland aufgrund einer
Erwerbstätigkeit Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder an berufsständische
Versorgungseinrichtungen entrichtet hat oder entsprechend in geeigneter Weise privat
Vorsorge getroffen hat (Nr. 9.2.3.2 VAH).
34
f)
Straffällige Antragsteller (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG)
Der Erteilung der Niederlassungserlaubnis dürfen keine Gründe der öffentlichen Sicherheit
oder Ordnung unter Berücksichtigung der Schwere oder der Art des Verstoßes gegen die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder eine vom Antragsteller ausgehende Gefahr
entgegenstehen. Abzuwägen sind diese Gründe mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts und
den im Bundesgebiet bestehenden Bindungen. Damit hat der Gesetzgeber die früheren klaren
Regelungen durch eine offene Klausel ersetzt. Es besteht allerdings die Gefahr, dass nunmehr
die Ausländerbehörden sich von den früheren Maßstäben lösen werden und auch bei lediglich
geringfügiger Straffälligkeit die Niederlassungserlaubnis versagen werden. Dies wäre mit
dem Zweck der Neuregelung aber nicht vereinbar.
Der Gesetzgeber begründet die neue offene Klausel mit den früheren Unklarheiten. Mit der
früheren Regelung habe ein Signal gesetzt werden sollen, dass „erhebliche Straftaten“ den
Zugang zur Verfestigung sperrten. Neben der Berücksichtigungsregel bezogen auf
geringfügige Straftaten hätte allerdings noch der Regelerteilungsgrund des Vorliegens eines
Ausweisungsgrundes geprüft werden müssen. Das Vorhandensein von Ausweisungsgründen
hätte danach in der Regel und erhebliche Straftaten oberhalb der in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4
AufenthG a.F. aufgezeigten Grenze stets der Erteilung der Niederlassungserlaubnis
entgegengestanden. Anforderungen, die für jede Aufenthaltserlaubnis gegolten hätten, hätten
erst recht für die Niederlassungserlaubnis Anwendung finden müssen. Dem habe indes die
Rechtsprechung entgegengestanden. Nunmehr werde nach dem Vorbild der
Daueraufenthaltsrichtlinie anstelle eines starren Kriteriums eine Abwägung vorgeschrieben.
Dadurch würde die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG der nach § 9a AufenthG
angeglichen.
g)
Ordnungsgemäße Beschäftigung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG)
Arbeitnehmer müssen den Nachweis führen, dass ihre Beschäftigung erlaubt ist. § 18
AufenthG regelt die entsprechenden Voraussetzungen. Arbeitnehmer müssen über einen
Aufenthaltstitel verfügen, der ihnen die Beschäftigung erlaubt (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG).
Die Erlaubnis muss unbefristet (z.B. aufgrund einer Vorschrift des AufenthG oder aufgrund
des § 46 Abs. 2 BeschV oder § 9 BeschVerfV) vorliegen. Arbeitnehmer im Sinne des § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG ist jeder, der eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 2
AufenthG ausübt. Für Ehegatten und Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft
genügt es, wenn einer der Partner diese Voraussetzung erfüllt (§§ 9 Abs. 3 Satz 1, 27 Abs. 2
AufenthG). Zwar verweist § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5
AufenthG. Das Erfordernis der ordnungsgemäßen Beschäftigung gilt jedoch nur, soweit die
an einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung leidenden
Antragsteller Arbeitnehmer sind. Diese Auslegung des Gesetzes liegt in der Ratio der
Ausnahmeregelungen für diesen Personenkreis.
h)
Sonstige Berufsausübungserlaubnisse (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG)
Wie § 24 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 verlangt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG, dass der
Antragsteller im Besitz der sonstigen für eine dauerhafte Beschäftigung erforderlichen
Erlaubnisse ist. Diese Regelung betrifft selbständig erwerbstätige Antragsteller (vgl. auch
§ 21 AufenthG). Sofern in diesem Zusammenhang für die Ausübung bestimmter Berufe
besondere Erlaubnisse (z.B. Notare, Rechtsanwälte, Ärzte, Heilpraktiker, Zahnärzte, Tierärzte
und Apotheker, gewerberechtliche Eraubnisse) vorgeschrieben sind, ist der entsprechende
Nachweis zu führen. Die Antragsteller müssen danach im Besitz der jeweils erforderlichen
besonderen Berufsausübungserlaubnisse für eine dauernde Tätigkeit sein. Einer
Dauererlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit steht es gleich, wenn die Berufsausübung
wie etwa im Einzelhandel ohne Genehmigung erlaubt ist. Die Berufsausübungserlaubnis muss
dem Antragsteller eine dauerhafte Berufsausübung erlauben. Ungeachtet einer etwaigen
35
Befristung liegt eine Erlaubnis zur dauernden Berufsausübung vor, wenn durch die Befristung
lediglich bezweckt wird, die Berufstauglichkeit erneut zu prüfen (Nr. 9.2.6.2 Satz 1 VAH).
Einer Dauererlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit steht es gleich, wenn die
Berufsausübung wie etwa im Einzelhandel ohne Genehmigung erlaubt ist (Nr. 9.2.6.2 Satz 2
VAH).
Für Ehegatten und Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft genügt es, wenn
einer der Partner diese Voraussetzung erfüllt (§§ 9 Abs. 3 Satz 1, 27 Abs. 2 AufenthG). Zwar
wird in § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG hingewiesen.
Den Nachweis sonstiger Berufsausübungserlaubnisse haben jedoch nur die an einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung leidenden Antragsteller
zu erbringen, die einer entsprechenden Erwerbstätigkeit nachgehen. Diese Auslegung des
Gesetzes liegt in der Ratio der Ausnahmeregelungen für diesen Personenkreis.
i)
Sprachliche Integrationsvoraussetzungen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG)
Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG setzt die Erteilung der Niederlassungserlaubnis
voraus, dass der Antragsteller „über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt“.
Die Neuregelung bedeutet eine gravierende Verschärfung gegenüber dem alten Recht. Danach
setzte die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Antragsteller über
Deutschkenntnisse verfügte, die eine mündliche Verständigung auf einfache Art ermöglichten
(vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990). Für die Aufenthaltsberechtigung wurden keine weiteren
Voraussetzungen gefordert. Dazu wurde allgemein die persönliche Vorsprache bei der
Behörde verlangt (§ 70 Abs. 4 Satz 1 AuslG 1990). Der Antragsteller brauchte die deutsche
Sprache weder zu beherrschen noch Deutsch lesen oder schreiben können. Vorausgesetzt
wurde allerdings, dass sich der Antragsteller im Alltagsleben ohne nennenswerte
Schwierigkeiten verständigen konnte. Eine schriftliche Sprachprüfung war nicht zulässig.
Nunmehr verlangt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG den Nachweis ausreichender
Sprachkenntnisse und gleicht damit die Nachweispflichten den entsprechenden
Voraussetzungen im Einbürgerungsverfahren an (§ 11 Nr. 1 StAG). Die Fähigkeit, sich auf
einfache Weise mündlich verständigen zu können, reicht nicht aus.185 Der Gesetzgeber
bewertet ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache als „wesentliche
Integrationsvoraussetzung“ und als Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben. Danach liegen ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vor, wenn sich der
Antragsteller im täglichen Leben einschließlich der Kontakte mit Behörden in seiner
deutschen Umgebung sprachlich zurechtzufinden vermag und mit ihm ein seinem Alter und
Bildungsstand entsprechendes Gespräch geführt werden kann. Dazu gehört nach § 3 Abs. 2
IntV auch, dass der Antragsteller einen deutschsprachigen Text des alltäglichen Lebens lesen,
verstehen und die wesentlichen Inhalte mündlich wiedergeben kann (Leseprobe). Ein Text des
täglichen Lebens ist z.B. ein Zeitungsartikel oder eine Werbebroschüre. Die Definition des zu
fordernden Sprachniveaus orientiert sich an dem gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen
für Sprachen und wird auf der Stufe B 1 der selbständigen Sprachanwendung festgelegt (Nr.
9.2.7 Satz 6 AufenthG)
Die Leseprobe wird durch das Zeugnis über den erfolgreichen Abschluss eines
Integrationskurses ersetzt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 43–45 AufenthG). Allerdings haben
nur nach dem In-Kraft-Treten des AufenthG erstmals einreisende Antragsteller Anspruch auf
36
Teilnahme am Integrationskurs (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Bei den anderen
Antragstellern wird wie im Einbürgerungsverfahren eine Leseprobe durchgeführt werden. Ist
vor dem 1. Januar 2005 ein Antrag auf Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis
(§§ 24 ff. AuslG 1990) oder Aufenthaltsberechtigung (§ 27 AuslG 1990) gestellt worden,
reicht der Nachweis aus, dass die Verständigung in deutscher Sprache mündlich auf einfache
Art (vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990) möglich ist (vgl. § 104 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im
Falle der Entscheidung gilt der Aufenthaltstitel als Niederlassungserlaubnis (§ 104 Abs. 1
Satz 2 i.V.m. § 101 Abs. 1 AufenthG). Ebenso reicht bei den Antragstellern, die am 1.1.2005
im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, die Fähigkeit aus, sich
auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen zu können (§ 104 Abs. 2
AufenthG). Darüber hinaus wird von der erhöhten Sprachkompetenz abgesehen, wenn der
Antragsteller sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann und
zugleich entweder nur einen geringen Integrationsbedarf hat (§ 44a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG)
oder dessen Teilnahme am Integrationskurs auf Dauer unmöglich oder unzumutbar ist (§ 44a
Abs. 2 Nr. 3 AufenthG).
Eine zwingende Ausnahmeregelung enthält § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG für Antragsteller, die
wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung
ausreichende Sprachkenntnisse nicht nachweisen können. Die Art der Krankheit oder
Behinderung muss ursächlich für die fehlende Sprachkompetenz sein. Dieser Vorschrift liegt
der Gedanke zugrunde, dass auch behinderten Antragstellern eine Aufenthaltsverfestigung
möglich sein muss. In der Gesetzesbegründung wird darauf hingewiesen, dass insoweit Fälle
vorkommen, in denen auch durch die sinnvolle Berücksichtigung der spezifischen
Einschränkungen bei Art und Inhalt der Prüfungen nicht geholfen werden könne, weil
Behinderte überhaupt nicht in der Lage seien, Deutsch zu sprechen oder Kenntnisse der
deutschen Gesellschaft zu erwerben. Im Übrigen kann zur Vermeidung einer Härte eine
Ausnahme zugelassen werden (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Eine Härte kann z.B. vorliegen,
wenn eine körperliche, geistige oder seelische Erkrankung oder Behinderung die Erfüllung
oder Voraussetzung zwar nicht unmöglich macht, aber dauerhaft wesentlich erschwert, wenn
der Antragsteller bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war, wenn wegen der
Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen der Besuch eines Integrationskurses auf Dauer
unmöglich oder unzumutbar war. In Betracht kommen auch Fälle nach § 44a Abs. 2 Nr. 3
AufenthG, in denen sich der Antragsteller nicht auf einfache Art in deutscher Sprache
mündlich verständigen kann, sodass die Ausnahmeregelung nach § 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG
nicht greift. Aus den geltend gemachten nachzuweisenden Gründen muss sich unmittelbar
nachvollziehen lassen, dass im Einzelfall eine Erschwernis vorliegt (Nr. 9.2.10.2 VAH).
Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8
AufenthG)
Der Nachweis wird durch Vorlage des Zeugnisses über den erfolgreichen Abschluss eines
Integrationskurses geführt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Allerdings haben nur nach dem InKraft-Treten des AufenthG erstmals einreisende Antragsteller Anspruch auf Teilnahme am
Integrationskurs (§ 44 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Unklar ist, welche Nachweiserfordernisse im
Blick auf die anderen Antragsteller bestehen. Auch hier gelten die zwingenden und die nach
Ermessen anzuwendenden Ausnahmeregelungen des § 9 Abs. 2 Satz 3–5 AufenthG). Nach
§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8
AufenthG nachgewiesen, wenn ein Integrationskurs erfolgreich abgeschlossen wurde. Zur
Teilnahme an einem Integrationskurs berechtigt sind jedoch nur die Antragsteller, die
erstmals eine Aufenthaltserlaubnis zu den in § 44 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bezeichneten
Zwecken oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG erhalten. Damit
j)
37
entfällt die Berechtigung für die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes rechtmäßig
im Bundesgebiet lebenden Ausländer. Für die Niederlassung reicht deshalb die Verständigung
in deutscher Sprache mündlich auf einfache Art aus, wenn wegen erkennbar geringen
Integrationsbedarfs (§ 44 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG) oder wegen Nachweises der Teilnahme an
vergleichbaren Bildungsangeboten im Bundesgebiet (§ 44a Abs. 2 Nr. 2 AufenthG) kein
Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs besteht (§ 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG). Darüber
hinaus findet auf alle Antragsteller, die am 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, der herabgestufte Maßstab Anwendung (§ 104 Abs. 2
AufenthG).
Deutsch-verheiratete Antragsteller erhalten die Niederlassungserlaubnis abweichend von § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG, wenn sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache
verständigen können (§ 28 Abs. 2 Satz 1 2. Hs. AufenthG). Eine zwingende
Ausnahmeregelung enthält § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG für Antragsteller, die wegen einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung ausreichende
Sprachkenntnisse nicht nachweisen können. Im Übrigen kann zur Vermeidung einer Härte
eine Ausnahme zugelassen werden (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Die Ausländerbehörde kann
den Antragsteller jedoch unter den Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zur
Teilnahme am Integrationskurs auffordern und von der erfolgreichen Teilnahme die Erteilung
der Niederlassungserlaubnis abhängig machen. In den Fällen der zwingenden
Ausnahmeregelungen der Vorschriften der §§ 9 Abs. 2 Satz 3, 26 Abs. 3, 28 Abs. 2 Satz 1 2.
Hs. und 104 Abs. 2 AufenthG hat die Behörde die Aufforderung zu unterlassen und die
Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Im Übrigen bleibt abzuwarten, wie das
Spannungsverhältnis zwischen der humanitären Härteregelung nach § 9 Abs. 2 Satz 4
AufenthG und der Aufforderungsmöglichkeit nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sich in der
Verwaltungspraxis gestalten wird. Dies wird sicherlich auch von den verfügbaren und
zumutbar erreichbaren Kursplätzen abhängen (§ vgl. § 44a Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 1. Hs.
AufenthG).
Geht die Ausländerbehörde nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor und kommt der
Antragsteller aus von ihm zu vertretenden Gründen seiner Verpflichtung, am Integrationskurs
teilzunehmen, nicht nach, hat dies nicht nur eine zehnprozentige Leistungsverkürzung zur
Folge (§ 44a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Vielmehr wird in diesem Fall die
Niederlassungserlaubnis nicht erteilt und kann auch die Verlängerung der befristeten
Aufenthaltserlaubnis versagt werden (§ 44a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 3 AufenthG). Die
Behörde hat den Antragsteller auf diese Folgen seiner verschuldeten Nichtteilnahme
hinzuweisen (§ 44a Abs. 3 Satz 1 1. Hs. AufenthG).
k)
Wohnraumerfordernis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 i.V.m. § 2 Abs. 4 AufenthG)
38
Der Antragsteller hat den Nachweis zu führen, dass er über ausreichenden Wohnraum für sich
und seine Familienangehörigen verfügt (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 AufenthG). Als ausreichender
Wohnraum wird nicht mehr gefordert als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in
einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung. Der Wohnraum ist nicht ausreichend, wenn
er den auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften hinsichtlich Beschaffenheit und
Belegung nicht genügt (§ 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG). Es bleibt damit bei der bisherigen
Verwaltungspraxis. Danach muss der Wohnraum einer menschenwürdigen Unterbringung
dienen. Eine abgeschlossene Wohnung wird aber nicht verlangt. Eine Gemeinschafts- oder
Obdachlosenunterkunft hat allerdings lediglich den Zweck, vorübergehend Abhilfe zu
schaffen und wird deshalb als nicht ausreichend angesehen.
Eine abgeschlossene Wohnung mit Küche, Bad und WC wird in der Verwaltungspraxis stets
als ausreichend angesehen, wenn für jede Person über sechs Jahre zwölf Quadratmeter und
für jede Person unter sechs Jahre zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen. Eine
Unterschreitung der maßgeblichen Wohnungsgröße um bis zu 10 % ist unschädlich. Kinder
unter zwei Jahren werden nicht berücksichtigt (§ 2 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Der Wohnraum
insgesamt ist maßgebend. Alle in der Wohnung dauerhaft in familiärer Lebensgemeinschaft
lebenden Angehörigen sind in Betracht zu ziehen. Zu berücksichtigen sind nur die tatsächlich
mit dem Antragsteller zusammenlebenden Familienangehörigen, nicht jedoch der getrennt
lebende Ehegatte sowie das volljährige Kind mit eigener Wohnung. Die Nachweispflicht
entfällt für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit
oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können (§ 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Dies hat
der Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich geregelt, dürfte aber in der Ratio der
Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG liegen.
l)
Anfrage bei den Sicherheitsbehörden bei konkreten Zweifeln (§ 73 Abs. 2 Satz 2
AufenthG)
Nach § 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG haben die Ausländerbehörden die bei ihnen gespeicherten
personenbezogenen Daten an den BND, den MAD, das Zollkriminalamt, an das Landesamt
für Verfassungsschutz, das Landeskriminalamt oder die zuständigen Behörden der Polizei zu
übermitteln, wenn dies zur Feststellung von Versagungsgründen gemäß § 5 Abs. 4 AufenthG
oder zur Prüfung von Sicherheitsbedenken geboten ist. Nach Nr. 73.2.2 VAH ist diese
Vorschrift so zu verstehen, dass vor der Erteilung der Niederlassungserlaubnis zwingend die
Nachfrage durchzuführen ist.
Diese Interpretation des § 72 Abs. 2 Satz 2 AufenthG steht mit dem Gesetzeswortlaut nicht im
Einklang. Danach muss die Datenübermittlung geboten sein. Hätte der Gesetzgeber die
Regelanfrage einführen wollen, hätte er dies deutlich z.B. durch Verwendung der
Formulierung „in der Regel“ oder durch eine zwingende Anweisung wie in § 37 Abs. 2 StAG
für die Einbürgerungsbehörden angeordnet. Der Wortlaut von § 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
lässt nur die Auslegung zu, dass konkrete Anhaltspunkte die Anfrage rechtfertigen müssen.
Konkrete Anhaltspunkte können nicht aus der bloßen Staatsangehörigkeit des Antragstellers
erschlossen werden.
VI. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a bis § 9c AufenthG)
Mit § 9a bis § 9c AufenthG werden die Vorgaben der Richtlinie 2003/109/EG
(Daueraufenthaltsrichtlinie), insbesondere die in Art. 4 bis 8 RL 2003/109/EG enthaltenen
.
39
Regelungen, umgesetzt. Neben der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG wird mit § 9a
AufenthG die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten eingeführt, die bei
Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen erteilt wird. In die Aufenthaltstitel von
Drittstaatsangehörigen, welche im Bundesgebiet diese Rechtsstellung besitzen, ist die
Bezeichnung „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ einzutragen (vgl. auch § 2 Abs. 7 Satz 2
AufenthG, Art. 8 Abs. 3 Satz 3 RL 2003/109/EG). Die Daueraufenthaltsrichtlinie führt mit
dem Titel „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ einen europäischen Aufenthaltstitel ein.56
Während einerseits Drittstaatsangehörigen, welche den Titel „Erlaubnis zum DaueraufenthaltEG“ im Bundesgebiet erworben haben, damit Mobilität im Gemeinschaftsgebiet vermittelt
wird, wird andererseits langfristig Aufenthaltsberechtigten, denen in einem anderen
Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilt wurde, nach
§ 38a AufenthG im Bundesgebiet Mobilität nach Maßgabe der Bestimmungen in Kapitel III
der Richtlinie 2003/109/EG gewährt.
VII. Humanitäre Aufenthaltstitel (§ 22 bis 26 AufenthG)
Die einzelnen Ansprüche sind in §§ 22 ff. AufenthG geregelt.
BVerwGE 140, 332 (Niederlassungserlaubnis)
VGH BW, NVwZ-RR 2014, 73 (Niederlassungserlaubnis und Abschiebungsverbote)
Nieders.OVG, AuAS 2013, 14 (zu § 25 Abs. 3 AufenthG)
BVerwGE 126, 192 = NVwZ 2006, 1418 und OVG Bremen, InfAuslR 2012, 211/OVG
Bremen, InfAuslR, InfAuslR 2011, 379/BayVGH, InfAuslR 2013, 28 OVG Bremen,
InfAuslR 2013, 427 (zu § 25 Abs. 5 AufenthG).
BVerwGE 126, 192 = NVwZ 2006, 1418 und OVG Bremen, InfAuslR 2012, 211/OVG
Bremen, InfAuslR, InfAuslR 2011, 379 (alle zu „faktischen Inländern“ im Sinne von Art. 8
Abs. 1 EMRK/§ 25 Anbs. 5 AufenthG)
B. Eilrechtsschutz gegen Versagungsverfügung
I.
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die
Versagungsverfügung nach § 80 Abs. 5 VwGO
1.
Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags
a) Verfahrensrechtliche Funktion des Antrags auf Erteilung oder Verlängerung des
Aufenthaltstitels
Das vorläufige Rechtsschutzsystem im Blick auf die Erteilung und Verlängerung eines
Aufenthaltstitels beruht auf den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG näher beschriebenen
aufenthaltsrechtlichen Wirkungen des verwaltungsrechtlichen Antrags. Dementsprechend
beurteilt sich insbesondere auch die Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags nach Maßgabe
dieser Wirkungen. Obwohl im Ausgangspunkt ein Verpflichtungsbegehren, ist der Antrag
nach § 80 Abs. 5 VwGO das richtige Rechtsmittel, weil dem Antragsteller durch die
behördliche Antragsversagung die Vergünstigung der bis dahin bestehenden Aussetzungsoder Erlaubnisfiktion entzogen wird.57 Diese Wirkung lebt nicht wieder auf. Deshalb bezieht
56
Christoph Hauschild, ZAR 2003, 350 (353).
57
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW,
InfAuslR 1992, 168; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90;
VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87; Hess.VGH, NVwZ 2006, 111, VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (61); beide für § 81
Abs. 4 AufenthG.
40
der Eilrechtsschutz sich nach Wegfall der aufschiebenden Wirkung (§ 84 Abs. 1 AufenthG)
nur auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht. An der Zuordnung zum Verfahren nach § 80
Abs. 5 VwGO ändert dies nichts.58 Daher kann nach übereinstimmender Ansicht nur dann,
wenn der Antragsteller noch im Besitz des fiktiven Aussetzungs- oder Aufenthaltsrechtes ist,
vorläufiger Rechtsschutz durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels und auf Aussetzung der Vollziehbarkeit erreicht
werden.59 Daher ist im Rahmen der Zulässigkeit stets zu prüfen, ob der verwaltungsrechtliche
Ersterteilungs- oder Verlängerungsantrag aufenthaltsrechtliche Wirkungen ausgelöst hat.
Anders als das frühere Recht, das in Duldungsfiktion (§ 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990) und in
Erlaubnisfiktion (§ 69 Abs. 3 AuslG 1990) unterschied und zwischen dem Antrag auf
Ersterteilung und Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung keinen Unterschied machte (vgl.
§ 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG 1990), unterscheidet das geltende Recht bei der
Erlaubnisfiktion zwischen dem Antrag auf Ersterteilung (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) und
dem Antrag auf Verlängerungsentscheidung oder Zweckänderung (§ 81 Abs. 4 AufenthG).
Beim Antrag auf Ersterteilung differenziert das Gesetz zwischen dem während des
rechtmäßigen Aufenthaltes gestellten Antrag, der die Erlaubnisfiktion begründet (§ 81 Abs. 3
Satz 1 AufenthG), und dem verspätet gestellten Antrag, durch den die Aussetzungsfiktion
bewirkt wird (§ 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Eine derartige Unterscheidung wird beim
Verlängerungsantrag nur eingeschränkt gemacht. Vielmehr begründen nur die rechtzeitig
gestellten Verlängerungsanträge, die verspätet gestellten hingegen nur zur Vermeidung einer
unbilligen Härte die Fortgeltungsfiktion (§ 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG).
b) Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 3 AufenthG)
Beantragt ein Antragsteller, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen
Aufenthaltstitel zu besitzen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels, gilt sein Aufenthalt bis zur
Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die
Voraussetzungen für die Begründung der Erlaubnisfiktion sind damit die rechtmäßige
Einreise und der rechtmäßige Aufenthalt sowie der fehlende Besitz eines Aufenthaltstitels.
Erfasst werden damit ausschließlich die Fälle nach § 15 bis § 30 AufenthV. Der mit einem
Visum einreisende Antragsteller, das einen dauerhaften Aufenthalt erlaubt, reist hingegen mit
einem Aufenthaltstitel ein. Der anschließend im Inland gestellte Antrag auf Erteilung des
Aufenthaltstitels ist rechtlich ein Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels bzw. auf
Zweckänderung, welcher die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG auslöst. Da der
Gesetzgeber das Visum ausdrücklich als Aufenthaltstitel bezeichnet, ist in diesem Fall in der
Antrag stellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ein Verlängerungsantrag zu sehen (vgl.
auch § 39 Nr. 1 AufenthV). Auch der sichtvermerkspflichtige Drittstaatsausländer, der mit
einem Besuchervisum einreist, reist mit einem Aufenthaltstitel ein (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2
Nr. 1 AufenthG). In diesem Fall löst unabhängig von den damit verbundenen materiellen
Folgen der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zunächst die Fiktionswirkung nach
§ 81 Abs. 4 AufenthG aus. Es handelt sich um einen Antrag auf Erteilung eines anderen
Aufenthaltstitels (Zweckänderung).
Nach § 81 Abs. 4 AufenthG werden beide Anträge einheitlichen Rechtswirkungen
unterworfen. Der Gesetzgeber wollte mit den Neuregelungen bewusst die überdifferenzierten
Regelungen des früheren Rechts aufheben. Die Fälle, in denen ein Aufenthaltstitel nach der
Einreise eingeholt werden kann, sind in § 39 bis 41 AufenthV geregelt. Danach handelt es
Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90.
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; 22 Nr. 5; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR
030 Nr. 5; Hess. VGH, InfAuslR 1999, 189 (190); VGH BW, EZAR 024 Nr. 7; VGH BW, InfAuslR 1992, 168;
1992, 352; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); OVG Hamburg, NVwZ-RR 1996, 709; OVG NW, EZAR
030 Nr. 2; OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87; Hailbronner, AuslR, § 69
AuslG Rn 51; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 50.
58
59
41
sich um Antragsteller, die ohne ein Visum einreisen und nach der Einreise den Antrag stellen
dürfen. Der Streit in der früheren Rechtsprechung, ob die Einreise ohne das erforderliche
Visum unerlaubt ist und deshalb keine Erlaubnisfiktion begründet, ist nach geltendem Recht
überholt. Die Wirkungen eines derartigen Antrags regelt § 81 Abs. 4 AufenthG. Der
Gesetzgeber will, dass allen Antragstellern, die ohne Visum rechtmäßig einreisen und
anschließend den Antrag auf Ersterteilung des Aufenthaltstitels stellen dürfen, unabhängig
von ihren subjektiven Vorstellungen bei der Einreise hinsichtlich ihres weiteren Aufenthaltes,
die Erlaubnisfiktion zugute kommt. Insbesondere visumfreie Drittstaatsausländer nach
Anhang II der EUVisaVO reisen rechtmäßig ein, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen. Für
den Eintritt der Fiktionswirkung ist allein maßgebend, dass der Antragsteller sich rechtmäßig
im Bundesgebiet aufhält. Dies ist für die Geltungsdauer des visumfreien Aufenthaltes (vgl.
Art. 20 SDÜ) der Fall. Im Übrigen ist der Antrag „unverzüglich“ (vgl. § 81 Abs. 2 Satz 1
AufenthG), also ohne schuldhaftes Verzögern, zu stellen. Für die Fälle des § 41 Abs. 1 und 2
AufenthV ist der Antrag innerhalb von drei Monaten nach der Einreise zu beantragen (§ 41
Abs. 3 AufenthV). Wird der Antrag verspätet gestellt, greift die Aussetzungsfiktion nach § 81
Abs. 3 Satz 2 AufenthG ein.
Der Aufenthalt gilt bis zur behördlichen Entscheidung als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1
AufenthG). Der Eintritt der Fiktionswirkung ist nicht davon abhängig, dass der Antrag bei der
für den Antragsteller örtlich zuständigen Ausländerbehörde gestellt wird.60 Im zeitlichen
Rahmen ihrer Geltung ist die Erlaubnisfiktion räumlich unbeschränkt und berechtigt den
Antragsteller zur Wiedereinreise. Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81
Abs. 5 AufenthG). Die Geltungsdauer der Bescheinigung hat keinen Einfluss auf den kraft
Gesetzes bis zur behördlichen Entscheidung (vgl. § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) als erlaubt
geltenden Aufenthalt. Vielmehr hat die Bescheinigung lediglich deklaratorische Funktion.61
Versäumt der Antragsteller innerhalb des zeitlichen Rahmens der Erlaubnisfiktion die
Beantragung der Verlängerung der Fiktionsbescheinigung, ist dies ohne Einfluss auf die
Rechtmäßigkeit seines Aufenthaltes. Die Fiktionswirkung ist antragsbezogen. Entscheidet die
Ausländerbehörde nicht über den Antrag und lehnt stattdessen einen zu einem früheren
Zeitpunkt gestellten Antrag ab, beseitigt dies nicht die eingetretene Fiktionswirkung.62
Wird der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels abgelehnt, wird dem Antragsteller damit
eine ihn aufenthaltsrechtlich begünstigende Position genommen, so dass er den Antrag nach
§ 80 Abs. 5 VwGO stellen kann. Fraglich ist, ob die Behörde dem visumfrei einreisenden
Drittstaatsausländer in materiell-rechtlicher Hinsicht die Umgehung der Visumvorschriften
entgegenhalten darf. Verfahrensrechtlich ist ihr dies wegen der eindeutigen Regelung des § 81
Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erlaubt. Materiell-rechtlich kann sie nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vorgehen und nach Ermessen entscheiden, ob der Verweis auf das Visumverfahren
angemessen ist. Von § 81 Abs. 3 AufenthG nicht erfasst sind Antragsteller, die unerlaubt
eingereist, z. B. sichtvermerkspflichtige Drittstaatsangehörige ohne Sichtvermerk, oder
aufgrund eines vollziehbaren Verwaltungsaktes ausreisepflichtig sind, weil in diesen Fällen
kein rechtmäßiger Aufenthalt (§ 81 Abs. 3 AufenthG), aber auch kein Aufenthaltstitel (§ 81
Abs. 4 AufenthG) vorliegt. Der Fall, dass der Antragsteller nach der Ablehnung seines
Antrages vor der Ausreise einen weiteren, den früheren Antrag bloß wiederholenden Antrag
stellt (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AuslG 1990), fällt nicht unter den Schutzgehalt der
60
61
62
OVG NW, InfAuslR 2001, 515 (516).
OVG Bremen, InfAuslR 2004, 154 (155); s. auch VG Potsdam, AuAS 2004, 54.
VG Aachen, InfAuslR 2001, 22.
42
Erlaubnisfiktion (Nr. 81.3.4 VAH). Bei einem bloß wiederholenden Antrag kann daher die
Fiktionsbescheinigung nicht ausgestellt werden.
c) Antrag auf Verlängerung oder Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 4
AufenthG)
aa)
Funktion der Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG
Nach § 81 Abs. 4 AufenthG gilt der bisherige Aufenthalt des Antragstellers vom Zeitpunkt
des Ablaufs der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels bis zur ausländerbehördlichen
Entscheidung als fortbestehend. Die Vorschrift geht davon aus, dass für den Eintritt der
Fiktionswirkung der Besitz eines Aufenthaltstitels maßgebend ist. Dies folgt aus der
Formulierung „seines Aufenthaltstitels“ und „bisheriger Aufenthaltstitel“. Wer ohne
Aufenthaltstitel, etwa als sichtvermerksfreier Drittstaatsausländer, erlaubnisfrei einreisen darf,
dessen Antrag entfaltet eine der in § 81 Abs. 3 AufenthG geregelten Fiktionswirkungen. Wer
mit Aufenthaltstitel einreist und anschließend den Antrag stellt, kann sich auf die
Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG berufen. Wer ohne Erlaubnis und ohne
Aufenthaltstitel einreist, reist illegal ein. Der nachträglich gestellte Antrag entfaltet keine
Fiktionswirkung. Unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und § 39 Nr. 5
AufenthV kann die Ausländerbehörde jedoch über diesen Antrag entscheiden.
Der Wortlaut des § 81 Abs. 4 stellt allein auf den Besitz des Aufenthaltstitels ab,
unterscheidet damit nicht zwischen dem Visum zu Besuchszwecken und dem Visum zu einem
längerfristigen Aufenthalt. Auch der Antrag des Antragstellers, der zwar mit einem Visum,
jedoch nicht mit dem für den angestrebten Aufenthaltszweck erforderlichen Visum (vgl. § 5
Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 31 AufenthV) einreist, entfaltet die Fiktionswirkung nach § 81
Abs. 4 AuslG. Zwar ist die Einreise mangels erforderlichen Aufenthaltstitels unerlaubt (§ 14
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Der Gesetzeswortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG ist indes eindeutig.
Der Eintritt der Fiktionswirkung ist allein davon abhängig, dass der Antragsteller mit einem
Aufenthaltstitel eingereist ist und anschließend dessen Verlängerung oder Zweckänderung
beantragt.63 Damit ist die frühere Rechtsprechung überholt, die verneinte, dass der im
Bundesgebiet zu einem anderen Aufenthaltszweck gestellte Antrag die Erlaubnisfiktion
auslöste.64 Die Rechtsprechung berief sich auf den Ausschlussgrund der unerlaubten Einreise
(§ 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990), der auch auf die Erlaubnisfiktion Anwendung fand
(vgl. § 69 Abs. 3 Satz 3 AuslG 1990). Demgegenüber verbietet der eindeutige Wortlaut des
§ 81 Abs. 4 AufenthG eine derart einschränkende Auslegung. Der Gesetzgeber hat für diese
Fälle jedoch das Verteilungsverfahren nach § 15a AufenthG eingeführt.
Der Gesetzgeber erachtet die Einführung der bloßen Erlaubnisfiktion in den Fällen des § 81
Abs. 4 AufenthG nicht für ausreichend, da damit insbesondere die Frage der Berechtigung zur
Ausübung einer Erwerbstätigkeit offen bliebe. Durch die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4
AufenthG gilt vielmehr der bisherige Aufenthaltstitel mit allen sich daran anschließenden
Rechtswirkungen bis zur behördlichen Entscheidung als fortbestehend (Nr. 814.1 VAH). Eine
Erlaubnisfiktion wäre in diesen Fällen nicht ausreichend, da damit insbesondere die Frage der
Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit offen bliebe. Sonderregelungen, die diese
Frage im sozialrechtlichen Bereich punktuell klären müssten, werden hierdurch entbehrlich.
Vielmehr ist die Frage damit für das gesamte Sozialrecht geklärt (Nr. 81.4.1 S. 2 und 3 VAH).
63
Hess.VGH, NVwZ 2006, 111 (111 f.) = InfAuslR 2005, 304 = EZAR 28 Nr. 1 = AuAS 2005, 134.
Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67 (69); Hess. VGH, InfAusR 1993, 71 (72 f.); Hess. VGH, EZAR 622
Nr. 18; OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12; OVG NW, NVwZ 1991, 910; OVG NW, InfAuslR 1991, 232; OVG
NW, InfAuslR 1994, 138; OVG SH, InfAuslR 1992, 125; a.A. Nr. 58.1.1.3.2 AuslG-VwV; Hofmann, InfAuslR
1991, 351; Ott, ZAR 1994, 76 (78 f.); Pfaff, ZAR 1992, 117 (120); Hailbronner, AuslR, § 58 AuslG Rn 18;
offen gelassen BVerwGE 100, 287 (290) = NVwZ 1997, 189 = InfAuslR 1996, 294.
64
43
Der Aufenthaltstitel bleibt fiktiv, mit dem aktuellen Inhalt, auch hinsichtlich etwaiger
Beschränkungen bestehen und ist daher Veränderungen ebenso zugänglich wie zuvor. So sind
z.B. nachträgliche Nebenbestimmungen nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zulässig.
bb)
Anwendungsbereich der Fortgeltungsfiktion
Die Wirkungen der Fortgeltungsfiktion treten nicht nur im Falle der beantragten Verlängerung
des bisherigen Aufenthaltstitels, sondern auch bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels zu
einem anderen Zweck ein. Entweder soll die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels ohne
Veränderung des Erteilungsgrundes verlängert (Verlängerung) oder es soll der
Erteilungsgrund verändert (Zweckänderung) werden. Ein Wechsel des Aufenthaltstitels findet
einerseits bei einer Änderung des Erteilungsgrundes, aber auch bei einem Formwechsel, z.B.
vom Visum zur Aufenthaltserlaubnis oder von der Aufenthaltserlaubnis zur
Niederlassungserlaubnis statt. Durch Gesetzesänderung entfällt in den Fällen des § 81 Abs. 4
Satz 2 AufenthG die Fiktionswirkung. Der Eilrechtsschutz richtet sich daher nicht mehr nach
§ 80 Abs. 5, sondern nach § 123 VwGO.65
Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Da es sich indes
um ein gesetzliches Aufenthaltsrecht handelt, hat die Geltungsdauer der lediglich
deklaratorischen Bescheinigung keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des
verfahrensabhängigen Aufenthaltrechtes. Beantragt der Antragsteller deshalb verspätet die
Verlängerung der Geltungsdauer der rechtzeitig beantragten Bescheinigung, ist dies insoweit
unschädlich (vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). Erst mit Bekanntgabe der Versagungsverfügung
wird die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts unterbrochen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Wird
dem Antrag stattgegeben, erhält der Antragsteller den neuen Aufenthaltstitel mit den dazu
gehörigen Berechtigungen oder wird der Aufenthaltstitel mit den bestehenden Berechtigungen
verlängert. In beiden Fällen ist keine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit eingetreten.
Die Fortgeltungsfiktion hat zur Folge, dass der Antragsteller so behandelt wird, als bestehe
der Aufenthaltstitel
mit den konkreten Nebenbestimmungen auch hinsichtlich der
Erwerbstätigkeit fort. Bei einem Verlängerungsantrag ändert sich die Rechtsstellung damit
nicht und setzt diese sich bei einer Antragsstattgabe ohne Veränderung fort. Begehrt der
Antragsteller hingegen einen anderen Aufenthaltstitel, so gilt der bisherige Aufenthaltstitel bis
zu Bescheidung über den Antrag auch dann fort, wenn der Antragsteller ihn tatsächlich wegen
Veränderung der Verhältnisse nicht nutzen kann, z.B. nach Verlust des Arbeitsplatzes und der
Aussicht auf eine andere Stelle oder nach Beendigung einer Ausbildung und bei Aussicht auf
eine Anstellung. Den erst beantragten Titel mit seinen Berechtigungen besitzt der
Antragsteller erst nach Antragsstattgabe.
cc)
Verspätete Antragstellung
Im Falle der verspäteten Antragstellung bleibt es aber bei der Unterbrechung der
Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes. Umstritten war, ob der verspätete Antrag nach § 81 Abs. 4
AufenthG die Fortgeltungsfiktion auslöst. Dies ist nunmehr durch § 81 Abs. 4 Satz 2
AufenthG geklärt. Das heißt, nach verspäteter Antragstellung findet die Fiktion der
Rechtmäßigkeit wieder Anwendung66 und damit auch der Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5
VwGO. Angerechnet wird der unterbrochene Zeitraum nicht.
Damit dürfte wohl die frühere Rechtsprechung überholt sein. Durch Ablauf der Geltungsdauer
des Aufenthaltstitels wird der Aufenthalt unrechtmäßig (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die frühere
Rechtsprechung wollte die Probleme erheblich befristeter Verlängerungsanträg in den Fällen
65
66
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2014, 157.
Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139).
44
lösen, in denen die beantragte Verlängerung noch einen unmittelbaren Bezug zum
abgelaufenen Aufenthaltstitel hatte. Danach durfte die Verspätung nur so geringfügig sein,
dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Ablauf der Geltungsdauer des
Aufenthaltstitels und der Antragstellung gewahrt war.67 Ein Antrag auf Verlängerung, der erst
Wochen oder sogar Monate nach Ablauf des ursprünglichen Titels gestellt wird, wäre dann
ein Antrag auf Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels.68 Weder die Fiktionswirkung nach §
81 Abs. 3 AufenthG noch die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG kann bei
verspäteter Antragstellung durch einen Wiedereinsetzungsantrag erlangt werden. 69 Das
BVerwG hat jedoch noch vor der Einfügung von Satz 2 in § 81 Abs. 4 AufenthG entschieden,
dass der verspätete Antrag keine Fiktionswirkung auslöst.70 In materiell-rechtlicher Sicht tritt
keine Unterbrechung ein, wenn die Behördenentscheidung durch die Behörde selbst oder
durch das Gericht aufgehoben wird (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Im Falle des verspäteten
Antrags hilft § 85 AufenthG weiter. Danach können Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des
Aufenthaltes bis zu einem Jahr außer Betracht bleiben. Dies hatte die frühere Rechtsprechung
im Hinblick auf den verspäteten Antrag unter Bezugnahme auf die identische Vorschrift des
§ 97 AuslG 1990 entschieden.71
Nach den Verwaltungsvorschriften kann säumigen Antragstellern für die Fälle, in denen die
verspätete Antragstellung aus bloßer Nachlässigkeit und nur mit einer kurzen
Zeitüberschreitung erfolgt, in entsprechender Anwendung des § 81 Abs. 5 AufenthG eine
Fiktionsbescheinigung mit der Rechtsfolge des § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt werden. Der
Antragsteller habe dazu Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen, die belegen, warum
ihm eine rechtzeitige Antragstellung nicht möglich war. Damit könnten die vom Gesetzgeber
nicht beabsichtigten Rechtsfolgen eines sofortigen Beschäftigungsverbotes in den Fällen
vermieden werden, in denen bereits eine längerfristige Zustimmung zur Beschäftigung erteilt
worden sei, also nur der aufenthaltsrechtliche Teil des Aufenthaltstitels eine kürzere
Befristung enthielt, oder in den Fällen, in denen z.B. nach § 9 BeschVerfV
(Vorbeschäftigungszeiten/längerfristiger Voraufenthalt) ohne Arbeitsmarktprüfung (nur
„Lohnprüfung“) eine Zustimmung zur Fortsetzung der bisher ausgeübten Beschäftigung
erfolgen könne (Nr. 81.4.2.3 AufenthG-VwV). Zu Recht wird gegen diese Lösung auf die
Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG hingewiesen. Die Fiktionsbescheinigung ist
unmittelbare Folge der gesetzlichen Regelung und hat deshalb rein deklaratorischen
Charakter. Ihr Eintritt ISTnicht von der Ausübung behördlichen Ermessens abhängig.72
Dogmatisch überzeugender ist deshalb die Lösung über die Rückwirkung verspäteter Anträge.
Die Rückwirkung verspäteter Anträge widerspricht nicht dem Wortlaut des Gesetzes, ist
gesetzessystematisch (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) wie auch insbesondere durch eine
zweckgerichtete Auslegung gefordert.
Ist der Betroffene im Besitz einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1
ARB 1/80 haben Aufenthaltserlaubnis (§ 4 Abs. 5 AufenthG) wie Beschäftigungserlaubnis
lediglich deklaratorische Funktion. Bei geringfügigen Zuwiderhandlungen gegen
verfahrensrechtliche Obliegenheiten dürfen die Mitgliedstaaten keine unverhältnismäßigen
67
OVG NW, InfAuslR 2006, 448 (449 f.) = AuAS 2006, 143.
Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139).
69
OVG NW, AuAS 2006, 143.
70
BVerwGE 140, 64 = InfAuslR 2011, 373 = NVwZ 2011, 1340 = AuAS 2011, 373; Nieders.OVG,
NVwZ-RR 2010, 903 (904).
71
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 16; Hess. VGH, InfAuslR 1996, 133 (134); Hess. VGH, InfAuslR 2002,
426 (428); a.A. OVG NW, AuAS 2006, 143; s. auch BVerwG, InfAuslR 1997, 391 (394).
72
Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139).
68
45
Sanktionen treffen, welche eine Beeinträchtigung der assoziationsrechtlichen Rechtsstellung
zur Folge hätte.73 Auf eine verspätete Antragstellung kann es deshalb nicht ankommen.
dd)
Ausschluss der Fortgeltungsfiktion
Ist der Antragsteller bereits ausgewiesen oder aufgrund eines sonstigen Verwaltungsaktes
ausreisepflichtig geworden und noch nicht ausgereist, ist mit Bekanntgabe des entsprechenden
Verwaltungsaktes die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes erloschen (vgl. § 51 Abs. 1
AufenthG). Damit kann der bisherige Aufenthaltstitel die von § 81 Abs. 4 AufenthG
vorausgesetzte Möglichkeit der Begründung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht mehr
vermitteln. Das gilt auch, wenn der Antragsteller nach der Ablehnung seines Antrags und vor
der Ausreise einen neuen Antrag stellt. Mit der Versagungsverfügung endet die
Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG und der Antragsteller wird ausreisepflichtig (vgl.
§ 50 Abs. 1 AufenthG), so dass dem nachträglich vor der Ausreise gestellten Antrag keine
verfahrensrechtlichen Wirkungen mehr zukommen können. Der Fall, dass der Antragsteller
nach der Ablehnung seines Antrages vor der Ausreise einen weiteren, den früheren Antrag
bloß wiederholenden Antrag stellt (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AuslG 1990), fällt damit
nicht unter den Schutzgehalt der Fortgeltungsfiktion (Nr. 81.3.4 VAH). Bei einem bloß
wiederholenden Antrag kann daher die Fiktionsbescheinigung nicht ausgestellt werden.
e)
Form des Eilrechtsschutzantrags (§ 80 Abs. 5 VwGO)
Gegen die behördliche Versagung der beantragten Ersterteilung oder Verlängerung des
Aufenthaltstitels ist vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Denn durch
die Verfügung wird dem Antragsteller – wie ausgeführt – die Vergünstigung der bis dahin
bestehenden Aussetzungs- oder Erlaubnisfiktion entzogen.74 Da der Rechtsbehelf keinen
Suspensiveffekt entfaltet (vgl. § 84 Abs. 1 AufenthG), kann der Gefahr der Vollziehung für
den Fall, dass die Behörde die bundesweit üblichen Stillhalteabkommen75 nicht einhalten will,
mit einem Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses begegnet werden.
Muster :
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die
Versagungsverfügung
An das
Verwaltungsgericht
Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
des türkischen Staatsangehörigen
– Antragsteller –
gegen
den Oberstadtdirektor
– Antragsgegner –
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Ablehnung des Antrags auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis anzuordnen.
Zugleich wird beantragt,
73
OVG NW, InfAuslR 2007, 96 (97); VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2007, 202.
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5;
VGH BW, InfAuslR 1992, 168; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384)
= NVwZ-Beil. 2003, 90; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87.
74
75
46
dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur
einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt
ist (Stillhaltezusage).
f) Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses
Es ist in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt, dass im Eilrechtsschutzverfahren
eine Zwischenentscheidung beantragt werden kann, mit dem Ziel, bis zur endgültigen
Eilrechtsentscheidung eine befristete vorläufige Aussetzung des angefochtenen
Verwaltungsaktes zu erlassen.76 Im Ausländerrecht kann daher der Antrag gestellt werden, der
Behörde aufzugeben, bis zur gerichtlichen Entscheidung von aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen abzusehen.77 Der Antrag ist zulässig, wenn auf andere Weise der durch Art. 19
Abs. 4 Satz 1 GG geforderte wirksame Rechtsschutz nicht gewährleistet ist. Materielle
Voraussetzung ist, dass nicht eine offensichtliche Aussichtslosigkeit des
Eilrechtsschutzantrags zu bejahen ist und dem Antragsteller ein Sicherungsbedürfnis zur Seite
steht.78 Das Sicherungsbedürfnis ist zu bejahen, wenn zu befürchten ist, dass die Behörde vor
dem gerichtlichen Eilrechtsbeschluss vollendete Tatsachen schaffen wird.79 Die in der Praxis
regelmäßig üblichen Stillhalteabkommen80 sind nicht bindend und stehen der Zulässigkeit des
Hängebeschlusses nicht entgegen, wenn dargelegt wird, dass die Ausländerbehörde in
Abweichung von einer derartigen Praxis die Vollziehung eingeleitet hat.
Hat die oberste Landesbehörde einen generellen Hinweis an die untergeordneten Behörden
gegeben, dem zufolge keine Verpflichtung besteht, ohne entsprechenden gerichtlichen
Beschluss von der Abschiebung abzusehen, ist es Zweck einer gerichtlichen vorläufigen
Regelung, eventuell für den endgültigen Beschluss noch fehlende Sachverhaltsumstände
aufzuklären oder die rechtliche Problematik aufzuarbeiten.81 Auch im Verfahren vor dem
Beschwerdegericht besteht eine derartige gerichtliche Befugnis. 82 Lassen sich die
Erfolgsaussichten
des
Eilrechtsschutzantrags
ohne
nähere
Aufklärung
des
Gesundheitszustandes des Antragstellers nicht beurteilen und ist wegen Überlastung der
Gesundheitsämter die Durchführung eines Untersuchungstermins nicht absehbar, bedarf es
allerdings keines Hängebeschlusses. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in diesem Fall in
der Sache zu entscheiden.83 Hat der Antragsteller ärztliche Atteste vorgelegt, die seine
Reiseunfähigkeit bescheinigen oder eine schwerwiegende gesundheitliche Erkrankung
belegen, ist dem Antrag daher auch ohne amtsärztliche Bestätigung stattzugeben.
Muster : Antrag auf Erlass eines „Hängebeschlusses“
An das
Verwaltungsgericht
76
OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479; OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391; OVG SA, InfAuslR 1999,
344; OVG SA, InfAuslR 2005, 421Schoch, in: Schoch/Schmitt-Aßmann/Pfitzner, VwGO-Kommentar, § 80
Rn 242 ff.; Redeker/v. Oertzen, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 54.
77
OVG SA, InfAuslR 1999, 344.
78
OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391; OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479.
79
OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391.
80
OVG Hamburg, NVwZ-RR 1999, 73..
81
OVG SA, InfAuslR 1999, 344.
OVG SA, InfAuslR 1999, 344; a.A. Schoch, in: Schoch/Schmitt-Aßmann/Pfitzner, VwGO-Kommentar,
§ 80 Rn 243.
83
OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479.
82
47
Antrag auf Erlass eines „Hängebeschlusses“
des türkischen Staatsangehörigen
– Antragsteller –
gegen
den Oberstadtdirektor
– Antragsgegner –
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
bis zur endgültigen Entscheidung über den am gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
– Az. – die Behörde einstweilen zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen
abzusehen.
Zugleich wird beantragt,
dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur
einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt
ist (Stillhaltezusage).
Der Antragsteller hat beim beschließenden Verwaltungsgericht Eilrechtsschutz gegen die ihm
drohende Abschiebung durch den Antragsgegner beantragt. Ich verweise auf das Verfahren .
Die Behörde hat telefonisch ausdrücklich erklärt, sie werde ungeachtet des anhängigen
Verfahrens die Abschiebung vollziehen. Der Antragsteller ist schwer traumatisiert. Ich
verweise auf die im Eilrechtsschutzverfahren eingereichten zahlreichen psychiatrischen und
psychologischen Atteste. Die Behörde wendet ein, ohne amtsärztliche Bestätigung erkenne sie
das vorgebrachte Abschiebungshindernis nicht an. Eine Untersuchung beim städtischen
Gesundheitsamt werde wegen Überlastung indes erst in zwei Monaten durchgeführt. Solange
sei ein Zuwarten angesichts des öffentlichen Vollzugsinteresses nicht zumutbar. Sollte das
Verwaltungsgericht sich ungeachtet der zahlreichen vorgelegten Atteste nicht zu einer
Entscheidung in der Sache in der Lage sehen, besteht Anspruch auf Erlass einer
Zwischenentscheidung.
2. Begründetheit des Antrags
a) Unionsrecht
Der Widerspruch eines Unionsbürgers wie der des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten
hat nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung.§ 84 Abs. 1 AufenthG findet keine
Anwendung (§ 11 Abs. 1 Satz 1FreizügG/EU).84 Dies gilt nicht bei der Verlustfeststellung (§
6 in Verb. mit § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU). Ebenso begründet die Versagung der
deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis eines türkischen Assoziationsberechtigten nach § 4
Abs. 5 AufenthG keine vollziehbare Ausreisepflicht. Es bedarf daher im Falle der
Versagungsverfügung keines Eilrechtsschutzes. Dies kann durch entsprechenden
Feststellungsantrag im Eilrechtsschutzverfahren festgestellt werden.85
Zwar bedürfen Unionsbürger für die Einreise und für den Aufenthalt keines Visums. Die
Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, bedürfen nach deutschem Recht indes
eines Visums, sofern dies durch Rechtsvorschriften vorgesehen ist (§ 2 Abs. 4 FreizügG/EU).
Demgegenüber hat der EuGH zwar das Recht der Mitgliedstaaten anerkannt, von mit einem
Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen für die Einreise den Besitz eines Visums
84
85
S. hierzu auch VG Potsdam, InfAuslR 2004, 57.
VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2007, 202; ebenso OVG NW, InfAuslR 2007, 96 (97).
48
zu fordern. In Anbetracht der Bedeutung, die das Unionsrecht dem Schutz des Familienlebens
beigemessen hat, ist indes die Zurückweisung unverhältnismäßig und damit untersagt, wenn
der mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige seine Identität und die Ehe
nachweisen kann. Ebenso wird durch die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis und erst
recht durch die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates, die ausschließlich
darauf gestützt werden, dass der Betroffene gesetzliche Formalitäten im Blick auf die
Ausländerüberwachung nicht erfüllt hat, der Kern des unmittelbar durch Gemeinschaftsrecht
verliehenen Aufenthaltsrechts angetastet, was in keinem Verhältnis zur Schwere der
Zuwiderhandlung steht.86
Ergibt sich aus den Umständen, dass die Behörde den Suspensiveffekt nicht beachtet, ist in
entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO der Antrag auf Feststellung, dass der
Widerspruch aufschiebende Wirkung hat, zulässig.87 Denn in Fällen, in denen die Behörde die
aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nicht anerkennt, kann gerichtlicher Rechtsschutz
in Form der Feststellung der aufschiebenden Wirkung als Weniger zur Anordnung bzw.
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung erlangt werden.88
Muster:
Eilrechtsschutz gegen die Versagungsverfügung gegenüber Unionsbürgern
An das
Verwaltungsgericht
In dem
Verwaltungsstreitverfahren
…
wird unter Vollmachtsvorlage beantragt,
analog § 80 Abs. 5 VwGO festzustellen, dass der Widerspruch vom… gegen die
Verfügung der Stadt … vom… aufschiebende Wirkung hat.
Zugleich wird beantragt,
dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur
einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt
ist (Stillhaltezusage).
b) Keine eingeschränkte Prüfungsbefugnis
Eine der früheren Regelung des § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 ähnliche Regelung ist dem
geltenden Recht fremd. Nach dem früheren Recht konnten Rechtsbehelfe gegen die
Versagung der Aufenthaltsgenehmigung vor der Ausreise nur darauf gestützt werden, dass der
Versagungsgrund (§ 8 AuslG 1990) nicht vorliegt.89 Folglich wurde durch die Umgehung der
Visumbestimmungen durch Täuschung über den wahren Einreisezweck der Einwand
ausgeschlossen, dass eine Ausnahme oder Befreiung zu Unrecht nicht gewährt oder aus
EuGH, InfAuslR 2002, 417(419) – MRAX v. Belgien; EuGH, AuAS 2003, 38 (39 f.) = InfAuslR 2002,
417 = EZAR 814 Nr. 8.
86
87
88
OVG Hamburg, AuAS 2000, 63; VG Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (392).
VG Cottbus, AuAS 2004, 77.
89
BVerwGE 75, 20 (25) = InfAuslR 1987, 1.
49
anderen Gründen die Aufenthaltserlaubnis hätte erteilt werden müssen.90 Nach allgemeiner,
freilich nicht unbestrittener Ansicht war damit die Rüge fehlerhafter Ermessensausübung
nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG 1990 im Rechtsbehelfsverfahren nicht zulässig.91
Nach geltendem Recht überprüft das Verwaltungsgericht im Eilrechtsschutzverfahren die
Versagungsverfügung im vollen Umfang in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Beruft die
Ausländerbehörde sich in der Versagungsverfügung auf den Mangel der
Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, zielt die gerichtliche Kontrolle
zunächst auf die tatsächlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift. Im Übrigen ist die Prüfung
darauf beschränkt, ob der Ausländerbehörde bei der Verweigerung, nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vorzugehen, Ermessensfehler unterlaufen sind. Zur Ermessenskontrolle gehört auch
die Überprüfung der von der Behörde zugrunde gelegten Tatsachen.
c) Allgemeine Entscheidungskriterien
Das Verwaltungsgericht überprüft bei Rechtsansprüchen summarisch im vollen Umfang die
Versagungsverfügung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Bei Ermessensentscheidungen
überprüft das Verwaltungsgericht zunächst, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der
Ermessensentscheidung von der Behörde vollständig und hinreichend zuverlässig festgestellt
worden sind. Für die weitere Prüfung finden die Grundsätze zur umfassenden
Interessenabwägung Anwendung. Das öffentliche Interesse gebietet danach den sofortigen
Vollzug nicht, wenn die Klage offensichtlich begründet ist.92 Umgekehrt besteht kein
überwiegendes privates Interesse, wenn die angefochtene Verfügung voraussichtlich
rechtmäßig ist. Lassen sich im summarischen Eilrechtsschutzverfahren die Erfolgsaussichten
nicht eindeutig beurteilen, muss unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des
Einzelfalls eine Abwägung der gegenseitigen Interessen vorgenommen werden: „Die
Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beruht gleichermaßen auf einer
Interessenabwägung. Das Gericht prüft mithin im Falle einer gesetzlich vorgesehenen
sofortigen Vollziehbarkeit, ob wegen der Besonderheit des Einzelfalles ein privates Interesse
an der aufschiebenden Wirkung vorliegt, das gegenüber den im Gesetz in diesen Fällen
unterstellten öffentlichen Interessen an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes
überwiegt.“93
Dabei haben die individuellen Interessen im Rahmen einer Verlängerungsentscheidung
regelmäßig stärkeres Gewicht als bei der erstmaligen Beantragung eines Aufenthaltstitels.
Auch im Falle der erstmaligen Beantragung können indes wegen der Schwierigkeiten und
hohen Kosten der Wiedereinreise die privaten Interessen überwiegen. Die gesetzliche
Anordnung des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Verb.
mit § 84 Abs. 1 AufenthG) führt nicht dazu, dass grundsätzlich ein Überwiegen der
90
VGH BW, InfAuslR 1992, 168 (170); s. auch OVG Bremen, InfAuslR 1995, 107 (109).
OVG Rh-Pf, InfAuslR 1993, 124 (125); VGH BW, InfAuslR 1992, 168 (170); 1993, 14 (15);
Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67 (69); Hailbronner, AuslR, § 9 AuslG Rn 6; Renner, AuslR, S. 295; a.A. VGH
BW, EZAR 020 Nr. 1; OVG Bremen, InfAuslR 1998, 107 (108); Nieders. OVG, Beschl. v. 4.5.1999–13 M
1664, 2014/99: Kontrolle der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig; ebenso VG
Stuttgart, InfAuslR 1999, 201 (203).
91
92
93
Hess. VGH, EZAR 022 Nr. 5.
OVG SH, InfAuslR 1991, 340.
50
öffentlichen Interessen anzunehmen ist.94 Auch im Eilrechtsschutzverfahren kann im Übrigen
die Gehörsrüge geltend gemacht werden, wobei das Beruhenserfordernis entfällt.95
3. Wirkung des stattgebenden Beschlusses
Die gerichtliche Anordnung der Aussetzung der Vollziehung bewirkt nicht ein
Wiederaufleben der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG (vgl. § 84 Abs. 2 Satz
1 AufenthG).96 Vielmehr wird durch die behördliche Antragsablehnung die Rechtmäßigkeit
des Aufenthaltes unterbrochen (vgl. § 51 Abs. 1 AufenthG) und besteht Ausreiseverpflichtung
(§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die gerichtliche Anordnung setzt lediglich die Vollziehbarkeit (§ 58
Abs. 2 AufenthG) aus,97 d.h., die Ausreisefrist wird unterbrochen. Diese Unterbrechung
entbindet den Betroffenen zwar nicht von seiner Ausreiseverpflichtung, hindert indes, dass die
zur Abschiebung berechtigenden und verpflichtenden Wirkungen des § 50 Abs. 2 AufenthG
eintreten. Überdies eröffnet sie für den Betroffenen den weiteren Vorteil, dass die
Ausreisefrist nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht erneut zu laufen
beginnt.98 Die Wiederherstellung der früheren aufenthaltsrechtlichen Position kann erst im
Hauptsacheverfahren erreicht werden (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Allerdings führt die
Antragsstattgabe zur Fiktion des Fortbestehens des zuvor innergehabten Aufenthaltstitels für
Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ vgl. § 84 Abs. 2 Satz 2
AufenthG). Die aufenthaltsrechtliche Fortgeltungsfiktion lebt indes nicht wieder auf.99 Dem
Bettroffenen ist eine Bescheinigung über die ihm nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
zustehenden Rechte auszustellen.100
II.
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO
1. Zulässigkeit des Antrags
Liegen die Voraussetzungen für eine der drei Fiktionswirkungen nach § 81 Abs. 3 und 4
AufenthG nicht vor, kann einstweiliger Rechtsschutz nicht über § 80 Abs. 5 VwGO, sondern
nur über § 123 VwGO erreicht werden.101 Die Umdeutung eines nach § 80 Abs. 5 VwGO
gestellten Antrags in einen Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.102 Es ist jedoch zu
bedenken, dass die Gerichte bei anwaltlich vertretenen Rechtsuchenden häufig eine
Umdeutung des Antrags ablehnen. Der Antrag nach § 123 VwGO kann dahin gehen, die
Ausländerbehörde zu verpflichten, im Hinblick auf einen Anspruch auf Erteilung des
94
BVerfGE 69, 220 (229); OVG SH, InfAuslR 1991, 340 (341); Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69
AuslG Rn 72; Hailbronner, § 69 AuslG Rn 63; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, S. 914.
95
VGH BW, InfAuslR 1999, 337 wegen Verwertung von Erkenntnisquellen zu Bosnien und
Herzegowina, die nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden waren.
96
VG Stuttgart, NVwZ-RR 2000, 250 (251); VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457).
Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); OVG Hamburg, NVwZ-RR 1995, 709 (710): Entscheidung
für die Vollziehbarkeitstheorie; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 53; a.A. VG Stuttgart, InfAuslR 2000, 77
(78) = NVwZ-RR 2000, 250: Die Anordnung bewirkt nur, dass Vollziehungsmaßnahmen unzulässig sind.
98
VGH BW, AuAS 2003, 220 (221).
99
VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457).
100
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62);VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457):
97
101
Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67; 1991, 272 (273); VGH BW,
InfAuslR 1992, 352; OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12; OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256; VG Darmstadt,
InfAuslR 1999, 391 (393); Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 66; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG
Rn 77; offengelassen: VGH BW, NVwZ-RR 1995, 294.
102
OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 447 (448); a.A. OVG Berlin, AuAS 2004, 138 (139).
51
Aufenthaltstitels oder auf Duldung die Abschiebung zeitweise bis zur Entscheidung über den
verwaltungsrechtlichen Antrag auszusetzen und eine Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4
AufenthG) auszustellen.103 Im Hinblick auf den Streit in der Rechtsprechung und das Risiko,
dass die Umdeutung des fehlerhaft gestellten Antrags abgelehnt wird, ist gegebenenfalls die
hilfsweise Antragstellung empfehlenswert.
Muster :
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und – hilfsweise – auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des türkischen Staatsangehörigen
– Antragsteller –
gegen
den Oberstadtdirektor
– Antragsgegner –
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Ablehnung des Antrags auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom anzuordnen.
hilfsweise:
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu
verpflichten, bis zur Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis vom von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen.
Zugleich wird beantragt,
dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur
einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt
ist (Stillhaltezusage).
2. Begründetheit des Antrags
Im Rahmen der Begründetheit fehlt es hinsichtlich des behaupteten Anspruchs auf Erteilung
eines Aufenthaltstitels regelmäßig bereits am Anordnungsanspruch, weil der Aufenthaltstitel
nicht nach der Einreise während eines illegalen Aufenthalts beantragt werden kann und gegen
die ablehnende Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine
Ermessensfehler geltend gemacht werden können. Ob dies auch dann gilt, wenn die
Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels offensichtlich erfüllt sind,104
erscheint fraglich. Denn die Heilungsmöglichkeit nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG setzt
keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Da diese im Vergleich zum früheren Recht weitaus
flexibler gestaltet ist und pragmatische Lösungen ermöglicht, erscheint die frühere
restriktivere Rechtsprechung überholt. Allerdings ist der Einwand des grundsätzlichen
Verbotes der Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung überzeugend auszuräumen.
103
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 9; Hess.VGH, AuAS 2006, 158 (159); OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12.
So zum früheren Recht Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 18; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); VG
Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (393); Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 69; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR,
§ 69 AuslG Rn 83:
104
52
Sicherungsfähig kann jedenfalls ein Anspruch auf Erteilung der Duldungsbescheinigung sein,
wenn das Vorliegen eines Duldungsgrundes nach § 60a Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG
glaubhaft gemacht werden kann. Die bloße Möglichkeit der Duldung genügt nicht. 105
III.
Hauptsacheverfahren
Wird während des anhängigen Verfahrens der gewöhnliche Aufenthalt in den Bezirk eines
anderen Rechtsträgers verlegt und stimmt die nunmehr zuständige Behörde der Fortführung
des Verfahrens durch die bisherige Behörde nach § 3 Abs. 3 VwVfG (des Landes) nicht zu,106
kommt die isolierte Anfechtungsklage in Betracht, weil mit der Aufhebung die
Fiktionswirkung wieder auflebt.107 Das Begehren auf Erteilung des Aufenthaltstitels ist nach
Durchführung des Vorverfahrens (§ 68 VwGO) mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage, ob die für die Erteilung des
Aufenthaltstitels maßgebenden Rechtsvoraussetzungen vorliegen, ist der Zeitpunkt der
gerichtlichen Entscheidung.108 Dieser Zeitpunkt ist auch im Falle der Ermessensreduzierung
maßgebend.109 Umstritten ist der Beurteilungszeitpunkt bei Ermessensentscheidungen
insbesondere auch in Ansehung von § 114 Satz 2 VwGO: Fraglich ist, ob die auf die letzte
Verwaltungsentscheidung abstellende Rechtsprechung110 in Anbetracht der Auflösung fester
verwaltungsprozessualer Formen in den letzten Jahren noch Anwendung finden kann.
Jedenfalls hat das Verwaltungsgericht bei einer Ermessensreduzierung auch nach dem
Widerspruchsbescheid eintretende Umstände zu berücksichtigen.111
C.
Aufenthaltserlaubnis zwecks Erwerbstätigkeit
Der Begriff der Erwerbstätigkeit ist in § 2 Abs. 2 AufenthG gesetzlich definiert.
Erwerbstätigkeit ist ein Oberbegriff, der die selbständige Erwerbstätigkeit wie auch die
Beschäftigung im Sinne des § 7 SGB IV erfasst. Während der Begriff der Beschäftigung in §
7 Abs. 1 SGBIV definiert wird, ist der Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit nicht
gesetzlich definiert. Er ergibt sich aus der Umkehr der Kennzeichnungsmerkmale einer
abhängigen Beschäftigung. Die Abgrenzung zwischen selbständiger Erwerbstätigkeit und
Beschäftigung ist anhand der Kriterien in § 7 Abs. 1 SGBIV vorzunehmen (Nr. 2.2.3
AufenthG-VwV). Die Erlaubnis zur Ausübung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit wird
als Beschäftigungserlaubnis (§ 2 Abs. 2, § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG, § 7 Abs. 1 SGB IV) und
die Berechtigung zur selbständigen Erwerbstätigkeit als Erlaubnis zur Ausübung einer
selbständigen Erwerbtätigkeit bezeichnet.
105
Hess. VGH, EZAR 019 Nr. 1; 622 Nr. 18; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); OVG Hamburg,
InfAuslR 1999, 447 (448); OVG NW, NVwZ-Beil. 1999, 99 = InfAuslR 1999, 451; Hailbronner, AuslR, § 69
AuslG Rn 70.
106
Vgl. hierzu BVerwGE 98, 313 (315) = InfAuslR 1995, 287 = NVwZ 1995, 1131 = EZAR 012 Nr. 2.
BVerwG, Buchholz 402. 24 § 2 AuslG Nr. 35; VGH BW, EZAR 601 Nr. 3; Funke-Kaiser, in: GKAuslR, § 69 AuslG Rn 86; Hailbronner, AuslR § 69 AuslG Rn 72.
108
BVerwGE 56, 246 (249); 94, 35 (40 f.); BVerwG, InfAuslR 2003, 50 (51) = NVwZ 2002, 1512; VGH
BW, InfAuslR 1984, 271.
109
BVerwG, NVwZ 1992, 1211 (1212).
107
110
111
Vgl. BVerwGE 94, 35 (40 f.); BVerwG, EZAR 610 Nr. 16.
Kemper, NVwZ 1993, 746 (747).
53
I. Aufenthaltstitel zur Ausübung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit (§ 18 bis §
20 AufenthG)
1. Allgemeines
Der Aufenthalt zu Erwerbszwecken ist im 4. Abschnitt des 2. Kapitels des AufenthG geregelt.
§ 18 AufenthG ist die Zentralnorm für die aufenthaltsrechtliche Steuerung des Zugangs zur
nichtselbständigen Erwerbstätigkeit. Aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen dieser
Vorschrift folgt, dass diese den seit 1973 geltenden Anwerbestopp fortschreibt. Die
Berücksichtigung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt sowie das Erfordernis, die
Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen (§ 18 Abs. 1 AufenthG), sind programmatische Ziele
und haben als solche ermessenslenkende Funktion für die Erteilung der Zustimmung zur
Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit. Sie werden in den folgenden Absätzen
näher ausgeführt und finden ihren Ausdruck in der Ausgestaltung der Bestimmungen der
BeschV sowie der BeschVerfV (Nr. 18.1 AufenthG-VwV).
Maßgebend für die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis ist die aufgrund von § 18 Abs. 2
AufenthG erlassene BeschV. Diese wurde am 6. Juli 2013 neu gefasst und ersetzt die frühere
BeschV (Antragsteller im Ausland) und BeschVerfV (Antragsteller im Inland).112 Die
Verordnung unterscheidet in die Erlaubnisse, die ohne Zustimmung der Arbeitsagentur (§ 2
bis § 3, § 5, § 7, § 9, § 15, § 22 bis § 24) und in jene, die zustimmungspflichtig sind (§ 4, § 6,
§ 8, § 10 bis 13, § 15a bis § 15c). Dazu kommen noch Rechtsgrundlagen nach § 18a und §
18b (Hochschulabsolventen). Weitgehend wirkungslos geblieben ist § 18a (geduldete
Antragsteller).
Praxisrelevant sind insbesondere die Fälle, in denen die Beschäftigung kraft Gesetzes (§ 4
Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG) erlaubt wird (§ 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs. 3, § 20 Abs.
6, § 22 Satz 3, § 23 Abs. 2 Satz 5, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 27 Abs. 5,
§ 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) sowie § 9 (langjähriger
Aufenthalt), § 11 (Spezialitätenkoch); § 12 (Au Pair) und insbesondere § 26 (keine
Beschränkung auf die in der Verordnung festgelegten Bedingungen für bestimmte
Staatsangehörige).
2.
Verwaltungsverfahren
Ein Aufenthaltstitel berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sofern es nach dem
AufenthG bestimmt ist oder der Aufenthaltstitel die Ausübung einer Erwerbstätigkeit
ausdrücklich erlaubt (§ 4 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Jeder Aufenthaltstitel muss erkennen
lassen, ob die Ausübung einer Beschäftigung erlaubt ist (§ 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). § 39
AufenthG enthält den Grundsatz, dass neben der ausländerbehördlichen Entscheidung über
den aufenthaltsrechtlichen Teil eines Aufenthaltstitels die Entscheidung der
Arbeitsverwaltung über die Zustimmung zur Beschäftigung zu erfolgen hat. Die Entscheidung
über den Aufenthalt und die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ergeht gegenüber dem
Ausländer einheitlich..
Der Antrag auf Ausübung einer Beschäftigung ist bei der örtlich zuständigen
Ausländerbehörde zu stellen. Diese prüft, ob das Zustimmungsverfahren durchzuführen ist
oder nicht. In den Fällen, in denen bereits kraft Gesetzes die Beschäftigung erlaubt wird,
entfällt das Zustimmungsverfahren. Vielmehr vermerkt die Ausländerbehörde auf dem
Aufenthaltsitel die Beschäftigungserlaubnis (§ 4 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG). Der
Vermerki hat lediglich deklaratorische Funktion. In diesen Fällen ist uneingeschränkt auch
die selbstständige Erwerbstätigkeit kraft Gesetzes erlaubt.
112
Überblick über die Neuregelungen Maier-Borst, Asylmagazin 2013, 226.
54
Liegt kein Fall einer kraft Gesetzes erlaubten Erwerbstätigkeit vor, hat die Ausländerbehörde
vor Durchführung des Zustimmungsverfahrens zu prüfen, ob die Beschäftigung erlaubt ist. Ist
dies nicht der Fall, wird kein Zustimmungsverfahren durchgeführt. Die Ausländerbehörde
vermerkt dies im Aufenthaltstitel durch den Zusatz „Erwerbstätigkeit nicht erlaubt“. Findet
kein Erwerbstätigkeitsverbot Anwendung, wird das Zustimmungsverfahren durchgeführt.
Versagt die Arbeitsagentur die Zustimmung, darf die Ausländerbehörde die Beschäftigung
nicht erlauben. Stimmt die Arbeitsverwaltung zu, erteilt die Ausländerbehörde im Rahmen der
pflichtgemäßen Ermessensausübung die Beschäftigungserlaubnis. In die Ermessenserwägung
darf
die
Ausländerbehörde
keine
arbeitsmarktpolitischen,
sondern
lediglich
ausländerpolitische Aspekte einstellen.
Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer
Erwerbstätigkeit der Aufenthaltstitel als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des
Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines
Eilrechtsschutzverfahrens oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung
hat. Damit hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass bis zum Eintritt der Vollziehbarkeit der
Abschiebungsandrohung
nach
Bekanntgabe
etwa
einer
Versagungsoder
Ausweisungsverfügung die Beschäftigungserlaubnis fort gilt. Die Berechtigung, einer
Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist dem Berechtigten zu bescheinigen. 113 Die vorübergehende
Ausreise ist unschädlich.114
3.
Beschäftigungsverbote für geduldete Antragsteller (§ 33 BeschV)
Wie früher § 11 BeschVerfV bestimmt § 33 BeschV, dass geduldeten Ausländern die
Beschäftigung nicht erlaubt werden darf, wenn sie sich in das Inland begeben haben, um
Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen, oder wenn bei diesen Ausländern aus von ihnen
zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können.
Im Hinblick auf die erste Alternative (vgl. auch § 1a Nr. 1 AsylbLG) ist erforderlich, aber
auch ausreichend, dass nach den objektiven Umständen von einem Wissen und Wollen
mindestens im Sinne eines bedingten Vorsatzes ausgegangen werden kann, der für den
Einreiseentschluss von prägender Bedeutung gewesen sein muss.115 Eine derart prägende
Bedeutung kann nicht angenommen werden, wenn dieser Gedankengang für den
Einreiseentschluss lediglich mitursächlich war oder eine untergeordnete Funktion gespielt
hat.116 Ferner muss die Möglichkeit des Angewiesenseins auf Leistungen nach dem AsylbLG
nicht nur mitursächlich, sondern darüber hinaus subjektiv, sei es allein, sei es neben anderen
Gründen, in besonderer Weise prägend gewesen sein. Damit verengt sich diese
Ausnahmebestimmung auf eindeutige, besonders gelagerte Ausnahmefälle. Allein die
qualifizierte Asylablehnung nach § 30 AsylVfG berechtigt nicht zur Anwendung dieser
Ausnahmeklausel. Insoweit war füher etwa nach § 30 Abs. 2 AsylVfG die Furcht vor den
Gefahren eines Bürgerkrieges ausreisebestimmend. Mit Wirkung zum 1. Dezember 2013 ist §
30 Abs. 2 AsylVfG insoweit geändert worden. Die Verletzung verfahrensrechtlicher
Mitwirkungspflichten (§ 30 Abs. 3 AsylVfG) erlaubt noch kein Urteil über die den
Einreiseentschluss prägenden Umstände.
113
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); Nr. 4.3.1 AufenthG-VwV.
BayVGH, InfAuslR 2012, 14 (15).
115
Vgl. BVerwGE 59, 73 (76 f.) = DVBl. 1980, 378; OVG Bremen, InfAuslR 1986, 153 (154); OVG
Hamburg, InfAuslR 1989, 210 (211); OVG NW, InfAuslR 1983, 320; OVG NW, InfAuslR 1988, 85; OVG NW,
B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; OVG Lüneburg, InfAuslR 1984, 147 (148) = NVwZ 1984, 674.
116
OVG Hamburg, InfAuslR 1989, 210 (211); OVG Lüneburg, InfAuslR 1984, 147 (148)= NVwZ 1984,
674.
114
55
Nach § 33 Abs. 1 Nr. 2. BeschV darf die Beschäftigung nicht erlaubt werden, wenn aus von
dem Antragsteller zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht
vollzogen werden können. Zu vertreten haben Antragsteller die Gründe nach Abs. 1 Nr. 2
wenn sie das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über die Identität oder
Staatsangehörigkeit oder durch falsche eigene Angaben selbst herbeigeführt wurde. Dieses
Muster findet sich auch in Altfallregelungen der obersten Landesbehörden und in § 104a Abs.
1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) wie auch in § 25a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), nicht aber mehr
im geplanten § 25a AufenthG-E. Nach Auffassung des BMI darf zwar nach § 25 Abs. 5 Satz 3
und 4 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis auch dann nicht erteilt werden, wenn aus von dem
Antragsteller zu vertretenden Gründen eine Ausreise nicht möglich ist, hingegen der
Versagungsgrund des § 33 Abs. 1 Nr. 2 BeschV erfordert, dass bei dem Antragsteller
aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht vollzogen
werden können. Das bedeute, dass Ausländern, denen zwar die Aufenthaltserlaubnis nach §
25 Abs. 5 AufenthG wegen eines Versagungsgrundes nach § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4
AufenthG nicht erteilt werden könne und die deshalb weiterhin im Besitz einer Duldung
seien, dennoch die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden könne, wenn nicht
gleichzeitig die Unmöglichkeit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung von ihnen
verschuldet werde. Die Beschäftigung könne damit denjenigen Antragstellern erlaubt werden,
die zwar freiwillig ausreisen, aber nicht abgeschoben werden könnten.117
Kann dem Antragsteller nicht der Vorwurf gemacht werden, dass aus von ihm zu vertretenden
Gründen die Abschiebung nicht vollzogen werden kann, so kann die Beschäftigungserlaubnis
nicht mit der Begründung versagt werden, dass aus von ihm zu vertretenden Gründen die
Ausreise nicht möglich ist. Auf die Möglichkeit oder die Voraussetzungen einer freiwilligen
Ausreise kommt es danach nicht an.118 Werden im Blick auf bestimmte Personengruppen
Abschiebungen in das Herkunftsland aufgrund einer generellen Anordnung nach § 60a Abs. 1
AufenthG nicht durchgeführt, hat der Antragsteller die Unmöglichkeit der Abschiebung nicht
zu vertreten. Dass in derartigen Fällen die Ausreise in das Herkunftsland auf eigene Initiative
möglich ist, steht der Erteilung der Beschäftigungserlaubnis nicht entgegen. Nach dem
Wortlaut des § 33 Abs. 1 Nr. 2 BeschV kann die „freiwillige Ausreise“ nicht als
„aufenthaltsbeendende Maßnahme“ qualifiziert werden.119 Ebenso wenig hat es der
Antragsteller zu vertreten, wenn die Abschiebung nicht möglich ist, weil UN-Mitarbeiter die
Rückführung verweigern.120
Für die Anwendung des Versagungsgrundes nach § 33 Abs. 1 Nr. 2 BeschV spitzt sich damit
die Prüfung auf die Frage zu, ob der Antragsteller das ihm Mögliche und Zumutbare zur
Beschaffung eines nationalen Ausreiseausweises unternommen hat. Nicht erst ein aktives, die
Abschiebung hinderndes Verhalten steht danach der Anwendung der Vorschrift entgegen.
Vielmehr findet der Versagungsgrund bereits dann Anwendung, wenn der Antragsteller es
ablehnt, Heimreisedokumente zu beschaffen,121 oder an der Beschaffung entsprechender
Dokumente nicht genügend mitwirkt.122 Dabei reicht allein eine telefonische und schriftliche
Anfrage an die zuständige Auslandsvertretung nicht aus. Hat der Antragsteller im
Asylverfahren vorgetragen, sein Personalausweis und eine Staatsangehörigkeitsurkunde
befänden sich bei ihm im Herkunftsland, gehört zum erschöpfenden Sachvortrag, dass er alles
BMI v. 18. März 2005 an Innenverwaltungen der Länder; Innenministerium NRW v. 24. März 2005.
Nieders.OVG, B. v. 8. 11. 2005 – 12 ME 397/05; VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; VG Braunschweig,
AuAS 2005, 158 (161); VG Frankfurt am Main, InfAuslR 2007, 14 (15); VG Gießen, AuAS 2006, 221.; VG
Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05.
119
VG Koblenz, NVwZ 2005, 724.
120
VG Gießen, AuAS 2006, 221.
121
OVG NW, B. v. 8. 6. 2005 – 17 B 1118/05; Nieders.OVG, B. v. 7. 10. 2005 – 9 ME 82//05; VGH BW,
AuAS 2007, 63 (64 f.).
122
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (224).
117
118
56
Erforderliche und Zumutbare zur Erlangung dieser Urkunden unternommen hat.123 Hat der
Antragsteller jedoch im konkreten, von der Behörde eingeleiteten Passbeschaffungsverfahren
die erforderlichen Mitwirkungshandlungen erfüllt, kann die Beschäftigungserlaubnis nicht mit
dem Einwand versagt werden, die Mitwirkung entbinde nicht von der Verpflichtung zu
weiteren eigenen zumutbaren Anstrengungen zur Beschaffung von Heimreisedokumenten.124
Nur ein gegenwärtiges schuldhaftes und kausal wirkendes Pflichtversäumnis darf danach
berücksichtigt werden Demgegenüber erachtet es die Gegenmeinung für zumutbar, dass der
Antragsteller zur Beibringung von Belegen über seine Herkunft u.a. dritte private Personen
oder einen Vertrauensanwalt vor Ort beauftragt, sofern ihm dies seiner wirtschaftlichen Lage
nach zumutbar ist
Das Verhalten des Ausländers muss kausal für die Aufenthaltsbeendigung sein.125 Daran fehlt
es bei Krankheitsgründen oder in Fällen der generellen Aussetzung der Abschiebung nach §
60a Abs. 1 AufenthG. Daher kommt es in diesen Fällen auf die fehlende Mitwirkung bei der
Passbeschaffung nicht an. Jedenfalls ist insoweit die Ausländerbehörde darlegungs- und
beweispflichtig.126 Genügt die Behörde ihrer Darlegungslast nicht, darf die fehlende
Mitwirkung bei der Passbeschaffung im Rahmen der Ermessensausübung nicht berücksichtigt
(Berücksichtigungsverbot) werden.127 Das zu vertretende Verhalten des Antragstellers muss
fortwirken. Hat der Antragsteller sein Verhalten geändert und wirkt er nunmehr an der
Passbeschaffung mit, besteht kein von ihm zu vertretendes Abschiebungshindernis mehr.
Liegen seine Mitwirkungspflichtverletzungen in der Vergangenheit, wirken aber noch fort
und hindern aufenthaltsbeendende Maßnahmen, kann darin allerdings ein Versagungsgrund
liegen.128 Unter diesen Umständen dürfte für den Einwand des Fortwirkens allerdings die
Behörde beweisbelastet sein.
Ein Versagungsgrund liegt insbesondere vor, wenn der Antragsteller das
Abschiebungshindernis durch Täuschung über seine Identität oder seine Staatsangehörigkeit
oder durch falsche Angaben herbeiführt (§ 33 Abs. 2 BeschV). Es muss sich um
gegenwärtige Verstöße handeln. Entsprechende Angaben im vorangegangenen Asylverfahren
wirken dann nicht fort, wenn der Antragsteller im konkreten Verfahren der Passbeschaffung
wahrheitsgemäße und erschöpfende Angaben macht und an der Aufklärung des Sachverhaltes
aktiv mitwirkt.
Über die beantragte Beschäftigungserlaubnis wird gemäß § 32 Abs. 1 BeschV nach Ermessen
entschieden. § 33 Abs. 2 BeschV bezeichnet wichtige Ausnahmegruppen, bei denen die
Beschäftigungserlaubnis keiner Zustimmung bedarf. Für den Anspruch auch § 18a AufenthG
ist insbesondere § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BeschV von erheblicher Relevanz. Dadurch kann die
Norm vielleicht aus ihrer Gebiurtsstarre erlöst werden. Die Rechtsprechung erachtete es
früher für zulässig, die Versagungsentscheidung auf integrationspolitische Belange zu stützen
und deshalb die Frage, ob ein Versagungsgrund nach § 11 BeschVerfV Anwendung findet,
nicht zu prüfen.129 Die Behörde dürfe die Entscheidung nach § 10 BeschVerfV auch aus
einwanderungspolitischen Erwägungen versagen. Eine Auslegung der Vorschriften der § 10,
§ 11 BeschVerfV, dass im Rahmen der Ermessensausübung einwanderungspolitische
123
VGH BW, InfAuslR 2006, 131 (134 f.)
Nieders.OVG, B. v. 8. 11. 2005 – 12 ME 397/05; VG Hannover, Asylmagazin 6/2005, 44; VG
Sigmaringen, U. v. 14. 6. 2005 – 4 K 468/05; VG Augsburg, B. v. 13. 11. 2002 – Au 6 S 02.1065; a.A.
Hess.VGH, InfAuslR 2006, 453 (454).
125
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (225); OVG NW, AuAS 2006, 143 (143); VGH BW, InfAuslR 2006,
131 (134); VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; VG Frankfurt am Main, InfAuslR 2007, 14 (15).
126
VG Münster, AuAS 2005, 128 (129).
127
VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05; VG Koblenz, NVwZ 2005, 724; a. A. VGH BW,
InfAuslR 2006, 131 (133 f.); VG Karlsruhe, AuAS 2005, 194 (195) = InfAuslR 2005, 320.
128
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (226).
129
OVG NW, B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; so auch Zühlcke, ZAR 2005, 317 (320).
124
57
Erwägungen nur unter den Voraussetzungen des § 11 BeschVerfV berücksichtigt werden
dürften, finde im Gesetz keine Stütze.130 Auf die Frage, ob durch die Beschäftigung eines
geduldeten Ausländers überhaupt eine rechtliche Verfestigung des Aufenthaltes eintreten
könne, komme es nicht an. Entscheidend sei vielmehr, dass eine berufliche Betätigung zu
einer verstärkten Integration in die hiesigen Verhältnisse führe, sei als problematisch
anzusehen. Deshalb stelle die Absicht der Vermeidung einer Aufenthaltsverfestigung eine
sachgerechte Begründung für das Beschäftigungsverbot dar.131
4.
a)
Rechtsschutz
Allgemeines
Folge des einheitlichen Verwaltungsakts (§ 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) ist, dass sich der
Rechtsschutz auch im Blick auf die Beschäftigungserlaubnis im Aufenthaltstitel nach § 40
VwGO richtet, den Verwaltungsgerichten insoweit die früher den Sozialgerichten
zugewiesene sachliche Zuständigkeit für die Überprüfung der Beschäftigungserlaubnis
obliegt. Gegen die Versagung des Beschäftigungserlaubnis kann – in den Bundesländern, die
das Widerspruchsverfahren nicht abgeschafft haben, nach Durchführung des Vorverfahrens
(§ 68 VwGO) - Verpflichtungsklage erhoben werden. Der Widerspruch muss nicht jeweils
wiederholt werden, wenn die beantragte Geltungsdauer des Aufenthaltstitels während des
gerichtlichen Verfahrens abläuft und der Antrag unverändert auf Erteilung eines
Aufenthaltstitels zur Ausübung einer Beschäftigung gerichtet bleibt.132
Da die Arbeitsverwaltung nach außen nicht in Erscheinung tritt, sondern nach § 18 in Verb.
mit § 39 Abs. 1 AufenthG nur im verwaltungsinternen Zustimmungsverfahren beteiligt ist,
können gegen die Arbeitsverwaltung keine Rechtsmittel eingelegt werden. Nach geltendem
Recht sind deshalb die Verwaltungsgerichte zuständig. Die Verwaltungsgerichte müssen
inzidenter auch die ihnen an sich fachfremde Materie des Arbeitsgenehmigungsrechts mit
behandeln. Da die Ausländerbehörde bei der Erteilung des Aufenthaltstitels an die
Zustimmung sowie die mit der Zustimmung verbundenen Vorgaben, wie etwa Befristung,
bestimmter Betrieb, gebunden ist (§ 39 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), die Ausländerbehörde zu
abweichenden Entscheidung mithin nicht gerichtlich verpflichtet werden kann, ist die
Bundesagentur für Arbeit notwendig im Verwaltungsstreitverfahren beizuladen (§ 65 Abs. 2
VwGO) und auf Antrag durch das Verwaltungsgericht zur Erteilung der Zustimmung zu
verpflichten. Da die Ausländerbehörde die Bundesagentur für Arbeit beteiligen muss, ist diese
im Prozess notwendig beizuladen (§ 65 Abs. 2 VwGO). Die Beiladung entfällt in den
zustimmungsfreien Fällen.
b)
Form des Rechtsschutzes im Hauptsacheverfahren
aa)
Beschäftigungserlaubnis kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG)
Die Form des Rechtsschutzes ist abhängig von dem Verhältnis zwischen dem Aufenthaltstitel
und der arbeitsgenehmigungsrechtlichen Berechtigung. Zu unterscheiden ist in die Fälle, in
denen der Aufenthaltstitel kraft Gesetzes (§ 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs. 3, § 20 Abs. 6, §
22 Satz 3, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 31 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz
2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) die Erwerbstätigkeit erlaubt (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt.
AufenthG), in die Fälle der Erteilung des Aufenthaltstitels zur Erwerbstätigkeit (§ 4 Abs. 2
Satz 1 2. Alt. AufenthG) und in die Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3
AufenthG. Insoweit ist der Rechtsschutz jeweils unterschiedlich gestaltet.
OVG NW, B. v. 9. 11. 2005 – 17 B 1585/05; wohl auch BayVGH, B. v. 10. 3. 2006 – 24 CE 05.2685,
24 C 05.2686.
131
Hess.VGH, B. v. 28. 1. 2005 – 9 ZU 1412/04; a.A. VG Braunschweig, AuAS 2005, 158 (160).
132
BSG, EZAR 310 Nr. 1; BSG, EZAR 310 Nr. 2.
130
58
In den Fällen des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG (z. B. § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., § 16 Abs.
3, § 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 31 Abs. 1 Satz 2,
§ 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) wird ein Aufenthaltstitel erstrebt, der zu
anderen Zwecken als den der Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt, zugleich aber kraft
Gesetzes die Erwerbstätigkeit erlaubt. Die Rechtsprechung des BVerwG zum Charakter der
früheren arbeitsgenehmigungsrechtlichen Nebenbestimmung kann auf diesen Fall keine
Anwendung finden. Denn bei der modifizierenden Auflage ist zu fragen, ob die Behörde eine
potenziell verbindliche Rechtsfolge gesetzt hat, d.h. ob durch die behördliche Regelung
Rechte begründet, geändert, aufgehoben oder verbindlich festgestellt werden oder die
Begründung, Änderung, Aufhebung oder verbindliche Feststellung solcher Rechte mit
Außenwirkung abgelehnt wird. Eine derart potenziell verbindliche Regelung kann auch dann
anzunehmen sein, wenn eine generelle und abstrakte Regelung des Gesetzes für den Einzelfall
mit Bindungswirkung als bestehend oder nicht bestehend festgestellt, konkretisiert oder
individualisiert wird.133
Es gibt keine offenen Voraussetzungen, die durch Nebenbestimmung geregelt werden
könnten. Lediglich wegen der Bezeichnungspflicht in § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist die
Behörde gehalten, die arbeitsgenehmigungsrechtliche deklaratorische Folge in dem
Aufenthaltstitel zum Ausdruck zu bringen. Erteilt die Ausländerbehörde antragsgemäß den
begehrten Aufenthaltstitel, verweigert sie aber die Vornahme des nach § 4 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vorgeschriebenen klarstellenden Hinweises, lassen Rechtsmittel gegen die
Versagung des arbeitsgenehmigungsrechtlichen Hinweises die Wirksamkeit des
Aufenthaltstitels unberührt. Es kann sich auch aus diesem Grund nicht um eine
modifizierende Auflage handeln. Da andererseits eine kraft Gesetzes nicht einschränkbare
Erlaubnis zur Ausübung der Beschäftigung erstrebt wird, kann mit Ausnahme der
Fallgestaltungen nach § 29 Abs. 5 1. HS AufenthG nicht um den Erlass einer Auflage
gestritten werden.
Der arbeitgenehmigungsrechtliche Teil des Aufenthaltstitels nach § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt.
AufenthG ist damit im Regelfall weder eine selbständige noch eine modifizierende Auflage,
sondern zwingender, freilich lediglich deklaratorisch wirkender Inhalt des Anspruchstitels.
Der Rechtsschutz im Falle des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG zielt auf die Verpflichtung
zur vollständigen deklaratorischen Bezeichnung des bestehenden Rechtsanspruchs gemäß § 4
Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Daher ist Verpflichtungsklage mit dem Ziel zu erheben, die Behörde
zu verpflichten, den nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erforderlichen Hinweis in dem
Aufenthaltstitel zu vermerken, dass der Begünstigte aufgrund des erteilten Aufenthaltstitels
kraft Gesetzes berechtigt ist, jede selbständige und unselbständige Erwerbstätigkeit
auszuüben. In den Fällen des § 29 Abs. 5 1. Hs. AufenthG, in denen durch Auflage die
Grenzen der erlaubten Beschäftigung festzulegen sind, kann durch Verpflichtungsklage der
Erlass einer entsprechenden, rechtlich vom Aufenthaltstitel unabhängigen Auflage
durchgesetzt werden. Eilrechtsschutz ist gemäß § 123 VwGO zu erlangen.
bb)
Aufenthaltstitel zur Ausübung der Beschäftigung (§ 4 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. AufenthG)
Bei § 4 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG zielt der Rechtsschutz auf die Verpflichtung zur
Erteilung des Aufenthaltstitels nach §§ 18 ff. AufenthG mit gleichzeitiger Festlegung von Art
und Umfang der Beschäftigungserlaubnis. Eine davon losgelöste Verpflichtung zum Erlass
einer die Erwerbstätigkeit regelnden Auflage ist nicht möglich, weil der Aufenthaltstitel nach
§§ 18 ff. AufenthG ohne die inhaltlich konkretisierte Erlaubnis zur Ausübung der
Beschäftigung nicht ergehen kann.
133
BVerwGE 79, 291 (293) = EZAR 222 Nr. 7 = NVwZ 1988, 941 = InfAuslR 1988, 251.
59
cc)
Rechtsschutz gegen „auflösende Bedingung“
In der Verwaltungspraxis wurde früher die Aufenthaltsgenehmigung in ihrer
Rechtswirksamkeit häufig unmittelbar von der Befolgung einer Nebenbestimmung abhängig
gemacht. In diesem Fall führte der gewillkürte Wechsel des Arbeitgebers, die unanfechtbare
Kündigung durch den Arbeitgeber, der Aufhebungsvertrag oder das anderweitig beendete
Arbeitsverhältnis unmittelbar zur Beendigung des Aufenthaltsrechtes mit der Folge des
Eintritts der Ausreisepflicht.134 Eine derartige Bedingung, welche die Rechtswirksamkeit des
erteilten Aufenthaltstitels von dem Fortbestand des einmal eingegangenen
Arbeitsverhältnisses abhängig macht, ist eine auflösende Bedingung im Sinne des § 36 Abs. 2
Nr. 2 VwVfG. Die den Verwaltungsakt auflösende Bedingung ist in diesem Fall die
Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Ist diese auflösende Bedingung einmal eingetreten, ist
der Verwaltungsakt unwirksam geworden (vgl. auch § 158 Abs. 2 BGB) und kann später
nicht mehr, auch nicht aufgrund eines Rechtsbehelfs wieder aufleben.135
Der Verordnungsgeber geht offensichtlich davon aus, dass § 4 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. AufenthG
die Fortsetzung dieser Verwaltungspraxis erlaubt. Denn nach § 35 Abs. 4 BeschV erlischt die
Zustimmung mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn sie nur für ein bestimmtes
Beschäftigungsverhältnis erteilt worden ist. Beschränkungen bei der Erteilung der
Zustimmung sind in dem Aufenthaltstitel zu übernehmen (§ 18 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies
spricht dafür, dass die Ausländerbehörde die in der Zustimmung enthaltene auflösende
Bedingung im Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG übernimmt.
Zwar erlischt nach der Rechtsprechung mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses der
Aufenthaltstitel. Die Frage der Berechtigung der Kündigung sei für das Aufenthaltsrecht
jedenfalls so lange irrelevant, wie nicht eine arbeitsgerichtliche Entscheidung vorliege, die das
Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses feststelle.136 Daraus ist im Umkehrschluss zu folgern,
dass die Ausländerbehörde sich nach dem rechtlichen Wirksamwerden der Kündigung nicht
unmittelbar auf den Eintritt der auflösenden Bedingung berufen kann. Vielmehr ist vor
Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zunächst abzuwarten, bis eine
arbeitsgerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Kündigung ergangen ist.
Unzulässig ist diese Praxis in den Fällen des § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. und Satz 3 AufenthG.
Im ersteren Fall ist kraft Aufenthaltstitel der uneingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt
sicherzustellen. Wird das Beschäftigungsverhältnis aufgelöst, bleibt hiervon sowohl der
Aufenthaltstitel wie die Beschäftigungserlaubnis unberührt. Im zweiten Fall ist der aus
humanitären oder zum Zwecke des Nachzugs erteilte Aufenthaltstitel in seinem Bestand von
der Ausübung einer Beschäftigung unabhängig. Eine den Bestand unmittelbar aufhebende
akzessorische Nebenbestimmung widerspricht damit dieser Vorschrift.
Eine isolierte Anfechtung der Nebenbestimmung nach Eintritt der auflösenden Bedingung ist
nicht möglich.137 Denn in diesem Fall ist auch der Haupt-Verwaltungsakt rechtlich erloschen.
Fraglich ist, ob die auflösende Bedingung unmittelbar im Anschluss an ihren Erlass
anfechtbar ist. Die Anfechtung der auflösenden Bedingung hat keinen Einfluss auf den
Bestand des von der Behörde mit sofortiger Wirkung verfügten Bescheides. Da es bei der
Beschäftigungserlaubnis nach § 17 bis § 20 AufenthG jedoch um Ermessensverwaltung geht,
sollte mit der Behörde im Verhandlungswege vor Erteilung der auflösenden Bedingung oder
134
OVG Frankfurt (Oder), NVwZ-RR 1999, 146; s. auch BAG, InfAuslR 2000, 296.
BVerwGE 89, 357 (359) = NVwZ 1992, 570.
136
OVG SH, InfAuslR 2004, 342.
137
OVG SH, InfAusl 2004, 342; A. A. OVG NW, NVwZ 1993, 488; offen gelassen in BVerwGE 89, 357
(359) = NVwZ 1992, 570.
135
60
vor der Verwirklichung des Entschlusses, den Arbeitsgeber zu wechseln, eine weniger
restriktive Lösung ausgehandelt werden.
Ist die Behörde hierzu nicht bereit und der Antragsteller bereits über mehrere Jahre im Besitz
des Aufenthaltstitels mit auflösender Bedingung, kann unter Berufung auf den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bescheidungsklage mit dem Ziel erhoben werden, den
Aufenthaltstitel mit der inhaltlich im Einzelnen zu bestimmenden Beschäftigungserlaubnis
ohne auflösende Bedingung zu verlängern. Spätestens nach Ablauf von fünf Jahren (vgl. § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) ist die Beifügung einer auflösenden Bedingung unzulässig.
Einstweiliger Rechtsschutz ist wegen des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache wenig
Erfolg versprechend. Der Betroffene muss sich deshalb für die Dauer des anhängigen
Verwaltungsstreits mit der bereits erteilten auflösenden Bedingung begnügen.
Muster..:
Verpflichtungsklage auf Aufhebung der auflösenden Bedingung im Blick auf die
Beschäftigungserlaubnis
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des tunesischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Der Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung der Verfügung des Landkreises vom in
Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums vom dem Kläger eine
Aufenthaltserlaubnis mit der Auflage „selbständige Erwerbstätigkeit oder vergleichbare
nichtselbständige Erwerbstätigkeit nicht gestattet“ zu erteilen.
dd) Rechtsschutz gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis (§ 4 Abs. 2 Satz 3
AufenthG)
Ebenso wie der rechtliche Charakter der Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3
AufenthG ist der hiermit zusammenhängende Rechtsschutz umstritten. Wird die begehrte
Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG verweigert, bleibt es beim
bisherigen Aufenthaltsstatus. Kraft Gesetzes ist die Beschäftigung untersagt.138 Die bloße
Beseitigung des Vermerks „ Erwerbstätigkeit nicht gestattet“ führt als solche nicht bereits zu
der begehrten und benötigten Rechtskreiserweiterung.139 Vielmehr bedarf es einer
ausdrücklichen die Beschäftigung zulassenden Einzelfallregelung. Der Belastete macht sich
für den Fall der Arbeitsaufnahme ohne eine derartige Regelung strafbar, ohne dass es einer
besonderen behördlichen Verfügung bedürfte. Will er gegen die Versagung der begehrten
Beschäftigungserlaubnis vorgehen, hilft ihm die Anfechtungsklage nicht weiter.140 Denn
wegen § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist eine belastende Auflage denklogisch nicht möglich. Es
wird vielmehr die Anordnung eines begünstigenden Verwaltungsaktes begehrt.
Daher ist Verpflichtungsklage in Form der Bescheidungsklage (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2
VwGO) auf Erteilung der begehrten Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 3
AufenthG zu erheben. Die Bundesagentur ist notwendig beizuladen. Stützt die
138
VGH BW, InfAuslR 2006, 131 (132); VG Karlsruhe, AuAS 2005, 194 (195) = InfAuslR 2005, 320; VG
Braunschweig, AuAS 2005, 158 (160); VG Sigmaringen, U. v. 14. 6. 2005 – 4 K 468/05.
139
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223).
140
Zühlcke, ZAR 2005, 317 (322).
61
Ausländerbehörde die Versagung der Beschäftigungserlaubnis auf die fehlende Zustimmung,
beruft sich auf Rechtsgründe, sodass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachund Rechtslage der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz
ist.141 Hat die Bundesagentur für Arbeit bereits ihre Zustimmung erteilt und wird die
Beschäftigungserlaubnis ausschließlich auf ausländerrechtliche Gesichtspunkte gestützt,
entfällt die Beiladung. Die Ausländerbehörde darf die begehrte Beschäftigungserlaubnis nicht
mit der Begründung ablehnen, die Arbeitsverwaltung habe zu Unrecht ihre Zustimmung
erteilt.142
Muster..: Bescheidungsklage gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des marokkanischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht.
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer
Beschäftigungserlaubnis mit dem Inhalt, dass ihm die Beschäftigung bei der Firma XY als
Gabelstapelfahrer gestattet wird, nach Maßgabe der Rechtsauffassung des
Verwaltungsgerichtes zu entscheiden.
c)
Begründungsanforderungen an den Eilrechtsschutz
aa)
Eilrechtsschutz gemäß § 123 VwGO wegen Versagung der beantragten
Beschäftigungserlaubnis
In allen Fallgestaltungen ist einstweiliger Rechtsschutz gegen die Versagung der beantragten
Beschäftigungserlaubnis gemäß § 123 VwGO beim Verwaltungsgericht zu beantragen.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Verwaltungsgericht zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes im Blick auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige
Anordnung erlassen, wenn diese Regelung erforderlich ist, um wesentliche Nachteile von dem
Antragsteller abzuwenden. Der Anordnungsgrund wie auch der Anordnungsanspruch sind
glaubhaft zu machen. § 123 Abs. 5 VwGO hindert nicht den Eilrechtsschutz nach § 123
VwGO bezogen auf die Beschäftigungserlaubnis, wenn zugleich im aufenthaltsrechtlichen
Verfahren der Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen ist.143
Im Blick auf den Anordnungsgrund ist glaubhaft zu machen, dass der Antragsteller aus Zeitund Gründen des effektiven Rechtsschutzes nicht auf den Weg der Verpflichtungsklage
verwiesen werden kann. Dazu ist erforderlich, dass dargetan und glaubhaft gemacht wird,
dass der Beginn des vom Antragsteller angestrebten Arbeitsverhältnisses unmittelbar
bevorsteht. In diesem Fall greift insbesondere bei Ausbildungsverhältnissen ein besonders
dringliches Interesse zugunsten des Antragstellers durch.144 Wird nicht glaubhaft gemacht,
dass der Arbeitsplatz noch zur Verfügung steht, fehlt es am Anordnungsgrund. 145 Ein
schützwürdiges Interesse besteht auch bei einer drohenden Kündigung infolge des Ablaufs der
141
142
143
144
145
VG Karlsruhe, B. v. 4. 1. 2006 – 4 K 2142/05.
VG Karlsruhe, B. v. 4. 1. 2006 – 4 K 2142/05.
VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (61).
VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05.
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (224).
62
Beschäftigungserlaubnis.146 Führt die Ausreise mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass der
geltend gemachte Anspruch vom Ausland aus nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden
kann, besteht ein besonders dringliches Interesse an einer vorläufigen Regelung.147
Im Blick auf den Anordnungsanspruch scheitern im Eilrechtsschutzverfahren die Mehrzahl
der Anträge, weil die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis mit Ausnahme der in § 4 Abs. 2
Satz 1 1. Alt. AufenthG geregelten Fälle regelmäßig im behördlichen Ermessen liegt. Leidet
die behördliche Entscheidung am Ermessensmangel, kann im Eilrechtsschutz erreicht werden,
dass zumindest eine erneute Entscheidung im Ermessenswege getroffen werden muss.148
Voraussetzung für eine den Anspruch auf eine ermessensfehlerhafte Entscheidung sichernde
einstweilige Anordnung ist die Glaubhaftmachung eines Ermessensfehlers bei Ablehnung
oder Unterlassung der begehrten Behördenentscheidung und die gerichtliche Prognose anhand
der vorgebrachten oder sonst wie ersichtlichen Tatsachen, dass die ermessensfehlerfreie (Neu)
Bescheidung der Behörde mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Erteilung der
Beschäftigungserlaubnis führen wird.149
Mit der einstweiligen Anordnung kann allerdings nur eine vorübergehende Regelung
getroffen werden. Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist daher grundsätzlich unzulässig.150
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist dann zu machen, wenn der geltend gemachte
Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist (Annordnungsanspruch) und dem Antragsteller im
Falle der Nichterfüllung des geltend gemachten Anspruchs bis zum Ergehen einer
Entscheidung in der Hauptsache unzumutbare Nachteile drohen (Anordnungsgrund).151 Eine
lediglich auf die vorläufige Beschäftigung gerichtete einstweilige Anordnung bis zur
Entscheidung in der Hauptsache äußert keine auch im Hauptsacheverfahren irreversiblen
Wirkungen für die Zukunft und ist deshalb zulässig.152 Vielmehr kann die Ausländerbehörde
mit einer rechts- und ermessensfehlerfreien Hauptsachentscheidung den status quo ante
wiederherstellen.153
Muster..: Eilrechtsschutzantrag gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des marokkanischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht.
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO anzuordnen, dass dem
Antragsteller bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren eine Beschäftigungserlaubnis
mit dem Inhalt erteilt wird, dass ihm die beantragte Beschäftigung bei der Firma XY als
Gabelstapelfahrer vorläufig erlaubt ist.
146
147
148
149
150
151
152
153
VG Koblenz, NVwZ 2005, 724 (725).
VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (379).
VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (380); VG Koblenz, NVwZ 2005, 724.
Vgl. VGH BW, InfAuslR 2000, 378 (380).
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223); BayVGH, B. v. 10. 3. 2006 – 24 CE 05.2685, 24 C 05.2686.
VG Koblenz, NVwZ 2005, 724.
OVG NW, InfAuslR 2006, 222 (223); VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05.
VG Sigmaringen, B. v. 25. 8. 2005 – 8 K 1285/05.
63
bb)
Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bei Änderung oder Aufhebung der
Beschäftigungserlaubnis
Anders ist die prozessuale Situation, wenn der Antragsteller sich gegen die Änderung oder
Aufhebung der bestehenden Beschäftigungserlaubnis wenden will. In diesen Fällen hat der
Rechtsbehelf gegen die behördliche Verfügung nach § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG
aufschiebende Wirkung. Insoweit bleibt es damit bei der früheren Rechtslage. Die Änderung
oder Aufhebung der Beschäftigungserlaubnis setzt jedoch deren wirksamen Bestand voraus.
Ist eine Beschäftigungserlaubnis noch nie erteilt worden oder ist sie aufgrund der ihr
innewohnenden zeitlichen oder sachlichen Begrenzung erloschen, kann der Rechtsschutz
nicht über § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nur über § 123 VwGO erlangt werden.154
cc)
Eilrechtsschutz zur Sicherstellung der Beschäftigungserlaubnis während des
aufenthaltsrechtlichen Rechtsschutzverfahrens (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG)
Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt der Aufenthaltstitel für Zwecke der Aufnahme oder
Ausübung einer Beschäftigung als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des
Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines gerichtlichen
Verfahrens über einen zulässigen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung
hat (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dadurch, dass für die jeweils bezeichneten Zeiträume das
Fortbestehen des Aufenthaltstitels (nur) zum Zwecke der Ausübung einer Erwerbstätigkeit
fingiert wird, wird der nach § 4 Abs. 2 und 3 AufenthG erforderliche Zusammenhang
zwischen Aufenthaltstitel und Beschäftigungserlaubnis gewahrt.155 Eine vor dem 1. Januar
2005 erteilte Arbeitserlaubnis bzw. Arbeitsberechtigung behält ihre Gültigkeit bis zum Ablauf
ihrer Gültigkeitsdauer bzw. gilt unbefristet fort (§ 105 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG). Für
diese Fälle bedarf es bis zum Eintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nicht der
Fortgeltungsfiktion des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, da die Beschäftigungserlaubnis
unmittelbar aus § 105 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG folgt. Vorübergehende Ausreisen sind
unschädlich.156 Die Wiedereinreise nach Bekanntgabe der Versagungsverfügung wird aber
wegen Erlöschens des Aufenthaltstitels nicht zugelassen.
Die Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist nicht auf solche Fälle beschränkt, in
denen nach Versagung des Verlängerungsantrags die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4
AufenthG entfallen ist. Vielmehr kommt die – auf Zwecke der Erwerbstätigkeit
eingeschränkte – Regelung über die Fortbestehensfiktion des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
nach ihrem systematischen Zusammenhang sowie ihrem Sinn und Zweck auch in
Ausweisungsfällen in Betracht, in denen die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs
durch eine gerichtliche Entscheidung wiederhergestellt worden ist.157
Über die Berechtigung, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, ist eine Bescheinigung auszustellen.
Zwar enthält das Gesetz hierzu keine ausdrücklichen Regelungen. Doch ergibt sich dieser
Anspruch mittelbar aus § 4 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG, in den Altfällen aus §
105 Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 in Verb. mit § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Wegen der in § 4
Abs. 2 Satz 2 AufenthG geregelten Nachweispflicht besteht ein anzuerkennendes Bedürfnis
des Betroffenen, dass ihm die Ausländerbehörde gegebenenfalls die Berechtigung zur
Ausübung einer Beschäftigung in geeigneter Form bescheinigt. Dieses Recht kann
gegebenenfalls mit dem einstweiligen Anordnungsantrag (§ 123 VwGO) durchgesetzt
werden.158
Zühlcke, ZAR 2006, 317 (322).
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); OVG NW, AuAS 2007, 158 = ZAR 2007, 251.
156
BayVGH, InfAuslR 2012, 14 (15).
157
VGH BW, AuAS 2003, 232 (234).
158
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); OVG NW, AuAS 2007, 158 = ZAR 2007, 251; VG Aachen,
InfAuslR 2006, 456 (457); VG Magdeburg, InfAuslR 2008, 259.
154
155
64
Muster:
Eilrechtsschutzantrag auf Bescheinigung der Fortbestehensfiktion
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des türkischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht.
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu
verpflichten, dem Antragsteller eine Bescheinigung auszustellen, dass ihm nach § 84 Abs.
2 Satz 2 AufenthG erlaubt ist, bis zur Entscheidung über seinen Eilrechtsschutzantrag auf
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom … gegen die
Verfügung des Landrates … vom… eine Beschäftigung auszuüben
- alternativ: bis zur unanfechtbaren Entscheidung über seine Klage gegen die Verfügung
des Kreises…vom …eine Beschäftigung auszuüben.
dd)
Eilrechtsschutz gegen Beschäftigungsverbot bei geduldeten Antragstellern
Will ein geduldeter Ausländer erreichen, dass die ihm erteilte Duldungsbescheinigung um
eine Erlaubnis zur Beschäftigung erweitert wird, ist Rechtsschutz im Wege eines Antrags auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung und im Hauptsacheverfahren im Wege der
Verpflichtungsklage zu erreichen. Ein Anordnungsgrund besteht etwa dann, wenn der
Antragsteller bereits in einem Arbeitsverhältnis steht und dieses im Falle der Versagung der
beantragten Erlaubnis beendet zu werden droht. Ein Anordnungsanspruch setzt eine
Ermessensreduzierung auf Null voraus. Ist das nicht der Fall, kann im
Eilrechtsschutzverfahren ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gegeben
sein.159
Muster: Eilrechtsschutzantrag gegen die Versagung der Beschäftigungserlaubnis
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des türkischen Staatsangehörigen
gegen
Land
wegen Ausländerrecht.
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu
verpflichten, dem Antragsteller vorläufig eine Beschäftigungserlaubnis zur Ausübung
einer Beschäftigung bei der Firma …gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erteilen, bis
in der Hauptsache über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung der
Beschäftigungserlaubnis entschieden ist.
ee)
Eilrechtsschutz gegen Rücknahme oder Widerruf der Beschäftigungserlaubnis
OVG NW, AuAS 2006, 143; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 2007, 494; OVG Rh-Pf, B. v. 4. 6. 2007 – 7 B
10282/07, beide Verpflichtungsklage gegen Beschäftigungsverbot.
159
65
Zwar regelt § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG unmittelbar nur den Rechtsschutz gegen die
Änderung oder Aufhebung einer Nebenbestimmung zur Ausübung einer Beschäftigung.
Allgemein wird davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber die Konsequenzen der Regelungen
in § 4 Abs. 2 und 3 AufenthG bei der erst im Vermittlungsverfahren eingefügten Regelung
des § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG nicht ausreichend bedacht habe. Da eine
Beschäftigungserlaubnis nach allgemeiner Auffassung als selbständiger Verwaltungsakt und
nicht als Nebenbestimmung ergeht, wird deshalb teilweise eine erweiternde oder analoge
Anwendung des § 84 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG auf die selbständige Beschäftigungserlaubnis
vorgeschlagen.160 Teilweise wird von einem redaktionellen Versehen des Gesetzgebers
ausgegangen und deshalb die Vorschrift unmittelbar auf den Entzug oder die Rücknahme der
Beschäftigungserlaubnis angewandt.161 Auch der Widerruf und die Rücknahme der einer
Duldung beigefügten (selbständigen) Beschäftigungserlaubnis unterfällt nach dieser Ansicht
der Vorschrift des § 84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG.
In der Konsequenz dieser Ansicht liegt es, dass in der Hauptsache Widerspruch und Klage
gegen den Widerruf oder die Rücknahme der Beschäftigungserlaubnis einzulegen bzw. zu
erheben und im Eilrechtsschutzverfahren der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung des Rechtsbehelfs gegen den Widerruf bzw. die Rücknahme der
Beschäftigungserlaubnis zu stellen ist. Die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes
entfällt. Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache stellt sich nicht. Es findet lediglich
eine summarisch ausgerichtete Interessenabwägung statt. Wer diesen Weg nicht gehen und §
84 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG auf den Widerruf bzw. die Rücknahme der
Beschäftigungserlaubnis nicht anwenden will, muss im Eilrechtsschutzverfahren nach § 123
VwGO vorgehen.
II.
Türkische Arbeitnehmer
Das AufenthG verweist in § 4 Abs. 1 und Abs. 5 auf das spezifische Assoziationsrecht für
türkische Arbeitnehmer. Ebenso bestimmt § 15 BeschVerfV, dass günstigere Regelungen des
Beschlusses ARB 1/80 unberührt von den Beschränkungen dieser Verordnung bleiben. Dies
ist dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes geschuldet. Das Assoziationsrecht
schafft keine besonderen Vorschriften für diese Personengruppe, soweit es um den Zugang
zum Arbeitsmarkt geht. Dieser regelt sich auch für türkische Staatsangehörige nach den
allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften. Erst wenn nach diesen der Zugang zum
Arbeitsmarkt eröffnet wird, findet das Assoziationsrecht Anwendung.
1. Funktion von Art. 6 ARB 1/80
In diesem Zusammenhang gewinnt der Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates
(Assoziationsratsbeschluss – ARB Nr. 1/80) eine besondere Bedeutung. Nach Art. 36 des
Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 zum Assoziierungsabkommen ist in
verfahrensrechtlicher Hinsicht bestimmt worden, dass der nach Art. 6 und 22 des Abkommens
errichtete Assoziationsrat EWG/Türkei die für die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit
erforderlichen Regelungen festlegen soll. Der Assoziationsrat hatte zunächst im Jahre 1976
den Beschluss Nr. 2/76 erlassen, der nach seinem Art. 1 eine erste Stufe der Freizügigkeit der
Arbeitnehmer zwischen der EG und der Türkei bildet. Am 19. September 1980 erließ der
Assoziationsrat sodann den Beschluss Nr. 1/80 (Assozitionsratsbeschluss – ARB 1/80), der zu
einer besseren Regelung zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen führen
soll und den Beschluss Nr. 2/76 ersetzt. Der Beschluss ARB 1/80 begründet zwar keinen
160
161
Michael Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG II - § 84 AufenthG Rdn.20.
Britta Bartelheim, InfAuslR 2005, 458 (461 f.).
66
Einreiseanspruch. Vielmehr richten sich Einreise und Aufenthalt von türkischen
Staatsangehörigen weiterhin nach innerstaatlichem Recht.
Der Beschluss ARB 1/80 verstärkt über bestimmte Zeitphasen schrittweise das
Aufenthaltsrecht bis hin zur Verfestigung. Nach anfänglichen Unsicherheiten in der Praxis ist
durch die Rechtsprechung des EuGH klargestellt worden, dass ARB-Beschlüsse einen
integrierenden Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung bilden und daher in den Mitgliedstaaten
unmittelbare Wirkung haben.162 Art. 6 und 7 ARB 1/80 regeln zwar nur die
beschäftigungsrechtliche und nicht die aufenthaltsrechtliche Stellung des Arbeitnehmers. Da
beide Aspekte indes eng miteinander verbunden sind, kann sich ein türkischer Arbeitnehmer
zur Begründung seines Verlängerungsantrags gegenüber der Ausländerbehörde deshalb
unmittelbar auf diesen Beschluss berufen.163 Dies wird auch durch § 4 Abs. 1 AufenthG
bestätigt. Allerdings trifft den türkischen Arbeitnehmer eine Nachweispflicht in Ansehung der
tatbestandlichen Voraussetzungen seines Anspruchs (§ 4 Abs. 5 Satz 1 AufenthG).
2. Voraussetzungen des Aufenthaltsrechtes nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80
Ein zum regulären Arbeitsmarkt zugelassener türkischer Arbeitnehmer hat nach Art. 6 Abs. 1
erster Spiegelstrich ARB 1/80 nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung bei
demselben Arbeitnehmer Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis. Nach drei Jahren
ordnungsgemäßer Beschäftigung erhält er gemäß Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB
1/80 das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein
anderes Stellenangebot zu bewerben, wobei allerdings Gemeinschaftsangehörigen bei der
Arbeitssuche Vorrang zukommt. Nach vier Jahren erhält der türkische Arbeitnehmer nach
Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 schließlich das Recht auf freien Zugang zu jeder
von ihm gewählten unselbständigen Beschäftigung. Gemeinschaftsangehörige sind ihnen
gegenüber dann nicht mehr bevorrechtigt.164
Bis zur Erreichung der Position nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 besteht eine
Bindungswirkung
des
Erneuerungsanspruchs
an
die
Fortdauer
des
Beschäftigungsverhältnisses. Der EuGH hat wiederholt entschieden, dass die in Art. 6 Abs. 1
ARB 1/80 verliehenen Rechte nach der Dauer einer ordnungsgemäßen Beschäftigung im
Lohn- oder Gehaltsverhältnis in abgestufter Weise erweitert werden und bezwecken, die
Situation der Betroffenen im jeweiligen Mitgliedstaat schrittweise zu verfestigen. Aus der
Systematik und der praktischen Wirksamkeit des mit Art. 6 Abs. 1 ARB 180 geschaffenen
Systems einer abgestuften Eingliederung der türkischen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt
des Mitgliedstaates, folge, dass die in den drei Gedankenstrichen dieser Bestimmung jeweils
aufgestellten Bedingungen von den Betroffenen nacheinander erfüllt werden müssten.165
Der Gerichtshof hat deshalb ausdrücklich festgestellt, dass die Inanspruchnahme der Rechte,
die einem türkischen Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80
zustehen, grundsätzlich voraussetzt, dass dieser zuvor den Tatbestand des Art. 6 Abs. 1
zweiter Spiegelstrich ARB 1/80Abs. 1 erfüllt hat. Somit könne ein türkischer
Wanderarbeitnehmer generell ein Recht nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80
nicht allein aufgrund der Tatsache geltend machen, dass er im Mitgliedstaatmehr als vier
162
EuGH, NVwZ 1991, 255 (256) = EZAR 811 Nr. 11 = InfAuslR 1991, 2 – Sevince; EuGH, NVwZ 1993,
258 (260 f.) = EZAR 810 Nr. 7 – Kus; EuGH, InfAuslR 2003, 41= AuAS 2003, 134 – Kurz; EuGH, NVwZ
2007, 187 (188) – Güzeli; so auch BVerwGE 97, 301 (304) = NVwZ 1995, 1110; so auch die Allgemeinen
Anwendungshinweise des BMI, InfAuslR 2002, 349 (350).
163
EuGH, NVwZ 1995, 53 (54) = EZAR 814 Nr. 4 – Eroglu; EuGH, NVwZ 1995, 1093 (1094) = EZAR
811 Nr. 23 = InfAuslR 1995, 261 – Bozkurt; EuGH, NVwZ 1997, 677 (678) = EZAR 811 Nr. 29 – Tetik.
164
Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1222);
165
EuGH, InfAuslR 2006, 106 (§ 37) – Sedef.
67
Jahre lang rechtmäßig eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, wenn er
nicht, erstens, mehr als ein Jahr bei demselben Arbeitgeber und, zweitens, zwei weitere Jahre
für diesen gearbeitet habe.166 Die Erreichung der nächst höheren Integrationsstufe setzt
danach voraus, dass das Beschäftigungsverhältnis noch besteht. Wer vor Erreichung der
dritten Verfestigungsstufe den Arbeitgeber wechselt, dessen Anwartschaft beginnt mit Beginn
des nunmehr eingegangenen Arbeitsverhältnisses von vorn, d.h. er muss nach dem
Arbeitgeberwechsel erneut drei Jahre warten, um die dritte Verfestigungsstufe zu erreichen.
Erreicht der Arbeitnehmer die zweite Verfestigungsstufe nicht, weil er unverschuldet
arbeitslos wird, bleibt ihm die erworbene und zu sichernde Anwartschaft erhalten. Nicht erst
nach dem Erreichen der zweiten, sondern bereits nach dem Erreichen der ersten
Verfestigungsstufe findet Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 Anwendung. Unterbrechungen
infolge unfreiwilliger Arbeitslosigkeit sind zwar nicht den Zeiten der Beschäftigung
hinzuzurechnen, sie berühren indes nicht den erreichten Verfestigungsanspruch und sind
deshalb insoweit unschädlich. Nach fünf Jahren wird nach innerstaatlichem Recht (§ 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AufenthG) der Weg in die Verfestigung eröffnet. Die in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80
enthaltenen, zeitlich gestaffelten Zugangsrechte zum Arbeitsmarkt bauen danach systematisch
aufeinander auf und fördern die Integration türkischer Arbeitnehmer.
Wechselt der türkische Arbeitnehmer vor Erreichen der Jahresfrist den Arbeitgeber, gehen
seine zuvor zurückgelegten Beschäftigungszeiten verloren167 und müssen beim neuen
Arbeitgeber erst wieder aufgebaut werden. Eine Zustimmung der Ausländerbehörde zum
Arbeitgeberwechsel ist ohne Bedeutung. Beim Betriebsübergang ist nicht bereits deshalb ein
zweites Arbeitsverhältnis anzunehmen, weil der neue Arbeitgeber mit dem bisherigen
Personal neue Arbeitsverträge abschließt. Erklärt der neue Arbeitgeber, der neue
Arbeitsvertrag habe lediglich bescheinigen sollen, dass ein Arbeitsverhältnis mit ihm als
Nachfolger besteht, spricht dies dafür, dass der neue Arbeitsvertrag eine für Art. 6 Abs. 1
ARB 1/80 erster Spiegelstrich unschädliche Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses darstellt.
Der Umstand, dass im neuen Arbeitsvertrag eine Probezeit vereinbart worden ist, kann unter
diesen Voraussetzungen nicht als ausschlaggebendes Indiz für ein zweites Arbeitsverhältnis
gewertet werden.168
III.
Selbständige Erwerbstätigkeit (§ 21 AufenthG)
§ 21 AufenthG regelt die selbständige Erwerbstätigkeit. Zuvor sind allerdings gesetzliche
Privilegierungen zu prüfen. Es bedarf deshalb keines Rückgriffs auf § 21 AufenthG in den
Fällen, in denen bereits kraft Gesetzes die Ausübung einer Erwerbstätigkeit und damit auch
eine selbständige Tätigkeit (z.B. § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs., S 20 Abs. 6, § 22 Satz 3, § 23 Abs.
Abs. 2 Satz 5, § 23a, § 25 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 4, § 29 Abs. 5 Nr. 1, § 31
Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 1 Satz 2, § 38 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) erlaubt ist. Wegen des
EuGH, InfAuslR 2006, 106 (§ 43) – Sedef; dagegen Gerrit Glupe, InfAuslR 2006, 253; anders noch
Hess. VGH, InfAuslR 2003, 219 (221).
166
167
Mallmann, NVwZ 1998, 1025 (1026); Hess. VGH, AuAS 1999, 158 (159); krit. hierzu Gutmann, in:
GK-AuslR, ARB Nr. 1/80 EWG/Türkei, Art. 6 Rn 119 ff.
168
OVG SA, InfAuslR 2004, 229 = NVwZ-RR 2004, 789.
68
Vorrangs der Gemeinschaftsrechtes und damit der kraft des Freizügigkeitsrechtes gewährten
Möglichkeit der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit findet § 21 auf Angehörige
der Mitglied- und EWR-Staaten169 sowie auf deren drittstaatsangehörige Familienangehörige
keine Anwendung. Den schweizerischen Staatsangehörigen steht nach dem
Freizügigkeitsabkommen der EU mit der Schweiz das Recht auf Niederlassung zu. Eine
Beteiligung der Kammern und sonstiger Stellen findet in diesen Fällen nicht statt (Nr. 21.0.1
AufenthG-VwV). § 21 AufenthG ist gegenüber der usprünglich reigiden Form in den letzten
acht Jahren erheblich aufgelockert worden. Praxisrelevant sind insbesondere Abs
(Hochschulabsolventen), Abs. 3 (Altersvorsorge), Abs. 5 (freiberufluche Tätigkeit) sowie
Abs. 6 (Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis mit anderem Zweck).
In erster Linie geht es bei der selbständigen Erwerbstätigkeit um den Betrieb eines Gewerbes
in verschiedenen Rechtsformen. Betrieb eines Gewerbes ist die selbständige, generell
erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit von einer gewissen Dauer im
wirtschaftlichen Bereich. Begünstigt sind nicht nur Unternehmensgründer oder
Einzelunternehmer, sondern auch Geschäftsführer und gesetzliche Vertreter von Personenund Kapitalgesellschaften. Generell erschließt sich der Begriff der selbständigen
Erwerbstätigkeit aus einer Umkehr der prägenden Merkmale der nichtselbständigen
Erwerbstätigkeit. Zu Lösung von Abgrenzungsproblemen zwischen selbständiger
Erwerbstätigkeit und Beschäftigung kann im Einzelfall die Bundesagentur für Arbeit beteiligt
werden (Nr. 21.03 AufenthG-VwV).
Soweit in der Rechtsprechung für die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit die
Beherrschung der deutschen Sprache gefordert wird,170 ist einschränkend darauf hinzuweisen,
dass § 21 AufenthG ein derartiges Erfordernis nicht enthält und im Übrigen für ein
Unternehmen, das überwiegend im internationalen Handel tätig ist, dann nicht verlangt
werden kann, wenn der bestellte Geschäftsführer bzw. Prokurist ausschließlich für die Pflege
und Fortentwicklung der internationalen Geschäftsbeziehungen des Unternehmens
vorgesehen ist. Dass in dem der Erwerbstätigkeit zugrunde liegenden Vertrag der Begriff
„Angestellter“ verwendet wird, ist dann unerheblich, wenn aufgrund des
Gesellschaftsvertrages und des mit dem Betreffenden abgeschlossenen Anstellungsvertrages
dieser alleinvertretungsberechtigt und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreiter
Geschäftsführer ist. Im Hinblick auf eine derart beherrschende Stellung im Betrieb und den
Einfluss auf die Geschäftsführung kann unter diesen Voraussetzungen nicht von einer
abhängigen, unselbständigen Beschäftigung ausgegangen werden.171
Man kann insoweit auch die Lösung über den Begriff der vergleichbaren unselbständigen
Erwerbstätigkeit suchen, die von Geschäftsführern und Prokuristen ausgeübt wird. Eine
selbständige Erwerbstätigkeit umfasst nicht nur die Betätigung als Einzelunternehmer,
sondern auch vergleichbare Tätigkeiten wie etwa:
geschäftsführungsberechtigter Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, einer
OHG oder einer KG,
gesetzlicher Vertreter einer juristischen Person (z. B. als Geschäftsführer einer GmbH),
leitender Angestellter mit Generalvollmacht oder Prokura,
unselbständiger Reisegewerbetreibender (z. B. als unselbständiger Handelsvertreter) sowie
169
170
171
Norwegen, Island und Lichtenstein.
VG Köln, NVwZ-Beil. 2003, 108 (109); VG Berlin, InfAuslR 2003, 217 (219).
VGH BW, InfAuslR 1993, 336 (338).
69
Stellvertreter nach § 45 Gewerbeordnung oder § 9 Gaststättengesetz.
Eine Reihe von bilateralen Abkommen, welche die Bundesrepublik mit bestimmten Staaten
abgeschlossen hat, enthalten Wohlwollens- oder Meistbegünstigungsklauseln. Diese
schränken nach Maßgabe des jeweiligen Vertrages das ansonsten bei der Entscheidung über
einen Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels zur Ausübung einer selbständigen
Erwerbstätigkeit bestehende Ermessen der Ausländerbehörde erheblich ein, vermitteln indes
keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt wegen Ausübung einer selbständigen
Erwerbstätigkeit.172. Dieser Grundsatz leitet auch das behördliche Ermessen bei der
Anwendung des § 21 Abs. 2 AufenthG. Bei einer derartigen Entscheidung sind in jedem
Einzelfall alle öffentlichen und privaten Belange gegeneinander abzuwägen. Da Antragsteller
aus Vertragsstaaten gegenüber anderen ausländischen Antragstellern nach dem Vertrag
begünstigt werden, sind ihre persönlichen Interessen im Rahmen der Ermessensausübung
positiv zu würdigen. Die nichtselbständige Erwerbstätigkeit wird von diesen Abkommen nicht
erfasst.173
Bei der Entscheidung über einen Aufenthaltstitel zum Zwecke einer selbständigen
Erwerbstätigkeit ist es mit dem Gebot einer wohlwollenden Ermessensausübung nicht zu
vereinbaren, wenn die beabsichtigte Erwerbstätigkeit allein mit Hinweisen auf staatliche
Belange – z. B. Fehlen eines besonderen örtlichen Bedürfnisses oder eines übergeordneten
wirtschaftlichen Interesses an der Erwerbstätigkeit (vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) –
versagt wird. Insoweit privilegiert § 21 Abs. 2 AufenthG Antragsteller gegenüber den
Antragstellern, die ihren Antrag auf § 21 Abs. 1 AufenthG stützen. Bei der Anwendung von
§ 21 Abs. 2 AufenthG ist in jedem Einzelfall auch das private Interesse des Antragstellers an
der selbständigen Erwerbstätigkeit positiv zu würdigen. Auch der erstmals einreisende und
eine selbständige Erwerbstätigkeit anstrebende Antragsteller hat daher einen Anspruch auf
wohlwollende Ermessensausübung.
Bei der Ermessensausübung gebieten die Wohlwollensklauseln die positive Würdigung der
persönlichen Interessen des Antragstellers. Je nach der Art der angestrebten Tätigkeit kann
auch der Aufenthaltsdauer des Antragstellers im Bundesgebiet eine erhebliche Bedeutung
zukommen. Wer z.B. ein selbständiges Handelsgewerbe betreiben will, muss mit Kunden,
Lieferanten und Behörden umgehen können. Dabei ist die Vertrautheit mit den hiesigen
Lebensverhältnissen und der Sprache von Bedeutung. Bei einem selbständigen Künstler ist
dies hingegen in aller Regel nicht erforderlich.174 Die Arbeitsmarktprüfung wird insoweit für
zulässig erachtet.175
Danach vermitteln die in völkerrechtlichen Verträgen verankerten Wohlwollens- oder
Meistbegünstigungsklauseln zwar keinen Rechtsanspruch auf Aufnahme einer selbständigen
Erwerbstätigkeit (vgl. auch § 21 Abs. 2 AufenthG), schränken jedoch das ansonsten
bestehende behördliche Ermessen im Sinne eines Wohlwollensgebotes ein. Das im Regelfall
durchschlagende Fehlen eines übergeordneten wirtschaftlichen Interesses oder besonderen
örtlichen Bedürfnisses trägt die Versagung nicht. Insbesondere darf dem Antragsteller weder
172
OVG Rh-Pf, EZAR NF 30 Nr. 3 = ZAR 2007, 368
173
VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (62).
Stiegeler, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, § 21 AufenthG Rdn. 13.
OVG Rh-Pf, B. 4. 6. 2007 – 7 B 10282/07.
174
175
70
der Grundsatz der Zuwanderungsbeschränkung noch der des Konkurrentenschutzes
entgegengehalten werden.176
Folgende Abkommen enthalten Wohlwollensgebote, die in der Verwaltungspraxis jedoch
unterschiedliche Berücksichtigung finden:
Dominikanische Republik: Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag vom
23.12.1957 (BGBl. 1959 II S. 1468) – Art. 2 Abs. 1: Wohlwollensklausel
Indonesien: Handelsabkommen vom 22.4.1953 nebst Briefwechsel (BAnz. Nr. 163); Briefe
Nr. 7 und 8: Meistbegünstigungsklausel
Iran: Niederlassungsabkommen vom 17.2.1929 (RGBl. 1930 II S. 1002); Art. 1 Abs. 2:
Wohlwollensklausel
Japan: Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 20.7.1927 (RGBl. II S. 1087); Art. 1 Abs. 2
Nr. 1: Meistbegünstigungsklausel
Philippinen: Übereinkunft über Einwanderungs- und Visafragen vom 3.3.1964 (BAnz.
Nr. 89); Nr. 1, 2 und 4: Wohlwollensklausel
Sri Lanka: Protokoll über den Handel betreffende allgemeine Fragen vom 22.11.1972
(BGBl. 1955 II S. 189); Art. 1: Meistbegünstigungsklausel
Türkei: Niederlassungsabkommen vom 12.1.1927 (RGBl. II S. 76; BGBl. 1952 S. 608);
Art. 2 Satz 3 und 4: Meistbegünstigungsklausel
Vereinigte Staaten von Amerika: Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag vom
29.10.1954 (BGBl. 1956 II S. 487); Art. II Abs. 1: Meistbegünstigungsklausel
D.
Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung (§ 27 bis § 36 AufenthG)
I.
Allgemeine Voraussetzungen
1.
Allgemeines
Das Gesetz unterscheidet beim Nachzug zu Ausländern zwischen dem Ehegattennachzug
(§ 29 AufenthG) sowie dem Kindernachzug (§ 32 AufenthG). Erhebliche Verbesserungen
sind für den Nachzug zu Konventionsflüchtlingen eingeführt worden (vgl. § 31 AuslG 1990
einerseits und §§ 29 Abs. 2, 30 Abs. 1 Nr. 2, 32 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG andererseits). Durch
das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der EU 2007 wurden
die Vorschriften zum Familiennachzug verschärft worden. So wurde in § 27 Abs. 1a
AufenthG eine Beweislastregel im Blick auf Zweifel an der bestehenden Absicht, die eheliche
Lebensgemeinschaft zu führen, in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erstmals ein
Mindestalter für den Ehegattennachzug und in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ebenfalls
erstmals festgelegt, dass der nachziehende Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in
deutscher Sprache verständigen können muss. Durch Richtlinienumsetzunggesetz 2013,
wurden der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, die Anforderungen an die Sprachkenntnisse
bei Deutschverheirateten verschärft und der Kindernachzug grundlegend umgestaltet.
Der Familiennachzug ist ins Unionsrecht überführt worden. §§ 27 ff. AufenthG sind am
Anwendungsvorrang der Richtlinie 2004/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) zu
messen. Diese ist mit Wirkung vom 3. Oktober 2005 unmittelbar anwendbar. Ziel der
Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf
Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der
Mitgliedstaaten aufhalten (Art. 1 RL 2003/86/EG). Die Richtlinie gilt also nicht für die
drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern. Deren Recht auf
Familienzusammenführung regelt die Unionsbürgerrichtlinie (vgl. Art. 2 Nr. 2, Art. 5 Abs. 2,
176
BVerwG, EZAR 100 Nr. 9.
71
Art. 9, Art. 12 bis 14, Art. 16 bis 18, Art. 20, Art. 23 RL 2004/38/EG). Sie gilt auch nicht für
den Nachzug zu Deutschen (§ 28 AufenthG). Die Familienzusammenführungsrichtlinie
gestattet den Mitgliedstaaten die Einführung strengerer nationaler Rechtsvorschriften. Diese
sind an Art. 8 EMRK und an der Grundrechtscharta zu messen.177
2.
Erforderlicher Aufenthaltszweck (§ 27 Abs. 1 AufenthG)
a)
Allgemeines
§ 27 Abs. 1 AufenthG enthält die für den Familiennachzug maßgebende Zweckbindung, die
nicht nur bei der Ersterteilung, sondern auch bei der Verlängerung (§ 27 Abs. 1, § 8 Abs. 1
AufenthG) zu beachten ist, und zwar so lange, bis ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
entstanden ist (§§ 31, 35 AufenthG), also regelmäßig mit der Erteilung der
Niederlassungserlaubnis (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Der in § 27 Abs. 1 AufenthG
bezeichnete Aufenthaltszweck ist eine zwingende Erteilungsvoraussetzung. Er erfordert, dass
der Antragsteller zu einem im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen ziehen und mit
diesem zusammenleben will. Dieser muss mit der Herstellung der familiären
Lebensgemeinschaft einverstanden sein. Die Zweckbindung nach § 27 Abs. 1 AufenthG
betrifft den Ehegattennachzug zu ausländischen Ehepartnern (§ 29 AufenthG) wie zu
Deutschen (§ 28 AufenthG), den Kindernachzug (§ 32 AufenthG) sowie den Nachzug
sonstiger Familienangehöriger nach § 36 AufenthG. Die Vorschriften des §§ 27 ff. AufenthG
regeln den Nachzug zu Ausländern mit Aufenthaltserlaubnis abschließend. Daher liegt kein
Nachzug vor, wenn außerhalb einer ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft der
Nachzug angestrebt wird.
Allerdings finden die Nachzugsvorschriften auf die
lebenspartnerschaftliche Gemeinschaft entsprechende Anwendung (vgl. § 27 Abs. 2
AufenthG). Der Familiennachzug nach Gemeinschaftsrecht richtet sich nach § 3
FreizügG/EU.
b)
Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft
Nach § 27 Abs. 1 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der
familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige zum
Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG erteilt und verlängert. Das lediglich formale
Eheband genießt deshalb im allgemeinen Ausländerrecht keinen Schutz. Art. 6 Abs. 1 GG
und die Vorschrift des § 27 Abs. 1 AufenthG erfordern die familiäre Lebensgemeinschaft in
Form der Beistandsgemeinschaft zwischen erwachsenen Angehörigen oder der
Erziehungsgemeinschaft zwischen erwachsenen und minderjährigen Angehörigen.178 Eine
familiäre Lebensgemeinschaft liegt vor, wenn die Eheleute einen intensiven persönlichen
Kontakt pflegen und wenn deren tatsächliche Verbundenheit in konkreter Weise in
Erscheinung tritt, indem die Ausgestaltung der Beziehung diese Verbundenheit auch nach
außen erkennen lässt.179
Im Allgemeinen ist vom Vorliegen einer familiären Lebensgemeinschaft auszugehen, wenn
die Angehörigen regelmäßigen Kontakt zueinander pflegen, der über ein bloßes Besuchen
177
EuGH, NVwZ 2006, 1033 §§ 52 ff.; s. hierzu Thym, NJW 2006, 3249.
178
BVerwG, AuAS 2013, 158.
OVG Sachsen, InfAuslR 2002, 297 (298) = AuAS 2002, 108 (LS); OVG Brandenburg, AuAS 2001,
218 (219)
179
72
hinausgeht. Das Vorhandensein einer gemeinsamen Wohnung ist keine zwingende
Voraussetzung, wenn eine dieser Gemeinschaft entsprechende Beistands- oder
Betreuungsgemeinschaft auf andere Weise verwirklicht wird. Es ist mit der Führung einer
ehelichen Lebensgemeinschaft nicht unvereinbar, wenn ein Ehegatte Kontakte zu einem
vorehelich geborenen nicht gemeinsamen Kind pflegt und bei dieser Gelegenheit auch
Kontakte mit der Kindesmutter aufrechterhält. Erst wenn der andere Ehegatte sein Leben so
einrichtet, dass er überwiegend nicht in der ehelichen Wohnung zusammen mit seinem
Ehepartner, sondern das Leben mit einer anderen Person verbringt, kann von einer ehelichen
Lebensgemeinschaft tatsächlich nicht mehr gesprochen werden. Eine eheliche
Lebensgemeinschaft ist dann nicht mehr gegeben, wenn der Ehegatte seinen
Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort verlegt und nur noch gelegentlich in die eheliche
Wohnung und zu dem Ehepartner zurückkehrt.180
Es wird stets auf eine zusammenfassende Bewertung aller Umstände des jeweiligen
Lebenssachverhaltes ankommen. Das Leben in einer gemeinsamen Wohnung ist für eine
eheliche Lebensgemeinschaft typisch. Leben die Eheleute getrennt, bedarf es erkennbarer
Anhaltspunkte dafür, dass diese gewählte Ausgestaltung der Beziehung mit den für eine
familiäre Lebensgemeinschaft notwendigen Voraussetzungen eines intensiven persönlichen
Kontaktes und der zwischen den Eheleuten bestehenden Verbundenheit vereinbar ist. Solche
Anhaltspunkte liegen vor, wenn sich die Eheleute häufig besuchen, gegenseitig
Beistandsleistungen erbringen und gemeinsame Kontakte zu Dritten wahrnehmen. Ein
überwiegendes Getrenntleben der Familienangehörigen, insbesondere wenn einzelne
Mitglieder ohne Notwendigkeit über eine eigene Wohnung verfügen, deutet eher auf das
Vorliegen einer nach Art. 6 Abs. 1 GG aufenthaltsrechtlich nicht besonders schutzwürdigen
Begegnungsgemeinschaft hin. Jedoch bestimmen die Eheleute Art und Weise des
Zusammenlebens eigenverantwortlich.
Bei Bestehen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes ist ein Zusammenleben in ehelicher
Gemeinschaft auch in der Weise möglich, dass beide Ehepartner aus beruflichen Gründen
neben der als Lebensmittelpunkt dienenden gemeinsamen Ehewohnung einen Nebenwohnsitz
unterhalten oder dass einer der Eheleute aus beruflichen Gründen einen derartigen
Nebenwohnsitz unterhält und die Eheleute nur an Wochenenden oder zu sonstigen Zeiten
gemeinsam in der Ehewohnung zusammentreffen. Ist die gemeinsame Ehewohnung etwa in
Frankfurt am Main, unterhält der Ehepartner indes aus beruflichen Gründen im Hunsrück eine
Nebenwohnung, spricht allenfalls ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem zeitlichen
Umfang einer beruflichen Tätigkeit außerhalb des Bereichs des Lebensmittelpunktes und des
hieraus erzielten Einkommens zu den mit der beruflichen Trennung für das Eheleben
verbundenen Belastungen gegen ein eheliches Zusammenleben.181 Es ist nicht ein irgendwie
vorgegebenes Regel-Ausnahme-Verhältnis zugrunde zu legen. Es kommt vielmehr auf die
Gründe an, die den Eheleuten ein durchgehendes Zusammenleben in gemeinsamer Wohnung
nicht erlauben.
Wie lange ein Ehepaar die mit einer solchen zeitlichen Trennung verbundenen Belastungen
auf sich nimmt, hat es im Rahmen der allein ihm obliegenden Gestaltung seiner
Lebensverhältnisse selbst zu entscheiden. Eine solche sich über lange Zeit hinziehende, mit
beruflichen Gegebenheiten begründete Lebensgestaltung kann allenfalls bei Hinzutreten
weiterer, für eine „Scheinehe“ sprechender Gesichtspunkte zusätzliches Indiz für eine
180
181
Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (430).
Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (245 f.) = Hess. VGRspr. 2001, 44; ähnlich OVG SH, InfAuslR 2001, 82
(83).
73
dauerhafte Trennung des Ehepaares sein.182 Eine Trennung gilt nach der obergerichtlichen
Rechtsprechung allerdings dann als vollzogen, wenn die Ehepartner die gemeinsame
Wohnung ohne unabweisbaren Grund aufgegeben haben und in getrennten Wohnungen
leben.183 Ist z.B. ein Ehepartner etwa aus berufsbedingten Gründen auf Dauer in den
Herkunftsstaat zurückgekehrt, so ändern auch gelegentliche Besuchsreisen zu seinem im
Bundesgebiet lebenden Ehegatten nichts an der Tatsache der dauerhaften Auflösung der
ehelichen Lebensgemeinschaft.184
Die Unterbringung eines Ehegatten in einem Behinderten- oder Pflegeheim oder berufs- und
ausbildungsbedingte Gründe können etwa zu einer Trennung oder dazu führen, dass nur an
den Wochenenden eine häusliche Gemeinschaft geführt werden kann.185 Ebenso wenig muss
die Haft eines Ehepartners zwingend der Annahme einer gemeinsamen Lebensführung
entgegenstehen. Vielmehr kann im Einzelfall eine in § 27 Abs. 1 AufenthG geregelte
Beistands- und Betreuungsgemeinschaft vorliegen,186 wenn Anhaltspunkte dafür bestehen,
dass die familiäre Lebensgemeinschaft nach Beendigung der Haft fortgesetzt wird. Auch die
familienrechtliche Rechtsprechung geht davon aus, dass eine haftbedingte Trennung der
Ehegatten allein, unabhängig von der Dauer der Haft, jedenfalls so lange nicht zu einem
Getrenntleben der Ehegatten im rechtlichen Sinne führt, wie beide beabsichtigen, die eheliche
Lebensgemeinschaft nach Beendigung der Haft fortzusetzen. Anders ist die Rechtslage bei
Familienangehörigen von Uniontsbürgern, weil das dem Angehörigen vermittelte
Aufenthaltsrecht unabhängig vom Fortbestand der Lebensgemeinschaft ist. Es bleibt auch
dann erhalten, wenn der Angehörige die gemeinsame Wohnung verlässt und auf Dauer
getrennt lebt.187 Das gilt allerdings nicht, wenn der Aufenthaltstitel durch Täuschung der
Behörde erreicht worden ist.188
c)
„Scheinehe“ (§ 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG)
aa)
Voraussetzungen der „Scheinehe“
Nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG wird der Nachzug nicht zugelassen, wenn feststeht, dass
die Ehe oder das Verwandtschaftsverhältnis ausschließlich zu dem Zweck geschlossen oder
begründet wurde, dem Nachziehenden Einreise und Aufenthalt zu ermöglichen. Mit der
Einschränkung „ausschließlich“ wird klargestellt, dass alleiniger Zweck des Nachzugs die
182
Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (246).
183
184
OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111.
Hess. VGH, InfAuslR 2000, 370 (371) = NVwZ-Beil. 2000, 118 = EZAR 023 Nr. 19.
185
VGH BW, NVwZ-RR 1991, 430 = EZAR 023 Nr. 1; OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218 (219).
186
Hess. VGH, AuAS 1998, 15 (16); VG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.4.1997 – 11 G 2884/95(1).
187
BVerwGE 98, 298 (308) = InfAuslR 1995, 349 (351, 352).
VG Darmstadt, AuAS 1999, 231 (232); so auch für Art. 8 EMRK, EGMR, EuGRZ 1985, 567 (570 f.) –
Abdulaziz; EGMR, InfAuslR 1996, 245 (246 f.) – Gül; EGMR, InfAuslR 1997, 141 – Ahmut, in Gül und Ahmut
mit abweichenden Meinungen; VG Wiesbaden, Hess.VGRspr. 1999, 71, für das allgemeine Ausländerrecht.
188
74
Erlangung eines Aufenthaltsrechts sein muss. Selbstverständlich geht es Eheleuten und
Verwandten mit dem Nachzug um die Erlangung eines Aufenthaltsrechts. Anders kann die
familiäre Lebensgemeinschaft ja gar nicht geführt werden. Nur wenn feststeht, dass die
familiäre Lebensgemeinschaft nicht geführt werden soll, dürfen Einreise und Aufenthalt
versagt werden. Es müssen deshalb entsprechende eindeutige Feststellungen getroffen
werden. In Zweifelsfällen trägt die Behörde die Beweislast, weil sie dem an sich bestehenden
Rechtsanspruch einen Ausschlusstatbestand entgegen hält. Aus dem Verschweigen der Ehe
im Visumverfahren wird auf eine „Scheinehe“ geschölossen.189
Bei berechtigtem Anlass darf die Ausländerbehörde nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG
überprüfen, ob der Wille zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft nur vorgeschützt
ist.190 Die Einleitung von Ermittlungen durch die Ausländerbehörde setzt einen hinreichend
klaren Begriff der ehelichen Lebensgemeinschaft voraus. Denn nach der Rechtsprechung des
BVerwG bedeutet „Scheinehe“, dass die „Eheschließung nicht dem Ziel dient, eine – in
welcher Form auch immer zu führende – eheliche Lebensgemeinschaft zu begründen, sondern
einen anderen Zweck verfolgt, insbesondere den, dem ausländischen Partner ein sonst nicht
zu erlangendes Aufenthaltsrecht zu verschaffen“.191 Der Standesbeamte muss nach § 1310
Abs. 1 Satz 2 2. Hs. BGB die Mitwirkung verweigern, wenn offenkundig ist, dass die Ehe
nach § 1314 Abs. 2 BGB aufhebbar wäre. Damit soll insbesondere die Eingehung von sog.
Scheinehen vermieden werden.
Offenkundig ist indes nicht im Sinne von § 291 ZPO als allgemeinkundig oder amtskundig zu
verstehen. Im Hinblick auf die grundsätzlich bestehende Eheschließungsfreiheit sind im
konkreten Fall sehr erhebliche und gewichtige Gründe festzustellen, um die Versagung der
Eheschließung zu stützen. Der Standesbeamte darf deshalb nur in aus sich heraus evidenten
Missbrauchsfällen seine Mitwirkung bei der Eheschließung versagen. Verbleiben auch nur die
geringsten Zweifel, so muss die Ehe angemeldet werden. Will zumindest einer der beiden
Ehepartner eine tatsächliche Lebensgemeinschaft durch die Eheschließung begründen, kann
die beabsichtigte Eheschließung nicht mehr als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.192
Das Fehlen eines gültigen Aufenthaltstitels für sich allein rechtfertigt nicht die Versagung der
Mitwirkung des Standesbeamten, zumal es keine Vermutung dafür gibt, dass von und mit
erfolglosen Asylbewerbern schlechthin nur Scheinehen beabsichtigt werden.
Die ausländerbehördliche Zwecküberprüfung hat allein an objektiv feststellbare Umstände
anzuknüpfen.193 Das der Eheschließung zugrunde liegende Motiv ist unerheblich.
Entscheidend ist vielmehr, dass das mit der Ehe verbundene gegenseitige Pflichtenverhältnis
nicht gewollt ist.194 Ob die Ehe harmonisch verläuft oder nicht, ist hingegen ebenso
unerheblich wie die Frage, ob die für die Eheschließung maßgeblichen Motive den
Idealvorstellungen einer Ehe gerecht werden oder andere Beweggründe eine wesentliche oder
189
OVG Hamburg, AuSS 2013, ^146.
BVerwGE 65, 174 (181) = InfAuslR 1982, 122; BVerwG, InfAuslR 1992, 305 = EuGRZ 1987, 449;
BVerwG, InfAuslR 1995, 393; OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Hamburg, AuAS 1994, 230;
Hess. VGH, AuAS 1994, 183 (184); s. auch Jšst, InfAuslR 2000, 204.
191
BVerwGE 98, 298 (302) = InfAuslR 1995, 349 = NVwZ 1995, 1119 (1120); BVerwGE 119, 17 (29) =
InfAuslR 2004, 99; BVerwGE 123, 190 (…) = NVwZ 2005, 1329 = InfAuslR 2005, 403 (404); OVG Berlin,
AuAS 2004, 172 (173)
192
LG Frankfurt/M., InfAuslR 2000, 31 (32).
190
BVerwG, InfAuslR 2013, 328 (zur Offenbarungspflicht wegen Wohnsitzveränderung)
OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Rh-Pf, InfAuslR 1999, 417 (418); Hess. VGH, EZAR 023
Nr. 22 = AuAS 2001, 64.
193
194
75
gar eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Beziehungen der Ehepartner müssen
insbesondere auch nicht von einem – mit den Aufklärungsmöglichkeiten des Verwaltungswie auch des Strafrechts ohnehin kaum feststellbaren – unbedingten Willen zur Ehe auf
Lebenszeit getragen sein.195
Sobald eine Ehe geschlossen ist, ist sie auch von der Ausländerbehörde zu beachten. Selbst
wenn es dem ausländischen Ehegatten mit der Begründung einer ehelichen
Lebensgemeinschaft insbesondere darum gehen sollte, dadurch ein sonst nicht zu erlangendes
Aufenthaltsrecht zu erlangen bzw. aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu verhindern, kann
einer derartigen Verbindung nicht allein deshalb unter dem Verdikt der „Scheinehe“
aufenthaltsrechtlicher Schutz versagt werden. Für die Annahme einer „Scheinehe“ reicht es
nicht aus, dass der ausländische Ehegatte die Ehe wegen der mit ihr verbundenen
ausländerrechtlichen Vorteile eingegangen ist. Eine derartige Intention stellt für sich
betrachtet keinen Missbrauch dar.196 Entscheidend ist nicht das Motiv der Heirat, sondern
vielmehr allein, ob die Ehegatten – aus welchen Gründen auch immer – die dem Bild der Ehe
entsprechende persönliche Beziehung tatsächlich unterhalten.197
Besteht eine tatsächliche Lebensgemeinschaft, so kommt es nicht darauf an, wie sich die
ehelichen Beziehungen im Übrigen gestalten. Es ist etwa unerheblich, ob zwischen den
Ehegatten eine Geschlechtsgemeinschaft besteht oder die Ehegatten homosexuelle oder
heterosexuelle Beziehungen mit Dritten unterhalten.198 Auch wenn der Ehemann mit einer
anderen Frau während der Ehe Kinder gezeugt hat, schließt dies keineswegs aus, dass beide
Ehepartner an der ehelichen Lebensgemeinschaft bewusst und gewollt festhalten
wollen.199Andererseits kann allein durch den Nachweis der Erbringung von Haushalts- und
Geldleistungen nicht das Bestehen einer auf Dauer angelegten und durch enge Verbundenheit
und gegenseitigen Beistand geprägten Beziehung dargelegt werden.200
bb)
Anhaltspunkte für die Zulässigkeit behördlicher Ermittlungen
Da den Ehegatten sowohl die Freiheit, ihr eheliches Zusammenleben souverän zu gestalten,
wie auch der Schutz vor staatlichen Eingriffen grundsätzlich gewährleistet ist, ist bei einer
wirksam geschlossenen Ehe grundsätzlich anzunehmen, dass die Ehepartner auch eine
eheliche Lebensgemeinschaft zu führen bereit und imstande sind. Eine behördliche Prüfung
des Einzelfalls auf das Vorliegen einer „Scheinehe“ kommt daher ausnahmsweise nur bei
einem triftigen Anlass in Betracht, zumal sie letztlich nur bei Kenntnis von Umständen aus
dem höchstpersönlichen Bereich der Betroffenen erfolgen kann.201 Es wäre jedoch mit Art. 1
Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG schwerlich vereinbar, wenn die Verwaltung es unternähme,
sich diese Kenntnis von Amts wegen zu verschaffen, und wenn dem Betroffenen vorbehaltlos
195
BayObLG, InfAuslR 2001, 210 (212) = EZAR 355 Nr. 25
196
Hess. VGH, EZAR 023 Nr. 22 = AuAS 2001, 64; OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83).
Hess. VGH, EZAR 023 Nr. 22 = AuAS 2001, 64.
197
198
199
200
201
OVG Rh-Pf, InfAuslR 1999, 417 (418).
OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 125 = NVwZ-RR 2001, 339.
VG Minden, AuAS 1998, 230 (231)
Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429)
76
die Last auferlegt würde darzutun, dass es sich bei ihrer Ehe nicht um eine „Scheinehe“
handelt.202
Als Anfangsverdacht für das Nichtbestehen einer Lebensgemeinschaft reicht daher der bloße
Verdacht nicht aus.203 Vielmehr können erst äußere Anhaltspunkte außerhalb der Intimsphäre
Anlass zur Einleitung von entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen geben. 204 Derartige
Anhaltspunkte müssen indes gewichtig sein. So sind etwa anonyme Anzeigen ohne jegliche
Bedeutung.205 Bereits die Einleitung von Ermittlungsmaßnahmen bringt für die davon
Betroffenen wegen der damit verbundenen Befragung von Dritten, insbesondere Nachbarn
und Arbeitgeber, regelmäßig erhebliche Nachteile mit sich. Daher darf die Behörde erst bei
vernünftig begründeten Zweifeln an der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft
Ermittlungsmaßnahmen ins Werk setzen. Denunziationen Dritter, insbesondere anonymer
Natur, sind im Allgemeinen unerheblich. Allerdings darf die Behörde bei melderechtlichen
Um- und Abmeldungen eines Ehepartners, die ihr im automatischen Datenaustauschverfahren
bekannt werden, Ermittlungen durchführen. Erst ernsthafte Anzeichen dafür, dass die Ehe nur
zum Zwecke eingegangen worden ist, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, rechtfertigen
mithin behördliche Ermittlungsmaßnahmen.206 Demgegenüber setzt der Erlass einer
Verfügung hinreichend zuverlässige Feststellungen voraus,207 die dem Regelbeweismaß
genügen müssen. Verbleiben Zweifel, fehlt es an der erforderlichen Zuverlässigkeit.
cc)
Grenzen der Ermittlungen
Bei der Wahl der Ermittlungsmethoden und der Fragestellungen hat die Behörde die
Grundrechte, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. In diesem
Zusammenhang darf die Behörde allerdings auch Fragen zum ehelichen Zusammenleben
stellen. Dabei handelt es sich nicht um Beziehungen, die der Außenwelt nicht zugänglich sind
und deshalb eine Offenlegung der Intimsphäre zum Gegenstand haben.208 So mögen etwa ein
rascher Wechsel der „Ehekandidaten“ und widersprüchliche Einlassungen der Eheleute
berechtigten Anlass zu Ermittlungen geben.209 Tragfähige, die Verfügung tragende
tatsächliche Annahmen sind damit jedoch noch nicht dargetan worden. Auch die Tatsache,
dass der Ehemann noch im Monat der Eheschließung aus der ehelichen Wohnung ausgezogen
war, untermauert jedenfalls dann nicht den Verdacht einer „Scheinehe“, wenn sich die
Eheleute nach den Angaben der Ehefrau bereits seit sieben Jahren gekannt und bereits vor
dem Nachzug enge Beziehungen gepflegt hatten.210 Auch wenn die Ehegatten keine genauen
Kenntnisse etwa über die jeweiligen Urlaubsgepflogenheiten haben, spricht dies nicht
zwingend für eine „Scheinehe“, sondern dafür, dass sich die Eheleute verhältnismäßig wenig
für die jeweiligen Lebensumstände des Ehepartners interessieren. Ein derartiges Desinteresse
begründet indes nicht zugleich den Verdacht, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht
geführt wird.211
Macht die als Zeugin geladene geschiedene Ehefrau eines Ausländers vor dem
Verwaltungsgericht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht (§ 98 VwGO i.V.m. § 383 Nr. 2
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429).
OVG Bremen, InfAuslR 1988, 281 = NVwZ-Beil. 1988, 92, für das Eilrechtsschutzverfahren.
Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (429).
OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83).
OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343; OVG Hamburg, AuAS 1994, 230.
BVerwG, InfAuslR 1995, 393.
OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343 (344); s. auch OVG Hamburg, AuAS 2004, 172 (173).
OVG Hamburg, InfAuslR 1991, 343 (344).
BVerwG, InfAuslR 1995, 393, Ehefrau war anschließend verstorben.
OVG Hamburg., InfAuslR 2001, 125 = NVwZ-RR 2001, 339.
77
ZPO) Gebrauch, steht dies der Verwertung ihrer früheren vom Familiengericht bekundeten
Angaben zum anfänglichen Nichtbestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft nach der
Rechtsprechung nicht entgegen.212 Begründet wird dies damit, dass im Falle der Berufung auf
das Zeugnisverweigerungsrecht das unmittelbare Beweismittel der persönlichen Vernehmung
nicht das nur mittelbare Beweismittel der Urkunde über Zeugenwahrnehmungen verdränge.
Das Verwaltungsgericht dürfe vielmehr den nicht möglichen Zeugenbeweis durch einen
Urkundenbeweis ersetzen.213
Soweit behördliche Wohnungsbesichtigungen oder andere Ermittlungsmaßnahmen
durchgeführt werden, die nicht ohne Zustimmung der Betroffenen erfolgen können, sind diese
grundsätzlich nicht erzwingbar. Der Umstand, dass die Eheleute bei verschiedenen an
Werktagen durchgeführten Überprüfungen nicht in der Ehewohnung angetroffen wurden,
besagt nichts über das Bestehen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes, wenn die Eheleute
aus beruflichen Gründen nur an Wochenenden zusammenleben.214 Allerdings besteht unter
diesen Voraussetzungen ein erhöhter Erklärungsbedarf.215 Der das Aufenthaltsrecht
erstrebende Ehegatte hat nach der Rechtsprechung jedoch den Nachteil zu tragen, wenn es
ihm nach Verweigerung der Mitwirkung an derartigen Ermittlungsmaßnahmen nicht gelingt,
begründete behördliche Zweifel auszuräumen.216
Diese Rechtsprechung ist nicht bedenkenfrei, da sie die grundrechtlich geschützte Ausübung
der Willensfreiheit in Ansehung der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 12 Abs. 1 GG)
verfahrensrechtlich sanktioniert. Kann die Behörde keine stichhaltigen Feststellungen zur
Untermauerung ihres Verdachts treffen, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht geführt
wird, so ist von einer tatsächlich geführten Lebensgemeinschaft auszugehen. Der Betroffene
ist nicht verpflichtet, zur Zerstreuung eines nicht zureichend begründeten behördlichen
Verdachts, ganz oder teilweise auf die Ausübung seines Grundrechts auf Unverletzlichkeit der
Wohnung zu verzichten. Damit in Übereinstimmung steht die Rechtsprechung, die der
Behörde regelmäßig für den Nachweis der Trennung der Eheleute die Beweislast auferlegt. 217
dd)
Darlegungslasten im ausländerbehördlichen Verfahren
Nach der Rechtsprechung gehört die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu den für
den Betreffenden günstigen Umständen, die er unter Angabe nachprüfbarer Umstände
unverzüglich geltend zu machen und mit Nachweisen zu belegen hat.218 Allerdings darf die
Behörde erst bei ernsthaften, gegen das Führen der ehelichen Lebensgemeinschaft
sprechenden Anhaltspunkten in Ermittlungen eintreten und besteht erst unter diesen
Voraussetzungen eine Mitwirkungspflicht der Eheleute. Zwar besteht bei der Feststellung des
Vorliegens einer Lebensgemeinschaft keine Beweislast der Behörde. Der Umfang der
Darlegungslast richtet sich insoweit nach den jeweiligen individuellen Verhältnissen,
212
OVG Berlin, AuAS 2004, 172 (173).
213
OVG Berlin, AuAS 2004, 172 (173), unter Berufung auf BVerwG, Buchholz 418.00 Ärzte Nr. 38
(S. 9 ff.)
214
Hess. VGH, AuAS 2000, 244 (246) = Hess.VGRspr. 2001, 44.
OVG SH, InfAuslR 2001, 82 (83).
216
Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH,
InfAuslR 2002, 426 (430).
215
217
OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil. 2000, 115 = AuAS 2000, 111.
Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH,
InfAuslR 2002, 426 (430).
218
78
insbesondere nach den Wohnverhältnissen und den beruflichen Tätigkeiten der Ehepartner.
Zu einer näheren Darlegung ihrer innerfamiliären Lebensumstände sind sie nur dann
verpflichtet, wenn die Ausländerbehörde begründete Zweifel am Bestehen der ehelichen
Lebensgemeinschaft hegt und diese gegenüber dem ausländischen Ehegatten äußert.219 Kann
die Behörde keine hinreichend zuverlässigen Feststellungen treffen, dass die eheliche
Lebensgemeinschaft nicht geführt wird, trägt sie die Beweislast für die nicht erweisliche
Tatsache.
Ist die innere Tatsache, eine eheliche Lebensgemeinschaft führen zu wollen, nach
Ausschöpfung der zugänglichen Beweisquellen auch bei nur einem der Ehepartner nicht
erweislich, trägt nach der Rechtsprechung der Kläger die materielle Beweislast. 220 Das
BVerwG räumt zwar ein, dass § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG als Versagungsgrund ausgestaltet
ist, sodass bei einer Wortlautauslegung die Beweislast die Behörde trifft.221 Diese Hürde
nimmt das BVerwG indes mit seiner Ansicht nach „deutlichen Befunden der historischen
Auslegung.“ Im Übrigen sei § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG nicht als abschließende Regelung
zu verstehen und verdränge bei Nichterweislichkeit ihrer Voraussetzungen nicht den
Grundtatbestand des § 27 Abs. 1 AufenthG. Für diesen sei anerkannt, dass der
Herstellungswille beider Ehegatten zu den günstigen Tatsachen gehöre, für die derjenige, der
ein Visum zum Familiennachzug begehre, die materielle Beweislast trage. 222 Überzeugend ist
diese Rechtsprechung nicht. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird sich aber in Zukunft an
dieser ausrichten. Sie findet aber nur in den Verfahren Anwendung, in denen ein Visum oder
eine Aufenthaltserlaubnis zum Nachzug beantragt wird. Will die Behörde hingegen das
Aufenthaltsrecht wegen Zweifel an der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft entziehen,
trägt sie bei Nichterweislichkeit der entsprechenden Voraussetzungen nach dem
Günstigkeitsprinzip die Beweislast.
ee)
Darlegungslasten im Einreiseverfahren
Besondere Schwierigkeiten bereiten Nachweisfragen im Einreiseverfahren. Auch im Falle des
Ehegattennachzugs zu einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger wird insoweit
vorausgesetzt, dass tatsächlich eine eheliche Lebensgemeinschaft geführt werden soll.223
Anders als in Inlandsfällen, in denen objektive und grundsätzlich auch feststellbare
Anhaltspunkte für die Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft dargelegt bzw. ermittelt
werden können, leben hier die Eheleute noch nicht zusammen und ist evident, dass bloße
behördliche Behauptungen nicht ausreichen können. Es kommt nach § 27 Abs. 1 AufenthG
auf ein subjektives Element, nämlich den Herstellungswillen an. Dabei handelt es sich um eine
innere Tatsache, auf deren Existenz nur durch äußere Anzeichen geschlossen werden kann.224
Ausgangspunkt ist nach der Rechtsprechung insoweit die Erfahrungstatsache, dass Paare, die
nach einiger Zeit des Kennenlernens die Ehe schließen, diese auch führen, mithin die eheliche
Lebensgemeinschaft herstellen. Stellt ein Außenstehender Gemeinsamkeiten der Eheleute
fest, wie sie üblicherweise nach längerer Vertrautheit entstehen, so ist der Schluss auf den
219
Hess. VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess. VGH, InfAuslR
2002, 426 (430).
220
BVerwGE 136, 222 (228 ff.) = InfAuslR 2010, 350 = NVwZ 2010, 1367 = AuAS 2010, 158, mit Hinweisen; so auch Hess.VGH, NVwZRR 2009, 264 (265) = EZAR NF 34 Nr. 17; Hess.VGH, Beschl. v. 29.6.2009 – 9 B 1815/09.
221
Marx, in: GK-AufenthG II – § 27 AufenthGRn 192 ff.; Göbel-Zimmermann, ZAR 2008, 169 (170); Oestmann, InfAuslR
2008, 17 (19 f.).
222
BVerwGE 136, 222 (228 ff.) = InfAuslR 2010, 350 = NVwZ 2010, 1367 = EZAR NF 34 Nr. 22 = AuAS 2010, 158, unter Hinweis auf
BVerwG, Buchholz 402.240 § 23 AuslG Nr. 10; BVerfG, DVBl. 2003, 1260; so auch OVG NW, InfAuslR 2000, 290 (291) = NVwZ-Beil.
2000, 115 = AuAS 2000, 111; Hess.VGH, NVwZ-RR 2000, 639 (640) = InfAuslR 2000, 385 = EZAR 023 Nr. 20; Hess.VGH, InfAuslR
2002, 426 (430).
223
VG Berlin, InfAuslR 2004, 288; s. aber Hess. VGH, InfAuslR 2004, 223, zur aufschiebenden Wirkung
von Rechtsmitteln bei Scheinehen von Drittstaatsangehörigen mit Unionsbürgern.
224
OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107.
79
Willen der Eheleute zur Führung der Lebensgemeinschaft tragfähig. Das Fehlen derartiger
durch längere Vertrautheit erlangter Gemeinsamkeiten steht aber dem Herstellungswillen
nicht entgegen.
d)
Nötigung zu Eheschließung (§ 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG)
Nach § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG wird der Nachzug nicht zugelassen, wenn tatsächliche
Anhaltspunkte die Annahme begründen, dass einer der Ehegatten zur Ehe genötigt wurde.
Dieser Tatbestand wurde durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher
Richtlinien der EU in § 27 AufenthG eingefügt. Mit dem Tatbestand der Nötigung zur Ehe
greift der Gesetzgeber die Diskussion um „Zwangsehen“ auf. Die Vorschrift ist im
Zusammenhang mit § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 sowie § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu
sehen. Sämtliche Vorschriften dienen der Bekämpfung von „Zwangsverheiratungen“.
Zwangsverheiratungen sind als besonders schwerer Fall der Nötigung (§ 240 Abs. 4 Satz 2
Nr. 1 StGB) strafbar. Die Auslegung und Anwendung der Vorschrift setzt deshalb eine
präzise Unterscheidung in „Zwangsehen“ einerseits und in „arrangierte Ehen“ andererseits
voraus.
Eine Zwangsehe liegt vor, wenn mindestens einer der Ehegatten durch eine Drucksituation
zur Ehe gezwungen wurde und mit seiner Weigerung keine Gehör gefunden oder es nicht
gewagt hatte, sich der Eheschließung zu widersetzen. Der Druck muss dabei durch Gewalt
oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel (vgl. § 240 Abs. 1 StGB) ausgeübt
worden sein. In Betracht kommen insoweit physische oder psychische wie insbesondere auch
sexuelle Gewalt, Einsperrung, Entführung sowie Sanktionsandrohungen.225 Demgegenüber
handelt es sich bei der „arrangierten Ehe“ um eine Ehe, die auf Wunsch, mit Einverständnis
oder Duldung beider Ehegatten durch Verwandte oder Bekannte initiiert wurde. Hier beruht
die Eheschließung – anders als bei der Zwangsehe – auf dem freien Willen beider
Ehepartner.226 Derartige, auf der freien Willensentscheidung beider Eheschließenden
beruhende Ehen fallen nicht unter § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG).
Die Übergänge zwischen beiden Formen der Eheschließung sind fließend. Daher muss in
konkreten Einzelfall danach abgegrenzt werden, ob in der Phase vor Eingehung der Ehe die
objektive Möglichkeit einer Weigerung bestanden hatte und darüber hinaus, ob das Fehlen
einer solchen objektiven Möglichkeit von den Ehegatten überhaupt subjektiv als Zwang erlebt
wurde. Dies hängt davon ab, wie stark die Betroffenen in die sozio-kulturellen Verhältnisse
eingebunden und deshalb mit traditionellen Vorstellungen über das Zustandekommen von
Ehen verflochten sind bzw. ob nach dem Erfahrungshorizont überhaupt eine Vorstellung über
das Vorhandensein alternativer Eheschließungs- bzw. Lebensmodelle bestand. Je schwächer
diese Vorstellung ausgeprägt war, desto eher dürfte die Verheiratung subjektiv – gemessen an
den vorherrschenden soziokulturellen Verhältnissen – als „normal“ und damit nicht als
Nötigung empfunden worden sein.
Dementsprechend
hat
die
Rechtsprechung
bereits
vor
Inkrafttreten
des
Richtlinienumsetzungsgesetzes festgestellt, dass eine nicht von den Eheleuten ausgehende
Arrangierung der Ehe durch Dritte – wie sie unter Deutschen nicht mehr üblich ist - kein
Beleg für eine Scheinehe darstellt.227 Aus früheren Zeiten sei bekannt, dass im Bundesgebiet
auch solchermaßen geschlossene Ehen geführt worden seien und Bestand gehabt hätten.
Allerdings bedarf es auch bei solchen Ehen der Überzeugung, dass die Eheleute die eheliche
Lebensgemeinschaft herstellen wollen. Kann dazu – wie im Einreiseverfahren – auf die sonst
225
226
227
Göbel-Zimmermann/ Born, ZAR 2007, 54.
Göbel-Zimmermann/ Born, ZAR 2007, 54.
OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107.
80
gebräuchlichen Anzeichen nicht zurückgegriffen werden, sind andere den Rückschluss auf
den Herstellungswillen ermöglichende Anzeichen erforderlich.228
§ 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG bietet insbesondere keine Handhabe dafür, eine Beurteilung der
angestrebten Lebensgemeinschaft auf Übereinstimmung mit deutschen Gepflogenheiten,
Sitten oder Wertvorstellungen vorzunehmen. Vielmehr ist einzig und allein Funktion der
tatbestandlichen Anknüpfung an diese Norm, dass die formale Eheschließung als Vehikel zur
Umgehung der Einreisevorschriften genutzt wird.229 Im Regelfall wird in der
Verwaltungspraxis im Einreiseverfahren allerdings keine besondere Darlegungslast gefordert.
Erst beim Auftreten von Besonderheiten, wie etwa bei einer durch Dritte arrangierten Ehe,
oder wenn konkrete Zweifel am Herstellungswillen durch die Behörde geltend gemacht
werden, besteht ein besonderer, auf den Herstellungswillen bezogener Begründungsbedarf.
Es bedarf tatsächlicher Anhaltspunkte für die Feststellung einer Nötigung zur Ehe. Es müssen
danach gewichtige und hinreichend zuverlässige Tatsachen und Umstände festgestellt werden,
welche den sicheren Schluss auf eine Nötigungssituation zulassen. Bloße Vermutungen oder
Hypothesen, etwa anhand der Häufigkeit von arrangierten Eheschließungen in dem
betreffenden Herkunftsland, reichen nicht aus. Ohne ausdrückliche Erklärung des Ehegatten,
in Bezug auf den die Behörde von einer Drucksituation ausgeht, kann eine derartige
Feststellung nicht getroffen werden.
e)
Vorwirkungen der Eheschließungsfreiheit
aa)
Erfordernis der unmittelbar bevorstehenden Eheschließung
Die Vorschriften über den Ehegattennachzug nach § 28, § 30 AufenthG sind erst
anwendbar, wenn die Ehe geschlossen ist. Art 6 Abs. 1 GG schützt Ehe und Familie. Dies
bedeutet, dass grundsätzlich erst nach erfolgter Eheschließung ein Aufenthaltstitel zum
Familiennachzug erteilt werden kann. Das Verlöbnis unterfällt damit grundsätzlich nicht
dem Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG, ist allerdings in die Ermessensabwägung
einzubeziehen. Darüber hinaus entfaltet das Verlöbnis bzw. die bekundete ernsthafte
Absicht der Eheschließung unter bestimmten Voraussetzungen aufenthaltsrechtliche
Wirkungen. Streit besteht indes in der Rechtsprechung darüber, unter welchen
Voraussetzungen derartige Wirkungen eingreifen. Nach wohl herrschender Auffassung ist
die bekundete Eheschließungsabsicht ausländerrechtlich nur dann geschützt, sofern die Ehe
unmittelbar bevorsteht, wozu grundsätzlich der Nachweis gehört, dass die Ehe bereits
angemeldet ist (§ 4 PStG) und nach Auskunft des Standesamtes unverzüglich durchgeführt
werden kann.230 Im Bundesland Hessen wird insoweit durch Erlass angeordnet, dass nach
Mitteilung des Standesbeamten, dass die Ehe vorgenommen werden kann (§ 6 Abs. 1
PStG), die Eheschließung innerhalb von vier Wochen stattfinden muss.231 Im Bundesland
Baden-Württemberg beträgt diese Zeitspanne regelmäßig zwei Monate.232
Dieser sehr restriktiven Auffassung steht eine andere Auffassung in der Rechtsprechung
entgegen, wonach die Vorwirkungen“ von Art. 6 GG das Recht des ausländischen
Verlobten einschließt, dass ihm die für das Eheanmeldungsverfahren üblicherweise
erforderliche Zeit eingeräumt wird. Daher umfasst die aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung
228
OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2002, 107.
VG Berlin, InfAuslR 2002, 472 (474).
230
OVG Hamburg, NVwZ-RR 1991, 107 (108) = InfAuslR 1990, 328; OVG Hamburg, NVwZ-RR 2007,
559(560); OVG Bremen, EZAR 045 Nr. 4; Thür.OVG, NVwZ-RR 1996, 710; OVG MV, NVwZ-RR 2000, 641
(642); OVG NW, InfAuslR 1991, 193; VG Ansbach, InfAuslR 1992, 137 (138); VG München, InfAuslR 1996,
178; VG Freiburg, NVwZ-Beil. 1998, 50 (51).
231
Hess.MdI, Erlass vom 19. 10. 1998 – II A 42 – 23 d (Au 3.938 a.
232
VG Freiburg, NVwZ-Beil. 1998, 50 (51).
229
81
von Art. 6 Abs. 1 GG auch die Zeitspanne, welche das OLG für die Entscheidung über das
Befreiungsgesuch benötigt und seine Entscheidung dem Standesbeamten vorliegt.233
Jedenfalls darf die Behörde eine Abschiebung dann nicht durchsetzen, wenn die Ehe sicher
erscheint und unmittelbar bevorsteht234 oder der Termin zur Eheschließung jedenfalls
bestimmbar ist.235
Gegen die Verwaltungspraxis werden in der Rechtsprechung Bedenken erhoben. Im Blick auf
die Frage, wann im konkreten Einzelfall die Eheschließung unmittelbar bevorstehe, gebe es
„keine allgemeine gültige, feste zeitliche Grenze“. Vielmehr sei jeweils unter
Berücksichtigung der gegebenen Umstände im Einzelfall zu entscheiden, ob eine
Eheschließung ernstlich beabsichtigt und unmittelbar bevorstehe oder völlig ungewiss sei.
Außer den zeitlichen Anforderungen an eine hinreichende Bestimmbarkeit eines Termins zur
Eheschließung seien insbesondere die formellen und materiellen Voraussetzungen für die
beabsichtigte Eheschließung zu berücksichtigen, deren Erfüllung in die Sphäre der Verlobten
falle.236 Ob eine Eheschließung schon immer dann unmittelbar bevorstehe, wenn das
erforderliche Ehefähigkeitszeugnis vorliege, könne offen bleiben. Jedenfalls dann, wenn das
Ehefähigkeitszeugnis bereits vorliege, indes noch die „Ehemündigkeitserklärung“ der Braut
ausstehe, hätten die Verlobten ersichtlich alle in ihre Sphäre fallenden Anforderungen an eine
unverzügliche Eheschließung erfüllt, sodass die Eheschließung als unmittelbar bevorstehend
anzusehen sei.237
Generell kann gesagt werden, dass die Eheschließung im Allgemeinen dann als sicher und
unmittelbar bevorstehend erscheint, wenn die Verlobten bereits beim Standesamt einen
zeitnahen Termin vereinbart haben, an dem die Ehe geschlossen werden soll. Bei der
Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung ist auch zu berücksichtigen, ob dem
Verlobten nach seiner Abschiebung ein – auch nur – kurzfristiges Betreten des
Bundesgebietes zum Zwecke der Eheschließung ermöglicht werden kann. Insoweit ist auch zu
bedenken, dass dieser im Herkunftsland seinen Wehrdienst leisten muss.238 Wird dadurch die
geplante Eheschließung auf nicht absehbare Zeit unmöglich gemacht, ist die Abschiebung
jedenfalls bis zum bevorstehenden Eheschließungstermin auszusetzen.
bb)
Schwangerschaft
Eine durch Vorlage eines ärztlichen Attestes glaubhaft gemachte Schwangerschaft zeitigt
aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet es, zum Zwecke des
notwendigen Beistandes des Kindesvaters bei der Geburt und in der unmittelbaren Zeit
danach den Aufenthalt zu gewährleisten.239 Darüber hinaus kann die Risikoschwangerschaft
der ausländischen Verlobten einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach
§ 25 Abs. 4 AufenthG240 - wobei es allerdings häufig am hierfür geforderten rechtmäßigen
Aufenthalt fehlen dürfte - oder wegen der dadurch hervorgerufenen Erforderlichkeit der
233
BayVGH, BayVBl. 1990, 54 (55).
VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163, VG Halle, InfAuslR 1998, 501.
235
OVG MV, NVwZ-RR 2000, 641 (642); OVG Sachsen, SächsVBl. 1996, 119 (120); OVG Sachsen, B.
v. 10. 6. 2002 – 3 BS 214/02; OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62.
236
VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55.
237
VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55.
238
VGH BW, InfAuslR 2002, 228 (229 f.) = AuAS 2002, 28 (29 f.) = NVwZ-Beil. 2001, 55.
239
VG Bremen, InfAuslR 2005, 149.
240
Vgl. VG Berlin, InfAuslR 1995, 415 (417).
234
82
Betreuung der Verlobten durch den Verlobten einen Aussetzungsanspruch nach § 60a Abs. 2
AufenthG241 begründen.
Ebenso begründet die Beziehung zum ungeborenen Kind einen Schutzanspruch. Denn den
Staat trifft eine besondere Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben. Danach hat die
Verwaltung Problemen und Schwierigkeiten nachzugehen, welche der Mutter während der
Schwangerschaft erwachsen können. Ist die Mutter auf die Lebenshilfe des Vaters
angewiesen, hat sie diesem Umstand Rechnung zu tragen.242 Ist etwa die Mutter wegen einer
spastischen Lähmung auf Unterstützung sowohl der Lebensführung wie auch der Betreuung
der beiden gemeinsamen Kinder zwingend angewiesen, ist die Abschiebung des
Kindesvaters nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK untersagt.243 Jedenfalls darf die
Abschiebung eines werdenden Vaters, dem nach der Geburt des Kindes ein Aufenthaltsrecht
zusteht, nur durchgeführt werden, wenn eine Rückkehr noch rechtzeitig vor der Geburt
sichergestellt werden kann244
cc)
Beibringung der Eheschließungsunterlagen
Besondere Probleme bereiten in der Verwaltungspraxis bei ungesichertem Aufenthaltsrecht
des ausländischen Verlobten die Hindernisse, welche einer Eheanmeldung entgegenstehen.
Da in der Verwaltungspraxis die aufenthaltsrechtliche Vorwirkung der grundrechtlich
gewährleisteten Eheschließungsfreiheit zeitlich extrem kurz bemessen wird, scheitern häufig
auch ernsthafte Bemühungen, die Ehe anzumelden. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz
wird bei zeitlich über einen Monat dauernden Verfahren in aller Regel nicht gewährt. Gegen
diese Praxis ergeben sich schwerwiegende Bedenken. Die Dauer des der Eheanmeldung
vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens wird durch die Probleme beeinflusst, welche
insbesondere wegen der Beibringung der erforderlichen Eheschließungsunterlagen entstehen
können.
Auch insoweit gilt grundsätzlich, dass ein Aussetzungsanspruch besteht, wenn die
Eheschließung unmittelbar bevorsteht, der Eheschließungstermin mithin feststeht oder
jedenfalls verbindlich bestimmbar ist. Liegen alle erforderlichen Unterlagen vor und steht nur
noch die Entscheidung des OLG aus, ist grundsätzlich von einer unmittelbar bevorstehenden
Eheschließung auszugehen.245 Steht die Entscheidung des OLG nur noch aus, weil der
Verdacht einer Scheinehe angezeigt wurde, ist die Vermutung einer unmittelbar
bevorstehenden Eheschließung dann widerlegt, wenn das Vorliegen einer Scheinehe nach
dem Akteninhalt überwiegend wahrscheinlich ist.246
Teilt die deutsche Botschaft im Herkunftsland des oder der ausländischen Verlobten mit,
dass die für die beabsichtigte Eheschließung erforderlichen Unterlagen zwecks Legalisierung
eingereicht sind, dass die Legalisierung indes etwa drei Monate, eventuell aber auch etwas
längere Zeit in Anspruch nimmt, gebietet nach der Rechtsprechung die durch Art. 6 Abs. 1
GG geschützte Eheschließungsabsicht, von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen.247 Für den
Fall, dass nach Auskunft der deutschen Botschaft eine Legalisierung der erforderlichen
Personenstandsurkunden überhaupt nicht mehr vorgenommen wird, folgt daraus nicht ohne
weiteres, dass Abschiebungsmaßnahmen zulässig wären. Vielmehr ist in einem derartigen
VG Saarlouis, B. v. 5. 10. 1999 – 1 F 61/99; VG Regensburg, InfAuslR 2002, 241 = AuAS 2002, 30;
VG Cottbus, AuAS 2000, 206.
242
Thür.OVG, InfAuslR 2003, 144 = AuAS 2003, 88; VG Berlin, NVwZ-Beil. 2000, 11; a. A.
Nieders.OVG, B. v. 11. 9. 2003 – 13 ME 331/03, BA, .S. 6.
243
VG Darmstadt, B. v. 27. 9. 2001 – 7 G 1529/01.
244
OVG Sachsen, InfAuslR 2006, 446 (447).
245
OLG Sachsen, AuAS 2006, 242; OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62.
246
OVG Sachsen, NVwZ-RR 2007, 62.
247
VG Stuttgart, InfAuslR 2001, 216; VG Osnabrück, B. v. 5. 3. 2004 – 5 B 59/04.
241
83
Fall Gelegenheit zu geben, eine Befreiung von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses
durch das zuständige OLG zu erwirken.248
Hat der Verlobte alle erforderlichen Unterlagen – ausgenommen Duldungs- und
Aufenthaltsbescheinigung – vorgelegt, ist davon auszugehen, dass er sich ernsthaft um eine
Eheschließung bemüht und seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um in Kürze die Ehe
eingehen zu können. Befindet sich der Verlobte mithin in einer „ausweglosen“ Situation, die
dadurch gekennzeichnet ist, dass er eine Duldung nicht erhält, weil der Termin zur
Eheschließung nicht festgesetzt ist, dieser Termin aber deswegen nicht bestimmt wird, weil
keine Duldung vorliegt, ist ihm angesichts der Vorwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG eine
vorläufige Duldung zu erteilen.249
Ist für die Eheanmeldung die Herbeiführung der Anerkennung eines ausländischen
Scheidungsurteils und hierfür die Vorlage einer Duldungsbescheinigung Voraussetzung, ist
dem Verlobten diese zu erteilen.250 Jedenfalls greift die Festnahme zeitlich unmittelbar vor
der Eheschließung unmittelbar in die Eheschließungsfreiheit nach Art. 6 Abs. 1 GG ein.251
Klagt der Antragsteller gegen die Weigerung des Standesbeamten, die Ehe mit der Verlobten
zu schließen, und ist in wenigen Wochen mit seiner Anhörung vor dem Amtsgericht und
wiederum wenige Woche später mit dessen Entscheidung zu rechnen, erweist sich die
Abschiebung als unverhältnismäßig.252
dd)
Antrag auf Befreiung vom Nachweis des Ehefähigkeitszeugnisses
Nach der Verwaltungspraxis ist regelmäßig eine Duldung zu erteilen, wenn die für die
Eheschließung erforderlichen Unterlagen vorliegen und die Befreiung von der Beibringung
des Ehefähigkeitzeugnisses beantragt worden ist.253 Nach § 1309 Abs. 1 BGB soll, wer
hinsichtlich der Voraussetzungen der Eheschließung vorbehaltlich des Art. 13 Abs. 2
EGBGB ausländischem Recht unterliegt, eine Ehe nicht eingehen, bevor er ein Zeugnis der
inneren Behörde seines Heimatstaates beigebracht hat, dass der Eheschließung nach dem
Recht dieses Staates kein Ehehindernis entgegensteht. Nach § 1309 Abs. 2 Satz 1 BGB kann
der Präsident des OLG von diesem Erfordernis eine Befreiung erteilen. Diese Befreiung soll
nur Staatenlosen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland und Angehörigen solcher Staaten
erteilt werden, deren Behörden keine Ehefähigkeitszeugnisse im Sinne des § 1309 Abs. 1
BGB ausstellen. In besonderen Fällen darf sie auch Angehörigen anderer Staaten erteilt
werden (§ 1309 Abs. 2 Satz 3 BGB).
Ein Staatenloser muss nach der Neufassung des Eheschließungsrechts ein derartiges Zeugnis
nicht mehr beibringen, weil die Voraussetzungen seiner Ehefähigkeit gemäß Art. 13 Abs. 1
EGBGB in Verb. mit Art. 12 Abs. 1 StlÜb nach deutschem Recht richten und deshalb vom
Standesbeamten in eigener Zuständigkeit zu prüfen sind. Dabei kann der Erfüllung dieser
Verpflichtung nicht durch die Bezeichnung „Staatsangehörigkeit ungeklärt“ ausgewichen
werden. Eine Person hat entweder eine oder mehrere Staatsangehörigkeiten oder sie ist
staatenlos. Für die Zwecke des Befreiungsverfahrens kann bei ungeklärter
Staatsangehörigkeit deshalb von der Staatenlosigkeit ausgegangen werden. Andernfalls sind
Ermittlungen zur Staatsangehörigkeit des betroffenen Verlobten angezeigt. Werden
diejenigen Angaben des Antragstellers, die gerade die förmliche Befreiung vom Erfordernis
248
249
250
251
252
253
VG Stuttgart, InfAuslR 2001, 216.
VG Dessau, B. v. 6. 10. 2003 – 3 B 135/03 - NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163.
VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163 = InfAuslR 200, 163.
VG Frankfurt (Oder), B. v. 27. 10. 1998 – 3 L 883/98 - InfAuslR 1999, 33 = AuAS 1999, 14.
VG Münster, AuAS 2006, 40 (41).
OLG Sachsen, AuAS 2006, 242;VG Osnabrück, B. v. 5. 3. 2004 – 5 B 59/04.
84
der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses erst entbehrlich machen, von dem
zuständigen Standesbeamten angezweifelt, so besteht in entsprechender Anwendung des §
1309 Abs. 2 Satz 2 BGB ebenfalls ein Anspruch auf ausdrückliche Befreiung von der
Vorlage des Ehefähigkeitszeugnisses.254
ee)
Nachweis eines gültigen Passes
Grundsätzlich wird für die Eheanmeldung die Vorlage eines gültigen Passes des oder der
ausländischen Verlobten verlangt. Das Bestehen materiellrechtlicher Hindernisse gegen die
Eheschließung nach dem Heimatrecht der Verlobten kann nur geprüft werden, wenn dessen
Staatsangehörigkeit nachgewiesen ist. Gemäß § 11 Abs. 2 PStV hat derjenige Verlobte, der
nicht Deutscher ist, seine Staatsangehörigkeit durch eine Bescheinigung seines
Heimatstaates, eines die Angabe der Staatsangehörigkeit enthaltenden Personalausweises
oder eines Passes nachzuweisen, wobei grundsätzlich die Vorlage eines gültigen Reisepasses
verlangt wird. An diesen Nachweis dürfen jedoch keine unzumutbaren Anforderungen
gestellt werden, so dass er im Einzelfall auch auf andere Weise geführt werden kann.255
Zum Nachweis der Identität und der Staatsangehörigkeit kann auch ein abgelaufener
Reiseausweis des Herkunftsstaates oder eine Fotokopie einer Identitätskarte in Verbindung
mit anderen beweiskräftigen Unterlagen ausreichen.256 Will ein Ausländer heiraten und
verbleibt sein Pass bei der Ausländerbehörde, hat er jederzeit einen Anspruch auf
Übersendung einer Passkopie an das Standesamt, ungeachtet dessen, in welchem Stadium
sich das Eheanmeldungsverfahren befindet und welche anderen zur Eheschließung etwa noch
erforderlichen Urkunden noch fehlen mögen, wenn das Eheanmeldungverfahren nicht
offenkundig aus anderen Gründen von vornherein aussichtslos erscheint und auch keine
greifbaren Anhaltspunkte für eine bloße Scheinehe vorliegen.257 Erachtet das Standesamt die
Vorlage des Orginals des Passes für erforderlich, hat die Ausländerbehörde das Orginal an
die Ausländerbehörde zu übersenden und kann dieser Rechtsanspruch gegebenenfalls mit
einem Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO durchgesetzt werden.258
In der Verwaltungspraxis sichern überwiegend ministerielle Erlasse, dass die Eheanmeldung
erst und nur dann in die Wege geleitet wird, wenn ein gültiger nationaler Reiseausweis
vorgelegt wird. Mit dem Zeitpunkt der Ausstellung des Reiseausweises entfällt die auf die
Passlosigkeit bezogene bisherige auflösende Bedingung der Duldungsbescheinigung. In der
Verwaltungspraxis ziehen die Standesämter häufig in Amtshilfe für die zuständige
Ausländerbehörde den im Rahmen des Eheanmeldungsverfahrens vorgelegten Pass ein. Die
Ausländerbehörde leitet daraufhin unverzüglich Vollzugsmaßnahmen ein, ohne die zeitlich
bestimmbare Eheanmeldung zu berücksichtigen. Dies führt in vielen Fällen dazu, dass die
Eheanmeldung nicht mehr vorgenommen oder nur unter besonders erschwerten Bedingungen
durchgesetzt werden. Eine derartige Verwaltungspraxis ist mit Art. 6 Abs. 1 GG kaum
vereinbar.259 Sind die erforderlichen Eheschließungsunterlagen abgegeben worden, kann der
Zeitpunkt der Eheanmeldung bestimmt werden. Lange Wartezeiten insbesondere bei stark
frequentierten großstädtischen Standesämtern dürfen nicht zu Lasten des ausländischen
Verlobten gehen. Er hat unter diesen Voraussetzung trotz des Eintritts der auslösenden
Bedingung der Duldung wegen Wegfall des Abschiebungshindernisses (Ausstellung eines
nationalen Passes) einen Anspruch auf Erteilung einer vorläufigen Duldung (§ 60a Abs. 2
254
255
256
257
258
259
KG, InfAuslR 2000, 299 (301).
KG, InfAuslR 2002, 95 (96).
KG, InfAuslR 2002, 95 (96); KG, InfAuslR 2000, 299 (301).
VG Freiburg, InfAuslR 2006, 150 (152).
Vgl. VG Freiburg, InfAuslR 2006, 150 (151 f).
S. auch VG Dessau, NVwZ-RR 2004, 299 = InfAuslR 200, 163, zur vorläufigen Duldung.
85
AufenthG), der gegebenenfalls mit dem Antrag nach § 123 VwGO sicherzustellen ist. Nach
der Eheschließung ist über den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe
von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu entscheiden.
2.
Aufenthaltsrecht des stammberechtigten Familienangehörigen
Der im Bundesgebiet lebende Ausländer muss im Zeitpunkt der Entscheidung über den
Nachzug sowie über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Besitz einer Aufenthaltsoder Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG sein (§§ 29
Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG). Beim Nachzug zu deutschen
Staatsangehörigen tritt an die Stelle des Besitzes des Aufenthaltstitels dessen gewöhnlicher
Aufenthalt im Bundesgebiet (§ 28 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG). Die Geltungsdauer des
Aufenthaltstitels darf nicht abgelaufen oder wegen eines längeren Auslandsaufenthaltes
erloschen sein. Dem Besitz des Aufenthaltstitels steht es nicht gleich, wenn die Erteilung
eines derartigen Titels im maßgeblichen Zeitpunkt gerichtlich erstritten wird.260 Beruht das
Erlöschen auf einem Verwaltungsakt (Widerruf, Rücknahme, Ausweisung), kommt es auf
dessen Unanfechtbarkeit nicht an (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG
1990). Die Vorschriften stehen einer gleichzeitigen Einreise des Ausländers und seines
Familienangehörigen nicht entgegen. Die Ausländerbehörde kann daher der Visumerteilung
an den Familienangehörigen unter der Bedingung zustimmen, dass dem Ausländer selbst ein
Visum erteilt wird.
Ganz allgemein ist es mit dem Schutzgebot von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG grundsätzlich
vereinbar, die Ehegatten auf die Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft im
gemeinsamen Heimatstaat zu verweisen, wenn sich der in Deutschland lebende Ehegatte hier
noch nicht längere Zeit aufhält und ihm deshalb die Wiedereingewöhnung in die Verhältnisse
seines Heimatstaates nicht besonders schwer fallen dürfte. Wird die verfestigte Integration
nicht gemäß § 30 Abs. 1 AufenthG vom Gesetz unterstellt, weil die Ehe noch nicht im
Zeitpunkt der Einreise des Ausländers bestanden hatte, entspricht eine den Anspruch
ermöglichende Ermessensausübung dem Zweck der Ermächtigung in § 30 Abs. 2 AufenthG,
wenn die vom Gesetz geforderte gefestigte Integration auf andere Weise nachgewiesen ist.261
In der Rechtsprechung wird allerdings unter dem Gesichtspunkt des „schleichenden
Familiennachzugs“ dessen Versagung für zulässig erachtet, um einen „planmäßigen,
schleichenden Nachzug“ zu verhindern. Dies sei der Fall, wenn Ausländer ihre im Ausland
geführte Ehe, aus der Kinder hervorgegangen seien, gezielt unterbrächen, damit einer der
Ehegatten nach Einreise in die Bundesrepublik mittels Eheschließung mit einem deutschen
Staatsangehörigen ein schließlich eheunabhängiges Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet
erwerbe und nach Scheidung seinen noch im Heimatstaat verbliebenen Partner samt
gemeinsamer Kinder nach Deutschland nachholen kann, um im Bundesgebiet die Ehe
weiterführen zu können.262 Wie ausgeführt, kann in den Fällen des Rechtsanspruchs nach § 30
Abs. 1 AufenthG dieser Einwand nicht vorgebracht werden. Darüber hinaus ist ein von
Anfang an einvernehmliches Handeln beider Ehegatten nachzuweisen. Hieran fehlt es, wenn
mit dem deutschen Ehegatten tatsächlich eine Lebensgemeinschaft geführt wird und es nach
der Scheidung zur Versöhnung mit dem im Heimatstaat lebenden früheren Ehepartner kommt.
3.
Ausreichender Wohnraum (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 in Verb. mit § 2 Abs. 4 AufenthG)
260
BVerwG, NVwZ 1998, 185 (186) = InfAuslR 1997, 352; Richter, NVwZ 1998, 128 (130)
VG Berlin, NVwZ-RR 2003, 528 = AuAS 2003, 62.
261
262
VG Berlin, NVwZ-RR 2003, 528 (529) = AuAS 2003, 62.
86
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wird für den Nachzug zu ausländischen Stammberechtigten
darüber hinaus vorausgesetzt, dass ausreichender Wohnraum zur Verfügung stehen muss. Der
unbestimmte Rechtsbegriff des ausreichenden Wohnraums wird durch die Legaldefinition des
§ 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG konkretisiert. Danach wird als ausreichender Wohnraum
nicht mehr gefordert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich
geförderten Sozialmietwohnung genügt. In der Verwaltungspraxis zum früheren Recht wie
auch zum geltenden Recht wird eine abgeschlossene Wohnung mit Küche, Bad und WC stets
als ausreichend angesehen, wenn für jede Person über sechs Jahre zwölf Quadratmeter und
für jede Person unter sechs Jahre zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen (Nr. 2.4.3 VAH).
Eine Unterschreitung der maßgeblichen Wohnungsgröße um etwa 10% ist unschädlich (Nr.
2.4.3 AufenthG-VwV).
Der Wohnraum insgesamt ist maßgebend. Ob eine entsprechend große Wohnfläche für die
betreffenden Familienangehörigen tatsächlich zur Verfügung steht, ist unter diesen
Voraussetzungen unerheblich. Maßgebend ist nur die Wohnfläche insgesamt.263 Bei der
Ermittlung des Wohnraums sind auch Räume außerhalb der Wohnung und Nebenräume, etwa
Küche, Bad, Toilette, zu berücksichtigen, die die Familie aufgrund vertraglicher
Vereinbarungen oder sonstiger verlässlicher Zusicherung dauerhaft benutzen oder
mitbenutzen darf.264 Es muss sich nicht zwingend um eine abgeschlossene Wohnung
handeln.265 Alle in der Wohnung dauerhaft in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden
Angehörigen sind zu berücksichtigen. Wohnraum muss deshalb auch für die
Familienangehörigen vorgehalten werden, die vorübergehend oder zeitweise außerhalb der
Familienwohnung leben. Als Konsequenz der gesetzgeberischen Entscheidung, dass der
Nachzug zu Deutschen nicht vom Wohnraumerfordernis abhängig gemacht werden darf,
dürfen bei der Berechnung des Wohnraums deutsche Familienangehörige, die in der
Familienwohnung leben, nicht einbezogen werden. Kinder bis zur Vollendung des zweiten
Lebensjahres werden bei der Berechnung des ausreichenden Wohnraums nicht mitgezählt (§ 2
Abs. 4 Satz 3 AufenthG).
Bei der Verlängerung der im Rahmen des Kindernachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis (§
32, § 33 AufenthG) wird vom Wohnraumerfordernis abgesehen, solange ein
personensorgeberechtigter Elternteil eine Niederlassungserlaubnis oder Aufenthaltserlaubnis
besitzt und das Kind mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebt oder das Kind im Falle
seiner Ausreise ein Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG hätte (§ 34 Abs. 1 AufenthG). Der
Nachweis der familiären Lebensgemeinschaft setzt nicht zwingend die Führung einer
häuslichen Gemeinschaft voraus. Bei der Verlängerung der im Rahmen des
Ehegattennachzugs erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 und 2 AufenthG kann vom
Erfordernis des Abs. 1 Nr. 1 abgesehen werden, solange die eheliche Lebensgemeinschaft
fortbesteht (§ 30 Abs. 3 AufenthG). Diese muss nicht zwingend in Form der
Hausgemeinschaft geführt werden. Bei der Ermessensentscheidung sind insbesondere die
grundrechtlichen Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG sowie die Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen.
Der
Nachweis
ausreichenden
Wohnraums
gehört
zu
den
grundlegenden
Nachzugsvoraussetzungen und ist Teil der Mitwirkungspflicht nach § 82 Abs. 1 AufenthG.
Zu diesem Zweck sind die erforderlichen Nachweise vorzulegen. Im Regelfall wird der
Nachweispflicht genügt, wenn der Mietvertrag vorgelegt und in diesem die Anzahl der in der
Wohnung lebenden Personen, die Größe des Wohnraums und der monatliche Mietzins
263
264
265
Igstadt, in: GK- AuslR, II - § 17 AuslG Rdn. 107; Hailbronner, AuslR, § 29 AufenthG Rdn. 8.
Igstadt, in: GK- AuslR, II - § 17 AuslG Rdn. 100.
Fränkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 76.
87
zuzüglich Nebenkosten bezeichnet sind. Fehlt es an einer dieser Angaben, ist eine vom
Vermieter ausgestellte Bescheinigung (Vermieterbescheinigung) vorzulegen, welche die
erwähnten Daten enthält. Angaben zum Mietzins sind insbesondere für die Überprüfung der
Unterhaltssicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) erforderlich. Der Wohnraum kann auch
durch Untervermietung bereitgestellt werden, wenn dies vertraglich zugelassen ist und der
untervermietete Wohnraum den oben bezeichneten Voraussetzungen genügt.
Der Nachweispflicht muss spätestens im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung genügt
worden sein. Da die allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen ohnehin durch die zuständige
Ausländerbehörde im Rahmen des internen Zustimmungsverfahrens nach § 31 Abs. 1
AufenthV geprüft werden, kann der entsprechende Visumantrag zunächst ohne Beifügung der
erforderlichen Nachweise bei der zuständigen Auslandsvertretung gestellt und können
anschließend nach Abgabe des Vorgangs an die zuständige Ausländerbehörde gegenüber
dieser die entsprechenden Nachweise vorgelegt werden. Dies entspricht der weithin geübten
Verwaltungspraxis. Der Nachzug zu deutschen Staatsangehörigen darf nicht vom Nachweis
ausreichenden Wohnraums abhängig gemacht werden (vgl. § 28 AufenthG). Kinder bis zur
Vollendung des zweiten Lebensjahres werden bei der Berechnung des für die
Familienunterbringung ausreichenden Wohnraums nicht mitgerechnet (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 3
AufenthG). Beim Nachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen ist vom
Wohnraumerfordernis nach Maßgabe der in § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG enthaltenen
Grundsätze abzusehen werden.
5.
Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 in Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG)
Beim Unterhaltserfordernis handelt sich um eine allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung266:
Beim Nachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen ist vom Erfordernis der Sicherung des
Lebensunterhaltes abzusehen, wenn der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels innerhalb
von drei Monaten nach unanfechtbarer Statusgewährung gestellt wird und die Herstellung der
familiären Lebensgemeinschaft in einem Drittstaat, zu dem der Stammberechtigte oder seine
Familienangehörigen eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist (§ 29 Abs. 2 Satz 2
AufenthG). Damit setzt der Gesetzgeber Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG um. Die
Rechtsprechung erachtet es für zulässig, die Aufenthaltserlaubnis mit einer auflösenden
Bedingung „erlischt bei Sozialhilfebezug“ zu versehen und erkennt insoweit keinen
Suspensiveffekt des eingelegten Rechtsbehelfs an.267
6.
Versagungsgründe (§ 27 Abs. 3 AufenthG)
a)
Angewiesensein auf Sozialleistungen (§ 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG)
§ 27 Abs. 3 AufenthG räumt der Behörde Versagungsermessen ein, wenn einer der beiden
Tatbestände dieser Norm vorliegt. Durch § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll sichergestellt
werden, dass durch den Zuzug die Sicherung des Lebensunterhaltes für die Personen nicht in
Frage gestellt wird, denen der Unterhaltsverpflichtete, zu dem der Nachzug stattfindet, bisher
Unterhalt geleistet hat. Nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist beim Vorliegen von
Ausweisungsgründen in der Person des den Nachzug Begehrenden über die Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen zu entscheiden.
Durch § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll sichergestellt werden, dass durch den Zuzug die
Sicherung des Lebensunterhaltes für die Personen nicht in Frage gestellt wird, denen der
Stammberechtigte bisher Unterhalt geleistet hat. Dies gilt z.B. soweit beim Nachzug von
Familienangehörigen aus einer späteren Ehe die aus einer früheren Ehe
unterhaltsberechtigten Personen nicht mehr ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem
266
267
Zum atypischen Ausnahmefall OVG Berlin-Brandenburg, AuAS 2008, 171 (172 f.).
OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 451.
88
SGB II oder SGB XII mit ausreichendem Unterhalt rechnen können, weil der Unterhalt
vorrangig den hinzukommenden Familienangehörigen gewährt wird.268 Selbst wenn die
Voraussetzungen eines gesetzlichen Anspruchs auf Erteilung oder Verlängerung des
Aufenthaltstitels vorliegen, kann diese danach unter den Voraussetzungen des § 27 Abs. 3
Satz 1 AufenthG im Ermessenswege versagt werden.
Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Nachzugs kann nach § 27 Abs. 3
Satz 1 AufenthG versagt werden, wenn gegenüber dem Stammberechtigten
unterhaltsberechtigte Personen oder Haushaltsangehörige des Stammberechtigten auf
Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII angewiesen sind. § 27 Abs. 3 Satz 1 1. Alt.
AufenthG ist danach zu beachten, wenn ein Stammberechtigter gegenüber
Familienangehörigen z. B. aus vorheriger Ehe unterhaltsverpflichtet ist. Dabei ist die
Unterhaltsverpflichtung des ausländischen Stammberechtigten nach dem Recht seines
Heimatstaates zu bestimmen.269 § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG findet damit auch auf den
Nachzug zu einem deutschen Staatsangehörigen Anwendung.
Der Kreis der in Betracht kommenden Personen im Blick auf die erste Alternative erfasst
damit gegenüber dem Stammberechtigten unterhaltsverpflichtete Personen, selbst wenn diese
nicht im Haushalt des Stammberechtigten leben. Jedoch liegt in den Fällen, in denen der
aufenthaltsrechtliche Status der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen unabhängig vom
aufenthaltsrechtlichen Status des Stammberechtigten ist, kein Ausweisungsgrund bezogen
auf den Stammberechtigten vor. Unter diesen Umständen kann der Ausweisungsgrund des
Bezugs von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII in seiner Funktion als
Versagungsgrund keine Anwendung finden.270 Die zweite Alternative in § 27 Abs. 3 Satz 1
AufenthG umfasst unabhängig von deren Staatsangehörigkeit oder deren familienrechtlichen
Status Haushaltsangehörige des Stammberechtigten. Es werden damit Personen in den
Anwendungsbereich der Vorschrift einbezogen, die der Stammberechtigte ungeachtet einer
gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtung in seinen Haushalt aufgenommen hat und
tatsächlich unterhält. Lebt danach eine deutsche oder ausländische Person im Haushalt des
deutschen oder ausländischen Stammberechtigten und bezieht Leistungen nach dem SGB II
oder SGB XII, findet Abs. 3 Satz 1 Anwendung.
Während es nach dem Gesetzeswortlaut auf das Angewiesensein auf Leistungen nach dem
SGB II oder SGB XII ankommt, soll es nach der Gesetzesbegründung wie nach bisherigem
Recht nur auf das abstrakte Bestehen eines entsprechenden Anspruchs, nicht jedoch auf die
tatsächliche Inanspruchnahme ankommen.271 Eine gesetzessystematische Betrachtung legt
jedoch nahe, den Begriff des Angewiesenseins nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG so
auszulegen und anzuwenden, dass er nicht in Widerspruch zu dem Begriff des „Vorliegens
eines Ausweisungsgrundes“ nach § 27 Abs. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
gerät. Während nach früherem Recht bereits dann ein Ausweisungsgrund vorlag, wenn
Unterhaltsberechtigte oder Personen im Haushalt zwar keine Sozialhilfe in Anspruch
nahmen, aber wegen - unterhalb des Regelsatzes liegenden Einkommens des
Unterhaltsverpflichteten – (eigentlich) einen Anspruch auf Leistungsbezug hatten, diesen
aber nicht geltend machten (vgl. § 46 Nr. 6 AuslG 1990), liegt nach geltendem Recht ein
Ausweisungsgrund nur noch vor, wenn diese Personen tatsächlich Leistungen in Anspruch
nehmen (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Besteht nur ein entsprechender Anspruch, wird
268
269
270
271
BT-Drs. 15/420, S. 81.
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142) = AuAS 2005, 62 = NVwZ 2005, 460.
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142 = AuAS 2005, 62 = NVwZ 2005, 460:
BT-Drs. 15/420, S. 81; ebenso Nr. 27.3.2 und 27.3.3 VAH; Storr u.a., Kommentar zum ZuwG, S. 179.
89
dieser aber nicht geltend gemacht, kann mithin nach geltendem Recht keine Ausweisung
mehr verfügt werden.
Der Wortlaut von § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erscheint insoweit offen. Wer sich in seiner
Lebensführung einschränkt und ihm zustehende Ansprüche nicht geltend macht, ist für seine
konkrete Lebensführung auf diese nicht angewiesen. Angewiesen ist er auf diese Ansprüche
erst, wenn er seinen Lebensunterhalt ohne deren Inanspruchnahme nicht sicherstellen kann.
Werden darüber hinaus die gesetzessystematischen Auslegungsgrundsätze, d.h. der
Zusammenhang der beiden Sätze von § 27 Abs. 3 AufenthG , bedacht, kann Abs. 3 Satz 1
erst Anwendung finden, wenn die in dieser Vorschrift bezeichneten Personen tatsächlich
gesetzliche Leistungen in Anspruch nehmen. Zwar soll nach Nr. 55.2.6.1 VAH der
Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG auch die Sozialhilfebedürftigkeit
umfassen. Es komme jedoch grundsätzlich eine Ausweisung von Ausländern, die einen
Aufenthaltstitel besitzen, wegen bloßer Sozialhilfebedürftigkeit nicht in Betracht. Die
Einbeziehung der Sozialhilfebedürftigkeit in den Ausweisungsgrund erscheint ungereimt, ist
jedenfalls mit dem Wortlaut von § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG nicht vereinbar. Ein
Ausweisungsgrund kommt deshalb nur bei tatsächlicher Inanspruchnahme von Leistungen
nach dem SGB II oder SGB XII in Betracht. Nur wenn gegenüber dem Stammberechtigten
unterhaltsberechtigte Personen oder Haushaltsangehörige des Stammberechtigten tatsächlich
derartige Leistungen in Anspruch nehmen, nicht aber, wenn nur ein entsprechender Anspruch
besteht, aber nicht geltend gemacht wird, kann danach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zur
Anwendung kommen.
Nach Nr. 27.3.2 AufenthG-VwV sind demgegenüber die Voraussetzungen von § 27 Abs. 3
Satz 1 AufenthG erfüllt, wenn infolge des Nachzugs ein Anspruch auf Leistungen nach dem
SGB II oder SGB XII entstehen würde, darüber hinaus aber auch dann, wenn ein solcher
Anspruch bereits ohne den Nachzug besteht. Diese Betrachtung ist nicht am
Gesetzeswortlaut und der Gesetzessystematik ausgerichtet. Vielmehr legt sie dem Begriff des
Angewiesenseins eine wertende Betrachtung zugrunde. Durch den Nachzug darf keine
weitere Belastung des Sozialhilfesystems eintreten.272 Diese vom Gesetzgeber nicht
erwünschte Wirkung im konkreten Nachzugsfall darf aber nicht durch eine Überdehnung des
Wortlauts erstrebt werden. Vielmehr ist bei der Anwendung von § 27 Abs. 3 Satz 1
AufenthG eine Prognoseentscheidung gefordert. Wenn in der Vergangenheit trotz
bestehender Ansprüche diese nicht in Anspruch genommen wurden, ist die Familie nicht auf
ihr zustehende Ansprüche angewiesen. Wird im zeitlichen Zusammenhang mit dem
konkreten Nachzugsbegehren auf den weiteren Leistungsbezug verzichtet, spricht vieles
dafür, dass die Familie auf diesen Bezug angewiesen ist und auf diesen nach der Einreise des
den Nachzug begehrenden Familienangehörigen erneut zurück greifen wird.
In der Verwaltungspraxis dürfte der dargestellte Auslegungsstreit häufig im Sinne der
engeren Auffassung gelöst werden. Bestehen gegen den ausländischen Stammberechtigten
Unterhaltsansprüche von Familienangehörigen aus früherer Ehe oder von
Haushaltsangehörigen, wird die Ausländerbehörde bereits dann ihre Zustimmung (§ 31
AufenthV) versagen, wenn aufgrund dessen aus ihrer Sicht der Lebensunterhalt nicht
gesichert ist. Da der Nachzug zu Deutschen abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG
gewährt wird (§ 28 Abs. 1 1. Hs. AufenthG), darf der Nachzug zu Deutschen nicht von
bestehenden,
aber
nicht
durchgesetzten
Leistungsansprüchen
ausländischer
Familienangehöriger des Deutschen oder dessen Haushaltsangehörigen abhängig gemacht
werden (ebenso Nr. 27.3.7 AufenthG-VwV). Dies gilt ebenso in den anderen Fällen, in denen
272
Hailbronner, AuslR, A 1, § 27 AufenthG Rdn. 70.
90
die Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen ist, also in den Fällen nach §
29 Abs. 2 und 4, § 33 und § 34 Abs. 1, auch in Verbindung mit § 36 AufenthG (Nr. 27.3.7
VAH, s. auch Nr. 55.2.6.3.1 AufenthG-VwV).
Die Ausländerbehörde hat nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zunächst die öffentlichen
Belange und das Gewicht der individuellen Interessen zu identifizieren und eine umfassende
Interessenabwägung insbesondere auch unter Berücksichtigung der in § 55 Abs. 3 und § 56
AufenthG genannten Gesichtspunkte mit Bezug auf den nachziehenden Ausländer zu
berücksichtigen (Nr. 27.3.9 VAH) vorzunehmen. Dabei hat sie insbesondere auf die Folgen
Bedacht zu nehmen, die zu Lasten von Dritten entstehen können, die der Stammberechtigte
in Erfüllung einer moralischen, nicht aber aufgrund einer gesetzlichen oder vertraglichen
Verpflichtung in seinen Haushalt aufgenommen hat. Sie muss in ihr Ermessen einbeziehen,
dass der Stammberechtigte die Haushaltsangehörigen zur Abwendung einer negativen
Entscheidung nicht weiter in seinem Haushalt belassen könnte und diese damit zusätzlich
öffentliche Kosten in Anspruch nehmen müssten.
b)
Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG)
Nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann vom Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs.
1 Nr. 2 AufenthG) abgesehen werden. Zunächst ist danach zu prüfen, ob in der Person des
den Nachzug begehrenden Familienangehörigen ein Ausweisungsgrund erfüllt ist. Liegt ein
Ausweisungsgrund vor, ist sowohl in den Anspruchs- wie auch in den Ermessensfällen über
den Nachzug nach Ermessen zu entscheiden (§ 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). § 27 Abs. 3 Satz
2 AufenthG ist gegenüber der generellen Norm des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG Spezialnorm.
Ein Rückgriff auf die generelle Norm ist deshalb bei der Anwendung der
Nachzugsregelungen nicht zulässig. Vielmehr ist in allen Nachzugsfällen bei Vorliegen eines
Ausweisungsgrundes nach behördlichem Ermessen über die Erteilung und Verlängerung des
Aufenthaltstitels zu entscheiden. Da § 28 Abs. 1 1. Hs AufenthG nur von der Anwendung des
§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nicht aber von den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG befreit, ist der Versagungsgrund auch auf den ausländischen Familienangehörigen
anzuwenden, der zu einem deutschen Staatsangehörigen den Nachzug begehrt. Dies
entspricht der früheren Gesetzeslage.
Nach ständiger Rechtsprechung kommt es nicht darauf an, ob die Ausweisung im Einzelfall
fehlerfrei verfügt werden könnte oder ob die Ausländerbehörde die Erfüllung des
Ausweisungstatbestandes zum Anlass einer Ausweisung oder einer Verwarnung genommen
hat. Vielmehr reicht das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes für die Anwendung von
§ 27 Abs. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Nr. 2 AufenthG aus. 273 Eine hypothetische
Ausweisungsprüfung entfällt damit. Jedoch ist den ausweisungsrechtlichen Schutznormen
bei der Ermessensausübung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG Rechnung zu tragen. Hat die
Auslandsvertretung in Kenntnis des Ausweisungsgrundes ein Visum zum Zwecke der
Familienzusammenführung erteilt, darf die Ausländerbehörde bei ihrer Entscheidung über
die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Einreise § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht
mehr anwenden.274
Zwar reicht für die Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich die Erfüllung
eines Ausweisungstatbestandes aus. Der Ausweisungsgrund darf indes nicht verbraucht
BVerwG, Buchholz 402.24 § 24 AuslG 1990 Nr. 2; BVerwGE 116, 378 (385) = EZAR 024 Nr. 12 =
InfAuslR 2003, 50 = NVwZ 2003, 217; BVerwG, AuAS 2005, 62 (63); VGH BW, EZAR 017 Nr. 3 = DÖV
1992, 539:
274
VGH BW, NVwZ-RR 1997, 750, unter Verweis auf VGH BW, InfAuslR 1997, 111 (113).
273
91
sein.275 In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei der
Verlängerungsentscheidung relevant, weil vor der Einreise kaum Ausweisungstatbestände
vom nachziehenden Familienangehörigen erfüllt werden können. Der nachziehende
Angehörige kann sich indes vor seiner jetzt begehrten Einreise bereits im Bundesgebiet
aufgehalten haben und während dieses Aufenthaltes einen Ausweisungstatbestand erfüllt
haben. Wurde er ausgewiesen und hat er vor der Visumbeantragung die Aufhebung der
Sperrwirkung der Ausweisung beantragt und die zuständige Ausländerbehörde diese
antragsgemäß aufgehoben, ist der Rechtsversagungsgrund nach § 11Abs. 1 Satz 2 AufenthG
beseitigt. § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kommt gar nicht erst zur Anwendung, weil § 11 Abs.
1 Satz 2 AufenthG gegenüber § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG lex spezialis ist. Es kann aber
sein, dass zwar während des früheren Aufenthaltes ein Ausweisungsgrund erfüllt wurde, die
Ausländerbehörde indes hieraus keine ausweisungsrechtlichen Konsequenzen gezogen hat.
Für diese Fälle kommt dem Einwand des verbrauchten Ausweisungsgrundes maßgebende
Bedeutung zu.
Zwar begründet eine Verlängerung des Aufenthaltstitels trotz Vorliegens eines
Ausweisungsgrundes
im
Allgemeinen
kein
schutzwürdiges
Vertrauen.
Der
Ausweisungsgrund muss jedoch noch aktuell vorliegen, darf also nicht verbraucht sein.
Längere Zeit zurückliegende, abgeschlossene Ausweisungsgründe vermögen die Ablehnung
des Aufenthaltstitels nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht zu tragen, wenn es die
Ausländerbehörde trotz Kenntnis aller maßgeblichen Umstände unterlässt, den Aufenthalt
des Familienangehörigen zu beenden, insbesondere, wenn sie diesem in Kenntnis dieser
Umstände einen Aufenthaltstitel erteilt oder verlängert.276 Hat die Behörde etwa bei einem
Ausländer, der nach Art. 3 Abs. 3 ENA besonderen Ausweisungsschutz genießt, auf die
Ausweisung verzichtet, kann sie sich nicht auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen. Eine
zeitlich unbegrenzte Berücksichtigung des Ausweisungsgrundes würde zu einem
unauflösbaren Wertungskonflikt mit § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG führen. Da nach dieser
Vorschrift die Ausweisung regelmäßig befristet wird, würde die auf das bloße Vorliegen
eines Ausweisungstatbestandes gestützte Versagung der Erteilung oder Verlängerung eines
Aufenthaltstitels weitergehende Folgen für den den Nachzug begehrenden
Familienangehörigen haben als die Ausweisung. Dies wäre mit dem Schutzgedanken des Art.
6 Abs. 1 und 2 GG schwerlich vereinbar.277
Bei der behördlichen Ermessensausübung ist das durch die Verwirklichung des
Ausweisungstatbestandes hervorgerufene öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsversagung
mit dem individuellen, grundrechtlich geschützten Interesse des den Nachzug begehrenden
Angehörigen in Verbindung mit dem ebenfalls grundrechtlich geschützten Interesse des
Stammberechtigten abzuwägen. Die Behörde hat hierbei das besondere Gewicht, das Ehe
und Familie verfassungsrechtlich (Art. 6 Abs. 1 GG) wie auch konventionsrechtlich (Art. 8
Abs. 1 EMRK, Art. 23 IPbpR) beizumessen ist, zu beachten, und die Folgen der Versagung
des Aufenthaltes für den Nachziehenden, insbesondere aber für seine von ihm abhängigen
Familienangehörigen in die Ermessensabwägung einzustellen.278 Die Behörde hat bei der
Ermessensausübung insbesondere Fortschritte in der Heilung einer Psychose des
Familienangehörigen und in der Drogentherapie zu berücksichtigen. Diese vermindern die
Gefahr für die Allgemeinheit und sind geeignet, aufgrund einer Abwägung nach Maßgabe
275
Hess.VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.); VGH BW, InfAuslR 1997, 111
(113).
276
277
278
Hess.VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.).
Ähnlich VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.).
VGH BW, InfAuslR 1993, 55 (57 ff.).
92
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit insbesondere in Verbindung
Wiederherstellung der Ehe- und Familiengemeinschaft zu begründen.279
mit
der
Die Behörde hat insbesondere die Frage der Zumutbarkeit der Herstellung der
Familieneinheit im Herkunftsland des Familienangehörigen zu beachten. Im Blick auf im
Bundesgebiet lebende deutsche Familienmitglieder ist dabei grundsätzlich das Ermessen
reduziert. Dies gilt auch für stammberechtigte Ausländer mit verfestigtem Aufenthaltsstatus.
Im Rahmen der Ermessensabwägung sind die Interessen der stammberechtigten
Familienangehörigen nicht erst zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen des § 56
AufenthG erfüllt sind. In diesem Fall dürfte das Ermessen in aller Regel reduziert sein.
Vielmehr sprechen verfassungs- und völkerrechtliche Gründe dafür, bei stammberechtigten
Deutschen und stammberechtigten Ausländern mit verfestigtem Aufenthaltsstatus
grundsätzlich das nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen zugunsten der den
Nachzug begehrenden Angehörigen auszuüben.
Zwar reicht grundsätzlich das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes für die Anwendung
von § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aus. Eine erhebliche Korrektur der tatbestandlichen
Voraussetzungen des Ermessens hat jedoch auf der Rechtsfolgenseite zu erfolgen. Danach ist
bei Rechtsansprüchen das Versagungsermessen unter Berücksichtigung der besonderen
aufenthaltsrechtlichen Stellung des den Nachzug begehrenden Ausländers auszuüben und
sind deshalb die für die Aufenthaltsbeendigung maßgebenden Schutzwirkungen auch bei der
Ausübung des Versagungsermessens nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu
berücksichtigen.280 Die für die Aufenthaltsbeendigung maßgebenden Schutznormen enthält
nicht nur § 56 AufenthG, sondern insbesondere auch Art. 8 EMRK und Art. 3 Abs. 3 ENA.
Dadurch werden öffentliche Interessen nicht in unzulässiger Weise eingeschränkt. Wenn die
Behörde eine Gefahr für die Allgemeinheit erkennt, muss sie den Weg über die Ausweisung
gehen. Es ist ihr grundsätzlich verwehrt, die besonderen Schutzwirkungen des § 56 AufenthG
und anderer verfassungs- und völkerrechtlicher Normen dadurch zu unterlaufen, dass sie
anstelle einer Ausweisung die Verlängerung des Aufenthaltstitels ablehnt. Zwar kommt es
nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nur auf das bloße Vorliegen eines Ausweisungsgrundes
an. Greifen jedoch besondere ausweisungsrechtliche Schutznormen ein, ist ein
Wertungswiderspruch von Art. 3 Satz 2 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mit § 56
AufenthG dadurch zu vermeiden, dass bei der Ermessensausübung diese Schutznormen
zwingend zu berücksichtigen sind.
II.
Ehegattennachzug zu ausländischen Stammberechtigten (§ 30 AufenthG)
Der Gesetzgeber hält an der früher maßgeblichen Unterscheidung zwischen dem
Ehegattennachzug zu Angehörigen der ersten Generation (§ 18 Abs. 1 Nr. 1, 3 AuslG 1990)
einerseits und zu Angehörigen der zweiten Generation (§ 18 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990)
andererseits nicht mehr fest, weil diese sich historisch überholt haben dürfte. Der
Rechtsanspruch nach § 30 Abs. 1 AufenthG greift nur durch, wenn sämtliche allgemeinen
Nachzugsvoraussetzungen vorliegen. Zugunsten der Ehegatten von Asylberechtigten und
Flüchtlingen werden von diesem Grundsatz allerdings Ausnahmen zugelassen. Ein
Rechtsanspruch auf Ehegattennachzug besteht, wenn
1.
beide Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben,
279
BVerwG, InfAuslR 1997, 240 (242) = NVwZ-RR 1997, 567.
BVerwGE 116, 378 (385 f.) = EZAR 024 Nr. 12 = InfAuslR 2003, 50 = NVwZ 2003, 217; VGH BW,
InfAuslR 1993, 55 (56 ff.).
280
93
2.
3.
der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen
kann und
der hier lebende stammberechtigte Ausländer
a)
eine Niederlassungserlaubnis,
b)
eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG,
c)
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 20 oder § 25 Abs. 1 oder Abs. 2
AufenthG besitzt,
d)
seit zwei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und diese nicht mit
einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 AufenthG versehen oder die
spätere Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ausgeschlossen ist.
e)
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die Ehe bei deren Erteilung bereits
bestand und die Dauer des Aufenthalts voraussichtlich über ein Jahr
betragen wird,
f)
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besitzt und die eheliche
Lebensgemeinschaft bereits in dem Mitgliedstaat bestand, in dem der
stammberechtigte Ehegatte die Rechtsstellung eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten innehat oder
g)
eine BlaueKarte-EU besitzt
Die Altergrenze wie das Spracherfordernis281 entfallen, wenn der stammberechtigte Ehegatte
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19 bis § 21 AufenthG besitzt und die Ehe bereits in dem
Zeitpunkt bestand, in dem er seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt hat (1.
Fall), der Stammberechtigte unmittelbar vor der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis,
einer Erlaubnis zum Daueraufenhalt-EG oder Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 20
AufenthG war (2. Fall) oder eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG besitzt (§ 30
Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
Das Spracherfordernis entfällt ferner, wenn der Stammberechtigte Asylberechtigter oder
Flüchtling ist und eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG oder eine
Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG besitzt und die Ehe bereits bestand, als
der Stammberechtigte seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt hat (§ 30 Abs. 1
Satz 3 Nr. 1 AufenthG). Ferner entfällt das Spracherfordernis, wenn der Ehegatte wegen einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist,
einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen, bei dem nachziehenden Ehegatten
ein erkennbar geringer Integrationsbedarf besteht oder dieser aus anderen Gründen nach der
Einreise keinen Anspruch nach § 44 AufenthG auf Teilnahme am Integrationskurs hätte oder
der stammberechtigte Ehegatte wegen seiner Staatsangehörigkeit auch für einen längeren
Aufenthalt visumfrei in das Bundesgebiet einreisen darf (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 und 4
AufenthG). Bei Deutsch-Verheirateten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) hat das BV4erwG
die Spracherfordernisse aufgelockert.282
Bei der letzten Fallgruppe handelt es sich um stammberechtigte Ehegatten aus Mitgliedstaaten
der EU und aus den EWR-Staaten (§ 12 FreizügG/EU), aus der Schweiz, aus Australien,
Israel, Japan, Kanada, Südkorea, Neuseeland und Vereinigte Staaten (§ 41 Abs. 1 AufenthV)
sowie aus Andorra, Honduras, Monaco und San Marino (§ 41 Abs. 2 AufenthV). Der
nachziehende Ehegatte muss nicht die Staatsangehörigkeit des stammberechtigten Ehegatten
besitzen. In allen Ausnahmefällen muss allerdings der Altergrenze genügt werden, sofern
281
282
Zu den Ausnahmen vom Spracherfordernis Weh, InfAuslR 2008, 381.
BVerwGE 144, 141 (150 ff.) = INfAuslR 2013, 132 = InfAuslR 2013, 14 = AuAS 2012, 266
94
nicht besondere Härtegründe geltend gemacht werden (§ 30 Abs. 2 AufenthG). Im Blick auf
Flüchtlinge ist dies mit Art. 12 RL 2003/86/EG unvereinbar.
Art. 7 Abs. 2 RL 2003/86/EG (Familienzusammenführungsrichtlinie) eröffnet den
Mitgliedstaaten die Möglichkeit, nach ihrem nationalen Recht zu regeln, dass nachziehende
Ehegatten Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen.283 Danach handelt es sich bei dieser
gemeinschaftsrechtlichen Norm um eine Freistellungsklausel, welche abweichend von
allgemeinen Regeln der Richtlinie den Mitgliedstaaten für ihr nationales Recht weitergehende
Befugnisse einräumt. Da es sich um Ausnahmen von allgemeinen Grundsätzen handelt, sind
diese restriktiv auszulegen. Art. 7 Abs. 2 RL 2003/896/EG lässt darüber hinaus nur allgemein
die Forderung nach zu erbringenden Integrationsleistungen zu, ist jedoch keine
Rechtsgrundlage dafür, diese als Einreisevoraussetzung zu gestalten. Vielmehr steht die
gebotene restriktive Auslegung der Freistellungsklausel einer Gestaltung des
Integrationserfordernisses als Einreisevoraussetzung eher entgegen.
III.
Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG)
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist zum Zwecke der Herstellung und Wahrung der
ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) dem ausländischen Ehegatten eines
Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das Unterhaltserfordernis des § 5 Abs. 1
Nr. 1 AufenthG findet in den Fällen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG keine
Anwendung. In den Fällen des Ehegattennachzugs nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
soll die Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltserfordernis erteilt werden. Hingegen
kann dem nichtsorgeberechtigten Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen die
Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltserfordernis erteilt werden, wenn die
familiäre Gemeinschaft bereits im Bundesgebiet gelebt wird (§ 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
Der deutsche Staatsangehörige wie der nachziehende Ehegatte müssen im Zeitpunkt der
Entscheidung über den Antrag das 18. Lebensjahr vollendet haben. Der nachziehende
Ehegatte muss sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können (§
28 Abs. 1 Satz 4 in Verb. mit § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 AufenthG). Die Ausnahmen vom
Spracherfordernis nach § 30 Abs. 1 Satz 3 AufenthG finden Anwendung.284 Zur Vermeidung
einer besonderen Härte kann der Ehegattennachzug auch abweichend von der Altergrenze
zugelassen werden (§ 28 Abs. 1 Satz 4 in Verb. mit § 30 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Der
Versagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist zu beachten. Das Vorliegen eines
objektiven Ausweisungsgrundes hindert danach den Ehegattennachzug.
Das Erfordernis des § 30 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG wird durch die Voraussetzung des
„gewöhnlichen Aufenthaltes“ des Deutschen (§ 28 Abs. 1 1. Hs. AufenthG) ersetzt. Der
deutsche Staatsangehörige muss daher einen auf Dauer angelegten Aufenthalt im Inland
begründet haben. Maßgebend sind die tatsächlichen Verhältnisse. Kurzfristige Urlaubs- oder
Geschäftsreisen sind unschädlich. Verlegt der deutsche Ehegatte nach Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis für längere Zeit seinen Aufenthalt ins Ausland, kann dies den Bestand
der Aufenthaltserlaubnis des ausländischen Ehegatten berühren. Jedenfalls im Zeitpunkt der
Verlängerung des Aufenthaltstitels ist der gewöhnliche Aufenthalt des Deutschen im
Bundesgebiet glaubhaft zu machen (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG). Auf ein nach
Gemeinschaftsrecht unschädliches Getrenntleben kann sich der ausländische Ehegatte nur
283
BVerwGE 136, 231 (239 ff.) = NVwZ 2010, 964 = InfAuslR 2010, 331(Spracherfordernis ist
unionsrechtskonform
284
S. auch BVerwGE 144, 141 (150 f.) = InfAuslR 2013, 14 = AuAS 2012, 266.
95
dann berufen, wenn der deutsche Ehegatte von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht
hat und anschließend mit dem Ehegatten zurückkehrt.285 Zwar findet § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG Anwendung.
Die Aufenthaltserlaubnis wird verlängert, solange die eheliche Lebensgemeinschaft
fortbesteht (§ 28 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt kraft Gesetzes
zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 28 Abs. 4 AufenthG). Es handelt sich damit um
einen Fall nach § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG). Dem Angehörigen ist in der Regel nach
Ablauf von drei Jahren Besitz der Aufenthaltserlaubnis eine Niederlassungserlaubnis zu
erteilen, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft fortbesteht, kein Ausweisungsgrund vorliegt
und er sich ausreichende Sprachkenntnisse (§ 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) nachweist (B 1, s.
§ 2 Abs. 11 AufenthG).
IV.
Familiennachzug zu Asylberechtigten und Flüchtlingen (§ 29 Abs. 2 AufenthG)
Beim Nachzug von Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern eines stammberechtigten
Asylberechtigten oder Flüchtlinge, der im Besitz der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1
oder Abs. 2 AufenthG oder einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG ist,
kann vom Unterhalts- und Wohnraumerfordernis abgesehen werden (§ 29 Abs. 2 Satz 1
AufenthG). Von diesen Erfordernissen ist abzusehen, wenn der Antrag des Nachziehenden
auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer
Statusgewährung gestellt wird und die Herstellung der Lebensgemeinschaft in einem Staat,
der nicht Mitgliedstaat der EU ist und zu dem der stammberechtigte Asylberechtigte oder
Flüchtling oder deren Angehörige eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist (§ 29
Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Daneben bleibt die Ermessensregelung des § 29 Abs. 2 Satz 1
AufenthG bestehen.
§ 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG setzt Art. 9 bis 12 der Richtlinie 2003/86/EG um und macht
insbesondere von den einschränkenden Möglichkeiten des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3
RL 2003/86/EG Gebrauch. Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
nicht vor, wird damit der Familiennachzug nicht ausgeschlossen. Vielmehr bleibt es in
diesem Fall bei der Ermessensregelung des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach (§ 29 Abs. 2
Satz 2 Nr. 1 AufenthG beginnt die Drei-Monats-Frist mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit.
Es kommt auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Eintritts der Unanfechtbarkeit an.
Maßgebend ist insoweit der Zeitpunkt der Zustellung der entsprechenden
Bestandskraftmitteilung durch das Bundesamt an den Stammberechtigten oder dessen
Verfahrensbevollmächtigten. Die besonderen Bindungen im Sinne des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr.
2 AufenthG müssen dazu führen, dass dem Stammberechtigten in dem Drittstaat der
dauerhafte Aufenthalt und damit dort eine Herstellung und Wahrung der familiären
Lebensgemeinschaft ermöglicht werden wird. Dies dürfte in aller Regel nur in Betracht
kommen, wenn der Ehegatte und die gemeinsamen Kinder die Staatsangehörigkeit des
Drittstaates besitzen und nach dessen innerstaatlichem Recht dem Stammberechtigten
deshalb dort ein dauerhaftes Zusammenleben mit seinen Familienangehörigen möglich. Wird
diese Möglichkeit nicht eingeräumt, kann nicht von besonderen Bindungen im Sinne des § 29
Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ausgegangen werden.
V.
Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG)
285
EuGH, EZAR 814 Nr. 3.
96
Nach § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf dem Ehegatten und dem minderjährigen ledigen
Kind eines Stammberechtigten, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 22, § 23 Abs. 1 oder §
25 Abs. 3 AufenthG besitzt, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur
Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik erteilt werden. Der Begriff der
humanitären Gründe ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und damit der vollen inhaltlichen
gerichtlichen Kontrolle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zugänglich. Liegen
humanitäre Gründe vor, wird über den Nachzug nach Ermessen entschieden. In aller Regel
dürfte durch die Bejahung humanitärer Gründe das Ermessen reduziert sein. Ist der
stammberechtigte Angehörige nach § 26 Abs. 4 AufenthG in den Besitz der
Niederlassungserlaubnis gelangt, hat er einen Rechtsanspruch auf Nachzug des Ehepartners
(vgl. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a AufenthG). Obwohl subsidiär Schutzberechtigte nunmehr
nahezu rechtlich mit Flüchtlingen gleichgestellt sind (§ 25 Abs. 2 AufenthG,
Familienangehörige den abgeleiteten Status erhalten /§ 26 Abs. 5 AsylVfG), bleibt der
Nachzug nur unter erschwerten Voraussetzungen zulässig. Dies ist inkonsequent.
Hinsichtlich der subsidiär Schutzberechtigten muss § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Lichte
der Art. 23 Abs. 1, 2 und Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG ausgelegt und angewendet werden.
Danach wird Familienangehörigen subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis
erteilt (Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 in Verb. mit Art. 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG). Allerdings
können die Mitgliedstaaten nach Art. 23 Abs. 2 2. Unterabs. RL 2004/83/EG die
Bedingungen festlegen, unter denen Familienangehöriger subsidiär Schutzberechtigter eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Da es sich insoweit um eine Freistellungsklausel handelt,
ist diese eng auszulegen. Darüber hinaus dürfen die Bedingungen nicht so gestaltet werden,
dass der Familiennachzug ausgeschlossen wird. Daraus wird ein Rechtsanspruch auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgeleitet.286 Bereits die Erfüllung der allgemeinen
Nachzugsvoraussetzungen stellt für die Stammberechtigten eine hohe Hürde dar. Keinesfalls
darf der Begriff der humanitären Gründe so ausgelegt und angewendet werden, dass der
Familiennachzug im Ergebnis über eine nicht lediglich vorübergehende Frist hinaus
ausgeschlossen wird.
VI.
Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
Nach § 27 Abs.4 Satz 1 AufenthG darf die Geltungsdauer der einem Familienangehörigen
erteilten Aufenthaltserlaubnis nicht die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des
stammberechtigten Ausländers überschreiten. Diese Regelung soll offensichtlich
gewährleisten, dass die Vorschrift über das eigenständige Aufenthaltsrecht nicht unterlaufen
wird. Sie ist für den Zeitraum der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des
Stammberechtigten zu erteilen, wenn dieser eine Aufenthaltserlaubnis nach § 20 oder § 38a
AufenthG besitzt (§ 27 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Allerdings ist die Beifügung der
auflösenden Bedingung „erlischt bei Nichtmehrbestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft“
nicht eindeutig bestimmbar und nimmt unzulässig bei einem Nichtbestehen der
Lebensgemeinschaft die dann zu treffende Ermessensentscheidung vorweg und führt darüber
hinaus in unzulässiger Weise zur Unterbrechung des für § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG
geforderten ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthaltes.287
Die Aufenthaltserlaubnis darf nicht länger gelten als der Pass oder Passersatz des
nachziehenden Familienangehörigen (§ 27 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Sie ist erstmals
mindestens für ein Jahr zu erteilen (§ 27 Abs. 4 Satz 4 AufenthG) und wird anschließend
regelmäßig um jeweils zwei Jahre verlängert. Die Aufenthaltserlaubnis kann abweichend
286
287
VG Frankfurt am Main, NVwZ-RR 634 (635).
VG Augsburg, InfAuslR 2006, 11 (13 f.).
97
vom Wohnraumerfordernis (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und vom
Unterhaltserfordernis (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) verlängert werden. Der
nach Art. 6 Abs. 1 GG gebotene Schutz von Ehe und Familie ist bei der
Ermessensentscheidung
zu
berücksichtigen.
Wurde
bei
der
erstmaligen
Ermessensentscheidung eine Ausnahme vom Unterhaltserfordernis zugelassen, so bleibt die
Behörde hieran regelmäßig bei unveränderter oder im Wesentlichen gleicher Sachlage bei der
Verlängerungsentscheidung gebunden. Nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft
regelt § 31 Abs. 3 AufenthG die Erteilung der Niederlassungserlaubnis.
Alle Aufenthaltstitel im Rahmen des Nachzugs berechtigten zur Ausübung einer
Erwerbstätigkeit (§ 27 Abs. 5 AufenthG). Damit ist die frühere Regelung, wonach die dem
Angehörigen erteilte Aufenthaltserlaubnis nur so weit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit
berechtigte, wie der Stammberechtigte zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt war
(§ 29 Abs. 5 Nr. 1 AufenthG a.F.) überholt.
VII. Eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten (§ 31 AufenthG)
1.
Allgemeine Grundsätze
Eine eigenständige Verlängerung der akzessorischen Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten
kommt nur nach § 31 AufenthG in Betracht. Ansonsten ist die Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis an die auch für die Ersterteilung der Aufenthaltserlaubnis geltenden
Kriterien gebunden (§ 8 Abs. 1 AufenthG). Bei der Verlängerungsentscheidung darf die
Behörde daher grundsätzlich nicht vom Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft
absehen (§ 27 Abs. 1 AufenthG). Sobald mithin die eheliche Lebensgemeinschaft aufgehoben
wird, darf die nach §§ 27, 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 30 AufenthG zweckgebundene
Aufenthaltserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des § 31 AufenthG befristet verlängert
werden. Anders ist die Rechtslage bei Familienangehörigen von Gemeinschaftsbürgern, weil
das dem Angehörigen vermittelte Aufenthaltsrecht unabhängig vom Fortbestand der
Lebensgemeinschaft ist. Es bleibt auch dann erhalten, wenn der Angehörige die gemeinsame
Wohnung verlässt und auf Dauer getrennt lebt.288
Die Verlängerung eines Aufenthaltstitels ist mit Blick auf die Systematik des
Aufenthaltsrechts und in Ansehung des präzisen Sprachgebrauchs des Gesetzes zu
unterscheiden von einem Wechsel des Aufenthaltszwecks, wie er § 31 AufenthG zugrunde
liegt (s. auch § 81 Abs. 4 AufenthG). Diese Vorschrift ermöglicht im Rahmen der
Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis den Übergang von einem akzessorischen zu einem
eigenständigen Aufenthaltsrecht.289 Der Anspruch auf Gewährung eines eigenständigen
Aufenthaltsrechts setzt jedoch voraus, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Aufhebung der
ehelichen Lebensgemeinschaft tatsächlich ein ehebezogenes Aufenthaltsrecht innegehabt hat.
Es genügt nicht, lediglich für zurückliegende (abgeschlossene) Zeiträume möglicherweise
einen Anspruch auf Erteilung einer ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis gehabt zu haben,290 es
sei denn, der Stammberechtigte konnte aus einem von ihm nicht zu vertretenden Grund nicht
rechtzeitig die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs.
AufenthG). In Fällen verzögerter behördlicher Bearbeitung des Antrags kann aber eine andere
Betrachtung angezeigt sein.291 Die eheliche Lebensgemeinschaft ist aufgehoben, wenn die
Ehe durch Tod oder Scheidung beendet oder die Gemeinschaft tatsächlich durch Trennung auf
288
BVerwGE 98, 298 (308) = InfAuslR 1995, 349 (351, 352).
OVG NW, NVwZ 2000, 1445 = InfAuslR 2000, 279 = EZAR 023 Nr. 17 = AuAS 2000, 146.
290
Hess. VGH, InfAuslR 2003, 278.
291
Hess. VGH, InfAuslR 2003, 278 (280), offen gelassen, mit Hinweis auf VG Hamburg, Beschl. v.
1.2.2001 – 17 VG 3425/00.
289
98
Dauer beendet wird. Kehrt der Ehemann aus berufsbedingten Gründen auf Dauer in den
Herkunftsstaat zurück und verbleibt die Ehefrau mit dem Willen zur Fortsetzung der
ehelichen Lebensgemeinschaft nur deshalb im Bundesgebiet, um eine Ausbildung der
gemeinsamen Kinder in Deutschland sicherzustellen, fehlt es an der die Umwandlung des
akzessorischen in ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erforderlichen Aufhebung der
ehelichen Lebensgemeinschaft.292 Zu bedenken ist aber, dass durch die Einführung des
Geburtsortprinzips nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG der ausländische sorgeberechtigte Elternteil
eines deutschen Kindes unmittelbar einen Rechtsanspruch aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3
AufenthG erwirbt und deshalb ebenso wie der türkische Assoziationsberechtigte auf § 31
AufenthG nicht angewiesen ist.
Die Behörde darf die Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG
(Unterhaltserfordernis) und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Wohnraumerfordernis) nach
Ermessen verlängern, solange die eheliche Lebensgemeinschaft besteht. Die nachträglichen
Veränderungen der Wohn- und Einkommensverhältnisse stehen mithin beim
Ehegattennachzug abweichend von § 8 Abs. 1 AufenthG der Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Ein Absehen vom Fortbestand der ehelichen
Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) und dem qualifizierten Aufenthaltserfordernis
des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist hingegen bis zur Entstehung des eigenständigen
Aufenthaltsrechtes nach Maßgabe des § 31 AufenthG unzulässig. Mit der Erteilung der
Niederlassungserlaubnis an den Ehegatten wird der Aufenthaltstitel zu einem eigenständigen,
von § 27 Abs. 1 AufenthG unabhängigen Aufenthaltsrecht (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).
2.
Dreijähriger Ehebestand (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
Die Aufenthaltserlaubnis wird unabhängig von dem in § 27 Abs. 1 AufenthG bezeichneten
Zweck nach einem dreijährigen rechtmäßigen Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft
befristet verlängert. Der Begriff „rechtmäßig“ bezieht sich nicht auf die Ehe, sondern knüpft
an die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes beider Ehepartner an.293 Zeiten der früher
maßgeblichen Duldung nach § 55 f. AuslG 1990 oder der Bescheinigung nach § 60a Abs. 4
AufenthG werden nicht mitgerechnet. Die Annahme des Ausländers, zur Wohnsitznahme in
einer Asylbewerberunterkunft verpflichtet zu sein, bildet indes einen Umstand, der es
rechtfertigt, eine knapp zweimonatige häusliche Trennung im Anschluss an die Eheschließung
auf die Ehebestandszeit anzurechnen.294 Jedoch reicht die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3
Satz 1 oder 4 AufenthG aus.295 Während der Mindestbestandszeit muss der Aufenthalt beider
Ehepartner also durch eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3
Satz 1 oder 4 AufenthG gesichert gewesen sein.
Da § 31 AufenthG an § 27 AufenthG anknüpft, muss der stammberechtigte Ehegatte bis zum
Ablauf
der
Mindestaufenthaltsdauer
im
Besitz
der
Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), der Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG bzw. der Erlaubnisfiktion gewesen sein.296 Dies wird auch durch das
zusätzliche Erfordernis des § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG bekräftigt. Konnte der
stammberechtigte Ehegatte die Verlängerung aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen
nicht rechtzeitig beantragen, entsteht ebenfalls das eigenständige Aufenthaltsrecht.
Kurzfristige Unterbrechungen, die nicht auf ein Verschulden des stammberechtigten
Ehegatten zurückzuführen sind, bleiben nach dieser Vorschrift unberücksichtigt. Auf die
292
293
294
295
296
Hess. VGH, InfAuslR 2000, 370 (371).
OVG NW, AuAS 2001, 67; VGH BW, InfAuslR 2002, 183 (185); OVG Sachsen, AuAS 2004, 108.
OVG Sachsen, AuAS 2004, 108.
OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279; Igstadt, in: GK-AuslR, § 19 AuslG Rn 45.
Hess. VGH, AuAS 1998, 110 (111).
99
Mindestbestandszeit wird die Zeit einer Trennung im Sinne des § 1566 Abs. 1 BGB nicht
angerechnet.297 Dagegen braucht der deutsche Staatsangehörige nicht bis zum Ablauf der
Mindestbestandszeit seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Bundesgebiet gehabt zu haben.
Denn § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG knüpft nur an § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nicht
indes an § 28 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an. Erlischt die Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG des stammberechtigten
Ehegatten vor Ablauf der Mindestdauer, kann kein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entstehen.
Für die Bemessung der Ehebestandszeit ist nicht die formalrechtliche Dauer der Ehe, sondern
nur die Zeit der tatsächlichen Verbundenheit der Ehegatten maßgebend. Diese besteht
regelmäßig in der Pflege einer häuslichen Gemeinschaft. Es wird ein ununterbrochener
rechtmäßiger dreijähriger Aufenthalt gefordert.298 Auch wenn die eheliche
Lebensgemeinschaft etwa aus berufsbedingten Gründen nicht zwingend in einer dauerhaften
häuslichen Lebensgemeinschaft bestehen muss, muss sie doch erkennbar in Erscheinung
treten und ihre Ausgestaltung (häufige und regelmäßige Wochenendbesuche, gemeinsam
verbrachte Ferien, gemeinsam wahrgenommene Kontakte zu Freunden und Bekannten) den
Schluss auf eine eheliche Verbundenheit rechtfertigen.299 Vorübergehende Trennungen, die
den Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht berühren, bleiben unberücksichtigt.
Die Ehegatten müssen sich mithin nach ihren subjektiven Vorstellungen dauerhaft
voneinander getrennt haben.300 Ziehen die Ehegatten nach einer auf Dauer angelegten
Trennung wieder zusammen, beginnt die Ehebestandsfrist von neuem. Die Dauer der
ehelichen Lebensgemeinschaft vor der Trennung kann unter diesen Voraussetzungen nicht auf
die Zweijahresfrist angerechnet werden.301 Ob die Trennung auf Dauer erfolgt oder nur
vorübergehend ist, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu ermitteln.302 Ebenso wenig
können im Regelfall mehrere Ehen zusammengerechnet werden.
Längere, auch Monate dauernde Besuchsreisen im Herkunftsland unterbrechen nicht
automatisch die anrechnungsfähige Zeitdauer. Für einen solchen Aufenthalt mag es
unabhängig von seiner Dauer nachvollziehbare Motive und Gründe geben, wie z.B. der
Urlaubswunsch oder der Wunsch oder sogar das Erfordernis eines Aufsuchens im
Herkunftsland lebender Bekannter oder Verwandter, die es offensichtlich nicht rechtfertigen,
von einer Unterbrechung der familiären Gemeinschaft auszugehen. Andererseits können
längere Aufenthaltszeiten im Herkunftsland auch dann zur Unterbrechung führen, wenn an
der Ehe festgehalten wird. Die in diesem Spannungsfeld angesiedelten Konstellationen lassen
sich nicht abschließend abstrakt beschreiben und bedürfen einer näheren Würdigung anhand
der konkreten Umstände des Einzelfalls.303
297
BVerwG, InfAuslR 1999, 72 (73); Richter, NVwZ 1999, 726 (727).
176VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401) = AuAS 2002, 192 (LS) = NVwZ-RR 2002, 892 (LS); OVG
Brandenburg, AuAS 2001, 218.
298
Hess. VGH, AuAS 1998, 110; OVG NW, AuAS 2001, 67.
299
OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218 (219).
300
BayVGH, NVwZ-Beil. 2000, 116 (117); VGH BW, InfAuslR 2002, 400 = AuAS 2002, 192 (LS) =
NVwZ-RR 2002, 892 (LS); Nr. 19.1.1 AuslG-VwV; Laubach, NVwZ 2000, 1388 (1389).
301
VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401) = AuAS 2002, 192 (LS) = NVwZ-RR 2002, 892 (LS).
302
VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (401).
303
OVG Saarland, B. v. 21. 11. 2005 – 2 W 28/05
100
Der Nachweis für das vorzeitige Ende der familiären Lebensgemeinschaft obliegt der
Ausländerbehörde.304 Dagegen trifft den Antragsteller die Darlegungslast für die Führung
einer ehelichen Lebensgemeinschaft.305 Bei unterschiedlichen Angaben über den
Trennungszeitpunkt im Scheidungsverfahren einerseits sowie im ausländerrechtlichen
Verfahren andererseits ist zu bedenken, dass in der familienrechtlichen Praxis
übereinstimmende Angaben der Eheleute zum Trennungszeitpunkt regelmäßig ungeprüft
übernommen werden. Dabei kommt es nicht selten vor, dass die Eheleute zur Erreichung
einer schnellen Ehescheidung falsche Angaben zum Trennungszeitpunkt machen. Den im
Ehescheidungsurteil enthaltenen Feststellungen zum Trennungszeitpunkt kommt daher keine
faktische Richtigkeitsgewähr zu. Es ist deshalb im ausländerrechtlichen Verfahren nicht
gerechtfertigt, unabhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls von der Richtigkeit
der im Scheidungsurteil getroffenen Feststellungen zum Trennungszeitpunkt auszugehen.306
Nach Ablauf von zwei Jahren der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im
Bundesgebiet vermittelt § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG eine eigenständige, allerdings
zunächst auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthG).307
Der Bezug von Sozialleistungen steht der Verlängerung nicht entgegen (§ 31 Abs. 4 Satz 1
AufenthG). Danach kann die Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen verlängert werden (§ 31
Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Über die Befreiung vom Erfordernis der Unterhaltssicherung wird
nach Ermessen entschieden. Mit Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG
wird ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt (vgl. § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).
3.
Tod des Ehepartners (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG)
Der nachgereiste Ehegatte erhält nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG im Falle des Todes
des Ausländers ohne Rücksicht auf die Dauer und Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes
unmittelbar ein eigenständiges, freilich zunächst nach Maßgabe des § 31 AufenthG befristetes
Aufenthaltsrecht, sofern der Tod während der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im
Bundesgebiet eingetreten ist (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Dies gilt entsprechend,
wenn der Tod des deutschen Ehepartners während der Führung der ehelichen
Lebensgemeinschaft eingetreten ist (§ 28 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG).
Anders als nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wird in diesem Fall eine
Mindestbestandszeit der Ehe nicht vorausgesetzt. Der verstorbene Ehegatte muss allerdings
im Zeitpunkt seines Todes noch im Besitz der Aufenthaltserlaubnis oder
Niederlassungserlaubnis bzw. der Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4
AufenthG gewesen sein, es sei denn, er konnte die Verlängerung aus von ihm nicht zu
vertretenden Gründen nicht rechtzeitig beantragen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. i.V.m. § 29
Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Der nachgezogene Ehegatte muss allerdings im Zeitpunkt des Todes
noch im Besitz einer nach §§ 28, 30 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis sein. Auch
insoweit genügt die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 AufenthG. Dagegen
muss der deutsche Ehegatte nicht im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt
im Bundesgebiet gehabt haben. Denn § 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AufenthG verweist erkennbar
auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nicht hingegen auf § 28 Abs. 1 2. Hs. AufenthG. Allerdings
muss der ausländische Ehegatte einen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet gehabt
haben.
4.
Besondere Härte (§ 31 Abs. 2 AufenthG)
304
OVG MV, AuAS 2002, 98; zum Einwand vorübergehender Trennung Hess.VGH, AuAS 2013, 86.
OVG Brandenburg, AuAS 2001, 218.
OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 125 (127) = NVwZ–RR 2001, 339.
BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381.
305
306
307
101
a)
Allgemeines
Der Ehegatte erhält nach § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Falle der besonderen Härte ein
eigenständiges, freilich zunächst befristetes Aufenthaltsrecht. Daher besteht Anspruch auf
inzidente Feststellung der Rückwirkung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis.308 Nach § 31
Abs. 2 Satz 1 1. Hs. AufenthG wird keine bestimmte Ehebestandszeit wie im Falle des § 31
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vorausgesetzt. Allerdings folgen die Härtegründe aus der
konkreten Führung der Lebensgemeinschaft, setzen also regelmäßig rein tatsächlich eine
gewisse Mindestbestandszeit voraus und erfordern auch den Besitz der Aufenthaltserlaubnis
oder Niederlassungserlaubnis des stammberechtigten Ehegatten (§ 31 Abs. 1 Satz 1 2. Hs.
AufenthG). Liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 AufenthG vor, ist wegen der
alternativen Fassung des § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine Prüfung des Härtefalles
entbehrlich.
b)
Begriff der besonderen Härte
Abzustellen ist auf die besonderen Schwierigkeiten und Nachteile, denen ein zurückkehrender
Ausländer im Vergleich zur „Normalsituation“ eines geschiedenen oder getrennt lebenden
Ausländers ausgesetzt ist, so zum Beispiel, wenn die Führung eines eigenständigen Lebens
unmöglich gemacht wird oder wenn im Blick auf die Vorgänge, die zur Auflösung der Ehe
geführt haben, fortwirkende Schikanen und Diskriminierungen durch die Familie zu
befürchten sind.309 Nach § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wird unabhängig von den anderen
Fallvarianten des § 31 Abs. 1 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis zunächst befristet
verlängert, wenn eine besondere Härte vorliegt. Der Härtebegriff besteht aus zwei
Komponenten. Der Zusatz „insbesondere“ kann einerseits bei einer zielstaatsbezogenen Härte
(§ 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG) und andererseits erfüllt sein, wenn wegen der
Beeinträchtigung der schutzwürdige Belange des Ehegatten oder eines Kindes das weitere
Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr zumutbar ist (§ 31 Abs. 2 Satz 2
1. Hs. 2. Alt. AufenthG).
Nach § 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG liegt eine besondere Härte vor, wenn dem
Ehegatten wegen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Zusammenhang mit der
bestehenden Rückkehrverpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen
Belange droht und deshalb die Versagungsentscheidung unzumutbar ist. Der Begriff der
besonderen Härte nach § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG umschreibt lediglich beispielhaft den
Härtebegriff.310 Aus dem Zusammenhang zwischen der Auflösung der ehelichen
Lebensgemeinschaft und der Rückkehrverpflichtung ergibt sich die gesetzgeberische
Intention, Härten zu begegnen, die daraus folgen können, dass Ausländern – besonders Frauen
– aus bestimmten Herkunftsstaaten bei der Rückkehr gerade wegen der Beendigung der
ehelichen Lebensgemeinschaft besondere Nachteile entstehen.311 Das Gesetz knüpft nur noch
an die Rückkehrverpflichtung selbst an und verlangt mithin insbesondere nicht mehr, dass die
außerhalb des Bundesgebietes drohenden erheblichen Beeinträchtigungen auf den Umstand
der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft zurückzuführen sein müssen.
Das Gesetz definiert den Härtebegriff nicht abschließend. Es stellt aber einerseits mit den
gesetzlich Typen des § 31 Abs. 1 AufenthG und andererseits mit der Legaldefinition des § 31
Abs. 2 Satz 2 AufenthG Auslegungskriterien zur Verfügung. Die Feststellung einer
besonderen Härte erfordert danach den Vergleich des konkreten Einzelfalls mit den gesetzlich
geregelten Typen. Bei dem erforderlichen Vergleich ist eine Gesamtbetrachtung der
308
309
310
311
VG Regensburg, AuAS 2013, 218 (220).
VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (116 f.).
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83; VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193).
BVerwG, InfAuslR 1998, 279 (280).
102
Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Eine nur geringfügige Abweichung von einer oder
mehreren der in § 31 Abs. 1 AufenthG aufgeführten Voraussetzungen begründet eine
besondere Härte, wenn sich die Nichtgewährung des Bleiberechts nach den individuellen
Verhältnissen gemessen an der gesetzlichen Konzeption und unter Berücksichtigung der im
Gesetz enthaltenen Abwägungskriterien, als ungerecht oder gar unzumutbar darstellt. Dabei
soll nicht jede Härte genügen. Vielmehr muss eine Besonderheit hinzukommen, durch die
eine über die dem Gesetz immanente allgemeine Härte hinausgehende Härte deswegen
begründet wird, weil der Einzelfall vom gesetzlichen Regelungsziel her den ausdrücklich
erfassten Fällen annähernd gleicht. Dabei bezeichnen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2
Satz 2 AufenthG Kriterien, bei denen der Gesetzgeber vom Vorliegen einer besonderen Härte
ausgeht.312
Das Gesetz knüpft nur noch an die Rückkehrverpflichtung selbst an und verlangt damit nicht
mehr wie früher, dass die außerhalb der Bundesrepublik drohenden erheblichen
Beeinträchtigungen auf den Umstand der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft selbst
zurückgeführt werden können müssen. Eine Beschränkung auf unmittelbar auf die Auflösung
der ehelichen Lebensgemeinschaft rückführbare Beeinträchtigungen inlands- wie
auslandsbezogener Art ist mit dem geltenden Recht damit nicht mehr zu vereinbaren.313
Berücksichtigungsfähig sind damit alle Beeinträchtigungen, die durch die Ausreise aus
Deutschland infolge der Beendigung des ehebedingten Aufenthaltsrechts bedingt werden.
Eine gewisse Beschränkung der berücksichtigungsfähigen Beeinträchtigungen ergibt sich nur
noch aus der zusätzlich geforderten Erheblichkeit der drohenden Beeinträchtigung
schutzwürdiger Belange, deren inhaltliche Umgrenzung aus den in der Gesetzesbegründung
aufgelisteten Beispielsfällen der Unmöglichkeit der Führung eines eigenständigen Lebens
wegen gesellschaftlicher Diskriminierung, des Drohens einer Zwangsabtreibung, der
Erforderlichkeit eines weiteren Aufenthalts in Deutschland im Hinblick auf eine
Beeinträchtigung des Wohls des Kindes wegen der Verhältnisse im Herkunftsland sowie der
Gefahr einer willkürlichen Versagung des Umgangs mit dem Kind erhellt.314
b)
Zielstaatsbezogene Härtegründe (§ 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. AufenthG)
Bei den zielstaatsbezogenen Härtegründen ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände
geboten. Nach der Rechtsprechung ist eine besondere Härte dann anzunehmen, wenn im
konkreten Einzelfall besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass die
Ausreisepflicht den Ehegatten ungleich härter trifft als andere Ausländer in vergleichbarer
Lage. Danach genügt nicht schon jede Härte, sondern es muss eine Besonderheit
hinzukommen, durch die eine über die dem Gesetz immanente allgemeine Härte
hinausgehende Härte deswegen begründet wird, weil der Einzelfall vom gesetzlichen
Regelungsziel her den ausdrücklich erfassten Fällen annähernd gleicht. Dabei ist neben
gewachsenen Bindungen und Integrationsleistungen im Bundesgebiet auch zu
berücksichtigen, ob dem Ehegatten außerhalb des Bundesgebietes wegen der Auflösung der
ehelichen Lebensgemeinschaft erhebliche Nachteile drohen.
Alle Rückkehrer gleichermaßen treffende geringere wirtschaftliche Lebensstandards werden
insoweit nicht in die Gesamtbetrachtung eingestellt. Hieraus folgt, dass andere Nachteile, die
nicht wegen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft, sondern wegen der dortigen
allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse drohen, nicht zur Begründung einer
besonderen Härte herangezogen werden können, sondern nur erhebliche rechtliche oder
312
313
198
314
VG Darmstadt, NVwZ-Beil. 2001, 94.
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83.
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83.
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83.
103
gesellschaftliche Diskriminierungen wegen der Auflösung der Ehe. 315 Es genügt danach die
Gefahr, dass schutzwürdige Belange des Antragstellers erheblich beeinträchtigt werden
können. Bei dieser Alternative müssen die Schwierigkeiten, die aus der Auflösung der
ehelichen Lebensgemeinschaft folgen, kausal auf die Trennung bezogen sein,316 d.h. die
Härte kann nur mit aktuell bestehenden oder nach Rückkehr zu erwartenden Schwierigkeiten
begründet werden, die gerade durch die Trennung bedingt sind.317 Unberücksichtigt bleiben
daher Probleme, die unabhängig von der Trennung oder bereits in der Vergangenheit
entstanden sind und sowohl im Bundesgebiet wie im Heimatland in gleicher Weise
fortbestehen würden. Diese finden nach der 2. Alternative des § 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs.
AufenthG Berücksichtigung.
Es sind einerseits gewachsene Bindungen und Integrationsleistungen im Bundesgebiet
maßgebend. Andererseits ist zu berücksichtigen, ob dem betroffenen Ehegatten wegen des
Scheiterns der Ehe gerade wegen der Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft
besondere Nachteile drohen. Diese sind nach § 31 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. 1. Alt. AufenthG
erheblich. Eine gewisse Beschränkung der berücksichtigungsfähigen Beeinträchtigungen
ergibt sich aus der geforderten Erheblichkeit der drohenden Beeinträchtigungen
schutzwürdiger Belange, deren inhaltliche Umgrenzung aus den in der Gesetzesbegründung
aufgelisteten Beispielsfällen der Unmöglichkeit eines eigenständigen Lebens wegen
gesellschaftlicher Diskriminierung, des Drohens einer Zwangsabtreibung, der Erforderlichkeit
eines weiteren Aufenthaltes in Deutschland im Hinblick auf eine Beeinträchtigung des Wohls
der Kinder wegen der Verhältnisse im Herkunftsland sowie der Gefahr einer willkürlichen
Untersagung des Umgangs mit dem Kind erhellt.318 Die gesellschaftlichen und sonstigen
Nachteile insbesondere für Frauen aus anderen Rechts- und Kulturkreisen können an
gesellschaftliche, religiöse oder sittliche Normen anknüpfen, etwa Bestrafung wegen
Ehescheidung, Ächtung wegen Verletzung der Familienehre, Ausgrenzung wegen
misslungener Ehe.319 Es wird keine staatliche Diskriminierung verlangt. Unerheblich ist
deshalb, dass die Rechtsordnung im Herkunftsland laizistisch ausgestaltet und das Institut der
Scheidung im Zivilrecht anerkannt ist.320
Danach liegt im Regelfall eine besondere Härte vor, wenn eine aus ländlichen türkischen
Gebieten stammende Frau aufgrund der dort vorherrschenden untergeordneten Rolle der Frau
nach der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft gravierenden gesellschaftlichen
Diskriminierungen ausgesetzt sein wird321 oder Bedrohungen oder Verfolgung durch
Verwandte drohen. Insoweit darf nicht auf den asylrechtlichen Begriff der „ausweglosen
Lage“, sondern muss darauf abgestellt werden, dass die einer geschiedenen oder getrennt
lebenden Ehefrau bevorstehende Diskriminierung in der Türkei diese jedenfalls härter trifft
als andere Ausländer, insbesondere Männer, die nach einem kurzen Aufenthalt in die Türkei
BVerwG, DÖV 1997, 835 = AuAS 1997, 206; BayVGH, InfAuslR 2001, 280 (281); OVG Saarland,
NVwZ-RR 2006, 357.
316
BVerwG, InfAuslR 1998, 279 (280).
315
317
318
319
320
Hess. VGH, InfAuslR 1994, 313 (314).
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193).
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193).
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194), zur Türkei.
321
Hess. VGH, InfAuslR 2000, 404 (405); VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193); VG Berlin, NVwZ-RR
1996, 295 (296); VG Karlsruhe, InfAuslR 1991, 245, für Marokko.
104
zurückkehren müssen.322 Dagegen vermag die Rechtsprechung für eine Rückkehrerin nach
Thailand keine Gefahr der Diskriminierung und des Abgleitens in die Prostitution
festzustellen. Nach den amtlichen Auskünften sei Thailand „ein wirtschaftlich aufstrebendes
Land, in dem sich auch für eine junge Frau allerhand Opportunitäten auftäten, die keine
Gemeinsamkeiten mit Prostitution hätten.“ Daher sei es der Betroffenen durchaus zuzumuten,
nach Thailand zurückzukehren, ohne dass sie damit dort „allgemeiner Verachtung oder
finanzieller Flucht in die Prostitution ausgesetzt würde.“ Obwohl ein nicht geringer Teil der
mit Deutschen verheirateten Thailänderinnen aus dem Prostituiertenmilieu stammten,
rechtfertige dies noch nicht die Schlussfolgerung, dass deswegen alle Rückkehrerinnen aus
Deutschland als Prostituierte angesehen würden.323 Eine besondere Härte ist Aber dann
anzunehmen, wenn nach den Sitten und Moralvorstellungen in Thailand eine junge Frau, die
nach Europa geht und dort einen Europäer heiratet, deswegen als „Nutte“ angesehen wird,
weil sie keinen Einheimischen geehelicht hat, und die deshalb von ihrer Familie verstoßen
wird und außerhalb der örtlichen Gemeinschaft als alleinstehende junge Frau nicht leben
kann.324
Eine chronische psychische Erkrankung der Antragstellerin, die mit mehreren
Suizidversuchen einhergegangen ist und zur Reiseunfähigkeit geführt hat, kann andererseits in
die Gesamtbetrachtung eingestellt werden. Hierdurch wird die Antragstellerin ungleich härter
getroffen als andere Ausländer in vergleichbarer Situation.325 Ein Verweis auf eine
Wohnsitzbegründung in türkischen Großstädten ist regelmäßig nicht gerechtfertigt. Zwar mag
es nach der Rechtsprechung Fälle geben, in denen es einer geschiedenen Türkin zugemutet
werden kann, sich in einer weniger von traditionellen Moralvorstellungen geprägten
Großstadt niederzulassen. Jedenfalls bei einer psychisch erkrankten Antragstellerin ist dies
indes unzumutbar.326 Darüber hinaus ist auch das Wohl eines in Deutschland aufgewachsenen
Kindes zu berücksichtigen. Dieses kann erheblich beeinträchtigt werden, wenn es mangels
eines anderweitigen Verbleibsrechts mit der psychisch kranken Mutter in das ihr völlig
fremde Herkunftsland der Mutter übersiedeln müsste.327
Ein besonderer Härtefall liegt auch dann vor, wenn die Betreffende durch eidesstattliche
Versicherung glaubhaft macht, dass ihr Vater und ihr Bruder sie für den Fall der Rückkehr in
den Herkunftsstaat mit dem Tode bedroht haben, weil sie aufgrund der Auflösung ihrer Ehe
die „Familienehre“ beschmutzt habe.328 Die Annahme eines besonderen Härtefalles ist jedoch
nicht zwingend von derart hohen Voraussetzungen abhängig. Insoweit kann auch von
Bedeutung sein, dass die Betroffene im Herkunftsland, weil sie sich mit dem Vater wegen der
Eheschließung überworfen hat, nicht auf den Beistand von Familienangehörigen hoffen kann,
während sie im Bundesgebiet durch Verwandte unterstützt wird.329 Ebenso entsteht eine
besondere Härte im Falle einer Entfremdung, etwa weil der Ehegatte im Herkunftsstaat nicht
322
Hess. VGH, InfAuslR 2000, 404 (405); VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194)
OVG Saarland, B. v. 23. 11. 2005 – 2 W 31/05, BA, S.8, insoweit in NVwZ-RR 2006, 357 nicht
abgedruckt.
324
VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117).
233
VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117).
325
VG Saarlouis, InfAuslR 2004, 116 (117).
326
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194).
327
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194).
328
VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2001, 214 (215).
329
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (193).
323
105
aufgewachsen ist oder sich aus sonstigen besonderen Gründen dort nicht gesellschaftlich
integrieren kann.330
Alle aus der Ausreise aus der Bundesrepublik infolge der Beendigung der Ehe resultierenden
Beeinträchtigungen können relevant sein.331 Soweit gewachsene Bindungen und
Integrationsleistungen im Bundesgebiet zu berücksichtigen sind, müssen diese dergestalt sein,
dass die Rückkehrverpflichtung den Betroffenen im Vergleich zu anderen Ausländern
besonders hart treffen würde.332 Zu den schutzwürdigen Belangen gehören insoweit auch im
Inland geschaffene materielle und ideelle Werte, insbesondere auch erhebliche
Vermögenswerte des Ausländers.333 Es werden indes nur die gewachsenen Bindungen und
geschützten Rechtspositionen berücksichtigt, die im Zeitpunkt der Auflösung der ehelichen
Lebensgemeinschaft bestanden hatten.334 Eine besondere Härte folgt daraus, dass der
Betroffene wegen der Rückkehrverpflichtung zur Betriebsaufgabe und damit zur Aufgabe
seiner Existenzgrundlage gezwungen würde.335 Allein der Verlust des Arbeitsplatzes im
Bundesgebiet in Verbindung mit bestehenden Kreditverpflichtungen begründet allerdings
keine mit der Rückkehrverpflichtung im Zusammenhang stehende besondere Härte.336
Vielmehr wird dieser als zwangsläufige Folge der Aufenthaltsbeendigung angesehen, der mit
der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft in keinem spezifischen Zusammenhang
stehe. Zwar begründet allein der Umstand, dass sich der Betreffende zehn Jahre in
Deutschland aufhält und seine Eltern und Brüder hier leben, regelmäßig keine besondere
Härte im Sinne der Vorschrift.337 Gewachsene Bindungen und die bislang erreichte Integration können aber erheblich sein.338 So kann sich aus den Beziehungen des Vaters zu seinem
im Zeitpunkt der Behördenentscheidung achteinhalb Jahre alten Sohn, der bereits im Alter
von einem Jahr eingereist ist, ein Härtefall ergeben.339 Denn die Lebensgemeinschaft des
minderjährigen Kindes mit dem sorgeberechtigten Elternteil ist besonders schutzwürdig.
Diesen Härten wird nunmehr durch § 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. AufenthG Rechnung getragen.
c)
Inlandsbezogene Härtegründe (§ 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. AufenthG)
Mit der 2. Alt. des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erweitert der Gesetzgeber den Begriff der
besonderen Härte um solche bereits eingetretenen, in aller Regel inlandsbezogenen
Beeinträchtigungen schutzwürdiger Belange, die dem ausländischen Ehegatten ein weiteres
Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar machen. Das Gesetz will damit
besondere Umstände während der Ehe in Deutschland berücksichtigen, die es dem Ehegatten
unzumutbar machen, zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts an der ehelichen
Lebensgemeinschaft festzuhalten. Solche Fälle liegen zum Beispiel vor, wenn der
nachgezogene Ehegatte wegen physischer oder psychischer Misshandlungen durch den
anderen Ehegatten die Lebensgemeinschaft aufgehoben hat oder der andere Ehegatte das in
der Ehe lebende Kind sexuell missbraucht oder misshandelt hat. Die inlandsbezogenen
Härtegründe erweitern den Begriff der besonderen Härte, indem sie – anders als die erste
Alternative – an eine bereits erfolgte, nicht erst drohende und im Übrigen inlandsbezogene
Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange anknüpft. Unvereinbar hiermit wäre eine
330
331
332
333
334
Vgl. Hess. VGH, InfAuslR 1993, 328 (330).
OVG Brandenburg, AuAS 2004, 38 (39).
OVG Brandenburg, AuAS 2004, 38 (39); Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73) = NVwZ-Beil. 2004, 17.
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73).
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73).
335
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 72 (73).
BayVGH, InfAuslR 2001, 280 (281); BayVGH, AuAS 2003, 19 (20); OVG Saarland, NVwZ-RR 2006,
357; VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (402)
337
VGH BW, InfAuslR 2002, 400 (402) = AuAS 2002, 192 (LS).
338
VGH BW, InfAuslR 1999, 27; VG Berlin, NVwZ-RR 1996, 295 = AuAS 1995, 209.
339
OVG Berlin, AuAS 1998, 146 (147).
336
106
Verwaltungspraxis, die forderte, von Misshandlungen einer Antragstellerin müssten
Folgewirkungen ausgehen, die eine Erfüllung der Rückkehrverpflichtung erheblich
erschwerten, weil sie einer Reintegration im Herkunftsland entgegenstünden. Damit würden
entgegen der Gesetzessystematik und dem gesetzgeberischen Willen tatbestandliche Elemente
der ersten Alternative zur Auslegung der eigenständigen Regelung der zweiten Alternative
herangezogen. Darüber hinaus setzt die zweite Alternative im Gegensatz zur ersten
Alternative keine erhebliche Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange des Ehegatten
voraus.340
Über das Erfordernis der „Unzumutbarkeit“ setzt diese Alternative folglich einen
Zusammenhang zwischen der erlittenen Beeinträchtigung und der ehelichen
Lebensgemeinschaft voraus.341 Die Darlegungs- und Beweislast trifft insoweit die
Antragstellerin.342 Eine inlandsbezogene Härte kann aber auch vorliegen, wenn es dem
ausländischen Vater eines minderjährigen deutschen Kindes ohne Zubilligung eines
eigenständigen Aufenthaltsrechts nicht möglich wäre, einen hinreichenden Umgang mit
seinem Kind zu pflegen.343 Nicht jede Form der subjektiv empfundenen Unzumutbarkeit stellt
allerdings zugleich eine besondere Härte dar. Nicht in jedem Fall des Scheiterns einer
ehelichen Lebensgemeinschaft, zu dem es in aller Regel wegen der von einem oder beiden
Ehegatten subjektiv empfundenen Unzumutbarkeit des Festhaltens an der
Lebensgemeinschaft kommt, sind die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt.344 In der
Rechtsprechung wird insoweit eine objektive Bewertung vorgenommen. Danach komme es
nicht allein entscheidend darauf an, ob der Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaft wegen
einer aus seiner Sicht bestehenden Unzumutbarkeit aufgelöst hat. Der Rückgriff auf den
maßgeblichen Begriff der besonderen Härte erfordere vielmehr eine Gesamtabwägung aller
Umstände, bei der die Schwierigkeiten einer Rückkehr ein abwägungserheblicher Belang sein
könnten, sie jedoch nicht ein selbständiges Tatbestandsmerkmal wie bei der ersten Alternative
des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG darstellten.345 Die Störungen der ehelichen
Lebensgemeinschaft müssen danach das Ausmaß einer konkreten über allgemeine
Differenzen und Kränkungen in einer gestörten ehelichen Beziehung hinausgehenden
psychischen Misshandlung erreicht haben.346 Die schutzwürdigen Belange des ausländischen
Ehegatten sind die körperliche Integrität, angstfreies Leben in eigener Wohnung und
Bewegungsfreiheit. Der besondere Härtefall ist nicht erst „bei schwersten Eingriffen in die
persönliche Freiheit des Ehepartners“ erfüllt. Nach der Gesetzesintention lässt sich eine
Beschränkung nur auf gravierende Misshandlungen nicht rechtfertigen.347 Der Annahme eines
Härtefalles steht nicht entgegen, dass nicht die Antragstellerin, sondern der Ehemann die
eheliche Lebensgemeinschaft aufgelöst hat, wenn diese aufgrund des vom Ehemann
ausgeübten „Psychoterrors“ nicht mehr zu einer freien Willensentscheidung in der Lage
war.348
340
341
342
343
344
345
VGH BW, NVwZ-RR 2003, 782.
OVG NW, EZAR 023 Nr. 23 = NVwZ-Beil. 2001, 83.
OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS).
VGH BW, NVwZ-Beil. 2003, 93.
OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS).
VG Neustadt, InfAuslR 2001, 441 (442).
346
OVG NW, AuAS 2003, 170 (171) = NVwZ-RR 2003, 527 (LS).
OVG Berlin, NVwZ-Beil. 2003, 33 (34); VGH BW, NVwZ-RR 2003, 782; Hess. VGH, InfAuslR 2002,
404 (405).
348
VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003.
347
107
Die durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten Angaben über Monate dauernde
erhebliche Schikanen verbunden mit Bedrohungen durch unkontrollierte Aggressionen des
Ehemannes infolge von Alkoholmissbrauch sind erheblich. Beeinträchtigt sind dadurch
insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf Eigentum.349
Ebenso liegt ein besonderer Härtefall vor, wenn die Antragstellerin durch ihren Eh3emann zur
Prostitution gezwungen wird350 oder seit dem ersten Tag ihrer Ehe durch ihren Ehemann
jeglicher freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit beraubt und wie eine Gefangene in der
Wohnung gehalten wird und niemanden anrufen und ohne ihren Ehemann nicht die
Wohnungstür öffnen darf.351 Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange ist insbesondere
auch bei Misshandlungen, etwa durch Ausdrücken von Zigarettenkippen auf dem Rücken der
Betroffenen, zu unterstellen.352 Darüber hinaus ist eine besondere Härte auch anzunehmen,
wenn es im Rahmen von Ehestreitigkeiten wiederholt zu Erniedrigungen gekommen ist,
hierbei nicht nur verbale Entgleisungen, sondern auch etwa Schläge mit einer Plastikschüssel
auf den Kopf der Betreffenden glaubhaft gemacht werden. Auch wenn die Ehefrau mit Füßen
aus dem Bett getreten und gestoßen worden ist, weil sie den sexuellen Wünschen des
Ehemannes nicht nachgekommen ist, ist zu berücksichtigen.353 Die Tatsache, dass der
Ehemann bei der Eheschließung verschwiegen hat, dass er bereits in religiöser Ehe mit einer
Frau zusammenlebt und er diese Beziehung auch nach der Aufnahme der ehelichen
Lebensgemeinschaft fortsetzt, kommt für die soziokulturell auf die Einehe eingerichtete Frau
einer körperlichen Misshandlung gleich und ist deshalb erheblich.354
Von den Misshandlungen müssen wegen der Eigenständigkeit des Härtegrundes keine
Folgewirkungen ausgehen, die eine Erfüllung der Rückkehrverpflichtung erheblich
erschweren, weil sie einer Reintegration im Heimatland entgegenstehen. Damit würden
entgegen dem Gesetzeszweck und dem gesetzgeberischen Willen tatbestandliche Elemente
der ersten Alternative zur Auslegung der eigenständigen Regelung der zweiten Alternative
des § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG herangezogen. Vorausgesetzt wird auch nicht eine
erhebliche Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange. Auch dies belegt die
Eigenständigkeit der zweiten Alternative, nach deren Sinn und Zweck der Ehegatte nicht
wegen der Gefahr der Beendigung seines akzessorischen Aufenthaltsrechts auf Gedeih und
Verderb zur Fortsetzung einer nicht tragbaren Lebensgemeinschaft gezwungen werden soll.355
Der Nachweis von Misshandlungen kann, muss aber nicht zwingend durch ein ärztliches,
aber auch nervenärztliches oder psychologisches Gutachten erbracht werden. So erfüllt die
Antragstellerin ihre Darlegungslast, wenn sie ein nervenärztliches Gutachten vorlegt, das
ausgeprägte psychische Störungen wie etwa Wahnstimmung mit Verfolgungsideen,
Wahrnehmungsstörungen und akustische Halluzinationen, feststellt, die nach ärztlicher
Einschätzung eindeutig als Auswirkung einer schweren anhaltenden psychischen Belastung
im ursächlichen Zusammenhang mit dem Verhalten des Ehemannes zu sehen sind.356
349
VG Neustadt, InfAuslR 2001, 441 (442).
VG Regensburg, AuAS 2013, 218 (220).
351
VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 14.
352
VG Aachen, Beschl. v. 8.3.2000 – 8 L 1320/99.
353
VG Würzburg, AuAS 2002, 220 (221).
354
VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2001, 214 (215).
355
VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003, 14; zweifelnd OVG
Berlin, NVwZ-Beil. 2003, 33 (34).
356
VGH BW, InfAuslR 2003, 232 (233) = NVwZ-RR 2003, 782 = AuAS 2003.
350
108
Zu den schutzwürdigen Belangen zählt darüber hinaus nach § 31 Abs. 2 Satz 2 2. Hs.
AufenthG „auch das Wohl eines mit dem Ehegatten in familiärer Lebensgemeinschaft
lebenden Kindes“. Nach der gesetzlichen Begründung soll damit insbesondere den Interessen
des nachgezogenen Ehegatten, der wegen physischer oder psychischer Misshandlungen durch
den anderen Ehegatten die Lebensgemeinschaft aufgehoben hat, Rechnung getragen
werden.357 Das Wohl des Kindes ist nicht nur bei Misshandlungen und Demütigungen
beeinträchtigt, sondern auch, wenn die weitgehende Integration in die deutsche Gesellschaft
sowie die schulische Integration eine Aufenthaltsbeendigung als unzumutbar erscheinen
lassen. Der Gesetzeswortlaut stellt zwar auf das Wohl des mit dem ausländischen Ehegatten
in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kindes ab. In der Rechtsprechung wird unter
Verweis auf das KindRG das Gesetz aber auch auf Fälle erstreckt, in denen der frühere
Ehegatte eines Elternteils, der mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft gelebt
hat, einen rechtlich geschützten Umgang mit dem Kind pflegt. Das Umgangsrecht von
Personen, die nicht die leiblichen Eltern des Kindes seien, sei zwar nicht im gleichen Umfang
wie das Recht der leiblichen Eltern ausgestaltet, gleichwohl jedoch bei der Entscheidung über
das Vorliegen einer besonderen Härte zu berücksichtigen. Eine Begegnungsgemeinschaft
zwischen einem Ausländer und einem Kind, das längere Zeit mit ihm in häuslicher
Gemeinschaft gelebt habe, sei jedenfalls dann einer familiären Lebensgemeinschaft im Sinne
des Gesetzes gleichzustellen, wenn der Betreffende im Rahmen des Umgangsrechts einen
Kontakt zu dem Kind pflege, der eine ähnliche Intensität habe wie das Zusammenleben in
einer familiären Lebensgemeinschaft oder die Ausübung der Personensorge durch einen
Elternteil.358
5. Charakter des eigenständigen Aufenthaltsrechts
Das eigenständige Aufenthaltsrecht entsteht zunächst als Anspruch auf befristete
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis359 für ein Jahr (§ 31 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthG; s.
aber § 31 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Für diesen Zeitraum ist der Bezug von Sozialleistungen
unschädlich (§ 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). War dem Ehegatten bereits aufgrund der
Fiktionswirkung seines Verlängerungsantrags oder aufgrund der Anordnung der
aufschiebenden Wirkung seines Rechtsmittels für ein Jahr der Aufenthalt und die Aufnahme
einer Erwerbstätigkeit erlaubt worden, ist nach Ansicht des BVerwG der mit § 31 Abs. 1 Satz
1 AufenthG verfolgte Zweck erfüllt.360 Die Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1
AufenthG berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 31 Abs. 1 Satz 2
AufenthG). Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe während des ersten Jahres ist unschädlich
(§ 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Das eigenständige Aufenthaltsrecht entsteht unmittelbar als
Niederlassungserlaubnis, wenn der Lebensunterhalt des Anspruchsberechtigten nach
Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch Unterhaltsleistungen aus eigenen Mitteln
des Ehegatten gesichert ist und dieser eine Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG besitzt (§ 31 Abs. 3 1. Hs. AufenthG). Zwar müssen für den
Anspruchsberechtigten die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegen. Vom
Erfordernis der Altersvorsorge, der Erlaubnis zur Ausübung einer Arbeitnehmerbeschäftigung
und vom Nachweis der Sprachkompetenz ist indes abzusehen (§ 31 Abs. 3 2. Hs. AufenthG).
357
BT-Drs. 14/2368, S. 3.
358
VG Darmstadt, NVwZ-Beil. 2001, 94
359
BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381.
BVerwGE 99, 313 (317) = InfAuslR 1995, 861; OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000,
279 = EZAR 023 Nr. 17 = AuAS 2000, 146; VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (194).
360
109
Nach Ablauf der Jahresfrist wird die Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen verlängert (§ 31
Abs. 4 Satz 2 AufenthG).361 Einwanderungspolitische Bedenken bleiben bei der
Ermessensentscheidung unberücksichtigt. Zugunsten des Betroffenen wird vielmehr von
Gesetzes wegen unterstellt, dass dem Verbleib im Bundesgebiet grundsätzlich nichts
entgegensteht, insbesondere die für den Daueraufenthalt geforderten Integrationsleistungen
entweder erbracht worden sind oder deren Erbringung aufgrund der besonderen Situation
noch ermöglicht werden soll. Ferner sind in die Ermessenserwägung der bisherige Aufenthalt
und hier geborene Kinder, für welche die Betroffene das alleinige Personensorgerecht besitzt,
einzubeziehen. Unter diesen Umständen darf dem Sozialhilfebezug kein unangemessen hohes
Gewicht beigemessen werden.362 Krankheitsgründe sowie Umstände, die dem Betroffenen ein
Bleiberecht nach § 31 Abs. 1 AufenthG verschaffen und im Einzelfall auch Ursache für den
Sozialhilfebezug (z.B. Betreuung eines behinderten Kindes, Arbeitsunfähigkeit wegen
psychischer Erkrankung) sind, sind zu berücksichtigen.363 Widmet sich die Mutter nach der
Geburt ihres Kindes dessen Betreuung und nimmt sie anschließend an einem Integrationskurs
teil, begründet dies einen Ausnahmefall nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Denn das sinnvolle
und anzuerkennende Bemühen der Mutter, die deutsche Sprache als wesentliche Bedingung
für die Erlangung einer Arbeitsstelle zu erlernen, nachdem das Kind mit Vollendung des
dritten Lebensjahres den Kindergarten besuchen kann, bewirkt eine Ausnahme von der Regel
des Unterhaltserfordernisses.364 Aus § 31 Abs. 4 Satz 2 2. Hs. AufenthG kann abgeleitet
werden, dass grundsätzlich der Erwerb der Niederlassungserlaubnis ermöglicht werden soll
und deshalb im Regelfall ein Verlängerungsanspruch besteht.
VIII.
Kindernachzug (§ 32 AufenthG)
§ 32 AufenthG regelt den Nachzug minderjähriger lediger Kinder und wurde durch das
Richtlinienumsetzungsgesetz 2013 grundlegend umgestaltet. Da nach der Rechtsprechung des
BVerwG für die Staaten, die ein dem deutschen Recht vergleichbares alleiniges Sorgerecht
nicht kennen, weil Mitwirkungsrechte des anderen Elternteils verbleiben,365 war für Kinder
aus diesen Staaten der Nachzug nur nach Ermessen zulässig. Darauf reagiert § 32 Abs. 3
AufenthG
n.F.
Ausländische
Sorgerechtsentscheidungen
sind
grundsätzlich
anzuerkennen.366Auf die im Bundesgebiet geborenen Kinder findet in erster Linie § 33
AufenthG Anwendung. Ist das Kind im Zeitpunkt des erstrebten Nachzugs volljährig oder
nicht mehr ledig, kann der Nachzug nur unter den Voraussetzungen des § 36 Abs. 1
AufenthG367 oder § 36 Abs. 2 AufenthG368 genehmigt werden. Beim Kindernachzug ist
zwischen einem Rechtsanspruch (§ 32 Abs. 1 und 2 AufenthG), dem Sollanspruch (§ 32
Abs. 3 AufenthG)und dem Ermessenstatbestand (§ 32 Abs. 4 AufenthG) unterschieden. Der
EGMR hat aus Art. 8 Abs. 1 EMRK einen Anspruch auf Kindernachzug hergeleitet, wenn die
Eltern im Vertragsstaat ein gesichertes Aufenthaltsrecht haben, wegen dort geborener Kinder
und deren fehlender innerer Beziehung zum Herkunftsland der Eltern nicht in den
Herkunftsstaat zurückkehren können und das betroffene Kind auf die Erziehungs- und
Betreuungsgemeinschaft mit den Eltern angewiesen ist.369
361
BVerwGE 94, 35 (42) = InfAuslR 1994, 3 = NVwZ 1994, 381.
OVG NW, NVwZ 2000, 1445 (1446) = InfAuslR 2000, 279 = AuAS 2000, 146 = EZAR 023 Nr. 17.
363
VGH BW, InfAuslR 2003, 190 (195); Nr. 19.2.2 AuslG-VwV.
364
Nieders.OVG, AuAS 2007, 62
365
BVerwGE 133, 329 (336) Rdn. 16 = NVwZ 2010, 262 = InfAuslR 2009, 270; s. hierzu Marx, in GKAufenthG II - § 32 Rdn. 24 ff.
366
BVerwG, NVwZ 2013, 947 = EZAR NF 34 Nr. 21; s. auch BVerwGE 145, 172 = NVwZ 2013, 427.
367
S. hierzu BVerwG, NVwZ 2013, 1344 = InfAuslR 2013, 331.
368
S. hierzu BVerwG , U. v. 30. 7. 2013 – BVerwG 1 C 15.12 (nicht veröfffentlicht); BVerwG NVwZ
2013, 1497.
369
EGMR, InfAuslR 2002, 334.
362
110
Maßgeblich für die Altersgrenze in allen Fallvarianten ist der Zeitpunkt der Antragstellung.370
Art. 4 Abs. 1 letzter Unterabsatz RL 2003/86/EG erlaubt den Mitgliedstaaten die Einführung
einer Altersbegrenzung für den Kindernachzug. Diese Regelung ist nach Auffassung des
EuGH vereinbar mit Art. 8 EMRK.371 Bei erlaubnisfreier Einreise kommt es auf den
Einreisezeitpunkt an.372 Ist der Antrag vor dem Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze
gestellt worden, hat es die zuständige Behörde indes unterlassen, über diesen rechtzeitig zu
entscheiden, so kann nach Überschreiten der Altersgrenze der Anspruch auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis aus dem Gesichtspunkt des Instituts der Folgenbeseitigung in Betracht
kommen.373 Sämtliche erforderlichen Voraussetzungen müssen im maßgeblichen Zeitpunkt
erfüllt sein, mit der Folge, dass die nachträgliche Erfüllung der Voraussetzungen – etwa die
nach §§ 5 Abs. 1, 29 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG – nicht berücksichtigt wird.374 § 32 Abs. 3
AufenthG ist einer analogen Anwendung auf den Nachzug von Enkelkindern zu Großeltern
nicht zugänglich, auch wenn diesen die Vormundschaft übertragen worden ist. Dieser
Nachzug ist vielmehr in § 36 AufenthG geregelt. 375
Dr Kindernachzug steht unter dem gesetzlichen Erfordernis des § 27 Abs. 1 AufenthG, d.h. er
muss zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit den Eltern bzw.
einem Elternteil erfolgen. Weisen die Eltern einer anderen Person als Vormund das
Aufenthaltsbestimmungsrecht über das Kind zu, fehlt es an dieser Voraussetzung. Nach der
Rechtsprechung hat der Gesetzgeber für den Nachzug eines Kindes und dessen weiteren
Verbleib im Bundesgebiet zwingend die Aufnahme bzw. das Fortbestehen einer familiären
Lebensgemeinschaft mit den Eltern bzw. einem Elternteil vorausgesetzt. Der Umstand, dass
die hier lebenden Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Bruder übertragen haben,
vermittelt deshalb kein Nachzugsrecht.376 Vom Erfordernis der Sicherung des
Lebensunterhalts kann unter bestimmten Voraussetzungen abgesehen werden377
Das mit Visum einreisende Kind stellt nach der Einreise keinen Erstantrag auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis, sondern einen Verlängerungsantrag. Auf Altersgrenzen kommt es
deshalb bei der Verlängerungsentscheidung nicht an.378 Bei der Verlängerungsentscheidung
sind abweichend von § 8 Abs. 1 AufenthG das Unterhaltserfordernis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG) und das Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) nicht zu
berücksichtigen (§ 34 Abs. 1 AufenthG). Hingegen kann von der Voraussetzung des Besitzes
der Aufenthaltserlaubnis, der Niederlassungserlaubnis oder der Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG der Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils sowie
vom Versagungsgrund des § 27 Abs. 2 AufenthG nicht abgesehen werden (vgl. § 34 Abs. 1
AufenthG).
370
BVerwG, InfAuslR 1998, 161 (162) = NVwVZ-RR 1998, 517; BVerwG, InfAuslR 1998, 382
EuGH, NVwZ 2006, 1033, § 62.
372
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, EZAR 022 Nr. 5; Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 236 (237);
VGH BW, NVwZ-RR 1993, 215; VGH BW, EZAR 024 Nr. 7; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1994, 692 (693); a.A.
BVerwG, InfAuslR 1998, 161.
373
VG Stuttgart, InfAuslR 2000, 120.
374
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (157) = AuAS 2004, 86; zur nach ausländischem Recht erfolgten
Adoption s. OVG Berlin, AuAS 2004, 158.
375
BVerwG, DÖV1997, 835 (836).
376
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (157) = AuAS 2004, 86.
377
S. hierzu BVerwG, NVwZ 2013, 1493.
378
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726 (727) = InfAuslR 2008, 328.
371
111
Dem minderjährigen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis im Wege des Kindernachzugs
erhalten hat und besitzt, wird abweichend von § 9 Abs. 2 AufenthG eine
Niederlassungserlaubnis erteilt, wenn er im Zeitpunkt der Vollendung seines 16. Lebensjahres
seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis (§ 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) oder er
volljährig und seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis ist, über ausreichende
Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 35 Abs. 1
Satz 2 AufenthG). Bis dahin muss die Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27, 28 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG erteilt und verlängert worden sein. Auf die Zeiten des Besitzes einer
Aufenthaltserlaubnis werden Zeiten der Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG,
der Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG, rechtmäßige Aufenthaltszeiten, sowie
nach § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG berücksichtigungsfähige Aufenthaltszeiten angerechnet.
Zeiten eines Schulbesuchs im Ausland werden nur angerechnet, wenn in der Schule Deutsch
Umgangssprache war. Zeiten der Untersuchungs- und Strafhaft werden nicht berücksichtigt.
Unterbrechungen bleiben nach Maßgabe des § 85 AuslG außer Betracht
Wird das Kind im Bundesgebiet geboren und haben beide Elternteile oder der allein
personensorgeberechtigte Elternteil im Zeitpunkt der Geburt eine Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG, ist von Amts wegen die
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (§ 33 Satz 2 AufenthG). Mit der Einbeziehung auch des
Kindesvaters in diese Regelung zieht der Gesetzgeber die Konsequenz aus der
Rechtsprechung des BVerfG, welches die frühere - den Aufenthaltsanspruch des im
Bundesgebiet geborenen Kindes allein an den Aufenthaltsstatus der Mutter anknüpfende Regelung für verfassungswidrig erklärt hatte.379 Bereits vorher waren in der obergerichtlichen
Rechtsprechung verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet worden.380 Dieser
Rechtsprechung trägt der Gesetzgeber mit § 33 Satz 2 AufenthG Rechnung. Der
Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an ein im Bundesgebiet geborenes
Kind wird nach geltendem Recht allein davon abhängig gemacht, dass zumindest ein
Elternteil – unabhängig von seiner Geschlechtszugehörigkeit – eine Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Daueraufenthaltserlaubnis-EG besitzt.
§ 33 Satz 2 AufenthG gewährt einen Anspruch auf erstmalige Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis und setzt keinen entsprechenden Antrag voraus (§ 33 Satz 1 AufenthG).
Diese ist vielmehr von Amts wegen zu erteilen und zu verlängern. Ziel des Gesetzes ist es,
das Kind am Aufenthaltsstatus seiner Eltern oder des allein personensorgeberechtigten
Elternteils teilhaben zu lassen. Die Regelerteilungsgründe (§ 5 Abs. 1 AufenthG) sowie § 29
Abs. 1 AufenthG finden keine Anwendung. Es kommt also nicht darauf an, ob der
Lebensunterhalt des Kindes durch Einkünfte der Eltern oder durch sonstige eigene Mittel
sichergestellt und ob ausreichender Wohnraum verfügbar ist. Die Aufenthaltserlaubnis ist
auch dann zu erteilen, wenn keine familiäre Lebensgemeinschaft mit den Eltern oder einem
Elternteil besteht, etwa wenn das Kind in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht
ist. § 33 Satz 2 AufenthG hat damit nicht nur verfahrensrechtliche (Absehen vom
Antragserfordernis), sondern auch erhebliche materiellrechtliche Bedeutung, indem er einen
nicht an weitere Voraussetzungen geknüpften Anspruch auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis anstelle der sonst zu treffenden Ermessensentscheidung gewährt.381
Nach § 33 Satz 1 AufenthG kann einem Kind, das im Bundesgebiet geboren wird,
abweichend von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG und dem
379
BVerfGE 114, 357 (363 ff.) = InfAuslR 2006, 53 = AuAS 2006, 2.
OVG Hamburg, AuAS 2002, 218; Hess.VGH, NVwZ-Beil. 2003, 3; VGH BW, InfAuslR 2001, 330 =
NVwZ 2001, 605; VG München, InfAuslR 2001, 436.
381
BVerfGE 114, 357 (365) = InfAuslR 2006, 53 (54 ff.) = AuAS 2006, 2.
380
112
Wohnraumerfordernis nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
werden, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis
zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Besitzt der allein personensorgeberechtigte Elternteil oder
besitzen beide Elternteile eine derartige Aufenthaltsposition, besteht der Rechtsanspruch nach
§ 33 Satz 2 AufenthG. Der Ermessenstatbestand erfasst danach die Fälle, in denen zwar der
allein personensorgeberechtigte Elternteil nicht den geforderten Aufenthaltsstatus hat, wohl
aber der nicht personensorgeberechtigte Elternteil.
Bei der Ermessensausübung soll der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem
Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und
zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären
Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden. Hinsichtlich des Vaters eines
nichtehelichen Kindes ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob ihm ein Sorgerecht
zusteht oder er in familiärer Lebensgemeinschaft mit dem Kind lebt. § 33 Satz 1 AufenthG
regelt aber ausschließlich das Aufenthaltsrecht des Kindes. Demgegenüber wird das
Aufenthaltsrecht des Elternteils des nach § 33 Satz 1 AufenthG begünstigten Kindes, der
keinen Aufenthaltsstatus besitzt, nach § 36 AufenthG geregelt. Ist das Kind deutscher
Staatsangehöriger, richtet sich der Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis des
sorgeberechtigten Elternteils nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und das
Aufenthaltsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG.
Der Aufenthalt eines im Bundesgebiet geborenen Kindes, das nicht die Voraussetzungen des
§ 33 Satz 1 und 2 AufenthG erfüllt, dessen Vater oder Mutter aber im Zeitpunkt der Geburt
im Besitz eines Visums ist oder sich visumfrei aufhalten darf, gilt bis zum Ablauf des Visums
oder des rechtmäßigen visumfreien Aufenthaltes als erlaubt (§ 33 Satz 3 AufenthG). Diese
Norm ist der früheren in § 33 Satz 2 AufenthG a.F. geregelten Erlaubnisfiktion nachgebildet,
die allerdings allein an den Aufenthaltsstatus der Mutter anknüpfte. Besitzt die Mutter oder
der Vater ein Visum oder darf sich der maßgebende Elternteil aufgrund einer Befreiung vom
Erfordernis des Aufenthaltstitels (§ 41 Abs. 3 Satz 1 AufenthV) oder aufgrund der Fiktion
nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder § 81 Abs. 4 AufenthG ohne Visum im Bundesgebiet aufhalten,
ist der Aufenthalt des Kindes für den entsprechenden Zeitraum erlaubt (Nr. 33.9 VAH).
3.
Eigenständiges Aufenthaltsrecht (§ 34 Abs. 2, § 35 AufenthG)
Mit Eintritt der Volljährigkeit wird die einem Kind im Rahmen des Kindernachzugs erteilte
Aufenthaltserlaubnis zu einem eigenständigen, vom Zweck des Kindernachzugs
unabhängigen Aufenthaltsrecht (§ 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Unter diesen Voraussetzungen
finden § 27 sowie § 28 bzw. § 32 AufenthG keine Anwendung mehr (Nr. 34.2.1 VAH). Eine
analoge Anwendung des § 31 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist vom Gesetzgeber nicht gewollt. Es
besteht insoweit auch keine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes (Gesetzeslücke). Die
Vorschrift des § 34 Abs. 2 AufenthG gewährt keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Ergibt sich ein Anspruch auf Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis nicht aus aus § 34 Abs. 1 in Verb. mit § 37 oder § 35 AufenthG, ist über
den Verlängerungsantrag gemäß § 34 Abs. 3 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden.382
Wird die familiäre Lebensgemeinschaft mit den hier lebenden Eltern bzw. dem hier lebenden
allein personensorgeberechtigten Elternteil vor Erreichung der Volljährigkeit beendet, bevor
das Kind in den Genuss des eigenständigen Aufenthaltsrechts nach § 35 Abs. 1 Satz 1
AufenthG gelangt ist, kann diesem ein Aufenthaltstitel nach Maßgabe des § 36 AufenthG
382
OVG NW, InfAuslR 2006, 365 (366).
113
erteilt werden.383 Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht entsteht aber auch dann, wenn das Kind
im Falle seiner Ausreise ein Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG hätte, die
Aufenthaltserlaubnis in entsprechender Anwendung des § 37 AufenthG verlängert (§ 34
Abs. 2 Satz 2 AufenthG) oder dem Kind eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG
erteilt wird. Für die Niederlassungserlaubnis sieht § 35 Abs. 1 AufenthG Privilegierungen vor.
Nach § 35 Abs. 4 AufenthG ist von den Erfordernissen der deutschen Sprachkenntnisse, der
Unterhaltssicherung und der Unabhängigkeit von Sozialhilfe zwingend abzusehen, wenn
diese wegen einer Krankheit oder Behinderung des Antragstellers nicht erfüllt werden
können. Der Nachweis ist durch fachärztliche Stellungnahmen zu führen.
4.
Ausschluss der Niederlassungserlaubnis (§ 35 Abs. 3 AufenthG)
§ 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG regelt abschließend, in welchen Fällen die Erteilung der
Niederlassungserlaubnis versagt werden kann. Die Prüfung, ob Ausschlussgründe vorliegen,
kommt erst in Betracht, wenn die Voraussetzungen nach § 35 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.
Die in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Delikte begrenzen indes nicht die
Annahme eines Regelfalles nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG,384 d.h. der Regelfall kann auch
angenommen werden, wenn die strafrechtlichen Verfehlungen weit über den durch § 35
Abs. 3 Satz 1 AufenthG gezogenen Rahmen hinausgehen. Die Feststellung des Regelfalles
nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist vielmehr an der Schranke von Art. 3 Abs. 3 ENA und
Art. 8 EMRK auszurichten.385 Das BVerwG hat im Fall Mehmet die Ermessensnorm des § 21
Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG 1990 dahin ausgelegt, dass die gesetzgeberische
Entscheidung zugunsten eines besonderen Ausweisungsschutzes minderjähriger Ausländer
bei der Verlängerungsentscheidung zu berücksichtigen sei. Die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG
1990 (jetzt § 56 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) getroffene gesetzgeberische Entscheidung sei bei
der im Ermessen stehenden Verlängerungsentscheidung zu beachten. Denn mit dem
Ausweisungsschutz für Minderjährige habe der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen
Auftrag zum Schutz der Familie, insbesondere der Beziehung zwischen Eltern und ihren
minderjährigen Kindern, konkretisiert.3863 Diese Rechtsprechung des BVerwG kann
jedenfalls dahin verstanden werden, dass unabhängig von der Auslegung des § 35 Abs. 3 Satz
3 AufenthG jedenfalls der Anspruch auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltserlaubnis
nach § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG am Maßstab des besonderen Ausweisungsschutzes nach
§ 56 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu beurteilen ist.
IX.
Aufenthaltserlaubnis für den sorge- oder umgangsberechtigten Elternteil eines
minderjährigen ledigen Kindes (§ 36, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG)
1.
Allgemeines
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist dem ausländischen Elternteil eines
minderjährigen ledigen deutschen Kindes die Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der
Personensorge zu erteilen und zu verlängern. Anders als § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG
setzt die Vorschrift voraus, dass die familiäre Lebensgemeinschaft zur Ausübung der
Personensorge hergestellt werden soll. Über den Antrag auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis des nichtsorgeberechtigten Elternteils eines minderjährigen ledigen
Deutschen, ist hingegen gemäß § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden,
wenn die familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Bundesgebiet geführt wird. Im Blick auf
ein ausländisches minderjähriges lediges Kind, das über den anderen Elternteil ein
383
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (158) = AuAS 2004, 86.
Rh-Pf, InfAuslR 2004, 156 (158) = AuAS 2004, 86.
384
BayVGH, InfAuslR 2003, 57.
385
Marx, InfAuslR 2000, 9 (10); VG Bremen, InfAuslR 1998, 450 für § 21 Abs. 4 AuslG 1990.
386
Marx, InfAuslR 2000, 9 (10); VG Bremen, InfAuslR 1998, 450 für § 21 Abs. 4 AuslG 1990.
352OVG
114
verfestigtes Aufenthaltsrecht besitzt, fehlt ein gleichwertiger korrespondierender gesetzlicher
Anspruch der Eltern oder eines Elternteils auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Das
BVerfG wendet seine Rechtsprechung aber auch auf diesen Fall an.387
Hier wird zumeist eine Lösung über § 36, § 25 Abs. 5 oder § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG
gesucht. Nach § 36 wie auch nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis
nur zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erteilt. Diese einfachgesetzlichen
Normen setzen für die Verwirklichung grundrechtlicher Ansprüche zu hohe Hürden. Daher
wird in der Verwaltungspraxis zumeist eine Lösung über § 25 Abs. 5 AufenthG gesucht.
Vorausgesetzt wird hierbei, dass das Kind über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfügt.388
Denn beim Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem
nichtsorgeberechtigten Elternteil und seinem minderjährigen ledigen Kind besteht ein
rechtliches Ausreisehindernis. Der Gesetzgeber hat es bislang vermieden, für
nichtsorgeberechtigte Elternteile ausländischer minderjähriger lediger Kinder den Regelungen
des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vergleichbare gesetzliche
Erteilungsgründe festzulegen. Angesichts dessen ist die Lösung über § 25 Abs. 5 AufenthG in
Anlehnung an § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nach Maßgabe verfassungsrechtlicher Grundsätze
zu suchen.
Die nachfolgenden Ausführungen betreffen sowohl den nichtsorgeberechtigten Elternteil
eines minderjährigen ledigen deutschen Kindes wie den eines minderjährigen ledigen
ausländischen Kindes. Für die erste Fallgruppe ist § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für die andere
§ 25 Abs. 5 AufenthG Rechtsgrundlage. Entscheidend ist das Kindeswohl, dessen Bedeutung
in der Rechtswirklichkeit nicht anhand der Staatsangehörigkeit des Kindes relativiert werden
kann. Während im Blick auf das deutsche Kind bereits die Staatsangehörigkeit die
Berücksichtigung der Zumutbarkeit des Aufenthaltes im Herkunftsland des sorgeberechtigten
Elternteils sperrt, steht beim ausländischen Kind der gefestigte Aufenthaltsanspruch des
Kindes einer derartigen Betrachtung entgegen. Beim im Bundesgebiet geborenen Kind folgt
dieser Anspruch aus § 33 AufenthG, im Übrigen aus dem auf Dauer angelegten
Aufenthaltsanspruch des anderen Elternteils (vgl. § 32 AufenthG). Der EGMR weist
ausdrücklich darauf hin, es stelle einen schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 8 EMRK
geschützte Recht dar, wenn einem ausländischen Kind mit verfestigtem Aufenthaltsrecht im
Gebiet eines Vertragsstaates zugemutet werde, dem anderen Elternteil in das gemeinsame
Herkunftsland zu folgen.389 Der Aufenthalt muss dem anderen ausländischen Elternteil und
dem Kind im Herkunftsland des Elternteils jedoch möglich sein.390
Eine Abschiebung, die mit Art. 6 Abs. 2 GG unvereinbar ist, ist deshalb rechtlich unmöglich
und begründet einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 AufenthG. Das BVerfG weist
ausdrücklich darauf hin, dass der Verweis auf eine vorübergehende Trennung
verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet.391 Da bei Kleinkindern die Entwicklung sehr
schnell voranschreitet, ist schon eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von
Art. 6 Abs. 2 GG unzumutbar.392
2.
Vaterschaftsanerkennung oder -feststellung
387
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2008, 347.
Nieders.OVG, EZAR 45 Nr. 2; OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 236, allgemein zum
gefestigten Aufenthaltsrecht des stammberechtigten Familienangehörigen; s. auch § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
389
EGMR, InfAuslR 2006, 255 (266) – Sezen.
390
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2008, 347 (348).
391
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000, 67 (69) = EZAR 622 Nr. 37 = NVwZ 2000, 59 = AuAS 2000, 43.
392
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2000, 67 (69) = EZAR 622 Nr. 37 = NVwZ 2000, 59 = AuAS 2000, 43;
OVG Hamburg, B. v. 18. 10. 2000 – 2 Bs 237/00; OVG Saarland, InfAuslR 2003, 328 = NVwZ-RR 2003, 783;
a. A. Nieders.OVG, InfAuslR 2003, 332 (333).
388
115
Bei nichtehelichen Beziehungen bedarf es beim Vater der Anerkennung der Vaterschaft, um
aus dem Verwandtschaftsverhältnis zum Kind Aufenthaltsansprüche ableiten zu können. In
der Verwaltungspraxis kommt insbesondere dem Erwerbsgrund nach § 4 Abs. 1 Satz 2, aber
Abs. 3 Satz 1 StAG Bedeutung zu. Ist nur der Vater deutscher Staatsangehöriger, bedarf es
zur Geltendmachung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes lediglich der
Vaterschaftsanerkennung oder –feststellung. Erkennt der deutsche Vater seine Vaterschaft an,
um dadurch der ausländischen Kindesmutter den Aufenthaltsanspruch nach § 28 Abs. 1 Satz 1
Nr. 3 AufenthG zu sichern, hat die Behörde dies hinzunehmen. Zweifel am wirksam
abgegebenen
Vaterschaftsanerkenntnis
können
deren
zivilrechtliche
und
staatsangehörigkeitsrechtliche Wirkung nicht aufheben. Einwendungen gegen die inhaltliche
Richtigkeit einer nach den §§ 1594 ff. BGB wirksam abgegebenen Vaterschaftsanerkenntnis
außerhalb der Vaterschaftsanfechtungsklage sind daher auch bei erheblichen Zweifeln an der
Richtigkeit nicht zugelassen.393 Durch Vaterschaftsanerkenntnis ist der Erklärende, auch wenn
er nicht der biologische Vater ist, Vater im rechtlichen Sinne geworden. Er kann deshalb auch
keine unwahren Angaben im Sinne des StGB und des AufenthG gegenüber der
Ausländerbehörde machen.394 Allerdings können strafbare Handlungen durch den
Erklärenden und die Kindesmutter „im Kontext der Anerkennung der Vaterschaft“ selbst
begründet werden.395
Bei ehelichen wie nichtehelichen Kindern entfällt bei nachträglichem Verlust der deutschen
Staatsangehörigkeit des Kindes das Aufenthaltsrecht der Mutter. Verliert das von der
ausländischen Mutter während der Ehe mit einem Deutschen geborene Kind die deutsche
Staatsangehörigkeit, weil der Ehemann die Ehelichkeit (§ 1599 Abs. 1 BGB) erfolgreich
angefochten hat396 und deshalb der auf § 4 Abs. 1 Satz 2 StAG gestützte Erwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes rückwirkend entfällt, liegt darin nicht eine
unzulässige Entziehung oder der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit durch eine
staatliche Maßnahme im Sinne des Art. 16 Abs. 1 GG. Die Mutter kann in diesem Fall nicht
als ausländischer Elternteil eines deutschen Kindes eine Aufenthaltserlaubnis
beanspruchen.397 Erhebt der deutsche Kindesvater nicht die Anfechtungsklage, blieb es
bislang bei der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes. Seit dem 1. Juni 2008 ist jedoch
durch Änderung des § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 6 BGB den zuständigen Landesbehörden ein
Anfechtungsrecht eingeräumt worden, um bei kollusiven Zusammenwirken der Eltern die
Ehelichkeit des Kindes und „missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen zu bekämpfen.“398
Das BVerfG hat diese Regelung kürzlich für verfassungswidrig erklärt.399 Dies hat
weitreichende Auswirkungen. Mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit entfiel
bislang auch für das Kind das weitere Aufenthaltsrecht.400 Vielmehr teilte es sein weiteres
ausländerrechtliches Schicksal mit dem der Mutter. Offenbart die Mutter allerdings
nachträglich den tatsächlichen Vater und erkennt dieser die Vaterschaft an, kann je nach dem
Status des Vaters ein Aufenthaltsrecht von Kind und Mutter in Betracht kommen. In der
Verwaltungspraxis ist eine derartige nachträgliche Offenbarung allerdings sehr selten.
393
OVG SA, InfAuslR 2006, 56 (58); OVG Berlin-Brandenburg, NVwZ-RR 2008, 826 (827), m.w.Hs.
AG Nienburg/Weser, AuAS 2006, 128; a. A. LG Hildesheim, NStZ 2006, 360?
395
OLG Celle, AuAS 2006, 81.
396
VGH BW, ZAR 2007, 289
397
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2007, 79 (80); VGH BW, AuAS 2001, 256; OVG SA, InfAuslR 2006, 56
(57); VG Düsseldorf, NJW 1986, 676 (677), Marx, in: GK-StAR, IV-2 § 4 StAG Rdn. 27; Reinhard Marx, in:
GK-AufenthG, IV-2 § 28 AufenthG Rdn. 74 ff.; Hailbronner, AuslR, A 1, § 28 AufenthG Rdn. 8.
398
So BR-Drs. 52406, S. 15 f.; BT-Drs. 16/2433).
399
BVerfG, U. v. 17. 12. 2013 – 1 BvL 6/10
400
Demgegenüber ist offen, welche verfassungsrechtlichen Grenzen sich für die Rückgängigmachung des
Staatssangehörigkeitserwerbs des Kindes durch rückwirkende Aufhebung des Aufenthaltstitels der Eltern (vgl. §
4 Abs. 3 Satz 1 StAG) ergeben (BVerwG, NVwZ 2007, 470 (471).
394
116
Tatsächliche Schwierigkeiten werden bei einer Täuschung über die Vaterschaft die
Glaubhaftmachung einer familiären Gemeinschaft des Kindes mit seinem tatsächlichen Vater
bereiten. Dem Aufenthaltsrecht der Mutter wird häufig ein Ausweisungsgrund wegen eines
Personenstandsdeliktes entgegenstehen. Von vornherein ausgeschlossen ist eine derartige
Fallkonstellation allerdings nicht.401
3.
Ausländischer Elternteil ohne Personensorge
Die Beziehung zwischen dem nichtsorgeberechtigten Elternteil und seinem Kind steht unter
dem Schutz von Art. 6 Abs. 2 GG.402 Darüber hinaus trifft die Vertragsstaaten der EMRK
nach der Rechtsprechung des EGMR aufgrund von Art. 8 EMRK die Verpflichtung, auf die
Zusammenführung eines leiblichen Elternteils mit seinem Kind hinzuwirken. Es dient
grundsätzlich dem Wohl des Kindes, seine Familienbindungen aufrechtzuerhalten. Diese zu
zerreißen bedeutet, ein Kind von seinen Wurzeln abzuschneiden. Ein derartiger Eingriff kann
nur unter „sehr gewichtigen Umständen“ gerechtfertigt werden. Dies gilt auch für den
Ausschluss des Umgangsrechts für einen Vater.403 Der Gesetzgeber und dementsprechend
die Rechtsprechung haben bislang zwar vorrangig die Beziehung des sorgeberechtigten
Vaters zu seinem deutschen Kind behandelt. Das BVerfG hat diese durch die
Staatsangehörigkeit des Kindes besonders geschützte Beziehung indes nur als einen
Beispielsfall bezeichnet. Bestehe eine schützenswerte Beistandsgemeinschaft und könne
diese Gemeinschaft nur im Bundesgebiet verwirklicht werden, „etwa“ weil das Kind
deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das
Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar sei, dränge die Pflicht des Staates, die Familie
zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Interessen zurück.404 Maßgebend ist damit
stets die auf das Kind bezogene Unzumutbarkeit, das Bundesgebiet zu verlassen. Daraus
ergibt sich, dass immer dann, wenn die Mutter oder auch das Kind über ein gefestigtes
Aufenthaltsrecht verfügt, das Kind nicht auf den Aufenthalt im Herkunftsstaat der Eltern
oder eines Elternteils verwiesen werden kann. Damit liegt auch in diesem Fall eine durch das
Ausländerrecht anzuerkennende schützenswerte Beistandsgemeinschaft vor.405 Aber auch
dann, wenn das Asylverfahren der Kindesmutter noch nicht abgeschlossen und eine
Verfahrensbeendigung nicht absehbar ist, ist es bei einem Kleinkind dem Vater nicht
zuzumuten, vorzeitig auszureisen.406 Sofern kein Teil einer familiären Lebensgemeinschaft
ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet hat, ist grundsätzlich kein hinreichender
Anknüpfungspunkt dafür vorhanden, eine familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu
führen. Regelmäßig ist in solchen Fällen darauf zu verweisen, die familiäre
Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Herkunftsstaat oder – wenn die Familienangehörigen
unterschiedliche Staatsangehörigkeiten haben – in einem der Herkunftsländer zu führen.407
Der Aufenthaltsanspruch des nichtsorgeberechtigten Elternteils setzt das Bestehen einer
familiären Lebensgemeinschaft zwischen diesem und dem Kind voraus. Es kommt hierfür auf
das Bestehen einer Betreuungs- und Erziehungsgemeinschaft an, die nicht notwendigerweise
in Form der Hausgemeinschaft mit dem Kind geführt werden muss. Häufig will der andere
Elternteil, regelmäßig die Mutter, nicht das Zusammenleben mit dem anderen Elternteil und
401
So der Fall in OVG SA, InfAuslR 2006, 56.
BVerfG (Kammer), NVwZ 1990, 455; BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26; VGH BW, InfAuslR 1993,
366 (367); s. auch § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
403
EGMR, NJW 2004, 3397 = NVwZ 2005, 1165 (LS) – Görgülü.
404
BVerfG (Kammer), InfAuslR 2002, 171 (173) = NVwZ 2002, 849 = EZAR 020 Nr. 18; BVerfG
(Kammer), NVwZ 2004, 606; BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26.
405
VG Koblenz, U. v. 9. 9. 2002 – 3 K 1123/02.KO; VG Aachen, InfAuslR 2003, 93; Mees-Asadollah,
InfAuslR 2001, 178 (181).
406
VG Potsdam, InfAusl 2004, 113 (115).
407
BVerwG, EZAR 123 Nr. 1 = Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 53; s. auch BVerwG, InfAuslR 1999,
330 (331).
402
117
hat bereits aus diesem Grunde in die Abgabe der gemeinsamen Sorgeerklärung nach § 1626a
Abs. 1 Nr.1 BGB nicht eingewilligt. Das Kind hat jedoch als Bestandteil des Kindeswohls ein
Recht auf Umgang mit jedem Elternteil (§ 1684 Abs. 1 1. Hs. BGB).
Von dem nichtsorgeberechtigten ausländischen Elternteil wird mehr als die lediglich bloße
Ausübung des Umgangsrechts gefordert. Vielmehr muss dieser mit dem Kind in familiärer
Gemeinschaft leben. Die aufenthaltsrechtliche Folgen knüpfen also an das Umgangsrecht an,
erfordern darüber hinaus aber auch die Führung einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind
(vgl. auch § 27 Abs. 1 AufenthG). Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob
eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte
Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Dabei ist auch in Rechnung
zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des
Kindes durch die Mutter oder durch andere Personen oder durch soziale bzw. kirchliche
Einrichtungen entbehrlich wird.408 Vielmehr kommt es auf eine konkrete Gesamtbewertung
der tatsächlichen Gestaltung der Beziehung zwischen dem nichtsorgeberechtigten Elternteil
und dem Kind an. Dabei erfordert die Gesamtbewertung der tatsächlich geführten
Gemeinschaft stets auch die Berücksichtigung der konkreten Einschränkungen und
Einwirkungen auf diese familiäre Gemeinschaft, die aufgrund der vorrangigen Ausübung des
Sorgerechts des anderen Elternteils bestehen. Bloße Besuche und sonstige Kontakte wurden
früher in der Rechtsprechung im Allgemeinen als Indizien auf eine nicht geschützte
Begegnungsgemeinschaft angesehen. Dem hält das BVerfG entgegen, dass sich eine
verantwortlich gelebte und dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-KindBeziehung „nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen
Kontaktes oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen“ ließen. Die
Entwicklung eines Kindes werde nicht durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern,
sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt.409 Der
persönliche Kontakt des Kindes zum getrennt lebenden Elternteil und der damit verbundene
Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter diene in aller Regel
der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Das Kind brauche beide Eltern.410 Haben die
Eltern zuvor zusammen gelebt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass nach der Aufhebung
der häuslichen Gemeinschaft zwischen einem Kind und dem Elternteil, der ausgezogen ist,
eine gegenseitige Verbundenheit fortbesteht.411 Aber auch außerhalb der persönlichen
Begegnung kann sich Umgang ereignen, etwa durch Brief- und Telefonkontakte. Auch
Telefonate seien somit Teil der Wahrnehmung des Umgangs und insoweit – zumal bei
getrennten Wohnsitzen – auch Element familiärer Gemeinschaft. Dies muss in die
ausländerrechtliche Würdigung angemessen einfließen. Entsprechend abgefasste
eidesstattliche Versicherungen erfüllen dabei grundsätzlich die Darlegungsanforderungen an
eine Glaubhaftmachung im Eilrechtsschutzverfahren und belegten mehr als nur lose und
seltene Besuchskontakte.
4.
Aufenthaltsrechtliche Folgen des Rechts auf Prozessführung
Die Rechtsprechung leitet aus Art. 8 EMRK hieraus ein Recht auf Prozessführung im
Familienrechtsstreit ab, das ein Recht auf Aufenthalt zur Wahrnehmung prozessualer Recht
im umgangsrechtlichen Rechtsstreit nach § 1684 BGB unabhängig von der Frage begründet,
ob der Kindesvater wegen der fehlenden Kooperation der Kindesmutter eine familiäre
408
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27); BVerfG (Kammer), NVwZ 2006, 682 (683); OVG Hamburg,
InfAuslR 2006, 463 (464); OVG NW, NVwZ 2006, 717 = InfAuslR 2006, 126; VG Magdeburg, InfAuslR 2005,
315 (316).
409
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27).
410
BVerfG (Kammer), AuAS 2006, 26 (27).
411
OVG NW, NVwZ 2006, 717 (718) = InfAuslR 2006, 126
118
Beziehung zu seinem Kind herstellen kann412. Der EGMR bejaht einerseits eine aus Art. 8
Abs. 1 EMRK folgende staatliche positive Verpflichtung, die Fortführung des Familienlebens
zu sichern, und andererseits eine negative Verpflichtung. keine Maßnahmen zu ergreifen,
welche Familienbande zerreißen. Kommt der Staat der ihn treffenden positiven Verpflichtung
nach, indem er gerichtliche Verfahren zur Einräumung des Umgangsrechts zur Verfügung
stellt, verletzt er seine negative Verpflichtung, wenn die Ausländerbehörde dem betreffenden
Elternteil während des gerichtlichen Prozesses den Aufenthalt nicht erlaubt. Unter diesen
Voraussetzungen liegt ein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK vor.413 Macht der
nichtsorgeberechtigte ausländische Elternteil glaubhaft, dass er sich gegenüber dem das
Umgangsrecht vereitelnden anderen Elternteil nachhaltig und ernsthaft um die Ausübung des
Umgangsrecht mit dem Kind, etwa durch Einschaltung des zuständigen Jugendamtes und
nach Scheitern der behördlichen Vermittlungsbemühungen durch entsprechende gerichtliche
Anträge, bemüht hat, kann sein verfassungsrechtlich (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) und
einfachgesetzlich geschütztes Recht (§ 1684 Abs. 1 2. Hs. BGB) auf Herstellung der
familiären Gemeinschaft nicht bezweifelt werden und kommt ihm hinsichtlich des
Erfordernisses der Führung einer familiären Gemeinschaft mit dem Kind eine Vorwirkung zu.
Umgekehrt kann der Wille zur Herstellung und Führung der familiären Gemeinschaft nicht
erkannt werden, wenn es der ausländische nichtsorgeberechtigte Elternteil an jeglichen
Bemühungen fehlen lässt, seiner Verpflichtung zum Umgang mit dem Kind nach § 1684 Abs.
1 2. Hs. BGB nachzukommen.
D.
Ablauf des Asylverfahrens
I. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Im Asylverfahren hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), das bis zum
In-Kraft-Treten der entsprechenden Vorschriften des ZuwG Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge hieß, eine Monopolzuständigkeit für asyl- und ausländerrechtliche
Entscheidungen im Asylverfahren. Es prüft die Voraussetzungen für die Asylanerkennung
nach Art. 16a Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 AsylVfG, den Flüchtlingdschutz nach § 3 Abs. 4
AsylVfG in Verb. mit § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit § 13
AsylVfG) und den subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG und trifft die
entsprechende Sachentscheidung (§ 31 AsylVfG). Die asylrechtliche Sachentscheidung erlässt
nicht mehr wie früher ein insoweit weisungsunabhängiger Bediensteter des Bundesamtes (§ 5
Abs. 2 Satz 1 AsylVfG a. F.). Vielmehr wird durch § 5 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der jetzt
geltenden Fassung bestimmt, dass das Bundesamt als solches die Entscheidung nach Art. 16a
Abs. 1 GG und § 3 Abs. 4 AsylVfG trifft. Für die Entscheidung über den subsidiären
Schutzstatus nach § 60 Abs. 2 bis 7 AsylVfG bestand bereits nach früherem Recht keine
Weisungsunabhängigkeit.
Zuständig für die Bearbeitung ist in aller Regel die nach dem Gesetz zuständige Außenstelle
des Bundesamtes (§ 14 Abs. 1 AsylVfG). In der Verwaltungspraxis wird auch in den Fällen
des § 14 Abs. 2 AsylVfG die Akte regelmäßig der örtlich nahe gelegenen Außenstelle
zugewiesen. Im Rahmen des Asylfolgeantragsverfahrens ist grundsätzlich die Außenstelle
zuständig, die auch im Erstverfahren für die Bearbeitung zuständig war (§ 71 Abs. 2 Satz 1
AsylVfG). Das gilt selbst dann, wenn der Folgeantragsteller während des vorangegangenen
Asylverfahrens im Rahmen der nachträglichen Umverteilung (§ 51 Abs. 1 AsylVfG) einem
anderen Bundesland zugewiesen worden ist. Die in der Verwaltungspraxis des Bundesamtes
412
VG Hamburg, InfAuslR 2003, 91 (92), mit Verweis auf EGMR, NVwZ 2001, 547 (548) = EZAR 935
Nr. 10 = InfAuslR 2000, 473 - Ciliz; VG München, AuAS 2000, 122 MeesAsadollah, InfAuslR 2001, 178 (184).
413
EGMR, NVwZ 2001, 547 (548) = EZAR 935 Nr. 10 = InfAuslR 2000, 473 – Ciliz.
119
eingeführte elektronische Akte hat dazu geführt, dass häufig nach der Anhörung die Akte an
eine andere Außenstelle zur Entscheidung abgegeben wird.
Im Rahmen der asylverfahrensrechtlichen Sachentscheidung erlässt das Bundesamt darüber
hinaus auch die Abschiebungsandrohung (§ 34, § 35 AsylVfG) Demgegenüber ist die
Ausländerbehörde für den bloßen Vollzug aller im Rahmen des Asylverfahrens getroffenen
ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig. Sie ist darüber hinaus während des
Asylverfahrens – nach Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung – für die ausländerrechtliche
Behandlung des ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich zugewiesenen Asylsuchenden
zuständig (vgl. § 60 Abs. 3 AsylvfG) Das Asylverfahren wird damit durch den Grundsatz der
Trennung von anordnender und vollziehender Behörde geprägt. Dies ist dem Gedanken der
Verfahrensbeschleunigung geschuldet, der in Art. 16a Abs. 4 GG seinen
verfassungsrechtlichen Ort gefunden hat. Die Konzentration aller auch ausländerrechtlichen
Entscheidungen beim Bundesamt kann im Rahmen des Asylfolgeantragsverfahrens zu
verzwickten verfahrensrechtlichen Problemen sowie Rechtsschutzproblemen führen (vgl. § 71
Abs. 5 AsylVfG).
Auch bei der Behandlung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2–7 AufenthG
(subsidiärer Schutzstatus) kann es zu Abgrenzungsproblemen kommen, weil das Bundesamt
für die Entscheidung über zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zuständig ist und die
Ausländerbehörde inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse zu beachten hat und die
gebotene präzise Differenzierung nicht stets mit der erforderlichen Klarheit möglich ist.
Gegenseitige Unterrichtungspflichten zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde (§§ 40, 54
AsylVfG) sollen die Effektivität des Vollzugs sicherstellen, führen aber häufig zu
Reibungsverlusten.
Der für die Sachkompetenz des Bundesamtes maßgebende asylrechtliche Antragsbegriff des
§ 13 Abs. 1 AsylVfG bezieht sich nicht auf die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes
(Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG). Dem Bundesamt obliegt die
Prüfung dieser Abschiebungshindernisse jedoch nach Stellung eines Asylantrags (§ 24 Abs. 2
AsylVfG). Es hat darüber hinaus festzustellen, ob im Einzelfall derartige Hindernisse
vorliegen (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Dies ist der Grund dafür, dass in allen Fällen, in
denen zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach Abschluss eines Asylverfahrens
geltend gemacht werden, das Bundesamt für die Prüfung und Entscheidung zuständig ist.
Derartige Abschiebungshindernisse können aber auch unabhängig von einem Asylantrag
geltend gemacht werden. In diesen Fällen ist die Ausländerbehörde zuständig, weil nach § 24
Abs. 2 AsylVfG die Zuständigkeit des Bundesamtes für die Prüfung von
Abschiebungshindernissen nur begründet wird, wenn diese im Zusammenhang mit einem
Asylantrag geltend gemacht werden. Allerdings bestimmt § 72 Abs. 2 AufenthG, dass die
Ausländerbehörde nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes über das Vorliegen von
Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entscheidet.
II. Ausländerbehörde
Die Ausländerbehörde ist – wie ausgeführt – für den bloßen Vollzug aller im Rahmen des
Asylverfahrens getroffenen ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig. Sie ist darüber
hinaus während des Asylverfahrens – nach Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung – für die
ausländerrechtliche Behandlung des ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich zugewiesenen
Asylsuchenden zuständig (§ 58, § 60 Abs. 3 AsylVfG). Begrenzt der Antragsteller sein
Schutzbegehren auf die Abschiebungshindernisse des § 60 Abs. 2–7 AufenthG (subsidiärer
Schutz) und enthalten seine Behauptungen keinen Hinweis auf Verfolgungsgründe, ist nicht
120
von einem Asylantrag auszugehen.414 Nach der Gegenmeinung ist demgegenüber von einer
ausländerbehördlichen Zuständigkeit auch dann auszugehen, wenn mit dem auf § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG zielenden Antrag in der Sache Verfolgung geltend gemacht wird. Diese
Ansicht dürfte mit dem asylrechtlichen Antragsbegriff nach § 13 Abs. 1 AsylVfG und der
darauf beruhenden Monopolzuständigkeit des Bundesamtes indes kaum zu vereinbaren sein.
Die Sachkompetenz für einen Antrag nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, der nicht im
Zusammenhang mit einem Asylantrag gestellt wird, liegt bei der zuständigen
Ausländerbehörde (§ 72 Abs. 2 AufenthG). Wegen der weitreichenden Folgen ist in
Zweifelsfällen durch die Ausländerbehörde näher aufzuklären, ob der Antragsteller
tatsächlich um Asyl nachsucht, d. h. sich gegenüber einer drohenden Abschiebung nicht
lediglich auf humanitäre und andere verfolgungsunabhängige Gründe beruft, sondern die
Gefahr einer ihm drohenden Verfolgung geltend macht.415 Sie hat in jedem Fall eines
Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG das Bundesamt zu beteiligen (§
72 Abs. 2 AufenthG). Bei der Stellungnahme des Bundesamtes handelt es sich um eine nicht
selbständig anfechtbare verwaltungsinterne Stellungnahme.
III. Bundespolizei
Die Bundespolizei ist eine Polizeibehörde und deshalb nicht für asylrechtliche
Entscheidungen zuständig. Sie entscheidet aber in eigener Zuständigkeit über die
Einreiseverweigerung gegenüber Asyl begehrenden Antragstellern (§ 18 Abs. 2 AsylVfG)
und ist nach dem Gesetz nicht verpflichtet, das Bundesamt hierbei zu beteiligen. Im Rahmen
des Flughafenverfahrens ist die Bundespolizei Herrin des ausländerrechtlichen Verfahrens
(§ 18a AsylVfG), während das Bundesamt die Sachherrschaft im asylrechtlichen Verfahren
hat (§ 18a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 AsylVfG). Die Kompetenzen der Bundespolizei folgen den
asylrechtlichen Entscheidungen. Als zwingende Folge der qualifizierten Asylablehnung hat
die Bundespolizei die Einreise zu verweigern (§ 18a Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Umgekehrt hat
die Bundespolizei die Einreise zu erlauben, wenn das Bundesamt mitteilt, dass über den
Asylantrag kurzfristig nicht entschieden werden kann (§ 18a Abs. 6 Nr. 1 AsylVfG).
IV.
Aufnahmeeinrichtung
Für die Erstaufnahme ist die Aufnahmeeinrichtung zuständig (§§ 44 ff. AsylVfG). Sie nimmt
den Asylsuchenden, der nach § 14 Abs. 1 AsylVfG zur Stellung des Asylantrags bei der
Außenstelle des Bundesamtes verpflichtet ist, auf oder leitet ihn an die für ihn zuständige
Aufnahmeeinrichtung weiter (§ 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Erst mit der persönlichen
Meldung des Asylsuchenden bei der für die Bearbeitung seines Asylantrags zuständigen
Außenstelle des Bundesamtes wird der Asylantrag rechtswirksam gestellt. Vorher spricht das
Gesetz nicht von einem Asylantrag, sondern von einem Asylersuchen (vgl. §§ 18 Abs. 1
1. Hs., 18 a Abs. 1 Satz 1 1. Hs., 19 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG).
Eine schriftliche Antragstellung ist daher in den Fällen des § 14 Abs. 1 AsylVfG nicht
möglich. Im Falle anwaltlicher Vertretung sollte dem Asylsuchenden der anwaltliche
Schriftsatz zwecks Übergabe bei der Meldung nach § 22 AsylVfG mitgegeben werden. Vor
414
415
OVG Rh-Pf, AuAS 1995, 118 (119); a. A. VGH BW, AuAS 1994, 104.
OVG Rh-Pf, AuAS 1995, 118 (119).
121
der persönlichen Meldung nach § 22 AsylVfG liegt zwar noch kein Asylantrag vor, die
Behörden haben jedoch zwingend den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG und aus
völkerrechtlichen Gründen auch den Schutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 6 AufenthG zu beachten
und dürfen deshalb gegenüber dem „Asylsuchenden“ keine aufenthaltsbeendenden oder verhindernden Maßnahmen ergreifen, sondern haben diesen an die zuständigen Behörden
weiterzuleiten. Darüber hinaus entsteht das gesetzliche Aufenthaltsrecht nach § 55 Abs. 1
Satz 1 AsylVfG nicht erst mit der wirksamen Asylantragstellung, sondern bereits mit dem
Nachsuchen um Asyl bei einer amtlichen Stelle.416
Auch wenn der um Asyl Ersuchende seiner dementsprechenden Verpflichtung aus § 22 Abs.
1 Satz 1 AsylVfG nicht Folge leistet, dürfen Abschiebungsmaßnahmen nicht ohne weiteres
durchgeführt werden. Vielmehr sieht das Gesetz hierfür das Verfahren nach § 66 AsylVfG
vor (vgl. auch § 67 Abs. 2 AsylVfG). Damit kann die frühere Rechtsprechung, wonach auch
fernmündlich oder per Telefax gestellte Anträge als wirksamer Antrag zu behandeln waren, 417
nicht mehr uneingeschränkt Anwendung finden. Auf diesem Weg übermittelte Erklärungen
sind zwar nach wie vor von allen in Betracht kommenden Behörden (Bundes-, allgemeine
Polizei- und Ausländerbehörden) zu beachten. Ein Asylantrag setzt jedoch die persönliche
Meldung bei der Aufnahmeeinrichtung und die anschließende Antragstellung bei der
zuständigen Außenstelle des Bundesamtes voraus. An die Verletzung der unverzüglichen
Meldepflicht knüpfen die Regelungen des §§ 20 ff. AsylVfG einschneidende
verfahrensrechtliche Sanktionen (s. unten).
V. Einleitung des Asylverfahrens
1. Antragsabhängiges Verfahren
Ungeachtet zwingender verfassungs- und völkerrechtlicher Verpflichtungen (Art. 16a Abs. 1
GG, Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK, Art. 3 Übereinkommen gegen Folter, Art. 7 IPbpR, § 60
Abs. 1, Abs. 2 bis 7 AufenthG) wird das Asylverfahren nur aufgrund eines Antrags eingeleitet
(§§ 1 Abs. 1, 14, 23 Abs. 1 AsylVfG). Es handelt sich damit um ein antragsabhängiges
Verfahren im Sinne von § 22 Satz 2 Nr. 1 VwVfG. Nach § 13 Abs. 1 AsylVfG liegt ein
Asylantrag vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten
Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Verfolgungsschutz oder
internationalen Schutz sucht. Die Bundespolizei und andere Behörden haben demnach jede
schriftlich, mündlich oder sonst wie geäußerte Erklärung, der sich ein Wille des Antragstellers
auf Schutzsuche entnehmen lässt, als Asylantrag zu behandeln.
Nach der Legaldefinition des Asylantrags kommt es also darauf an, ob sich dem in welcher
Weise auch immer geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er
Verfolgungsschutz sucht. Das anzuwendende VwVfG des Bundes schreibt weder einen
bestimmten Mindestinhalt noch eine Begründung vor. Der Antragsteller muss weder den
Begriff „Asyl“ verwenden noch reicht es aus, wenn allein dieses Wort benutzt wird.418 Im
Zweifel ist jedoch davon auszugehen, dass Asyl begehrt wird, wenn dieser Begriff in den
Erklärungen des Antragstellers enthalten ist.419 Denn für die Auslegung von
Willenserklärungen gilt im Verwaltungsrecht § 133 BGB entsprechend. Danach ist bei der
Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am
416
BayObLG, NVwZ 1993, 811; Marx, Kommentar zum AsylVfG, § 13 Rn 8.
417
VG Wiesbaden, InfAuslR 1990, 177; VG Karlsruhe, NJW 1988, 664.
OVG NW, NVwZ-RR 1989, 390.
OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110.
418
419
122
buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Eines Rückgriffs auf den Antragsbegriff bedarf
es ohnehin nur in Zweifelsfällen.420 Es versteht sich von selbst, dass ein wirksamer Antrag
auch durch die Abgabe fremdsprachiger Erklärungen begründet werden kann.
Die Behörden haben insbesondere im Hinblick auf bestehende Sprachprobleme sowie die
häufig beim ersten Kontakt mit Behörden auftretenden psychischen Hindernisse bei der
Erforschung des wirklichen Willens keine zu hohen Anforderungen zu stellen.421 Nur dann,
wenn ausnahmsweise aufgrund der Erklärungen Zweifel am Antragsziel entstehen, haben die
angesprochenen Behörden durch eine sorgfältige Anhörung zu überprüfen, ob der
Antragsteller inhaltlich um Verfolgungsschutz nachsucht. Dies kann nur dann verneint
werden, wenn außer Zweifel steht, dass das Vorbringen bei verständiger Würdigung und
Berücksichtigung der gesamten Umstände des Falles inhaltlich kein Asylbegehren darstellt.422
Genaue Kenntnis der rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Asylrecht oder
Flüchtlingsschutz ist nicht erforderlich. Es reicht vielmehr aus, wenn sich aus den
erkennbaren Umständen ergibt, dass der Antragsteller Furcht vor Verfolgung hat.
Für die Ausländerbehörden und die Bundespolizei ist es regelmäßig unschwer erkennbar, mit
welchem Ziel ein Ausländer um Schutz nachsucht. Insbesondere bei unmittelbar einreisenden
Ausländern verengt sich schon aufgrund der äußeren Umstände die Bandbreite der möglichen
in Betracht kommenden Anträge auf das Antragsziel der Schutzsuche vor Verfolgung. Die
Situation im Herkunftsland des Einreisenden qualifiziert sein Begehren in aller Regel als
Asylantrag.423 Daher ist zur Qualifizierung des Schutzbegehrens als Antrag im Sinne von § 13
Abs. 1 AsylVfG in aller Regel ein Mindestmaß an Begründung nicht erforderlich. Zwar
befreit § 13 Abs. 1 AsylVfG vom Formerfordernis. Dies bedeutet indes nicht, dass auf das
Vorhandensein eines hinreichend erkennbaren und bestimmten Willens des Antragstellers
verzichtet werden könnte.
Für miteingereiste ledige Kinder, die noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet haben und
nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels sind, wird die Antragstellung unabhängig vom Willen
des gesetzlichen Vertreters fingiert (§ 14a Abs. 1 AsylVfG). Reist ein derartiges Kind
nachträglich ein oder wird es hier geboren, trifft die gesetzlichen Vertreter wie die
Ausländerbehörde eine unverzügliche Anzeigepflicht (§ 14a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG).
Mit Zugang der Anzeige beim Bundesamt gilt der Antrag unabhängig vom entgegenstehenden
Willen der gesetzlichen Vertreter als gestellt (§ 14a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG).
Muster:
Asylrechtlicher Antragsschriftsatz mit Begründung

An das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
– zuständige Außenstelle –
wird persönlich durch Antragsteller übergeben 42422
Ahmed Azizi, geb. 2.5.1967, Paktia/Afghanistan
VG Düsseldorf, InfAuslR 1988, 273
VG Wiesbaden, Beschl. v. 20.12.1991 – II/1 G 21435/91.
422
OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110.
423
OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110.
424
Im Zeitpunkt der Antragsformulierung ist die zuständige Außenstelle nicht bekannt. Der Mandant ist
darauf hinzuweisen, dass er bei seiner Vorsprache Sorge dafür zu tragen hat, dass der – in einem verschlossenen
Umschlag enthaltene – Antragsschriftsatz zur Akte des Bundesamtes gelangt und nicht bei der
Aufnahmeeinrichtung verbleibt
420
421
123
Sehr geehrte Damen und Herren,
unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
den Antragsteller als Asylberechtigten anzuerkennen. 42523
I.
Zunächst wird darauf hingewiesen, dass die nachfolgende Begründung lediglich die tatsächlichen
Schlüsselelemente des Kernvorbringens beschreibt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit im Hinblick auf
sämtliche erheblichen Sachverhaltselemente, auf die zeitliche Abfolge der dargelegten Ereignisse sowie auf
sonstige tatsächliche Umstände zu erheben. Die nachfolgende Begründung soll die persönliche Anhörung
vorbereiten, jedoch nicht ersetzen. Die Anhörung ist der Ort, an dem durch konkrete Befragung der genaue
Sachverhalt aufzuklären ist. Auf die Glaubhaftigkeit der konkreten Schilderung des asylrechtlich erheblichen
Sachverhalts während der persönlichen Anhörung kommt es entscheidend an (BVerfGE 94, 166 (200 f.) = EZAR
632 Nr. 25 = NVwZ 1976, 678). Die Art der persönlichen Einlassung des Antragstellers während seiner
persönlichen Anhörung, seine Persönlichkeit, insbesondere seine Glaubwürdigkeit spielen bei der Würdigung
und Prüfung der Tatsache, ob er gute Gründe zur Gewissheit der Behörde dargetan hat, eine entscheidende
Rolle (BVerwG, DVBl. 1963, 145). Dementsprechend kann durch das Gespräch zwischen dem Antragsteller und
dem Einzelentscheider während der Anhörung am besten sichergestellt werden, dass der Sachverhalt umfassend
aufgeklärt, die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen im
Sachvorbringen auf der Stelle nachgegangen wird (Hess.VGH, ESVGH 31, 259). Aus fehlenden
Sachverhaltselementen, Ungenauigkeiten und etwaigen Ungereimtheiten in der nachfolgenden Begründung
können deshalb für die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben des Antragstellers keine diesem
nachteilige Schlussfolgerungen gezogen werden.
Dem Antragsteller wurde diese Gesetzeslage sowie die entsprechende Rechtsprechung im Rahmen des
anwaltlichen Beratungsgesprächs erläutert. Er wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der anwaltliche
Schriftsatz nur die Kernelemente seines asylrechtlichen Sachvorbringens beschreibt und deshalb in diesem nicht
erwähnte Einzelheiten in der Anhörung von ihm vorzutragen sind, das Bundesamt andererseits aber von Amts
wegen verpflichtet ist, entsprechend seiner verfahrensrechtlichen Fürsorgepflicht ihm erkennbare mögliche
Widersprüche, Ungereimtheiten und sonstige Unklarheiten von Amts wegen aufzuklären und sich insbesondere
nicht lediglich auf die Entgegennahme des Sachvorbringens beschränken darf. Der Antragsteller wurde darüber
hinaus darüber belehrt, dass es wesentlich für eine verfahrensrechtlich einwandfreie Gestaltung der Anhörung
ist, dass er nicht nur zu Beginn der Anhörung, sondern sachbezogen auch während der Anhörung je nach
Sachlage in einer seiner Person gemäßen Art und Weise über das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn und die
Entscheidung über sein Ersuchen ankommt, und dass er deshalb darauf vertrauen darf, dass das Bundesamt die
Anhörung loyal sowie verständnisvoll führt (s. zu den entsprechenden Amtspflichten BVerfGE 94, 166 (204) =
EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678). Der Antragsteller wurde insbesondere darüber belehrt, dass das
Bundesamt ihm das Recht einzuräumen hat, zunächst den Sachverhalt von sich aus zusammenhängend
darzustellen, und es die Pflicht des Bundesamtes ist, anschließend durch gezielte Nachfragen und Vorhalte den
Sachverhalt im Einzelnen aufzuklären und den Antragsteller auf Widersprüche und Ungereimtheiten
hinzuweisen.
II.
Der Antragsteller hat am Paktia verlassen und reiste am aus Afghanistan aus. Er ist am in das Bundesgebiet
eingereist.24 Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit. Er hat
sich an oppositionellen Aktivitäten gegen die afghanischen Behörden beteiligt Der Antragsteller ist drei Mal für
die Dauer von jeweils ca. drei Wochen durch die afghanischen Behörden festgehalten worden. Nähere
Darlegungen erfolgen während der Anhörung. Nach der letzten Festnahme verdichteten sich die Anzeichen,
dass die Behörden gegen den Antragsteller Beweise für seine oppositionellen Aktivitäten gesammelt hatten. Am
425
Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ Abs. 4 AsylvfG) wird damit automatisch
geltend gemacht (§ 13 Abs. 2 1. Hs. AsylVfG), wie auch die Feststellung von Abschiebungshindernissen (§§ 24
Abs. 2, 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG).
124
wurde er durch einen Schulfreund, der bei den Behörden im Sicherheitsbereich tätig ist, über seine
bevorstehende Festnahme informiert. Er tauchte deshalb sofort unter und ließ seine Familie durch Dritte über
seine Situation informieren. Nachdem der Antragsteller die Fluchtvorbereitung abgeschlossen hatte, reiste er ca.
zwei Wochen danach nach Pakistan aus.

2.
Persönliche Meldepflicht (§ 23 Abs. 1 AsylVfG)
Nach § 23 Abs. 1 AsylVfG ist der Antragsteller, der in der für ihn zuständigen
Aufnahmeeinrichtung aufgenommen worden ist, verpflichtet, persönlich zur
Asylantragstellung zu erscheinen. Diese persönliche Meldepflicht setzt voraus, dass er
verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§ 14 Abs. 1, § 47 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG). Für Antragsteller, die ihr Asylbegehren nicht bei der Außenstelle des
Bundesamtes, sondern unmittelbar beim Bundesamt geltend machen müssen (§ 14 Abs. 2
AsylVfG), gilt dagegen die Wohnpflicht des § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht. Daher trifft
diese Personen auch nicht die persönliche Meldepflicht nach § 23 Abs. 1 AsylVfG. Sie haben
den Antrag nach § 14 Abs. 2 AsylVfG vielmehr unmittelbar schriftlich bei der Zentrale des
Bundesamtes zu stellen. Aber auch diese Personengruppe ist vom Bundesamt persönlich
anzuhören (§ 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Es wird vorher schriftlich geladen (§ 25 Abs. 5 Satz
1 AsylVfG).
Der Zweck von § 23 Abs. 1 AsylVfG ist die unverzügliche Einleitung des Asylverfahrens bei
unmittelbar einreisenden Asylsuchenden (§ 14 Abs. 1 AsylVfG), um ebenso unverzüglich die
Direktanhörung (§ 25 Abs. 4 AsylVfG) durchführen und das Verwaltungsverfahren zum
Abschluss bringen zu können. Dementsprechend soll der Asylsuchende auch unverzüglich
seiner Meldepflicht nachkommen. Eine besondere Ladung zur Anhörung erfolgt bei
Durchführung der Anhörung nicht (§ 25 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Die Vorschriften über die
Direktanhörung werden heute nicht mehr so streng gehandhabt wie im Zeitpunkt ihrer
Entstehung 1992. Dagegen sind Antragsteller nach § 14 Abs. 2 AsylVfG ausnahmslos vorher
rechtzeitig zu laden (§ 25 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG). Die Vorschrift begründet eine sofortige
Meldepflicht. Nur in den Fällen, in denen die Aufnahmeeinrichtung dem Antragsteller einen
besonderen Termin zur Meldung bei der Außenstelle des Bundesamtes gibt, entfällt die
unverzügliche Meldepflicht. An ihre Stelle tritt die Meldepflicht zum genannten Termin (§ 23
Abs. 1 2. Hs. 2. Alt. AsylVfG). Das ist die Regelpraxis. Die in § 23 Abs. 1 AsylVfG
vorgesehene Verwaltungspraxis trägt den Besonderheiten Rechnung, die sich aus der
Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung und den Bearbeitungskapazitäten des
Bundesamtes ergeben.
Danach regelt sich die persönliche Meldepflicht des Asylantragstellers nach § 14 Abs. 1
AsylVfG wie folgt: Zuständig für die Aufnahme des Asylsuchenden ist grundsätzlich die
Aufnahmeeinrichtung, bei der er sich meldet (§ 46 Abs. 1 Satz 1, § 22 Abs. 1 Satz 2
AsylVfG).
In
Fällen,
in
denen
genügend
Aufnahmekapazitäten
und
Bearbeitungsmöglichkeiten des Bundesamtes für das Herkunftsland des Antragstellers
verfügbar sind (§ 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und dieser in der Aufnahmeeinrichtung, bei der
er sich zunächst gemeldet hat, zu wohnen hat, besteht unverzügliche Meldepflicht bei der
Außenstelle des Bundesamtes. Einer besonderen Terminssetzung bedarf es nicht. Aber auch
in diesen Fällen wird dem Asylsuchenden regelmäßig ein Termin zur Meldung bei der
Außenstelle des Bundesamtes von der Aufnahmeeinrichtung genannt.
§ 23 Abs. 1 AsylVfG begründet eine persönliche Meldepflicht des Antragstellers zur
wirksamen Antragstellung bei der für ihn zuständigen Außenstelle des Bundesamtes.
Demgegenüber begründet § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die persönliche Meldepflicht bei der
Aufnahmeeinrichtung. Erst mit der persönlichen Meldung bei der zuständigen Außenstelle
125
des Bundesamtes wird das Asylverfahren eingeleitet. Macht der Antragsteller sein Begehren
bei der Bundespolizei oder einer Ausländerbehörde geltend, sucht er nach dem Wortlaut
dieser Vorschriften lediglich um Asyl nach. Diese Behörden leiten den Antragsteller an die
nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiter (§ 18 Abs. 1 2. Hs., § 19 Abs. 1 2.
Hs., § 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Ist diese zugleich zuständige Aufnahmeeinrichtung im
Sinne von § 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, ist der Antragsteller neben seiner Meldepflicht nach
§ 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zusätzlich zur persönlichen Meldung bei der dortigen
Außenstelle des Bundesamtes zwecks Antragstellung verpflichtet (§ 23 Abs. 1 AsylVfG).
Wird er einer anderen Einrichtung zugewiesen (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 22 Abs. 1 Satz 2
AsylVfG), wird die persönliche Meldepflicht nach § 23 Abs. 1 AsylVfG durch Fristsetzung
geregelt. Erst mit der Meldung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes nach
Erreichen der zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung wird das Asylverfahren eingeleitet.
3.
Das Dublin-Verfahren (Verordnung (EG) Nr. 343/2003/Verordnung (EU) Nr.
604/2013)
a)
Funktion des Dubliner Verfahrens
Am 19. Juli 2013 ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III – VO) in Kraft
getreten.426 Sie wird auf alle Anträge Anwendung finden, die nach dem 1. Januar 2014 in der
Union gestellt werden. Anders als die frühere Verordnung, die nur auf Anträge anwendbar
war, mit denen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt wurde (Art. 1, 2 Buchst.
c) Verordnung (EG) Nr. 3 343/2003), bezeichnet der in Art. 1 der neuen Verordnung
verwandte Begriff „Asylantrag“ alle Anträge auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2
Buchst. h) RL 2011/95/EU, schließt also auch den unionsrechtlichen subsidiären Schutz ein.
Die Verordnung verstärkt den Schutz von unbegleiteten Minderjährigen und
Familienangehörigen und weitet auch die Ermessensklauseln aus. Grundlegendes Ziel ist, das
Verfahren für die Asylsuchenden transparenter zu gestalten und ihren Mitwirkungsrechte zu
stärken. Durch die Erweiterung des Antragsbegriffs kann das Zuständigkeitssystem durch
Beschränkung auf den subsidiären Schutz vor Erteilung der Zustimmung427 nicht mehr
erreicht werden. Wird der Asylantrag jedoch von vornherein oder nachträglich vor der
Erteilung der Zustimmung auf den nationalen subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 5 und 7
AufenthG) beschränkt, findet auch die neue Verordnung keine Anwendung (umstritten).
b)
Familieneinheit
Es bleibt bei der vorrangigen Berücksichtigung des Grundsatzes der Familieneinheit.428 Stets
ist darauf zu achten, dass die Verordnung im Einklang mit der EMRK und der Charta
angewandt wird. Die Achtung des Familienlebens hat Vorrang (Erwägungsgrund 14). Anträge
von Familienangehörigen sollen möglichst gemeinsam, also durch einen Mitgliedstaat,
geprüft werden, um sicherzustellen, dass diese sorgfältig geprüft werden, Entscheidungen
kohärent sind und die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden
(Erwägungsgrund 15). Wie früher wird die Familie nur zusammengeführt, wenn im
angestrebten Mitgliedstaat bereits ein Familienmitglied ein Aufenthaltsrecht aufgrund der
Statuszuerkennung besitzt oder über den Asylantrag eines Familienmitglieds noch keine erste
Sachentscheidung getroffen worden ist (Art. 7 und 8 Verordnung (EG) Nr. 343/2003).
Ergänzend gewinnt aber die humanitäre Klausel in Art. 17 Abs. 2 besondere Bedeutung.
S: hierzu Marx,Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung, in: ZAR 2014, 5.
So noch EuGH, - InfAuslR 2012, 296 (297) = NVwZ 2012, 817 Rdn. 39, 42, 47 - Kastrati; VG
Frankfurt am Main, InfAuslR 2011, 366 (367) = AuAS 2011, 189; Sigmaringen, InfAuslR 2012, 237; VG
München, U. v. 8. 9. 2010 – M 2 K 09.50582; Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (58); Löper, ZAR 2000, 16
(17); a.A. Nieders.OVG, AuAS 2008, 114; VG Regensburg, NVwZ-RR 2004, 692 (693) = AuAS 2004, 213);
VG Regensburg, B. v. 9. 2. 2012 – RO 9 E 12.30035;VG Saarlouis, B. v. 14. 6. 2010 – 10 L 528/10.
428
BVerfG (Kammer), AuAS 2001, 7 (8) = InfAuslR 2000, 364; VG Gießen, AuAS 2005, 70.
426
427
126
Durch die Erweiterung der Verordnung auf den subsidiären Schutz wird der
Begünstigtenkreis im Übrigen dadurch erweitert, dass ein Familienmitglied, das aufgrund des
subsidiären Schutzstatus einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat hat, die
Zusammenführung vermittelt. Art. 9 bis 11 regeln im Einzelnen die Frage der
Zusammenführung von Familienangehörigen.
Diese Vorschriften zur Zusammenführung beruhen auf dem Begriff des Familienangehörigen
nach Art. 2 Buchst. g). Dabei wird grundsätzlich vorausgesetzt, dass die Mitglieder der
Familie bereits im Herkunftsland zusammengelebt haben. Danach kann zunächst der
Antragsteller mit seinem Ehegatten oder nicht verheirateten Partner, sofern dieser mit ihm
eine dauerhafte Beziehung führt und mit dem nicht verheirateten Partner, sofern nach
nationalem Recht nicht Paare ausländerrechtlich wie verheiratete Paare behandelt werden,
zusammengeführt werden (Art. 2 Buchst. h) erster Spiegelstrich). Ob der Antragsteller mit
einem nichtverheirateten oder gleichgeschlechtlichen Partner zusammengeführt werden kann,
richtet sich nach dem Recht des Mitgliedstaates, dessen Zuständigkeit geprüft wird. 429 Ist der
bereits im Bundesgebiet lebende Familienangehörige in seiner Eigenschaft als international
Schutzberechtigter aufenthaltsberechtigt (§ 25 Abs. 2 AufenthG), ist die Bundesrepublik für
die Behandlung des Asylantrags der Familienangehörigen zuständig, sofern die Betroffenen
dies schriftlich beantragen (Art. 9). Verlässt der Partner den Antragsteller oder reist er aus
dem Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, aus, bleibt es bei der Zuständigkeit nach
Art. 9. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob die Partner bereits im Herkunftsland
zusammengelebt haben. Die Rechtsprechung hat die Vorläufernorm auch in dem Fall
angewandt, in dem der im Bundesgebiet lebende Angehörige als Kontingentflüchtling im
Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG war,430 nicht jedoch, wenn
der Ehegatte lediglich eine Aufenthaltserlaubnis nach anderen Rechtsvorschriften besaß. Für
die Zusammenführung der Angehörigen zu einem Mitglied, der im Aufnahmemitgliedstaat
einen Asylantrag gestellt hat, über den noch keine Erstentscheidung getroffen wurde, gilt dies
grundsätzlich nicht (Art. 10).
Leben minderjährige Kinder im Bundesgebiet, kommt eine Zusammenführung der Eltern oder
eines Erwachsenen, der nach nationalem Recht oder den dortigen Gepflogenheiten mit diesen
gleichbehandelt wird, mit den Kindern in Betracht, sofern diese ledig sind, gleichgültig, ob es
sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte
Kinder handelt (Art. 2 Buchst. h) zweiter Spiegelstrich). Halten sich der Vater, die Mutter
oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder den Gepflogenheiten des
Aufenthaltsstaates für den Minderjährigen verantwortlich ist, im Bundesgebiet auf, kann der
ledige minderjährige Antragsteller mit diesen zusammengeführt werden (Art. 2 Buchst. h)
dritter Spiegelstrich). Umgekehrt können diese Bezugsperson mit dem ledigen
Minderjährigen, dem im Aufnahmemitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde,
zusammen geführt werden (Art. 2 Buchst. h) vierter Spiegelstrich). Besitzt der ledige
Minderjährige diese Rechtsstellung nicht, richtete sich die Zusammenführung nach den
Regelungen für unbegleitete Minderjährige. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) der Verordnung
ist die Trennung mehrerer Familienmitglieder und/oder unverheirateter minderjährige
Geschwister, die gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe einen Asylantrag in demselben
Mitgliedstaat stellen, zu vermeiden, und ist deshalb der Mitgliedstaat zuständig, der nach den
Zuständigkeitskriterien für den größten Teil von ihnen zuständig ist. Für den Begriff der
zeitlichen Nähe ist nicht allein die Verfahrensrationalität, sondern auch der Grundsatz
maßgebend, dass Familienmitglieder möglichst nicht getrennt werden sollen.431 Auch wenn
daher nicht mehr die Möglichkeit besteht, ein gemeinsames Verfahren durchzuführen, soll die
429
430
431
Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 79.
VG Meiningen, U. v. 21. 10. 2010 – 3 K20127/10 Me.
Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rdn. 56.
127
Trennung vermieden werden: Andernfalls ist nach Buchst. b) der Mitgliedstaat zuständig, der
hiernach für die Prüfung des von dem ältesten von ihnen gestellten Asylantrags zuständig ist.
Damit ist die frühere Rechtsprechung, die gegen die Trennung der Familienmitglieder keine
rechtlichen Bedenken hatte,432 überholt.
Liegen die Voraussetzungen nach Art. 9 bis 11 und auch nach Art. 16 Abs. 1 und 17 Abs. 2
nicht vor, kann aus inlandsbezogenen Erwägungen die Überstellung in den zuständigen
Mitgliedstaat aus rechtlichen Gründen unzulässig sein. So geht die Rechtsprechung davon
aus, dass die Überstellung rechtlich unzulässig ist, wenn eine häusliche Gemeinschaft des
Antragstellers mit einem Elternteil im Bundesgebiet besteht,433 einem Elternteil das
gemeinsame Sorgerecht zusteht434oder persönliche Beziehungen zu im Bundesgebiet
lebenden Kindern bestehen.435 In derartigen Fällen ist auch - etwa bei einem Kleinkind oder
bei hohem Alter eines Familienangehörigen, Schwangerschaft oder schwerwiegenden
Krankheitsgründen einschließlich psychischer Erkrankungen wegen der gemeinsamen
Verfolgungs- und Fluchterlebnisse - zu prüfen, ob die Voraussetzungen der humanitären
Klausel des Art. 16 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vorliegen.
c)
Humanitäre Klauseln (Art. 16 Abs. 1 und 17 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013)
Die humanitären Klauseln nach Art. 17 Abs. 2 und Art. 16 Abs. 1, welche die humanitären
Klauseln des Art. 15 Verordnung (EG) Nr. 3434/2004 abgelöst haben, wurden grundlegend
umgestaltet. Auch wenn ihre Anwendung im Ermessen steht, darf die Behörde nicht ohne
nähere Prüfung ihrer Voraussetzungen lediglich formal auf die vorrangigen Kriterien
verweisen. Vielmehr hat sie entsprechend dem primärrechtlich verankerten Anspruch auf
Achtung des Familienlebens vorrangig die Zusammenführung zu erwägen (Erwägungsgrund
14). Es besteht damit eine besondere Prüfungs- und Begründungspflicht. Es sind stichhaltige
Gründe zu bezeichnen, warum auf der Trennung der Angehörigen bestanden oder eine
Zusammenführung nicht für erforderlich erachtet wird. Auch sollen Anträge von
Familienangehörigen möglichst gemeinsam, also durch einen Mitgliedstaat geprüft werden,
um die Mitglieder einer Familie nicht voneinander zu trennen (Erwägungsgrund 15). War
bislang streitig, ob die humanitäre Klausel nur auf die Zusammenführung anwendbar war oder
auch die Trennung der Angehörigen verhindern sollte, regelt nunmehr Art. 17 Abs. 2 die
Zusammenführung und Art. 16 sowohl die Zusammenführung wie auch die Vermeidung der
Trennung. Dies beruht auf der Rechtsprechung des EuGH, wonach Art. 15 Abs. 2 Verordnung
(EG) Nr. 343/2003 nicht nur auf die Zusammenführung, sondern auch auf die Vermeidung
der Trennung gemünzt ist.436
Im wechselseitigen Verhältnis können sich Kinder und Eltern sowie Geschwister
untereinander auf diese Vorschrift berufen. Ferner kommen auch andere
Verwandtschaftsverhältnisse, wie etwa die Beziehung zwischen Schwiegermutter und
Schwiegertochter437 oder generell Beziehungen zwischen verschwägerten Verwandten und
auch Verwandtschaftsverhältnisse nicht ersten Grades für die Anwendung der humanitären
Klausel in Betracht. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 folgt, dass es auf ein
BVerfG (Kammer), B. v. 24. 7. 1998 - 2 BvR 99/97; VG Frankfurt/M, InfAuslR 1996, 331; VG Gießen,
NVwZ-Beil. 1996, 27; VG Berlin, B. v. 25. 4. 1996 - VG 33 X 138/96; VG Ansbach, NVwZ-Beil. 2001, 61 =
InfAuslR 2001, 247; Huber, NVwZ 1996, 1069 (1074); Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (57); Löper, ZAR
2000, 16 (22); dagegen Achermann, Schengen und Asyl, S. 79 (112); Marx, EJML 2001, 7 (22))
433
Nieders.OVG, B. v. 13. 10. 2010 – 4 ME 14/10, 4 B 4/10.
434
VG Kassel, B. v. 10. 7. 2013 – 1 L 656/13.KS.A.
435
VG Magdeburg, B. v. 20. 2. 2008 – 9 B 434/07 MD; VG Würzburg, U. v. 26. 7. 2007 – W 5 K
07.30121.
436
EuGH, NVwZ-RR 2013, 69 (70) Rdn. 31 – K.
437
EuGH, NVwZ-RR 2013, 69 (70) Rdn. 39 ff, – K.
432
128
Ersuchen des an sich zuständigen Mitgliedstaates zur Übernahme der Zuständigkeit des
Aufenthaltsstaates nicht ankommt. Dies ergibt sich aus der Abgrenzung zu Art. 17 Abs. 2, der
ein solches Ersuchen voraussetzt. Für die Vorläufernorm von Art. 16 Abs. 1 Verordnung (EU)
Nr. 604/2013 hat der EuGH festgestellt, es komme allein auf die Darlegung der
Hilfsbedürftigkeit im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 an.
Die Voraussetzung, dass die verwandtschaftlichen Beziehungen bereits im Herkunftsland
bestanden haben müssen, erscheint nicht gerechtfertigt.438 Im Blick auf miteinander
verheiratete Flüchtlinge hat der EGMR unter Hinweis auf Art. 8 und 14 EMRK festgestellt, es
dürfe bei deren Zusammenführung nicht danach unterschieden werden, ob diese bereits im
Herkunftsland verheiratet waren oder nicht.439 Aus der Begründung dieser Entscheidung folgt,
dass der EGMR den „ausländerrechtlichen Status“ wie den „Flüchtlingsstatus“ als „sonstigen
Status“ im Sinne von Art. 14 EMRK versteht und für die Diskriminierung auf die Situation
vergleichbarer Gruppen mit einem derartigen Status abstellt.440 Ein sachlich gerechtfertigter
Grund, danach zu unterscheiden, ob die Familienangehörigen bereits im Herkunftsland
zusammen gelebt haben oder nicht, ist nicht ersichtlich. Zweck der Vorschrift ist, wegen einer
aktuellen Hilfsbedürftigkeit der abhängigen Personen dem Familienmitglied die Hilfeleistung,
Unterstützung und familiäre Fürsorge zu ermöglichen. Diese wiederum ist nicht deshalb
weniger wirksam, weil die Verwandten im Herkunftsland nicht zusammen gelebt haben.
d)
Systemische Schwachstellen (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013)
Die neue Verordnung regelt erstmals das Problem „systemischer Schwachstellen“ des
Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen“ im an sich zuständigen Mitgliedstaat. Die
Übernahme der Verantwortung der Zuständigkeit nach Fortsetzung der Zuständigkeitsprüfung
steht nicht im Ermessen des prüfenden Mitgliedstaates, vielmehr wird diese kraft Art. 3 Abs.
2 UAbs. 2 angeordnet. Nach Ansicht des EuGH dürfen Überstellungen nicht auf der
Grundlage einer unwiderleglichen Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in
dem für die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedstaat
beachtet werden, durchgeführt werden, weil dies mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zur
grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003
unvereinbar“ ist.441
Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 bestimmt nunmehr, dass der Antragsteller nicht an den an sich
zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden darf, wenn es „wesentliche Gründe für die
Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in
diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr unmenschlicher
oder entwürdigender Behandlung“ im Sinne von Art. 4 GRCh (Art. 3 EMRK) mit sich
bringen. Die Voraussetzungen müssen nicht kumulativ, sondern können auch alternativ
vorliegen. Die Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 GRCh wegen systemischer Mängel der
Aufnahmebedingungen wird nicht dadurch zu einer Nichtverletzung, weil das Asylverfahren
keine derartigen Mängel aufweist. Wer diese Folgerung nicht ziehen will, muss diesen Fall
über Art. 17 Abs. 1 im Wege der Ermessensreduktion lösen.
e)
Ermessensklauseln (Art. 17 Verordnung (EU) Nr. 604/2013)
Die neue Verordnung gestaltet das frühere in Art. 3 Abs. 2 und 3 und Art. 15 Verordnung
(EG) Nr. 343/2003 enthaltene Konzept der Ermessensklauseln grundlegend um. Die
Souveränitätsklausel des Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 wird nunmehr in Art.
438
Janetzek, Asylmagazin 2013, 2 (7).
EGMR, U. v. 6. 11. 2012 – Nr. 22341/09, Rdn. 55 – Hode and Abdi.
440
EGMR, U. v. 6. 11. 2012 – Nr. 22341/09, Rdn. 47 ff. – Hode and Abdi.
441
EuGH, NVwZ 2012, 417 (420 f.) Rdn. 99 ff – N.S.; EuGH, U. v. 14. November 2013 – Rs. C-4/11 Rdn.
33 – Puid; Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406; Marx, NVwZ 2012, 409; EuGH Puid
439
129
17 Abs. 1 aufgegriffen, die Drittstaatenregelung des Art. 3 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr.
343/2003 in Art. 3 Abs. 3, die in Art. 15 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 enthaltene
humanitäre Klausel wird nunmehr durch Art. 17 Abs. 2, die frühere Regelung des Art. 15
Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 durch Art. 16 Abs. 1 übernommen. Im letzteren Falle
ist die Regelanordnung beibehalten worden. Bei abhängigen Personen wird also in der Regel
die Zuständigkeit übernommen. Nur in atypischen Ausnahmesituationen kann hiervon
abgewichen werden. Darlegungs- und beweispflichtig hierfür ist der prüfende Mitgliedstaat.
Bei Übernahme der Zuständigkeit für abhängige Personen nach Art. 16 Abs. 1 kommt es nicht
auf die Zustimmung des an sich zuständigen Mitgliedstaats, wohl aber auf die des
Antragstellers an. Art. 16 Abs. 1 regelt den Fall, in dem sich der Antragsteller bereits im
gewünschten Mitgliedstaat aufhält. Zwar wird dort auch der Fall der Zusammenführung
angesprochen. Dies hat aber wohl eher die Funktion, den zuvor beschriebenen Kreis der
abhängigen Personen und die Vermeidung der Trennung wie die Zusammenführung
einheitlich im Kontext darzustellen. Schwerpunkt von Art. 16 Abs. 1 ist die Vermeidung der
Trennung, während die näheren mit der Zusammenführung verbundenen Probleme
eigenständig in Art. 16 Abs. 2 geregelt werden.
4.
Selbsteintrittsrecht (Art. 17 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013)
Ob eine förmliche Übernahme der Zuständigkeit ergehen muss oder diese auch
stillschweigend erfolgen442 oder nur in eindeutigen Fällen bejaht werden kann,443 ist
umstritten. Insbesondere wird kritisiert, dass eine inhaltliche Sachprüfung nicht ohne Weiteres
in eine stillschweigende Übernahme der Zuständigkeit umgedeutet werden könne.444
Demgegenüber wird eingewandt, es komme auf die Art der Anhörung an. Werde der
Antragsteller nicht bloß routinemäßig zu den Umständen des Reisewegs und der Einreise,
sondern auch zu den Asylgründen befragt, folge hieraus eine konkludente Ausübung des
Selbsteintrittsrechts.445 Diese Streitfrage ist nunmehr geklärt. Die Behörde hat den
Antragsteller im Rahmen der Prüfung des zuständigen Mitgliedstaats persönlich dazu
anzuhören, ob sich Familienmitglieder, Verwandte oder Personen jeder anderen
verwandtschaftlichen Beziehung im Unionsgebiet aufhalten, um diese Umstände bei der
Entscheidung berücksichtigen zu können (Art. 5 Abs. 1 in Verb. mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. c)).
Beschränkt sich die Anhörung auf diesen Prüfungsgegenstand, wird man hierin keine
stillschweigende Übernahme erkennen können. Wird aber inhaltlich zu den Asylgründen
angehört, liegt hierin eine implizite Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1.
Die früher umstrittene Frage, ob nur der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylsuchende aufhält,
vom Selbsteintritsrecht Gebauch machen kann,446 ließ der früheren Wortlaut des Art. 3 Abs. 2
Verordnung (EG) Nr. 343/203 offen. Hingegen kann nach Art. 17 Abs. 1 ein Mitgliedstaat nur
für einen bei ihm gestellten Asylantrag die Zuständigkeit übernehmen. In ihrem Vorschlag für
die nunmehr geltende Verordnung hatte die Kommission zwar am bloßen Ermessenscharakter
der Souveränitätsklausel festgehalten, die Klausel jedoch um Härtegründe („compassionate
reasons“) erweitern wollen.447 Im weiteren Gesetzgebungsprozess wurde dieser Vorschlag
So Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 148.
So Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 76.
444
VG Schwerin, AuAS 1996, 227 (228); VG Arnsberg, U. v. 15. 12. 2009 – 4 K 1756/09.A; VG
Hamburg, B. v. 2. 3. 2010 – 15 AE 44/10; Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 76;
Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rdn. 64.
445
BayVGH, InfAuslR 2010, 467 (468); Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 148.
446
Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 76.
447
Commission of the European Communities, Proposal for a Regulation of the European Parliament and
of the Council establishing the criteria and mechanisms for determining the Member State responsible for
examining an application for international protection logded in one of the Member States by a third-countrynational or a stateless person, COM(2008)820, S. 35.
442
443
130
nicht aufgegriffen. Dieser entspricht jedoch einer weit verbreiteten Verwaltungspraxis, die
auch unions- und konventionsrechtlich gefordert ist. Liegen in der Person des Asylsuchenden
und/oder in seinem persönlichen oder familären Umfeld dringende Umstände vor, ist das
gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten gar nicht angesprochen, sondern vorrangig der
Schutz des Einzelnen. So drängt sich die Ausübung des Selbsteintrittsrechts auf, wenn die
Überstellung humanitären Interessen des Asylsuchenden zuwiderläuft, weil hiervon
besonders schutzbedürftige Personen im Sinne von Art. 21 RL 2013/33/EU betroffen sind,
etwa Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Personen, Schwangere,
erkrankte Personen mit Unterstützungsbedarf, Personen mit psychischen Störungen, ältere
Personen, unterstützungsbedürftige Frauen, Familien mit kleinen Kindern, Alleinerziehende
mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen, die Folter,
Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt
einschließlich Geschlechtsverstümmelungen oder andere schwere Gewalttaten im
Herkunftsland oder auf der Flucht erlitten haben.448
In all diesen Fällen wären sie bei der Überstellung mit besonderen Schwierigkeiten im an sich
zuständigen Mitgliedstaat konfrontiert, also gegenüber anderen Asylsuchenden in
vergleichbarer Lage in einer besonders schutzbedürftigen Situation. Daher spricht Vieles für
eine Ermessensausübung zugunsten des Antragstellers, wenn nicht sogar für eine
Ermessensreduktion. Art. 17 Abs. 1 hat insoweit auch eine Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2
ergänzende Funktion. Liegen die dort geregelten Voraussetzungen vor, kommt eine
unmittelbare Anwendung dieser Normen in Betracht. Bestehen jedoch keine für die
Anwendung dieser Normen erforderlichen verwandtschaftlichen Beziehungen im prüfenden
Mitgliedstaat, greift ergänzend Art. 17 Abs. 1 ein. Gerade die besonders schutzbedürftigen
Personen im Sinne der Aufnahmerichtlinie haben einen Anspruch auf unverzüglich
einsetzende Fürsorge, deren Wirksamkeit nicht durch belastende und ihre Not verschärfende
Zuständigkeitsprüfungen und Überstellungen hinausgeschoben werden darf.
5.
Verfahren zur Prüfung des zuständigen Mitgliedstaates
a)
Ablauf des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens
Das Verfahren zur Zuständigkeitsprüfung wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat
erstmals ein Asylantrag gestellt wird (Art. 20 Abs. 1). Dementsprechend prüfen die
Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, der in ihrem Hoheitsgebiet an ihrer Grenze oder in den
Transitzonen gestellt wird (Art. 3). Der Asylantrag gilt als gestellt, wenn den zuständigen
Behörden ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll
zugegangen ist. Bei einem nicht schriftlich gestellten Antrag sollte die Frist zwischen der
Geltendmachung des Asylersuchens und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich
sein (Art. 20 Abs. 2). Sobald der Antrag gestellt wird, unterrichten die zuständigen Behörden
den Antragsteller über die Anwendung der Verordnung und insbesondere über deren Ziele,
die Folgen einer weiteren Antragstellung in einem anderen Mitgliedstaat sowie die Folgen
eines Umzugs in den zuständigen Mitgliedstaat, über die Kriterien, die für diese Prüfung
maßgebend sind, das persönliche Gespräch in diesem Verfahren und die Möglichkeit,
Angaben über die Anwesenheit von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder
anderen verwandtschaftlichen Beziehung im Unionsgebiet zu machen, einschließlich der
(Glaubhaftmachungs- und Beweis-) Mittel, mit denen der Antragsteller diese Angaben
unterstützen kann, die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine
Überstellungsentscheidung und gegebenenfalls zur Beantragung einer Aussetzung des
Verfahrens (Art. 4 Abs. 2). Diesen Unterrichtungspflichtwn kann auch im Rahmen des
Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rdn. 62; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 145;
VG Frankfurt am Main, NVwZ 2011, 764 für eine ärztlich nachgewiesene Posttraumatische Belastungsstörung.
448
131
persönlichen Gesprächs genügt werden (Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2). Informationspflichten und
persönliches Gespräch (Art. 5 Abs. 1) dienen dem Ziel, alle für die Durchführung der
Zuständigkeitsprüfung erforderlichen Informationen und Beweismittel möglichst zeitnah und
erschöpfend zu erhalten.
Die Verordnung unterscheidet klarer als früher in Übertragung (Art. 19) und Übernahme der
Zuständigkeit im Rahmen des Aufnahme- (Art. 21 und 22) und Wiederaufnahmeverfahrens
(Art. 23 bis 25). Die Übertragung erfolgt kraft Verordnung wegen Erlöschens der Pflichten
des bislang zuständigen Mitgliedstaates aus Art. 18 Abs. 1. Die Übernahme setzt die Abgabe
einer Willenserklärung des zuständigen Mitgliedstaats im Aufnahme- oder
Wiederaufnahmeverfahren voraus. Das Aufnahmeverfahren bleibt im Wesentlichen
unverändert. In diesem prüft der Mitgliedstaat, bei dem erstmals der Asylantrag gestellt wird,
welcher Mitgliedstaat für dessen Prüfung zuständig ist. Hingegen wird im
Wiederaufnahmeverfahren durch den Mitgliedstaat, bei dem ein erneuter Asylantrag gestellt
wurde oder in dem sich der Betroffene aufhält, geprüft, ob er ein Ersuchen an den zuständigen
Mitgliedststaat um Wiederaufnahme stellen kann (Art. 23 Abs. 1). In beiden Fällen wird ein
persönliches Gespräch mit dem Antragsteller durchgeführt. Dieses ist zwingend und zeitnah,
in jedem Fall aber, bevor über die Überstellung entschieden wird, zu führen (Art. 5 Abs. 1
und 3). Nur wenn der Antragsteller flüchtig ist oder aufgrund der Unterrichtung bereits
sachdienliche Angaben gemacht hat, sodass der zuständige Mitgliedstaat bestimmt werden
kann, kann auf das persönliche Gespräch verzichtet werden. Im letzteren Fall ist dem
Antragsteller aber abschließend vor der Entscheidung Gelegenheit
zu geben, alle
erforderlichen Informationen vorzulegen (Art 5 Abs. 2).
b)
Übertragung der Zuständigkeit (Art. 19 Verordnung (EU) Nr. 604/2013)
Wurde früher die Übertragung der Zuständigkeit aufgrund eines Aufenthaltstitels, der
freiwilligen Ausreise von mehr als drei Monaten aus dem Unionsgebiet oder der behördlich
veranlassten Ausreise (Art. 16 Abs. 2 bis 4 Verordnung (EG) Nr. 343/2003) im Rahmen des
Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren in Kapitel V der Verordnung (EG) Nr. 343/2003
geregelt, wird nunmehr die Übertragung in Kapitel V der Übernahme der Zuständigkeit im
Rahmen des Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahrens (Kapitel VI) vorangestellt. Damit
wird bereits in systematischer Hinsicht klargestellt, dass die Übertragung nicht Teil des
Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung nach Maßgabe der Kriterien nach Art. 7 ff. ist.
Vielmehr wird in einem Fall die Zuständigkeit kraft Verordnung auf den Ausstellerstaat des
Aufenthaltstitels übertragen. Für die anderen Fällen wird angeordnet, dass das Verfahren zur
Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates dann nicht aufgrund der sich aus der früheren
Einreise und dem früheren Aufenthalt ergebenden Kriterien erfolgen kann, wenn die
Aufnahmepflichten nach Art. 18 Abs. 1 erloschen sind (Art. 29 Abs. 2 UAbs. 1).
c)
Wiederaufnahmeverfahren (Art. 23 bis 23 Verordnung (EU) Nr. 604/2013)
Das Wiederaufnahmeverfahren wurde durch die geltende Verordnung grundlegend neu
gestaltet und weitgehend dem Aufnahmeverfahren, insbesondere hinsichtlich der
maßgebenden Fristen angepasst. Dem Verfahren liegt im typischen Ausgangsfall des Art. 23
ein Antrag zugrunde, der durch einen Antragsteller gestellt wurde, der bereits in einem
anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat. Während im Aufnahmeverfahren erst
noch der zuständige Mitgliedstaat anhand der festgelegten Kriterien ermittelt werden muss,
steht er im Wiederaufnahmeverfahren bereits grundsätzlich fest. Aufgrund der Kriterien für
die Zuständigkeit, insbesondere der in Art. 8 bis 11 sowie Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2,
kann aber auch ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung in Betracht kommen. Der
Antragsteller hat entweder im prüfenden Mitgliedstaat einen – neuen - Asylantrag gestellt
132
oder hält sich dort ohne Aufenthaltstitel auf, ohne einen Asylantrag zu stellen. Dabei
unterscheidet die Verordnung drei verschiedene Fallgruppen von Antragstellern, nämlich
jene, die während der Antragsprüfung den zuständigen Mitgliedstaat verlassen, während der
Antragsprüfung ihren Antrag zurückgezogen oder nach Ablehnung des Antrags diesen
Mitgliedstaat verlassen haben (Art. 23 Abs. 1 in Verb. mit Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) bis c)).
Art. 23 regelt das Verfahren für die Antragsteller, die einen – erneuten – Asylantrag gestellt
haben, Art. 24 hingegen behandelt die Antragsteller, die sich, ohne einen Asylantrag zu
stellen, dort ohne Aufenthaltstitel aufhalten.
Wird ein erneuter Asylantrag gestellt, stellt der Mitgliedstaat für den Fall, dass ein
Eurodactreffer nach Art. 9 Abs. 5 Verordnung (EU) Nr. 603/2013 erzielt wird, so bald wie
möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Treffermeldung das
Wideraufnahmeersuchen (Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1). Wird das Wiederaufnahmeersuchen auf
andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System gestützt, ist es innerhalb von drei
Monaten, nachdem der Asylantrag gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten.
Da die Verordnung keine Regelungen zur Frist zwischen Geltendmachung des Asylersuchens
und dem Abgleich mit dem Eurodacsystem enthält, muss sich der Mitgliedstaat
Verzögerungen bei der Ermöglichung der Asylantragstellung im Rahmen der Fristberechnung
zurechnen lassen. Zwar können hierfür keine starren Fristen festgelegt werden. Die
Zweimonatsfrist für Eurodactreffer kann jedoch einen Hinweis dafür geben. Wird dem
Antragsteller nicht innerhalb dieser Frist die förmliche Asylantragstellung ermöglicht,449 tritt
daher die Rechtsfolge des Art. 23 Abs. 3 ein und geht die Zuständigkeit auf den säumigen
Mitgliedstaat über. Da eine dem Art. 21 Abs. 2 korresponierende Regelung im
Wiederaufnahmeverfahren nicht vorgesehen ist, gibt es hier kein Dringlichkeitsverfahren.
Wird das Wiederaufnahmeersuchen nicht innerhalb der maßgebenden Frist gestellt, wird der
prüfende Mitgliedstaat zuständig (Art. 23 Abs. 3). Die Auffassung, die mangels einer
entsprechenden Regelung in Art. 20 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 eine analoge Anwendung
der für das Aufnahmeersuchen geltenden Fristregelung (Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Verordnung
(EG) Nr. 343/2003) abgelehnt hatte, vielmehr insoweit ein fristungebundenes Ersuchen für
zulässig erachtete450 ist überholt. Vor der Stellung des Ersuchens hat der prüfende
Mitgliedstaat jedoch zu prüfen, ob er selbst oder ein anderer als der bislang zuständige
Mitgliedstaat aufgrund der vorrangigen Kriterien in Art. 8 bis 11 sowie Art. 16 Abs. 1 und
Art. 17 Abs. 2 zuständig ist. Insoweit können zwischen dem Zeitpunkt der ersten
Asylantragstellung und dem der erneuten Antragstellung neue Ereignisse etwa durch die
Einreise von Familienmitgliedern oder Verwandten in das Unionsgebiet, durch Krankheiten
und dadurch bedingten Betreuungsbedarf oder aufgrund anderer Umstände aufgetreten sein.
Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet so
rasch wie möglich, in jedem Fall aber nicht später als einen Monat, nachdem er mit dem
Ersuchen befasst wurde, über dieses. Stützt das Ersuchen sich auf Angaben aus dem EurodacSystem, verkürzt sich diese Frist auf zwei Wochen (Art. 25 Abs. 1).
d)
Überstellung (Art. 29 Verordnung (EU) Nr. 604/2013)
Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme des Antragstellers zu,
setzt der ersuchende Mitgliedstaat diesen von der Entscheidung in Kenntnis, sie in den
Dies ist für das deutsche Verfahrensrecht wegen der Unterscheidung in Meldung als Asylsuchender (§
22 Abs. 1 AsylVfG) und förmlicher Antragstellung (§ 23 Abs. 1 AsylVfG) von praktischer Relevanz.
450
VG Regensburg, B. v. 10. 10. 2012 – RN 9 E 12.30323; VG Regensburg, B. v. 5. 7. 2013 – RN 5 S
13.30273; VG Trier, B. v. 30. 7. 2013 – 1 L 891/13.TR; VG Karlsruhe, B. v. 11. 7. 2013 – 3 K 1276/13;
Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 171; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn.
210; a.A. VG Düsseldorf, B. v. 1. 10. 2013 – 26 L 1872/13.A)
449
133
ersuchten Mitgliedstaat zu überstellen, sowie gegebenenfalls von der Entscheidung, den
Asylantrag nicht zu prüfen. Anstelle des Asylsuchenden kann auch der Rechtsanwalt oder –
beistand informiert werden (Art. 26 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr.604/2013). Die Entscheidung
muss eine Rechtsbehelfsbelehrung einschließlich des Rechts, die aufschiebende Wirkung zu
beantragen, und der maßgebenden Rechtsbehelfsfristen sowie Informationen über die Frist für
die Durchführung der Überstellung mit erforderlichen Angaben über den Ort und den
Zeitpunkt, an dem oder zu dem sich der Asylsuchende zu melden hat, wenn er sich auf eigene
Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt, enthalten (Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1). Es ist
sicherzustellen, dass der Antragsteller zusammen mit der Überstellungsentscheidung Angaben
zu Personen oder Einrichtungen erhält, die sie rechtlich beraten können, sofern diese Angaben
nicht bereits erteilt wurden (Art. 26 Abs. 2 UAbs. 2).
Im Bundesgebiet wird nach § 31 Abs. 1 Satz 4 vorgegangen und die Entscheidung unmittelbar
an den Antragsteller zugestellt. Dem Anwalt oder Beistand soll und wird in der
Verwaltungspraxis ein Abdruck zugeleitet (§ 31 Abs. 1 Satz 6). Die maßgebenden Fristen
beginnen jedoch mit der Zustellung an den Antragsteller. Die weiteren unionsrechtlichen
Pflichten sind bislang nicht gesetzlich umgesetzt worden. § 31 Abs. 1 ist daher
richtlinienkonform im Sinne der bezeichneten Pflichten anzuwenden. Enthält die
Rechtsbehelfsbelehrung die vorgegebenen Hinweise, die für die Einlegung des Rechtsbehelfs
einschließlich des Eilrechtsschutzantrags erforderlich sind, nicht, ist sie unrichtig erteilt und
setzt die Rechtsbehelfsfrist nicht in Gang.451 Das Bundesamt ist also gut beraten, in der
Rechtsbehelfsbelehrung die erforderlichen Hinweise zu geben und/oder durch Zuziehung
eines Dolmetschers die Zustellung an den Antragsteller persönlich durchzuführen und über
die Rechtsbehelfsbelehrung eine Niederschrift aufzunehmen.
Der die Überstellung durchführende Mitgliedstaat darf es nicht lediglich bei der korrekten
Zustellung der Überstellungsentscheidung allein belassen. Vielmehr hat er den ersuchten
Mitgliedstaat rechtzeitig über alle für die zum Schutze des Antragstellers erforderlichen
Daten, aber auch nur über diese, umfassend zu informieren. Dies gilt in Besonderheit im Blick
auf die medizinische Versorgung. Die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 will ersichtlich die
bisherige Praxis, bei der die zu überstellenden Personen weitgehend auf sich allein
angewiesen waren, im Wege des besseren Verwaltungskooperation zwischen den beteiligten
Mitgliedstaaten verbessern. Im Falle der zwangsweisen Durchführung der Überstellung wird
der Mitgliedstaat diese Daten im Wege der kontrollierten oder begleiteten Ausreise an die
Behörden des Zielstaates übermitteln, sodass sichergestellt ist, dass bei der Ankunft im
Zielstaat die dort zuständigen Behörden umfassend informiert sind. Der vollziehende
Mitgliedstaat stellt sicher, dass die Überstellung in humaner Weise und unter
uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt wird
(Art. 29 Abs. 1 UAbs. 2). Erforderlichenfalls stellt er ein Laissez-passer aus. Der zuständige
teilt dem vollziehenden Mitgliedstaat gegebenenfalls mit, dass der Antragsteller eingetroffen
oder nicht innerhalb der vorgegebenen Frist erschienen ist (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 3 und 4).
Anders als nach Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 stehen die freiwillige, kontrollierte
und begleitete Ausreise nicht gleichrangig nebeneinander. Vielmehr wird in Art. 26 Abs. 2
UAbs. 1 allein auf die freiwillige Ausreise hingewiesen. Daraus kann gefolgert werden, dass
zunächst stets die freiwillige Ausreise zu ermöglichen ist und den ersuchenden Mitgliedstaat
insoweit die Informationspflichten im Sinne von Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1 und Art. 31 im
besonderen Maße treffen.
Die Überstellung des Antragstellers aus dem ersuchenden in den ersuchten Mitgliedstaat
erfolgt nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaates nach
451
BVerwG, NVwZ-RR 2000, 325; Hess.VGH, EZAR 633 Nr. 5; OVG NW, NVwZ-RR 1998, 595; OVG
NW, InfAuslR 2005, 123; OVG MV, NVwZ-RR 2005, 578 (579).
134
Abstimmung der beteiligten Staaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens
innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder
Wiederaufnahmeersuchens durch den ersuchten Mitgliedstaat oder der endgültigen
Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende
Wirkung gemäß Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 hat. Die Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert
werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Antragstellers nicht erfolgen
konnte, oder höchstens achtzehn Monate, wenn der Antragsteller flüchtig ist (Art. 29 Abs. 2
Satz 2). Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist
der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme verpflichtet und
wird von seinen Pflichten nach Art. 18 Abs. 1 befreit. Die Zuständigkeit und damit auch die
Pflichten nach Art. 18 Abs. 1 gehen auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (Art. 29 Abs. 2).
Dasselbe gilt, wenn die Jahresfrist bei inhaftierten oder die Achtzehnmonatefrist bei
flüchtigen Antragstellern abgelaufen ist. Wurde der Antragsteller irrtümlich überstellt oder
wird einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung stattgegeben, nimmt der
Mitgliedstaat, der die Überstellung durchgeführt hat, die Person wieder auf (Art. 29 Abs 3)
und wird damit zuständiger Mitgliedstaat.
Mit den Überstellungsfristen enthält die Verordnung ein weiteres Zuständigkeitskriterium für
den Fall, dass die Überstellung dem Gebot, das Verfahren zügig durchzuführen
(Erwägungsgrund Nr. 4), zuwider nicht innerhalb der vorgesehenen Frist durchgeführt
wird.452 Dies folgt aus Art. 19 Abs. 2 Satz 1. Die Frist beginnt mit der Annahme des
Ersuchens453, also nicht erst mit der Zustellung an den Antragsteller. Die Annahme wird vor
dem Erlass der Überstellungsentscheidung gegenüber dem ersuchenden Mitgtliedstaat erklärt.
Der maßgebende Zeitpunkt muss in den Akten dokumentiert werden. Die Fristverlängerung
setzt eine ausdrückliche Entscheidung des ersuchenden Mitgliedstaats über die Verlängerung
vor Ablauf der Sechsmonatsfrist voraus, die er im ausdrücklichen Einvernehmen mit dem
ersuchten Mitgliedstaat zu treffen hat. Die Frist wird bei Vorliegen der entsprechenden
Voraussetzungen also nicht automatisch verlängert.454 Ob ein stillschweigendes
Einvernehmen bereits darin liegt, dass der ersuchende dem ersuchten Mitgliedstaat vor
Fristablauf über die Verzögerungsgründe informiert, eine Fristverlängerung geltend macht
und der ersuchte Mitgliedstaat hierauf schweigt, ist umstritten.455
Wird ein Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung, dem aufschiebende Wirkung
zukommt, eingelegt, beginnt die Überstellungsfrist erst nach der endgültigen Entscheidung
über den Rechtsbehelf zu laufen (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 letzter Hs.). Zwar hat der
Rechtsbehelf gegen die Überstellung nach § 75 Satz 1 keine aufschiebende Wirkung. Art. 29
Abs. 1 UAbs. 1 letzter Hs. nimmt aber entgegen seinem Wortlaut Art. 27 Abs. 3 insgesamt
und damit alle drei Optionsklauseln in Bezug. Mit § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. hat der
Gesetzgeber die Option nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) gewählt, sodass anders als bislang
durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs und die Beantragung von Eilrechtsschutz die
Überstellungsfrist hinausgeschoben wird. Nach der Rechtsprechung des EuGH beginnt die
Frist nicht bereits mit dem Beschluss im Eilrechtsschutzverfahren, mit dem die Durchführung
der Überstellung ausgesetzt wird, sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über
die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die damit der Durchführung nicht
VG Aachen, U. v. 25. 7. 2007 – 8 K 1913/05.A.
Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 192.
454
Thür.OVG, B. v. 28. 12. 2009 – 3 EO 469/09; VG Münster, InfAuslR 2008, 372; VG Münster, B. v. 30.
12. 2010 – 2 L 576/10.A; VG Braunschweig, B. v. 5. 10. 2010 – 1 B 172/10; VG Hamburg, U. v. 15. 3. 2012 –
10 A 227/11; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 197.
455
So VG Berlin, B. v. 14. 12. 2009 – VG 33 L 260.09.A; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a Rdn. 198;
a.A. VG Hamburg, U. v. 15. 3. 2012 – 10 A 227/11; VG Braunschweig, B. v. 5. 10. 2010 – 1 B 172/10; offen
gelassen Thür.OVG, B. v. 28. 12. 2009 – 3 EO 469/09; VG Münster, InfAuslR 2008, 372 (374).
452
453
135
mehr entgegenstehen kann456, also mit dem Eintritt der Rechtskraft des klageabweisenden
Urteils, zu laufen. Wird jedoch der Eilrechtsschutzantrag zurückgewiesen, die Überstellung
gleichwohl nicht vorgenommen und später der Klage stattgegeben, beginnt die Frist mit der
Zustellung des zurückweisenden Beschlusses im Eilrechtsschutzverfahren zu laufen.457 Die
Frist wird mit dem Aussetzungsbeschluss unterbrochen und beginnt mit Zustellung der
unanfechtbaren Hauptsacheentscheidung erneut zu laufen.458
VI.
1.
Sachverhaltsaufklärung
Grundrechtsverwirklichung durch Verfahrensschutz
Das Grundrecht auf Asyl bedarf, soll es seine Funktion in der sozialen Wirklichkeit entfalten,
geeigneter
Organisationsformen
und
Verfahrensregelungen
sowie
einer
grundrechtskonformen Anwendung des Verfahrensrechts, soweit dies für den effektiven
Grundrechtsschutz von Bedeutung ist.459 Die verfassungsrechtliche Asylrechtsnorm sichert
nicht nur materiell das Asylrecht des politisch Verfolgten. Der Bestimmung kommt auch
verfahrensrechtliche Bedeutung zu. Allgemein fordert die verfassungsrechtliche
Gewährleistung der Grundrechte auch im jeweiligen Verfahrensrecht Geltung. Diesem
Grundsatz entsprechend muss auch das Asylgrundrecht dort auf die Verfahrensgestaltung
Einfluss haben, wo es um das grundgesetzlich garantierte Recht des Betroffenen auf Asyl
geht.460
2.
Umfang des Untersuchungsgrundsatzes
Die Behörde hat von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen jede mögliche Aufklärung
des Sachverhalts bis hin zur Grenze der Unmöglichkeit zu versuchen, sofern dies für die
Entscheidung des Verfahrens von Bedeutung ist.461 Das Bundesamt bestimmt Art und
Umfang der Ermittlungen. Hierbei ist es zwar an das Vorbringen und die Beweisanträge der
Beteiligten nicht gebunden (§ 24 Abs. 1 VwVfG). Wie im allgemeinen
Verwaltungsverfahrensrecht werden jedoch auch im Asylverfahren Umfang und Reichweite
des Untersuchungsgrundsatzes im konkreten Einzelfall durch den Tatsachenvortrag des
Antragstellers (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) bestimmt. Der Umfang der Ermittlungspflichten
wird damit durch die individuellen Mitwirkungspflichten begrenzt.462
Der Prognoseprüfung selbst geht die Sammlung und Sichtung der tatsächlichen
Entscheidungsgrundlagen voraus. Von einer solchermaßen sachgerecht und methodisch
einwandfrei erarbeiteten Prognosebasis kann nur die Rede sein, wenn die
Tatsachenermittlungen einen hinreichenden Grad an Verlässlichkeit aufweisen und dem
Umfang nach zureichend sind.463 Das Bundesamt kann sich im Einzelfall zur Überprüfung der
EuGH, NVwZ 2009, 139 (140) = InfAuslR 2009, 139 = EZAR NF 96 Nr. 2 Rdn. 46 – Petrosian;
Hess.VGH, AuAS 2011, 269 (270); VGH BW, AuAS 20012, 213 (215); Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II – 27a
Rdn. 196; Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 165.
457
VG Stuttgart, U. v. 8. 4. 2010 – A 12 K 3445/09.
458
VGH BW, AuAS 20012, 213 (215); Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., 2010, S. 165.
459
BVerfGE 56, 216 (236) = EZAR 221 Nr. 4 = NJW 1981, 1436; BVerfGE 65, 76 (94) = EZAR
630Nr. 4 = NVwZ 1983, 735 = InfAuslR 1984, 58 .
460
BVerfGE 52, 391 (407) = EZAR 150 Nr. 1 = NJW 1980, 516.
461
BVerwG, DÖV 1983, 647; BVerwG, InfAuslR 1984, 292 = EZAR 610 Nr. 13 = NVwZ 1984, 591; § 24
VwVfG, § 24 AsylVfG, § 86 VwGO
462
BVerwG, DVBl. 1963, 145; BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwGE 66, 237 = EZAR 630 Nr. 1 =
InfAuslR 1983, 76; s. auch § 25 Abs. 1, 2 AsylVfG:
456
463
BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993, 146 (149); BVerwGE 87, 141 (150) = EZAR 200 Nr. 27 = NVwZ
1991, 384.
136
Angaben des Antragstellers einer Vielzahl von Erkenntnisquellen bedienen. Hierzu gehören
insbesondere auch die nach § 21 AsylVfG weitergeleiteten Unterlagen. Das wichtigste
Erkenntnismittel ist aber der Antragsteller selbst. Dementsprechend hat § 24 Abs. 1 Satz 2
AsylVfG auch die zwingende Anhörung beibehalten. Die Asylbegründung und die Anhörung
bezeichnen den Untersuchungsgegenstand im konkreten Einzelfall. Die Art der Einlassung
und der Eindruck von der Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers ermöglichen dem
Bundesamt eine konkrete Überprüfung der von ihm vorgetragenen Tatsachen. Die Erfahrung
des Einzelentscheiders, die Geeignetheit seiner Fragetechnik, sein Wissen aus
Parallelverfahren sowie die verständige Leitung und verfahrensrechtliche Fürsorge für den
Antragsteller sind wichtige Erkenntnismethoden, um die Wahrheit der vorgetragenen
persönlichen Erlebnisse überprüfen zu können.
Gutachten und Auskünfte können hierbei regelmäßig wenig weiterhelfen. Lediglich zur
Aufklärung der allgemeinen rechtlichen und politischen Situation im Herkunftsland des
Antragstellers gewinnen Gutachten und Auskünfte eine erhebliche verfahrensrechtliche
Bedeutung. Bei der Bewertung des Wahrheitsgehaltes der vorgetragenen persönlichen
Erlebnisse kommt es jedoch zuallererst auf die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben
sowie der persönlichen Glaubwürdigkeit des Antragstellers im Rahmen der freien
Beweiswürdigung an. Deshalb ist es auch geboten, dass der Einzelentscheider mit dem
Sachentscheider identisch ist. Da die Gestaltung des Asylverfahrens heute nahezu
ausschließlich an verwaltungsorganisatorischen Interessen ausgerichtet ist, darüber hinaus die
Einführung der elektronischen Akte es dem die Anhörung durchführenden Einzelentscheider
technisch jederzeit ermöglicht, den Vorgang abzugeben, ist heute in der Verwaltungspraxis
der die Anhörung durchführende Einzelentscheider zumeist nicht mehr mit dem für die
Sachentscheidung verantwortlichen Einzelentscheider identisch.
2.
Persönliche Anhörung des Antragstellers
Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG ist das Bundesamt zur persönlichen Anhörung des
Asylsuchenden verpflichtet, von der nur unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen
abgewichen werden darf bzw. abzusehen ist.464 Diese Verpflichtung gilt für alle Asylanträge,
d. h. sowohl für die nach § 14 Abs. 1 AsylVfG wie auch für die nach § 14 Abs. 2 AsylVfG
gestellten Anträge. Allerdings ist bei Asylfolgeanträgen die Anhörung nicht zwingend
vorgeschrieben (vgl. § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG). Die persönliche Anhörung ist das zentrale
Herzstück des Asylverfahrens. Sie ist heute jedoch aufgrund des institutionalisierten Klimas
des Misstrauens sowie der ausländerrechtlichen Vorprägung der Tatsachenfeststellung zum
„Ort des verdichteten Misstrauens“ entartet. In dem auf die Prüfung individueller
Verfolgungsbehauptungen angelegten Verfahren ist die persönliche Anhörung von
maßgeblicher Bedeutung.465 Das wichtigste Erkenntnismittel ist der Antragsteller selbst. Mit
Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung im
Asylverfahren gesteigerte Bedeutung zu.466 Der Asylsuchende befindet sich typischerweise in
Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die
Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es damit
entscheidend an.467
Marx, Probleme der Kommunikation und Darstellung der Lebenswirklichkeitr von Flüchtlingen im
Asylverfahren, in: ZAR 2012, 417.
465
BVerfGE 54, 341 (359) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerwG, DVBl. 1963, 145;
Hess. VGH, ESVGH 31, 259; OVG Hamburg, InfAuslR 1983, 187.
464
466
BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567; BVerwG, NVwZ 1990, 171 =
InfAuslR 1989, 349.
467
BVerfGE 94, 166 (200 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1976, 678
137
Die Art der persönlichen Einlassung des Asylsuchenden, seine Persönlichkeit, insbesondere
seine Glaubwürdigkeit, spielen bei der Würdigung und Prüfung der Tatsache, ob er gute
Gründe zur Gewissheit der Behörde dargetan hat, eine entscheidende Rolle.468 Durch ein
Gespräch zwischen dem Asylsuchenden und dem Anhörer kann am besten sichergestellt
werden, dass der Sachverhalt umfassend aufgeklärt und die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs
überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen im Sachvorbringen auf der
Stelle nachgegangen wird.469 Zur Statusgewährung kann daher schon allein der
Tatsachenvortrag des Antragstellers führen, sofern seine Behauptungen unter
Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne glaubhaft sind, dass sich die
Behörde von ihrer Wahrheit überzeugen kann.470 Daher ist die persönliche Anhörung
grundsätzlich unverzichtbar.
Der Asylsuchende hat schlüssig mit genauen Einzelheiten sowie erschöpfend die
anspruchsbegründenden Tatsachen und Umstände vorzutragen. Da in aller Regel
Beweismittel zur Überprüfung der Angaben nicht vorgelegt werden, muss der
Einzelentscheider sich vom Wahrheitsgehalt der Sachangaben auf andere Weise überzeugen
können. Ein abstrakter, allgemein gehaltener Vortrag vermittelt regelmäßig nicht den
Eindruck, dass der Antragsteller die Vorgänge wirklich erlebt hat. Demgegenüber ist ein
nachvollziehbares, im Blick auf zeitliche, örtliche und sonstige entscheidungserhebliche
Umstände lebensnahes Sachvorbringen geeignet, die erforderliche Überzeugungsgewissheit
zu vermitteln.
Mit Blick auf die allgemeinen Verhältnisse genügt es, um Anlass zu weiteren Ermittlungen zu
geben, wenn der Tatsachenvortrag die nicht entfernt liegende Möglichkeit aufzeigt, dass
Verfolgung droht.471 Gegen diese Differenzierung wird in der Verwaltungspraxis häufig
verstoßen, etwa indem dem Antragsteller vorgehalten wird, er habe zu den Motiven und
Beweggründen der Verfolger oder zu zwischenzeitlich länger dauernden repressionsfreien
Phasen keine plausiblen Erklärungen abgegeben. Derartige Umstände entziehen sich jedoch in
aller Regel dem Einfluss sowie Erfahrungsbereich des Antragstellers. Gegebenenfalls hat
daher das Bundesamt von Amts wegen die Art und Systematik der Repressionsmethoden
sowie weitere erhebliche Umstände aufzuklären.
Die Behörde hat die Verfahrensherrschaft. Sie hat mögliche Widersprüche, Ungereimtheiten
und sonstige Unklarheiten von Amts wegen aufzuklären. Wesentlich für eine
verfahrensrechtlich einwandfreie Gestaltung der Anhörung im konkreten Einzelfall ist, dass
der Antragsteller in einer seiner Person gemäßen Art und Weise zu Beginn der Anhörung über
das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn und die Entscheidung über sein Ersuchen
ankommt, und dass der Bedienstete die Anhörung loyal sowie verständnisvoll führt.472 Daraus
ergeben sich besondere Sorgfaltspflichten für die Belehrung des Asylsuchenden, die
Verhandlungsführung sowie für die behördlichen Untersuchungspflichten. Zunächst ist alles
zu vermeiden, was zu Irritationen und in deren Gefolge zu nicht hinreichend zuverlässigem
Vorbringen in der Anhörung beim Bundesamt führen kann. Zwar können aus dem
468
BVerwG, DVBl. 1963, 145.
Hess. VGH, ESVGH 31, 259.
470
BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567.
471
BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; 1984, 129;
1989, 350.
472
BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
469
138
Sachvorbringen zu den Reisemodalitäten wichtige Erkenntnisse zur Glaubhaftigkeit der
Angaben und der Glaubwürdigkeit insgesamt gezogen werden.473 Jedoch darf die Aufklärung
des Reiseweges nicht im Zentrum der Anhörung stehen. Insbesondere die Art der
behördlichen Aufklärung des Reiseweges und die Dominanz, die dieser Sachkomplex
während der Anhörung einnimmt, führen regelmäßig zu Irritationen und erheblichen
Verunsicherungen bei den Asylsuchenden, die deshalb zu unzulänglichen und
unvollständigen Angaben bei der anschließenden Darlegung der Asylgründe führen.
Unzulässig ist darüber hinaus, dass der Einzelentscheider in die zusammenhängende
Darlegung der Fluchtgründe dadurch interveniert, dass er Fragen zu völlig anderen
Tatsachenkomplexen stellt und im späteren Verlauf der Anhörung dem Antragsteller
Vorhaltungen macht, er habe bestimmte wesentliche tatsächliche Gesichtspunkte bei der
Darlegung des in Rede stehenden Komplexes nicht angegeben. Eine derartige
Befragungstechnik programmiert strukturell das Offensichtlichkeitsurteil (vgl. § 30
AsylVfG). Die vom BVerfG geforderte loyale und verständnisvolle Führung der Anhörung
setzt demgegenüber voraus, dass dem Asylsuchenden zunächst die notwendige Zeit und Ruhe
gegeben wird, von sich aus zusammenhängend die einzelnen Ereignisse und persönlichen
Erlebnisse darzustellen. Der Vorprüfer hat sich hierbei darauf zu beschränken, durch
verständnisvolle ergänzende Fragen dem Antragsteller zu helfen und ihn zu leiten und
gegebenenfalls im Hinblick auf die Substanziierungspflichten auf mögliche rechtliche
Gesichtspunkte hinzuweisen. Er mag auch den ausufernden Sachvortrag auf die wesentlichen
Tatsachenfragen zurückführen, jedoch stets in einer Weise, die nicht zu Irritationen und
Verunsicherungen führt.
Das Bundesamt hat Widersprüchen im persönlichen Sachvortrag ebenso nachzugehen wie es
auf Vollständigkeit des Sachvorbringens hinzuwirken hat.474 Ergeben sich zwischen dem
bisherigen Sachvortrag und dem Vorbringen in der Anhörung oder innerhalb des Sachvortrags
in der persönlichen Anhörung Widersprüche, sind diese an Ort und Stelle durch Vorhalte
aufzuklären.475 Selbstverständlich ist es die Pflicht des Vorprüfers, Vorhalte zu machen und
auf Widersprüche hinzuweisen, nachdem der Antragsteller den Sachverhalt
zusammenhängend dargestellt hat. Derartige Vorhalte dienen ja gerade dazu, einerseits dem
Antragsteller Gelegenheit zu geben, Fehler und Erinnerungslücken zu überprüfen, sowie
andererseits, tragfähige Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Nach den gemachten
Erfahrungen der vergangenen Jahre unterbleiben derartige Vorhalte jedoch sehr häufig
sowohl im Verwaltungs- wie auch im Verwaltungsstreitverfahren. Im schriftlichen Bescheid
werden dem Asylsuchenden sodann angebliche Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten und
Widersprüche in seinem Sachvorbringen entgegengehalten, ohne dass ihm in der Anhörung
die Gelegenheit eingeräumt wurde, auf eine entsprechende gezielte Frage konkret Stellung
nehmen zu können.
Das BVerfG hat ausdrücklich hervorgehoben, dass bei gegebenem Anlass klärende und
verdeutlichende Rückfragen zu stellen sind.476 Unterbleiben derartige Vorhalte, obwohl diese
sich dem Bundesamt hätten aufdrängen müssen, dürfen dadurch entstehende Ungereimtheiten
und Unzulänglichkeiten in der Darstellung des Verfolgungs- und Fluchtgeschehens dem
473
OVG NW, AuAS 1999, 66; OVG Rh-Pf, AuAS 1999, 67.
OVG Saarland, InfAuslR 1983, 79.
475
BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 85 (88); 1991, 94 (95); 1992, 231 (233); s. auch BVerfGE 94, 166
(204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678; BVerfG (Kammer), InfAuslR 1999, 273 (278); 2000, 254 (258),
alle zur Verpflichtung zu klärenden Rückfragen; s. aber zum gerichtlichen Verfahren OVG Brandenburg, EZAR
631 Nr. 50.
474
476
BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
139
Antragsteller im Bescheid des Bundesamtes nicht zur Last gelegt werden; es sei denn, es
handelt sich um derart wesentliche Fragen, dass man von einem durchschnittlich intellektuell
veranlagten Asylsuchenden die Ausräumung derartiger Umstände aus eigener Initiative
erwarten kann. Dies dürfte allerdings eher der Ausnahmefall sein. Daher ist die intellektuelle
Unfähigkeit, einen Geschehensablauf im Zusammenhang zu schildern, sowohl bei der
Sachverhaltsermittlung wie bei der Beweiswürdigung angemessen zu berücksichtigen.477
3. Praktische Empfehlungen zur Anhörung
Der Rechtsanwalt oder die Rechtsanwältin wird häufig an der persönlichen Anhörung nicht
teilnehmen können, weil der Asylsuchende nach Meldung (§ 22 AsylVfG) im Wege der
Erstverteilung häufig einem anderen Bundesland zugewiesen und dort unmittelbar nach
Antragstellung angehört wird (vgl. § 25 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG). Wenn mit dem Mandanten
die Vertretung während der Anhörung vereinbart worden ist, sollte der Rechtsanwalt auf die
aus § 14 Abs. 4 Satz 1 VwVfG folgende verfahrensrechtliche Verpflichtung des Bundesamtes
hinweisen und dieses auffordern, die Anhörung zeitlich so zu gestalten, dass unter für den
Verfahrensbevollmächtigten zumutbaren Bedingungen dessen Anwesenheit gewährleistet
wird. Nur wenn die Anhörung am Tag der persönlichen Meldung durchgeführt wird, entfällt
die Benachrichtigungspflicht (vgl. § 25 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Eine derartige
Verwaltungspraxis ist jedoch nicht üblich und angesichts der weiterhin sinkenden
Antragszahlen auch nicht gerechtfertigt. Der Rechtsanwalt sollte in der Antragsbegründung
darauf hinweisen, dass er an der Anhörung teilnehmen wird und eine entsprechende
Gestaltung erwartet. Notfalls ist mit der Referatsleitung oder der Zentrale des Bundesamtes
Kontakt aufzunehmen, um das Anwesenheitsrecht des Bevollmächtigten zu sichern.
Selbstverständlich muss der Rechtsanwalt gegebenenfalls seine Terminplanung ändern.
Bereits festgesetzte gerichtliche und behördliche Termine hat das Bundesamt indes zu
berücksichtigen. Da die Anwesenheit des Bevollmächtigten nicht stets gewährleistet ist, muss
der Mandant bereits im Zusammenhang mit der Vorbereitung der schriftlichen
Antragsbegründung über wichtige verfahrensrechtliche Obliegenheiten aufgeklärt werden
und ist er erschöpfend und detailliert auf die persönliche Anhörung vorzubereiten. Auf
folgende Gesichtspunkte ist der Mandant besonders hinzuweisen:
Der Asylsuchende muss zunächst jeweils die Frage des Einzelentscheiders auf sich einwirken
lassen, bevor er sie beantwortet. Ein häufiger Fehler im Asylverfahren besteht darin, dass
mit der Antwort begonnen wird, bevor die Frage überhaupt zu Ende formuliert und
übersetzt worden ist. Dies erschwert die Ermittlungen, kann aber auch zu gravierenden
Widersprüchen führen.
Der Asylsuchende darf eine Frage nicht beantworten, deren Wortlaut oder Wortsinn er nicht
verstanden hat. Gerade die häufig komplizierten Rechtsfragen im Asylrecht lassen den Sinn
der gestellten Fragen für die Asylsuchenden häufig nicht deutlich werden. Es ist deshalb
das gute Recht des Antragstellers, um Wiederholung und gegebenenfalls um Erläuterung
der Frage zu bitten.
Der Asylsuchende muss bei seiner Antwort den mit der Frage angesprochenen wesentlichen
Tatsachenkomplex erschöpfend, konkret, lebensnah und detailreich erläutern. Weniger
wesentliche Randkomplexe kann er kurz abhandeln. Das umgekehrte Verfahren ist nicht
selten, aber unter allen Umständen zu vermeiden. Es drängt sich andernfalls der Eindruck
auf, der Antragsteller weiche sensitiven Fragen aus und trage lediglich eine
„Verfolgungslegende“ vor.
477
Vgl. BVerwG, NVwZ 1990, 171.
140
Ganz wesentlich ist, dass der Antragsteller sich vor seiner Antwort selbst Rechenschaft
darüber abgibt, ob er positives Wissen besitzt (eigener Erfahrungsbereich) oder lediglich
Mutmaßungen über bestimmte Vorgänge und Ereignisse (Verfolgungsmotivationen,
allgemeine Tatsachen) anstellen kann. Kleidet er Mutmaßungen in die Form bestimmter
Tatsachen, wird er selbst bei Offensichtlichkeit des zugrunde liegenden Irrtums für das
weitere Verfahren daran festgehalten, so dass häufig die Antragsablehnung und
Klageabweisung wegen widersprüchlichen Sachvorbringens die Folge ist.
Im Hinblick auf örtliche, zeitliche und andere Tatsachen ist der Antragsteller zu möglichst
präzisen Angaben verpflichtet. Andererseits sind unter allen Umständen entsprechende
Festlegungen zu vermeiden, wenn das Erinnerungsvermögen diese nicht trägt. Zur
Vorbereitung auf die Anhörung darf der Antragsteller für sich die wesentlichen Daten
chronologisch schriftlich ordnen und die Notizen während der Anhörung als
Erinnerungsstütze verwenden. Unzulässig ist das Ablesen von schriftlichen Erklärungen,
nicht indes die Verwendung schriftlicher Notizen während der Anhörung.
Unterbricht der Einzelentscheider die Darlegung eines prozesshaften Ereignisses, so muss der
Antragsteller darauf insistieren, dass er den Hergang im Gesamtzusammenhang darstellen
kann. Notfalls hat er auf Protokollierung seiner Rüge zu bestehen. Er hat nach der
Unterbrechung den Einzelentscheider darauf hinzuweisen dass es sein verfahrensrechtliches
Recht und auch seine Pflicht ist, den Vorgang vollständig zu Ende zu erzählen.
Nach dem Ende der Befragung hat der Antragsteller gewissenhaft zu prüfen, ob alle für ihn
wesentlichen Umstände zur Sprache gekommen sind. Da das Bundesamt die
Verfahrensherrschaft hat, muss er zunächst die vom Vorprüfer gestellten Fragen
beantworten. Je nach der fachlichen Qualifikation des Vorprüfers werden deshalb häufig
wesentliche Tatsachenkomplexe nicht ermittelt. Die Verwaltungsgerichte bürden hierfür in
aller Regel dem Antragsteller die Verantwortung auf. Deshalb ist es von ganz
entscheidender Bedeutung, dass nach Beendigung der Befragung durch das Bundesamt
sowie – nochmals – nach dem Verlesen und der Übersetzung des Protokolls gewissenhaft
geprüft wird, ob alle erheblichen Umstände dargelegt worden sind. Gegebenenfalls ist
schriftliche Ergänzung des Protokolls zu beantragen.
Das Protokoll hält die Angaben des Asylsuchenden fest. Aus der Natur der Sache heraus
werden diese im Bürokratendeutsch zusammengefasst. Im Zweifel hat der Antragsteller
darauf zu bestehen, dass seine Sichtweise und Formulierung wortgetreu festgehalten wird,
weil er seinerseits durch die Gerichte in aller Regel an jeder Äußerung so festgehalten wird,
wie sie schriftlich fixiert worden ist. Gegebenenfalls hat der Antragsteller auf schriftliche
Niederlegung der Weigerung, seine Fassung zu protokollieren, zu bestehen.
VII.
Internationaler Schutz (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG)
1.
Funktion des Flüchtlingsschutzes
§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG macht den Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 A Nr. 2 GFK in
Umsetzung von Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU zum Gegenstand des Asylverfahrens. Das
Gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf diesem Flüchtlingsbegriff (Erwägungsgrund
Nr. 5). Daher führt die Richtlinie gemeinsame Kriterien für die Flüchtlingsanerkennung ein
(Erwägungsgrund Nr. 22) und legt zu diesem Zweck in Art. 4 bis 10 (§ 3a bis § 3e AsylVfG)
Normen für die Bestimmung der Merkmale der Flüchtlingseigenschaft fest (Erwägungsgrund
Nr. 23). Der Rat der Europäischen Union hatte am 29. April 2004 die Richtlinie 2004/83/EG
(Qualifikationsrichtlinie) verabschiedet, die am 20. Oktober 2004 in Kraft getreten und bis
spätestens zum 10. Oktober 2006 in das innerstaatliche Recht umzusetzen war. Am 13.
Dezember 2011 ist die Änderungsrichtlinie 2011/95/EU verabschiedet worden und am 2.
Januar 2012 in Kraft getreten. Sie hebt die Richtlinie 2004/83/EG auf und war bis spätestens
zum 21. Dezember 2013 umzusetzen (Art. 39 Abs. 1). Mit dem am 1. Dezember 2013 in Kraft
141
getretenen Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (BGBl. I S. 3474) ist der
Gesetzgeber seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachgekommen. Durch die Richtlinie
2011/95/EU wurden die Struktur der Richtlinie 2004/83/EG und die überwiegende Mehrzahl
der Bestimmungen nicht geändert.
Die Richtlinie regelt zwei unterschiedliche, sich ergänzende Schutzkonzeptionen: Nach Art. 2
Buchst. a) umfasst der »internationaler Schutz« die Flüchtlingseigenschaft (Art. 13) und den
subsidiären Schutz (Art. 18). Dem trägt § 1 Abs. 1 Nr. 2 Rechnung. Art. 13 (§ 3 Abs. 1 und 4
1. Hs. AsylVfG) ist danach Rechtsgrundlage für den Flüchtlingsschutz, Art. 18 (§ 4 Abs. 1 1.
Hs. AsylVfG) für den subsidiären Schutz. Kapitel II der Richtlinie (Art. 4 bis 8) legt für beide
Schutzformen zunächst gemeinsame tatbestandliche Voraussetzungen fest (§ 3c bis § 3e, § 4
Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Umfasst hiervon sind auch die verfahrensrechtlichen
Voraussetzungen (Art. 4), insbesondere der Beweisstandard einschließlich der
Regelvermutung nach Art. 4 Abs. 4, die Grundsätze zu den Nachfluchtgründen (Art. 5, die
Konzeption des Wegfalls des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 8) einschließlich der Frage der
nichtstaatlichen Verfolgungsakteure (Art. 6 Buchst. c)) sowie des internen Schutzes (Art. 8).
Inhaltlich regelt die Richtlinie in Kap. III (Art. 9 und 10) die Voraussetzungen des
Flüchtlingsschutzes (§ 3a und § 3b), einschließlich der Verlust- und Ausschlussgründe (Art.
11 bis 12, 14, s. hierzu § 72, § 73, § 3 Abs. 2, 3 und 4 2. Hs. AsylVfG), und in Kap. V
(Art. 15 bis 17) die Voraussetzungen sowie die Verlust- und Ausschlussgründe des
subsidiären Schutzes. Kap. VI regelt die Zuerkennung (Art. 18) sowie Aberkennung und
Beendigung (Art. 19) des subsidiären Schutzstatus. Schließlich enthalten Art. 21 bis 34
Regelungen zum Inhalt des Flüchtlings- und subsidiären Schutzes. Die Richtlinie 2011/95/EU
verfolgt den Zweck, sicherzustellen, dass der internationale Schutz den Personen zuteil wird,
die diesen verdienen. Ihr wesentliche Ziel ist es, ein Mindestmaß an Schutz in allen
Mitgliedstaaten für Personen zu gewährleisten, die tatsächlich Schutz benötigen, und
sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestmaß an Leistungen
geboten wird (Erwägungsgrund Nr. 12). Für den Bereich des Flüchtlingsschutzes bestimmt
Art. 78 Abs. 1 AEUV, dass alle unionsrechtlichen Maßnahmen zum Asylrecht in
Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und dem New Yorker
Protokoll von 1967 stehen müssen.
Aus der Entstehungsgeschichte der Konvention folgt, dass der Flüchtlingsbegriff großzügig
ausgelegt werden und alle Personen erfassen sollte, die bis dahin als Flüchtlinge angesehen
wurden (Art. 1 A Nr. 1). Die allgemeine Definition in Art. 1 A Nr. 2 GFK war
dementsprechend stark durch die Erfahrungen der europäischen Staaten beeinflusst worden.
Die materiellen Grundlagen des universellen Flüchtlingsschutzes waren damit aus der
europäischen Praxis heraus entwickelt worden. Es fehlt andererseits ein verbindlicher
Mechanismus, der für die nationale Staatenpraxis Leitlinien für die Auslegung und
Anwendung des Flüchtlingsbegriffs vorgibt. Das Handbuch von UNHCR wird in der
Staatenpraxis allgemein als Orientierungshilfe für die Auslegung von Konventionsnormen
verwendet. Auch das BVerwG berücksichtigt bei der Auslegung von Konventionsnormen
Stellungnahmen und insbesondere das Handbuch von UNHCR.478 Allerdings wurde das
Handbuch bereits 1979 veröffentlicht und enthält es deshalb nicht zu allen Fragen des
Flüchtlingsrechts und insbesondere der Konvention detaillierte Ausführungen. Zusätzlich zum
Handbuch sind deshalb Empfehlungen des aus Staatenvertretern bestehenden
Exekutivkomitees des Programms von UNHCR, denen in der Literatur der Charakter
normativer Vorgaben für die Entwicklung des Flüchtlingsrechts zugewiesen wird,479 und
aktuelle Richtlinien und sonstige Stellungnahmen des Büros von UNHCR als
478
479
BVerwGE 89, 231 (239) = EZAR 211 Nr. 3 = NVwZ 1992, 679.
Sztucke, IJRL 1989, 285 (301 ff.).
142
Orientierungshilfe für die Auslegung von Konventionsnormen und damit auch von Normen
der Qualifikationsrichtlinie heranzuziehen.
Für die Mitgliedstaaten ergibt sich damit eine komplexe völkerrechtliche und supranationale
Gemengelage. Sie dürfen in ihrer Asylpraxis unionsrechtliche Zweifelsfragen nicht selbst
klären. Vielmehr haben sie im Wege des Vorabentscheidungsersuchens (Art. 267 AEUV)
diese Frage dem EuGH vorzulegen. Aus unionsrechtlicher Sicht sind die Vorgaben des EuGH
zwingend und haben Vorrang gegenüber nationalem Recht. Aus völkerrechtlicher Sicht sind
sie Staatenpraxis im Sinne von Art. 31 Abs. 3 Buchst. a) VWRK. Die Hoffnung, dass der
EuGH sich möglichst eng an die im Völkerrecht entwickelten Grundsätze zum
Flüchtlingsschutz halten wird, damit die europäische nicht von der universellen
Rechtsentwicklung im völkerrechtlichen Flüchtlingsschutz losgelöst wird, hat er mit seinen
Entscheidungen insbesondere zum Widerruf und zum Ausschluss nicht erfüllt. Die Bedeutung
der Qualifikationsrichtlinie als einer gemeinsamen Plattform für die Staatenpraxis einer so
großen Staatengruppe wie sie die Union bildet, kann gar nicht unterschätzt werden. Vieles
was sich nach Maßgabe der Richtlinie im Bereich des Flüchtlingsschutzes in der Union
entwickeln wird, wird als Staatenpraxis maßgeblich die universelle Fortentwicklung der
Konvention beeinflussen und damit auch Auswirkungen auf die Staatenpraxis außerhalb der
Union gewinnen. Dies birgt andererseits aber auch die Gefahr in sich, dass für die
spezifischen Zwecke der Mitgliedstaaten entwickelte Konzepte den universellen Charakter
der Konvention insgesamt ändern können. In einigen Bereichen (z.B. Art. 5 Abs. 3 RL
2011/95/EU) sowie im Bereich der Terrorismusabwehr ist dieses Risiko bereits verwirklicht
worden (Art. 14 Abs. 4 und 5 RL 2011/95/EU).
Auffallend ist, dass die Richtlinie 2011/95/EU ebenso wie die ursprüngliche Richtlinie
2004/83/EG zwar die einzelnen begrifflichen Elemente des Flüchtlingsbegriffs – wie den
Begriff der Verfolgung (Art. 9) einschließlich des Wegfalls des nationalen Schutzes (Art. 6
bis 8) und die Anknüpfung der Verfolgung an die Konventionsgründe (Art. 10) – definiert,
nicht jedoch den Begriff der Furcht vor Verfolgung.480 Da die Richtlinie für die Praxis der
Mitgliedstaaten den völkerrechtlichen Flüchtlingsbegriff als Referenzrahmen des
Sekundärrechts macht, ist dieser in der Praxis vollständig zu berücksichtigen. In den
verfahrensrechtlichen Bestimmungen wird angeordnet, dass die individuelle Lage und die
persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und
sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter zu berücksichtigen sind, um bewerten zu können,
ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände, die Handlungen, denen er ausgesetzt war
oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung gleichzusetzen sind (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c)
RL 2011/95/EU). Die Verfolgung nach § 3a AsylVfG ist Teilelement des Begriff der
Verfolgungsfurcht und entsprechend auszulegen. Maßgebend ist, ob der Antragsteller eine
begründete Furcht vor einer Verfolgung hat, wie sie in Art. 9 RL 2011/95/EU und § 3a
AsylVfG inhaltlich bestimmt wird. Der Staatenpraxis zur GFK und dem Zweck der GFK
entsprechend steht daher am Ausgangspunkt der Prüfung die Furcht vor Verfolgung. Alle für
die Entscheidung wesentlichen Tatsachen und Umstände sind aufzuklären (Art. 4 Abs. 3
Buchst. a) RL 2011/95/EU). Entsprechend der insbesondere in der angelsächsischen
Staatenpraxis entwickelten Dogmatik, die bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft nach der
»Verfolgungshandlung« (§ 3a AsylVfG) den »Wegfall des nationalen Schutzes« (§ 3c bis 3e
AsylVfG) und im Anschluss daran den Kausalzusammenhang mit den Verfolgungsgründen (§
3b AsylVfG) behandelt, ist im Anschluss an die Verfolgung der in Art. 6 bis 8 geregelte
Wegfall des nationalen Schutzes (§ 3c bis § 3e AsylVfG) und anschließend der kausale
Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen (Art. 9 Abs. 3 in Verb. mit 10, § 3b AsylVfG)
zu prüfen.
480
Umfassende Darstellung der Richtlinie Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012.
143
2.
Subsidiärer Schutz
§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG macht den subsidiären Schutz vollständig zum Gegenstand des
Asylverfahrens und insbesondere auch zum Inhalt des Antragsbegriffs (§ 13 Abs. 2
AsylVfG). Die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes werden wie die Asylberechtigung
und der Flüchtlingsstatus im Asylverfahren ermittelt (§ 4 Abs. 1 2. Hs., Abs. 3 AsylVfG) und
wie die flüchtlingsrechtliche Statusentscheidung (§ 3 Abs. 4 1. Hs. AsylVfG) verbindlich
festgestellt (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die Ausländerbehörde wird auf den bloßen Vollzug
der Entscheidung beschränkt. Der subsidiäre Schutz war hingegen bis zum 30. November
2013 nur unzulänglich umgesetzt worden. Das Bundesamt stellte fest, ob ein
Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 5 oder Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F. (Umsetzung von
Art. 15 RL 2011/95/EU) vorlag. Anschließend erteilte die Ausländerbehörde die
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, wenn keine Ausschlussgründe (§ 25 Abs. 3
Satz 2 2. Hs. AufenthG) vorlagen. Nunmehr prüft das Bundesamt die Voraussetzungen des
subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz AsylVfG (Umsetzung von Art. 15 RL
2011/95/EU)) sowie die Ausschlussgründe (§ 4 Abs. 2, Abs. 4 AsylVfG) und stellt fest, ob
subsidiärer Schutz zu gewähren ist (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die Ausländerbehörde erteilt
die Aufenthaltserlaubnis. Anders als früher erhalten subsidiär Schutzberechtigte wie
Flüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Die Rechtsstellung in den
einzelnen Fachgesetzen knüpft an diese Aufenthaltserlaubnis an. Der Gesetzgeber hat damit
im weiten Umfang das Ziel der Änderungsrichtlinie 2011/95/EU, subsidiär Schutzberechtigter
mit Flüchtlingen rechtlich gleichzustellen, vollzogen. Durch § 104 Abs. 9 Satz 1 AufenthG
wird sichergestellt, dass bei Altfällen die frühere Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3
AufenthG a.F. in eine nach § 25 Abs. 2 AufenthG umgewandelt wird, um auch die nach
früherem Recht anerkannten subsidiär Schutzberechtigten in den Genuss der geltenden
Rechtsstellung für diese Personengruppe kommen zu lassen.
Die Richtlinie 2011/95/EU konzipiert den subsidiären Schutz (Art. 18) als Kategorie des
»internationalen Schutzes« (Art. 2 Buchst. a)). Dem trägt der Gesetzgeber mit § 1 Abs. 1 Nr.
2 AsylVfG Rechnung. Das Adjektiv „subsidiär“ bezieht sich auf den Flüchtlingsschutz, der
Vorrang gegenüber dem subsidiären Schutzstatus hat. Subsidiär ist jedoch auch der
Flüchtlingsschutz wie auch insgesamt der internationale Schutz gegenüber dem nationalen
Schutz.481 Nach Erwägungsgrund Nr. 33 sollen Mindestnormen für die Merkmale des
subsidiären Schutzes festgelegt werden. Der subsidiäre Schutzstatus soll die in der GFK
festgelegte Schutzregelung für Flüchtlinge ergänzen. Es werden Kriterien eingeführt, die als
Grundlage für die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus dienen. Die Kriterien sollen
„völkerrechtlichen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte und bestehenden
Praktiken in den Mitgliedstaaten entsprechen (Erwägungsgrund Nr. 35). Bis zur
Inkraftsetzung der Ursprungsrichtlinie 2004/83/EG gab es keine speziellen unionsrechtlichen
Vorschriften zum subsidiären Schutz. Bis dahin bestehende Verfahren in den Mitgliedstaaten
wurden unter dem Begriff „de facto“-Flüchtlinge zusammengefasst, hatten aber als Ergebnis
dramatisch unterschiedliche Schutzstandards zur Folge. Ungeachtet der seit Beginn der
1970er Jahre erhobenen Forderungen für eine einheitliche europäische Lösung ließ diese bis
zur Verabschiedung der Rechtsakte der Union zum Gemeinsamen Asylsystem nach 2001 auf
sich warten.
Mit der Richtlinie 2004/83/EG unternahm die Union erstmals den Versuch, ein
komplementäres oder subsidiäres Schutzsystem einzuführen, das zum System des
Flüchtlingsschutzes hinzu trat.482 Jedoch sehen die EMRK und die Rechtsprechung des
Zum Ganzen Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, S. 493 ff.
Goodwin-Gill/ McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl., 2007, S. 325; McAdam, IRLJ
2005, 461.
481
482
144
EGMR einen rechtlich verbindlichen Rahmen vor, der maßgeblich für die Wahl der
Kategorien von Begünstigten ist. Der Europarat hat darüber hinaus in einer Reihe von
Beschlüssen die Anwendung gemeinsamer Kriterien für Personen vorgeschlagen, die zwar
nicht unter die GFK fallen, aber gleichwohl internationalen Schutz benötigen Parliamentary
Assembly Recommendation 773 (1976) on the Situation of De Facto Refugees, 817 (1977) on
Certain Aspects of the Right to Asylum, Recommendation 1327 (1977) on the Protection and
Reinforcement of the Human Rights of Refugees and Asylum Seekers in Europe,
Recommendation 1525 (2001) on the UNHCR and the Fiftieth Anniversary of the Geneva
Convention, Committee of Ministers, Recommendation (2001) 189). Demgemäß begründet
die Kommission ihren Vorschlag, den subsidiären Schutzstatus einzuführen, damit, dass es in
der Union keine speziellen Vorschriften zum subsidiären oder komplementären Schutz gebe.
Jedoch würden die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR einen rechtlich verbindlichen
Rahmen vorsehen, der maßgeblich für die Bestimmung der Berechtigten dieses Status sei.483
Folgerichtig erinnert Erwägungsgrund Nr. 34 RL 2011/95/EU die Mitgliedstaaten an ihre
internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte. Daher schaffen die
Regelungen zum subsidiären Schutz keine völlig neuen Rechtskategorien schutzbedürftiger
Personen. Vielmehr dienen die in Art. 15 RL 2011/95/EU entwickelten Kategorien der
Klarstellung und Kodifizierung der bestehenden Praxis in den Mitgliedstaaten. Die Richtlinie
greift eine internationale Tendenz auf und regelt diese für die Praxis der Mitgliedstaaten
verbindlich. Daneben verbleibt den Mitgliedstaaten die Kompetenz beim nationalen
subsidiären Schutz. In der Bundesrepublik ist dieser in § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geregelt
und wird vom Bundesamt nur behandelt, wenn ein Asylantrag im Sinne des § 13 Abs. 1
AsylVfG gestellt wird (§ 24 Abs. 2, § 31 Abs. 3 AsylVfG). Wird kein Asylantrag gestellt, ist
die Ausländerbehörde originär zuständig, hat aber das Bundesamt zwingend zu beteiligen (§
72 Abs. 2 AufenthG).
G.
Aufenthaltsbeendigung
I.
Erlöschensgründe
Der Aufenthaltstitel erlischt nach § 51 Abs. 1 AufenthG im Falle
des Ablaufs seiner Geltungsdauer (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) einschließlich der
nachträglichen Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG),
des Eintritts einer auflösenden Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG),
der Rücknahme des Aufenthaltstitels (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG),
des Widerrufs des Aufenthaltstitels (§ 52 AufenthG),
der Ausweisung (§§ 53–56 AufenthG),
der Bekanntgabe einer Abschiebungsanordnung (§ 58a AufenthG),
der nicht nur vorübergehenden Ausreise (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG) und
wenn nach Erteilung eines Aufenthaltstitels nach §§ 22, 23 oder 25 Abs. 3–6
AufenthG ein Asylantrag gestellt wird (§ 51 Abs. 1 Nr. 8 AufenthG).
II.
Auflösende Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
Nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel im Falle des Eintritts einer
auflösenden Bedingung. Es handelt sich um eine auflösende Bedingung im Sinne des § 36
Abs. 2 Nr. 2 VwVfG. § 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bekräftigt lediglich einen allgemeinen
Grundsatz. Danach wird der Verwaltungsakt unwirksam, wenn die auflösende Bedingung
eintritt (vgl. § 158 Abs. 2 BGB). Der Verwaltungsakt kann später auch nicht infolge eines
Rechtsbehelfes wieder aufleben.484 Darin unterscheidet sich die auflösende Bedingung von
dem Verwaltungsakt, mit dem die Geltungsdauer eines Aufenthaltstitels beendet wird. In
483
484
Kommissionsentwurf KOM(2001)510 endg.; Ratsdok. 13620/01, in: BR-Drs. 1017/01, S. 28.
BVerwGE 89, 357 (359) = NVwZ 1992, 570.
145
diesem Fall tritt eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht ein, wenn der
Verwaltungsakt durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung
aufgehoben wird (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG).
Die auflösende Bedingung muss dem Bestimmtheitserfordernis genügen. So wird es zwar für
zulässig erachtet, als auflösende Bedingung die Einreichung einer Klage auf Scheidung oder
die Auflösung oder den Eintritt der Ungültigkeit der Ehe zu bestimmen. Nicht hinreichend
bestimmt ist jedoch die auflösende Bedingung, dass einer der Ehegatten gegenüber der
Ausländerbehörde eine Erklärung darüber abgibt, dass die häusliche Gemeinschaft der
Eheleute aufgehoben wurde, weil eine derartige Auflösung auch lediglich vorübergehender
Natur sein kann und häufig auch ist.485 Darüber hinaus darf die auflösende Bedingung nicht
verfügt werden, wenn dies auf eine unzulässige Umgehung einer in der konkreten Situation
vom Gesetz angeordneten künftigen Ermessensausübung hinausläuft. Das ist etwa bei einer
Eheauflösung der Fall, weil hier nach Ermessen über die nachträgliche Befristung zu
entscheiden ist.486 Ebenso stellt die auflösende Bedingung „Aufenthaltstitel erlischt bei
Sozialhilfebezug“ eine Umgehung des § 12 Abs. 2 AufenthG dar, weil diese Regelung die
Sicherung des Lebensunterhaltes sicherstellen will und deshalb als Spezialregelung gegenüber
einer auflösenden Bedingung zu verstehen ist.487
Der Erlass der auflösenden Bedingung ist anfechtbar.488 Da die Anordnung zumeist nicht in
Form eines schriftlichen Verwaltungsaktes mit Rechtsbehelfsbelehrung erfolgt, können
Rechtsbehelfe innerhalb der Jahresfrist (§ 58 Abs. 2 VwGO) eingelegt werden. Bei der
Verknüpfung einer statusbegründenden Verfügung (Aufenthaltstitel) mit einer auflösenden
Bedingung entspricht allein die Zulassung einer Anfechtung der Nebenbestimmung
verbunden mit der Wirkung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO den
Interessen der Beteiligten und der Rechtslage.489 Die Anfechtbarkeit der Nebenbestimmung
hat mithin keinen Einfluss auf den Bestand des von der Behörde mit sofortiger Wirkung
verfügten Bescheides. Demgegenüber entfällt wegen des unmittelbaren Eintritts der
Unterbrechung der Rechtmäßigkeit der Rechtsschutz, wenn die auflösende Bedingung
eintritt.490 Trotz Ablaufs des Aufenthaltstitels kann die Anordnung einer auflösenden
Bedingung nichtig sein mit der Folge, dass der frühere Antrag auf Erteilung des
Aufenthaltstitels und damit die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG wieder auflebt.
Greift der Beteiligte die Beifügung der auflösenden Bedingung an, so ist deren Wirksamkeit
ausgesetzt. Deshalb ist es unschädlich, wenn während des anhängigen
Rechtsbehelfsverfahrens die auflösende Bedingung eintritt.491
III.
Nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG)
Der Aufenthaltstitel erlischt, wenn seine Geltungsdauer abgelaufen ist (§ 51 Abs. 1 Nr. 1
i.V.m. § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dadurch entsteht die Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1
AufenthG. Die Behörde kann diese Wirkung auch durch einen Verwaltungsakt, die
485
486
487
488
489
490
491
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (125); so auch Hess. VGH, InfAuslR 2003, 418 (419).
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (126).
Hess. VGH, InfAuslR 2003, 418 (419).
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124).
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124).
VG Minden, InfAuslR 1999, 352.
VG Stuttgart, InfAuslR 2002, 123 (124).
146
nachträgliche Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, herbeiführen, wenn eine für die
Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels wesentliche Voraussetzung nachträglich
entfallen ist. Die Entscheidung liegt im behördlichen Ermessen. Die Wirksamkeit der den
rechtmäßigen Aufenthalt beendenden nachträglichen Befristung des Aufenthaltstitels wird
unbeschadet der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage nicht berührt (vgl. § 84
Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Der Aufenthaltstitel wird demnach durch die Verfügung zeitlich
beschränkt. Dadurch wird zugleich die Ausreisepflicht begründet (§ 50 Abs. 1 AufenthG).
Diese ist ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verfügung allerdings nicht
vollziehbar (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Anders als die Ausweisung begründet die
nachträgliche Befristung ebenso wenig wie der Ablauf der Geltungsdauer eines
Aufenthaltstitels eine Sperrwirkung für die Einreise.492
Wird die nachträgliche Befristung durch eine behördliche oder eine unanfechtbare
gerichtliche Entscheidung aufgehoben, so ist eine Unterbrechung des rechtmäßigen
Aufenthaltes nicht eingetreten (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt
lediglich für befristete Aufenthaltstitel. Die Niederlassungserlaubnis kann nicht nachträglich
befristet werden (§ 9 Abs. 1 Satz 2 2. Hs. AufenthG). Liegen von Anfang an die für die
Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels maßgebenden Voraussetzungen nicht vor,
kommt nicht die nachträgliche Befristung, sondern die Rücknahme nach § 51 Abs. 1 Nr. 3
AufenthG i.V.m. § 48 VwVfG in Betracht. Die nachträgliche Befristung ist unzulässig, wenn
der Betroffenen aus einem anderen Grund ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels
erwachsen ist.493
Widerspruch und Klage gegen die nachträgliche Befristung haben aufschiebende Wirkung
nach § 80 Abs. 1 VwGO. Der Eintritt des Suspensiveffektes hemmt lediglich die Vollziehung,
beseitigt indes nicht die Ausreisepflicht (§§ 50 Abs. 1, 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). § 84
Abs. 1 AufenthG ordnet den Wegfall der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen
die Versagung der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels an und ist deshalb auf
Rechtsbehelfe gegen die nachträgliche Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht
anwendbar.494 Auch wenn der Betroffene sich im Ausland aufhält, ist der Erlass der
Abschiebungsandrohung
zulässig,
sofern
nicht
eine
auf
Dauer
gerichtete
495
Aufenthaltsbeendigung seitens des Betroffenen unterstellt werden kann.
Da die
nachträgliche Befristung in eine bestehende Rechtsposition eingreift, sind Widerspruch und
Anfechtungsklage zu erheben. Die unter Vorbehalt der Aufhebung der Ausweisung bzw. der
Zurückweisung des ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrags angeordnete sofortige
Vollziehung der nachträglichen Befristung wird für zulässig erachtet. Es sei nicht zu
beanstanden, wenn die Behörde durch die nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis
unabhängig vom Ausgang des Ausweisungsverfahrens eine sofortige Aufenthaltsbeendigung
erreichen wolle.496
Maßgebend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der nachträglichen Befristung ist nach
überwiegender Ansicht die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten
492
BVerwGE 106, 302 (305) = EZAR 030 Nr. 6 = NVwZ 1998, 740 = InfAuslR 1998, 285.
106, 302 (305) = EZAR 030 Nr. 6 = NVwZ 1998, 740 = InfAuslR 1998, 285.
BayVGH, InfAuslR 2003, 2.
12BVerwGE
493
494
Hess. VGH, AuAS 1997, 134 = EZAR 622 Nr. 29; OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 122 (123 f.); OVG
NW, AuAS 2004, 242 VGH BW, InfAuslR 1997, 358 (359) = EZAR 622 Nr. 30 = VBlBW 1997, 434.
495
OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643 (646).
496
OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643 (645).
147
verwaltungsbehördlichen Entscheidung.497 Das gilt auch dann, wenn die Behörde den
Aufenthaltstitel nicht zu einem bestimmten Datum, sondern bis zum Eintritt der
Unanfechtbarkeit der Verfügung nachträglich befristet. Auch in diesem Fall wird die
Befristung als rechtsgestaltende Maßnahme mit Bekanntgabe der Verfügung sofort wirksam
mit der Folge, dass nach Erlass der Widerspruchsentscheidung eintretende Umstände
unberücksichtigt bleiben. Demgegenüber wird vertreten, dass – sofern die Beschränkung zu
einem früheren Zeitpunkt wirksam werden soll – für diesen Zeitpunkt festzustellen sei, ob
eine wesentliche Voraussetzung im Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG entfallen sei. 498
Überwiegend wird indes die rückwirkende nachträgliche Befristung für unzulässig angesehen.
Die Behörde kann die sofortige Vollziehung der nachträglichen Befristung des
Aufenthaltstitels nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO anordnen. Unter ausdrücklicher
Bezugnahme auf die gefestigte Rechtsprechung des BVerfG, derzufolge mit Rücksicht auf
den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „stets ein besonderes, über die Voraussetzungen für
die Ausweisung selbst hinausgehendes Erfordernis vorliegen muss“,499 fordert die
obergerichtliche Rechtsprechung in diesem Fall, dass die Behörde ein besonderes, über die
500
Voraussetzungen für die Befristung hinausgehendes öffentliches Interesse darzulegen hat.
Gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO
zu beantragen. Der Antrag muss einen rechtlichen Vorteil schaffen können. Das ist nicht der
Fall, wenn bereits aus anderen Gründen die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht eingetreten
ist. Dies führt insbesondere bei Inhabern befristeter Aufenthaltstitel häufig zu Problemen.
Selbst wenn die nachträgliche Befristung aufgehoben wird und deshalb nach § 84 Abs. 2 Satz
3 AufenthG keine Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthaltes eingetreten ist, erlischt bei
einem befristeten Aufenthaltstitel wegen des Eintritts der Unwirksamkeit des Aufenthaltstitels
durch den Ablauf der Geltungsdauer das Aufenthaltsrecht (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG)501
und entsteht damit eine vollziehbare Ausreisepflicht. Daher ist im Falle der nachträglichen
Befristung eines befristeten Aufenthaltstitels stets vor dem Ablauf der Geltungsdauer der
Verlängerungsantrag zu stellen. Da nach dem Erlöschen des Aufenthaltstitels wegen der
nachträglichen Befristung die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 4 AuslG nicht Anwendung
findet, ist das weitere Aufenthaltsrecht durch einen einstweiligen Anordnungsantrag nach
§ 123 VwGO sicherzustellen. In diesem auf den Verlängerungsanspruch zielenden Verfahren
wird im Grunde genommen ein Prüfungsdurchgriff auf die Verfügung nach § 7 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vorgenommen werden müssen.
Muster:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zur
Sicherstellung des weiteren Aufenthaltes bei Ablauf der befristeten
Aufenthaltserlaubnis bei nachträglicher Befristung nach § 7 Abs. 2 Satz 2
AufenthG
An das
Verwaltungsgericht
497
BVerwG, NVwZ 1992, 177 = InfAuslR 1991, 268 = EZAR 103 Nr. 16; Hess. VGH, EZAR 103 Nr. 17; VGH
BW, NVwZ-RR 2003, 385, .
498
OVG NW, AuAS 2004, 242.
499
BVerfG (Kammer), NVwZ 1996, 58 (59).
500
BayVGH, AuAS 1999, 170 (171); Hess. VGH, AuAS 1997, 134 (135) = EZAR 622 Nr. 29; OVG
Hamburg, InfAuslR 1999, 122; VGH BW, InfAuslR 1997, 358 (359 f.) = EZAR 622 Nr. 30.
501
VG Frankfurt/M., Urt. v. 4.11.1999 – 1 E 2175/98; bestätigt durch Hess. VGH, Beschl. v. 13.1.2000 –
12 UZ 97/00.
148
Antrag nach § 123 VwGO
der marokkanischen Staatsangehörigen
– Antragstellerin –
gegen
das Land Hessen, vertreten durch den Landrat des Kreises
– Antragsgegner –
Unter Vollmachtsvorlage stelle ich den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO den Antragsgegner zu
verpflichten, die Abschiebung bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Verfahren gegen
die nachträgliche Befristung auszusetzen.
IV.
Widerruf (§ 52 AufenthG)
§ 52 AufenthG regelt die Widerrufsgründe abschließend. Die allgemeinen
Verfahrensvorschriften über den Widerruf sind damit nicht ergänzend anwendbar. Über den
Widerruf ist nach Ermessen zu entscheiden. Wird hiervon abgesehen, ist dies in den Akten zu
vermerken. Eine erneute Prüfung von Widerrufsgründen ist danach nur zulässig, wenn neue
Umstände aufgetreten sind. Ist es dem Betroffenen unmöglich, in zumutbarer Weise einen
Pass zu erlangen (vgl. § 52 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), wird über den Widerruf unter
Berücksichtigung des aufenthaltsrechtlichen Status entschieden. Sofern die Behörde vom
Widerruf absieht, hat sie eine Bescheinigung über den Aufenthaltstitel nach § 48 Abs. 2
AufenthG zu erteilen. In Fällen von Asylberechtigten und Flüchtlingen setzt der Widerruf des
Aufenthaltstitels (§ 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) den wirksamen Widerruf des Asylrechts bzw.
des Status nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 AsylVfG voraus.502 Die Rechtsprechung
erachtet allerdings den Ausspruch des Widerrufs des Aufenthaltstitels mit Wirkung für die
Vergangenheit, und zwar bezogen auf den Zeitpunkt des Eintritts der Unanfechtbarkeit des
asylrechtlichen Widerrufs für zulässig.503 Derartige Akrobatik hat sich mit § 75 Satz 2 und 3
AsylVfG erledigt. Denn die Behörde kann die sofortige Vollziehung des Widerrufs einer
Aufenthaltserlaubnis anordnen. Grundsätzlich haben Rechtsmittel gegen den Widerruf
aufschiebende Wirkung (vgl. § 84 Abs. 1 AufenthG). Der Widerruf begründet wegen der
Erlöschenswirkung zwar die Ausreisepflicht des Betroffenen. Diese ist jedoch erst vollziehbar
(vgl. § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), wenn der Widerruf vollziehbar ist. Die Behörde muss bei
der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs besondere Gründe bezeichnen
können. Die Begründung hat den selben Grundsätzen zu genügen, wie sie für die
nachträgliche Befristung maßgebend sind.504
V.
Rücknahme (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in Verb. mit § 48 VwVfG)
Nach der Rechtsprechung kann der Aufenthaltstitel nach § 48 VwVfG zurückgenommen
werden, wenn von Anfang an die für seine Erteilung maßgebenden Voraussetzungen nicht
vorgelegen haben.505 Eine Rücknahme kommt hingegen nicht in Betracht, wenn der
ursprüngliche Verwaltungsakt rechtswidrig erteilt worden ist und später zusätzlich eine
Voraussetzung entfällt. Die Rückname kommt etwa in Betracht, wenn der Aufenthaltstitel
aufgrund falscher Angaben oder Urkunden erlangt worden ist. Die Rücknahmevorschriften
502
VG Sigmaringen, InfAuslR 1999, 47.
OVG NW, InfAuslR 2006, 427 (428).
504
VGH BW, EZAR 94 Nr. 2.
505
BVerwGE 98, 298 (305) = EZAR 019 Nr. 10 = NVwZ 1995, 1119; BayVGH, InfAuslR 2003, 54 (55);
Hess. VGH, EZAR 033 Nr. 9; VG München, NVwZ-RR 2000, 722 (723); VG Wiesbaden, HessVGRspr. 1999,
781 (782); Hailbronner, AuslR, § 12 AuslG Rn 24; Nr. 12.2.2.0 AuslG-VwV; a.A. noch Hess. VGH, EZAR 103
Nr. 17, S. 7; VGH BW, InfAuslR 1989, 159 zur Rücknahme nach altem Recht.
503
149
werden insbesondere bei sog. Scheinehen angewendet, weil hier von Anfang an die
Erteilungsvoraussetzungen nicht vorgelegen haben. Die Rücknahme eines Aufenthaltstitels ist
nur bei einem von Anfang an rechtswidrigen Aufenthaltstitel zulässig. Hat der Betreffende die
Rechtswidrigkeit zu vertreten, kann die Rücknahme auf den Zeitpunkt der Erteilung des
Aufenthaltstitels angeordnet werden, im Übrigen mit Wirkung für die Zukunft. Enthält die
Verfügung insoweit keine ausdrückliche Regelung, ist grundsätzlich von der Rückwirkung
auszugehen.506 Bei nachträglich eintretender Rechtswidrigkeit kommt nicht die Rücknahme,
sondern wegen der abschließenden Regelung in § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nur die
nachträgliche Befristung in Betracht. Eine Änderung der Sach- und Rechtslage nach Erlass
des Verwaltungsaktes kann zwar dazu führen, dass die Regelung in Widerspruch zum
geltenden Recht gerät. Sie führt indes nicht zur Rechtswidrigkeit und Rücknehmbarkeit des
Verwaltungsaktes.507
Will die Behörde eine rechtswidrig erteilte Aufenthaltserlaubnis zurücknehmen, hat sie bei
der Ausübung des Rücknahmeermessens die für und gegen die Maßnahme sprechenden
Gesichtspunkte zu identifizieren und gegeneinander abzuwägen. Die Rücknahme kann nur
Bestand haben, wenn die Behörde die erforderliche Abwägung öffentlicher Interessen und
schutzwürdiger privater Belange vorgenommen und dabei die wesentlichen Gesichtspunkte
des Einzelfalles berücksichtigt hat. Hat die Behörde die Rücknahme mit einer
Ausweisungsverfügung verbunden, kann der Mangel des Rücknahnmeermessens wegen der
unterschiedlichen Maßnahmen nicht mit Hinweis auf das Ausweisungsermessen geheilt
werden. § 114 Satz 2 VwGO erlaubt nur die Nachholung defizitärer Ermessenserwägung im
Prozess, nicht hingegen die erstmalige Ausübung des Rücknahmeermessens. Die Behörde hat
im Rahmen des Rücknahmeermessens die in § 55 Abs. 3 AufenthG aufgeführten
Gesichtspunkte, die Grundrechte sowie die rechtsstaatlichen Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen: Der Umstand, dass die
Aufenthaltserlaubnis durch falsche Angaben und Vorlage einer unrichtigen Geburtsurkunde
erschlichen wurde, schließt zwar eine Berufung auf Vertrauensschutz aus, ändert aber nichts
am Erfordernis der Ausübung des Rücknahmeermessens. Dabei ist insbesondere auf die
Folgen für die familiäre Lebensgemeinschaft Bedacht zu nehmen. Insbesondere hat die
Behörde zu berücksichtigen, dass durch eine rückwirkende Rücknahme Auswirkungen auf
staatsangehörigkeitsrechtlichen Erwerbstatbestand eines Kindes (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1
AufenthG) eintreten können.508 Die Rechtsprechung des BVerwG kann aber nicht auf diesen
Fall beschränkt werden. Vielmehr ist sie so zu verstehen, dass immer dann, wenn durch die
Rücknahme das akzessorische Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen gefährdet wäre,
eine besonders sorgfältige Ermessensausübung angezeigt ist. Dabei ist insbesondere dem aus
Art. 8 EMRK fließenden Verwurzelungsanspruch Rechnung zu tragen.
Keine Anwendung auf die Rücknahme finden die Grundsätze des intendierten Ermessens, bei
der das Ermessen bereits vom Gesetz vorgezeichnet ist und deshalb ein bestimmtes Ergebnis
dem Gesetz mit der Folge näher steht, dass nur ausnahmsweise eine Abwägung zwischen den
öffentlichen und privaten Interessen erfolgt. Daher bedarf es bei der Rücknahme eines
Aufenthaltstitels regelmäßig einer umfassenden Abwägung aller für und gegen die
Rücknahme sprechenden Umstände, ohne dass ein Ergebnis für den Regelfall vorgezeichnet
ist.509 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Rechtwidrigkeit im Sinne von § 48 VwVfG ist der
Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Verfügung in Gestalt des Widerspruchsbescheides.
Hat der Antragsteller vor der Rücknahme des Aufenthaltstitels einen Antrag auf Verlängerung
506
507
508
509
BVerwG, NVwZ 2007, 470 (471) = AuAS 2007, 3 (4) = ZAR 2007, 6.
BayVGH, InfAuslR 2002, 54 (55); a.A. VG München, NVwZ-RR 2000, 722 (723).
BVerwG, AuAS 2007, 3 (4).
VGH BW, AuAS 2006, 149 (150 f.), bekräftigt durch BVerwG, AuAS 2007, 3 (4).
150
des Aufenthaltstitels gestellt, kann allein die Rücknahme die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes
nicht beenden. Dadurch wird die durch den Verlängerungsantrag ausgelöste Erlaubnisfiktion
nicht beseitigt. Vorläufiger Rechtsschutz ist in diesem Fall nach § 80 Abs. 5 VwGO zu
erlangen. Hinsichtlich der Versagungsverfügung ist die Anordnung der aufschiebenden
Wirkung des Rechtsbehelfs zu beantragen. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Rücknahme
als solche richtet sich nach § 80 Abs. 5 VwGO. Denn gegen die Rücknahme ist
Anfechtungsklage zu erheben. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und
Rechtslage ist bei der gebotenen Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten behördlichen
Entscheidung. Soweit nach Landesrecht ein Widerspruchverfahren vorgesehen und ein
Widerspruch noch nicht ergangen ist, ist dies im Eilrechtsschutzverfahren der Zeitpunkt der
Entscheidung der gerichtlichen Tatsacheninstanz.510
VI.
Nicht nur vorübergehende Ausreise (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7, Abs. 2 und 9
AufenthG)
Kraft Gesetzes erlischt der Aufenthaltstitel im Falle der nicht nur vorübergehenden Ausreise.
Ist die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels bereits vorher abgelaufen, erlischt dieser nicht
nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, sondern nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. 511 Im Falle des
§ 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG tritt die Erlöschenswirkung im Zeitpunkt der Ausreise, im Falle
des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erst nach Ablauf von sechs Monaten ein. Die Wirkung tritt
nur ein, wenn objektiv feststeht, dass der Betroffene nicht nur vorübergehend das
Bundesgebiet freiwillig verlassen hat. Auf die subjektiven Vorstellungen beim
Ausreiseentschluss kommt es nicht an. Die Ausreise setzt indes den freien Entschluss zur
Ausreise voraus. Daran fehlt es, wenn der Betroffene zur Strafverfolgung an ein anderes Land
ausgeliefert wird, ohne dass es dabei auf seinen eigenen Willen ankommt.512 § 51 Abs. 1 Nr. 6
und 7 AufenthG ist nicht auf Asylberechtigte513 und wegen der rechtlichen Gleichstellung der
Konventionsflüchtlinge mit den Asylberechtigten anders als nach früherem Recht auch nicht
auf Flüchtlinge anwendbar (vgl. auch § 51 Abs. 7 AufenthG). Der Beginn der Frist nach § 51
Abs. 1 Nr. 7 AufenthG wird durch wiederholte Einreisen innerhalb der Sechs-Monats-Frist
unterbrochen, wenn diese wiederholten Kurzaufenthalte im Bundesgebiet die
Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet bestehen
bleibt.514 Vertreten wird aber, dass eine längere als sechs Monate dauernde Ausreise mit
zwischenzeitlichen kurzfristigen Einreisen ohne Überschreitung der Sechs-Monats-Frist, nicht
zu Unterbrechung führt, wenn keine dauerhafte Ausreiseabsicht besteht.515
Die Entscheidung über den Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG steht im behördlichen
Ermessen. Im Hinblick auf Antragsteller mit einem befristeten Aufenthaltstitel wird dem
Antrag stattgegeben, wenn ein gesetzlicher Verlängerungsanspruch besteht oder der
Auslandsaufenthalt aus Ausbildungs-, Berufsausbildungsgründen oder dringenden
persönlichen Gründen erforderlich ist. Dem Antrag eines Antragstellers, der im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis ist, soll regelmäßig stattgegeben werden (§ 51 Abs. 4 AufenthG). In
der Rechtsprechung ist umstritten, ob trotz Ablaufs der Sechs-Monats-Frist dem Betroffenen
die Nachweismöglichkeit des lediglich vorübergehenden Auslandsaufenthalts verbleibt. Zwar
kann eine längere Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG grundsätzlich nicht nachträglich
bestimmt werden, um das Erlöschen des Aufenthaltstitels rückgängig zu machen.516
510
511
512
513
514
515
516
VGH BW, AuAS 2006, 149.
VG Köln, InfAuslR 2006, 20.
VG Hannover, NVwZ-Beil. 2003, 103 (104).
Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 114..
OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 2004, 73 (74) = AuAS 2003, 16.
OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2007, 449
Hess. VGH, InfAuslR 1999, 454 (455) = EZAR 019 Nr. 12; a.A. VG Stuttgart, InfAuslR 1998, 30
151
Die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich als Arbeitnehmer oder Selbständiger
mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, sowie die
Niederlassungserlaubnis des Ehegatten erlöschen im Falle eines längeren
Auslandsaufenthaltes nicht, wenn deren Lebensunterhalt gesichert ist und kein
Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 AufenthG vorliegt
(§ 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Sicherung des Lebensunterhaltes kann durch eine
Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG nachgewiesen werden und muss dem Umfang
nach den gesamten weiteren ins Auge gefassten Aufenthalt im Bundesgebiet sichern.517
Ebenso wenig erlischt die Niederlassungserlaubnis eines mit einem Deutschen in ehelicher
Lebensgemeinschaft lebenden Ausländers nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG, wenn
kein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 AufenthG vorliegt
(§ 51 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies gilt auch für den ausländischen Partner einer
lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft mit einem Deutschen (§ 27 Abs. 2 in Verb. mit § 51
Abs. 2 Satz 2 AufenthG). § 51 Abs. 3 AufenthG fordert die Erfüllung der gesetzlichen
Wehrpflicht, sodass die vorübergehende Ausreiseverweigerung allein wegen der bestehenden
Wehrpflicht das Aufenthaltsrecht nicht zum Erlöschen bringt.518 Sonstige negative Folgen der
Wehrpflicht werden danach nicht berücksichtigt. Der Betroffene hat gegebenenfalls
nachzuweisen, dass er sich wegen der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht länger als sechs
Monate im Ausland aufgehalten hat und rechtzeitig wieder eingereist ist.
Rechtsschutz ist durch die Feststellungsklage zu erreichen. Gegenstand des Verfahrens ist ein
konkretes Rechtsverhältnis zwischen dem Betroffenen und der Behörde aufgrund einer
ausländerrechtlichen Norm. Es geht mithin um eine konkrete Rechtsbeziehung und damit um
mehr als das allgemeine Verhältnis zwischen Bürger und Staat.519 Mit der
Verpflichtungsklage kann das Klageziel nicht erreicht werden. Denn die Behörde beschränkt
sich auf den Hinweis auf die Gesetzeslage nach § 51 Abs. 1 AufenthG. Durch den Antrag auf
Erlass eines Verwaltungsaktes kann das klägerische Ziel ebenfalls nicht erreicht werden.
Denn im Streit steht ja gerade, ob ein einmal erteilter Verwaltungsakt und das darauf
beruhende konkrete Rechtsverhältnis fortbestehen. Einstweiliger Rechtsschutz ist über § 123
VwGO zu erlangen. Verbindet die Behörde den Hinweis auf die Gesetzeslage mit einer
Abschiebungsandrohung oder erfolgt der Hinweis im Rahmen einer Versagungsverfügung, ist
der Rechtsschutz im Rahmen der jeweiligen Verfügung anzustreben.
Muster:
Feststellungsklage und Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO bei Streit um die
Beendigung des Aufenthaltstitels wegen nicht nur vorübergehender Ausreise
An das
Verwaltungsgericht
Klage/ Antrag nach § 123 VwGO
der brasilianischen Staatsangehörigen
– Klägerin/Antragstellerin –
gegen
das Land Hessen, vertreten durch den Landrat des Kreises
– Beklagter/Antragsgegner –
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Es wird festgestellt, dass die Niederlassungserlaubnis der Klägerin weiter fortbesteht.
517
518
519
OVG NW, AuAS 2002, 86 (87).
OVG NW, AuAS 2002, 86 (87).
VG Bremen, InfAuslR 2006, 198 (201 f.).
152
Zugleich wird beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO den Antragsgegner zu
verpflichten, die Abschiebung bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Feststellungsverfahren auszusetzen.
VII. Ausweisung (§ 53 bis 56 AufenthG)
1.
Funktion der Ausweisung
Die Ausweisung hat ordnungsrechtlichen Charakter und soll einer künftigen Störung
vorbeugen, nicht aber ein bestimmtes Verhalten ahnden. Sie stellt weder eine Strafe noch
eine strafähnliche Maßnahme dar, sondern ist an ordnungsrechtlich orientiert.520
Rechtsgrundlage für die Ausweisung sind die Vorschriften der § 53 bis § 56 AufenthG in
Verbindung mit völkerrechtlichen Schutznormen sowie unabhängig von den nationalen
Vorschriften gemeinschaftsrechtliche Normen. Ausweisungsverfügungen, die vor dem 1.
Januar 2005 auf der Grundlage von § 45 bis 48 AuslG 1990 ergangen sind, werden nach § 53
bis 56 AufenthG beurteilt, wenn bis zum 1. Januar 2005 noch nicht über den Widerspruch
entschieden worden ist.521 Eine rechtswidrige bestandskräftige Ausweisung führt regelmäßig
nicht zu einem Rücknahmeanspruch, sondern nur zu einem Anspruch auf
ermessensfehlerfreie Bescheidung des Rücknahmeantrags.522 Nur wenn die Aufrechterhaltung
der Verfügung „schlechthin unerträglich“ wäre, ist die Rücknahme geboten.523
Die Ausweisung ordnet verbindlich an, dass der Betroffene das Bundesgebiet zu verlassen hat
(§§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), und begründet eine Sperrwirkung (§ 11 Abs. 1 Satz
2 AufenthG) für die Aufenthaltnahme.524 Im Hinblick auf ihre weiteren Rechtswirkungen
erledigt sich die Ausweisung nicht mit der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland.525
Die Ausweisung setzt einen erlaubten Aufenthalt nicht voraus, hat andererseits aber das
Erlöschen des Aufenthaltstitels zur Folge (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG). Das wirksame
Erlöschen des Aufenthaltstitels setzt keine Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung
voraus. Der Aufenthaltstitel erlischt danach nicht bereits mit Erfüllung des objektiven
Ausweisungstatbestandes, sondern erst mit Erlass der Ausweisungsverfügung. In diesem
Zeitpunkt wird der Aufenthalt unrechtmäßig, ohne dass es darauf ankommt, ob die Verfügung
vollziehbar ist. Anders verhält es sich bei der aufschiebend bedingten Ausweisung eines
Asylbewerbers (vgl. § 56 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Diese entfaltet ihre Rechtswirkung erst
mit dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens.
Die behördliche Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung führt zum
wirksamen Erlöschen des Aufenthaltstitels (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), ohne dass es auf
die Unanfechtbarkeit der Verfügung ankommt;
Wegfall der Erlaubnisfreiheit nach § 51 Abs. 5 Satz 1 AufenthG;
Wegfall der Fiktionswirkung (§ 81 Abs. 3 und 4 AufenthG);
Eintritt der Sperrwirkung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) und begründet die
520
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2001, 58.
OVG NW, NVwZ 2005, 968.
522
BVerwG, NVwZ 2008, 1024.
523
BVerwG, NVwZ 2007, 709.
524
BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285.
80BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285.
525
BVerwGE 106, 302 (305) = NVwZ 1998, 740 = EZAR 030 Nr. 6 = InfAuslR 1998, 285.
521
153
Zurückweisungsbefugnis (§ 15 Abs. 1 AufenthG).
Das BVerwG hat festgestellt, dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5.
Abschnitt nicht die Sperrwirkung der Ausweisung entgegensteht526 und bezieht dies nicht
lediglich auf § 25 Abs. 5 AufenthG. Im Übrigen besteht im Verfahren auf Befristung der
Ausweisung ein Anspruch, eine Obergrenze für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens
festzulegen.527
2.
Systematik des Ausweisungsrechts
Das Ausländerrecht unterscheidet zwischen der zwingenden Ausweisung (§ 53 AufenthG), der
Regelausweisung (§ 54 AufenthG) und der Ermessensausweisung (§ 55 AufenthG). Die
Ausweisung hat einen ordnungsrechtlichen Zweck, sodass der Gesetzgeber typisierende
Ausweisungstatbestände festlegen darf.528 Bei den Personen, die besonderen
Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG genießen, werden die zwingende und
Regelausweisung auf die jeweils nachfolgende Ausweisungsebene heruntergestuft (§ 56
Abs. 1 Satz 4 und 5 AufenthG). Nach der Rechtsprechung trägt damit bereits das Gesetz dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung. Weitere Härten können und müssen nach dem
BVerwG gegebenenfalls im Wege der Duldung oder der Befristung gemildert werden. 529
Die Abweichung von der Regelausweisung setzt einen „atypischen Geschehensablauf“
voraus, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der
gesetzlichen Regel beseitigt.530 Ob die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines
Regelfalles vorliegen, unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle, da es sich hierbei um
einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt.531 Nur wenn die Prüfung ergibt, dass ein
atypisches Ausnahmegeschehen vorliegt, wird das Ausweisungsermessen nach § 55 Abs. 3
AufenthG eröffnet.532 Wird dies verneint, bleibt es bei der Regelausweisung. Ein Ermessen
wird nicht eröffnet. Liegt ein Ausnahmetatbestand vor, steht die Ausweisung danach im
behördlichen Ermessen und erfolgt nach Maßgabe des § 55 Abs. 3 AufenthG. Dabei ist auch
der Ausweisungstatbestand nach § 54 AufenthG mit dem ihm zukommenden Gewicht in die
Güter- und Interessenabwägung einzubeziehen. Es kommt ihm indes nicht von vornherein ein
ausschlaggebendes Gewicht zu. Die Behörde kann jedoch auch die Entscheidung, ob ein
Ausnahmefall vorliegt, offen lassen und unmittelbar – negativ – nach Ermessen
entscheiden.533
3.
Besonderer Ausweisungsschutz
Das starre System des Ausweisungsrechts führt in der Verwaltungspraxis dazu, dass nur ganz
ausnahmsweise ein atypischer Regelfall angenommen wird. Um das Mandat erfolgreich
bearbeiten zu können, ist daher nach besonderen Schutznormen zu forschen. Diese enthält das
526
BVerwGE 129, 226 (239 f.) = InfAuslR 2008, 71 = AuAS 2008, 26; so auch VG Freiburg, InfAuslR
2008, 222 (223), unter Hinweis auf Art-. 8 EMRK.
527
Hess.VGH 2008, 7 (8).
528
BVerwG, InfAuslR 2000, 105 (106) = NVwZ-RR 2000, 320 = EZAR 031 Nr. 6.
529
BVerwG, InfAuslR 2000, 105 (106) = NVwZ-RR 2000, 320 = EZAR 031 Nr. 6.
530
BVerwG, InfAuslR 1995, 5 (6); 1996, 54; OVG NW, NVwZ-Beil. 1998, 57 (58); VGH BW, InfAuslR
1995, 232 (233)
531
BVerwG, InfAuslR 1995, 5 (6); 1996, 54; Hess. VGH, EZAR 032 Nr. 3; 032 Nr. 6; OVG Bremen,
EZAR 032 Nr. 8; a.A. Hailbronner, JZ 1995, 127 (128).
532
BVerwGE 101, 247 (257); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173.
533
BVerwGE 101, 247 (257); OVG NW, NVwZ-RR 1996, 173.
154
Gemeinschaftsrecht für Unionsbürger sowie langfristig Aufenthaltsberechtigte und damit
auch das Assoziationsrecht für türkische Arbeitnehmer und deren Angehörige sowie Art. 8
EMRK für faktische Inländer. Damit wird für die Zukunft das rigide und
menschenrechtsfeindliche deutsche Ausweisungssystem signifikant in seiner Bedeutung
verlieren.
a)
Ausweisungsschutz für Unionsbürger und drittstaatsangehörige Familienmitglieder
aa)
Allgemeine Grundsätze
§ 6 FreizügG/EU hat das Recht zur Aufenthaltsbeendigung im Blick auf Gemeinschaftsbürger
grundlegend verändert. An die Stelle der Ausweisung tritt nach § 6 FreizügG/EU die
Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts. Das FreizügG/EU gilt für alle
Unionsbürger und diesen rechtlich gleichgestellte Personen. Es erfasst auch Unionsbürger, die
nicht freizügigkeitsberechtigt sind. Die Vorschriften des FreizügG/EU sind zur Durchführung
der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts erlassen worden,
insbesondere zur Durchführung von Art. 39 Abs. 3 EGV. Sie sind folglich im Sinne der
entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen und der dazu ergangenen
Rechtsprechung des EuGH auszulegen. Danach sind Ausnahmen von dem Grundsatz der
Freizügigkeit eng zu verstehen.534 Ebenso folgt dies aus dem Umkehrschluss aus § 11 Abs. 2
FreizügG/EU.535
Die entgegenstehende Rechtsprechung des BVerwG, die allerdings auf der Grundlage zu § 1,
§ 12 AufenthG/EWG erging und nach der zu prüfen war, ob der von einer Ausweisung
Betroffene auch die Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts erfüllte, 536 ist damit nicht mehr
anwendbar. Der EuGH hatte bereits im Blick auf § 12 AufenthG/EWG festgestellt, dass
ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen Grundlage für eine
Ausweisungsverfügung ist.537
Das FreizügG/EU setzt die Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) um. Maßgebend
für die Auslegung und Anwendung deutschen Rechts sind die Vorschriften der Art. 27 ff. der
Richtlinie. Diese führt einen dreistufigen Ausweisungsschutz ein. Zunächst bestimmt Art. 27
RL 2004/38/EG, unter welchen Voraussetzungen ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger
und seine Familienangehörigen sein Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung verlieren kann. Diese Vorschrift nimmt die Vorgaben der Rechtsprechung des
EuGH auf. Mit der zunehmenden Verfestigung des Aufenthaltsrechts steigen die materiellen
Anforderungen. Nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts, also nach einem rechtmäßigen fünf
Jahre dauernden Aufenthalt (Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG) ist eine Ausweisung nur noch
aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ zulässig (Art. 28
Abs. 2 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Nach einem zehnjährigen Aufenthalt darf
die Ausweisung nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit verfügt werden
(Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU).
bb)
Ausweisungsschutz nach Art. 27 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU
Für den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz gilt, dass die Tatsache einer
strafrechtlichen Verurteilung für sich allein den Verlust der Freizügigkeit nicht rechtfertigt
(Art. 27 Abs. 1 RL 2004/38/EG § 6 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. FreizügG/EU). Vielmehr darf diese
nur ausschließlich auf das persönliche Verhalten des betroffenen Unionsbürgers gestützt
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (272) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri.
Hess.VGH, InfAuslR 2005, 130OLG Hamburg, InfAuslR 2006, 118 (119).
536
BVerwGE 121, 296 (311) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
537
EuGH, InfAuslR 2006, 299 (301)= NVwZ 2006, 1151 = EZAR 10 Nr. 4 – Kommission gegen
Bundesrepublik Deutschland.
534
535
155
werden.538 Der rechtmäßige Verlust der Rechtsstellung eines freizügigkeitsberechtigten
Unionsbürgers setzt damit zunächst voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des
Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung
darstellt, eine tatsächlich und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU).539 Dieser Maßstab
verweist anders als der polizeirechtliche Gefahrenbegriff nicht auf die Gesamtheit aller
Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse
der Gesellschaft, das berührt sein muss.540
Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts nur insoweit
rechtfertigen, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen
lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz
2 2. Hs. FreizügG/EU).541 Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des
abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass bei
schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer
Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive
Gesichtspunkte gestützte Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.542
Ein Mitgliedstaat kann etwa den Verbrauch von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der
Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutze der öffentlichen Ordnung
gegen Ausländer rechtfertigt. Auch insoweit hängt aber die Zulässigkeit der Ausweisung von
den konkreten Umständen des Einzelfalls, insbesondere von dem persönlichen Verhalten des
Betroffenen ab.543 Soweit die Rechtsprechung früher bei den gefährlichen und schwer zu
bekämpfenden Rauschgiftdelikten pauschal einen Vorrang des Interesses am Schutz der
Bevölkerung bejahte und deshalb insbesondere gegenüber Drogenhändlern die
Anforderungen an einen spezialpräventiven Ansatz für die Ausweisung nicht hoch ansetzen
wollte,544 ist diese überholt. Formelhafte behördliche Ausführungen zur Wiederholungsgefahr
genügen nicht den Anforderungen an individualisierbare Feststellungen.545 Eine vom
Einzelfall losgelöste Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig.546
Ob die Begehung der Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen
lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich ebenfalls nur aufgrund der
Umstände des Einzelfalls beurteilen. Anhaltspunkte hierfür können sich insbesondere auch
aus einer Verurteilung wegen der in § 53, § 54 AufenthG bezeichneten Straftaten ergeben.
Dies ist indes nicht im Sinne einer Regelvermutung zu verstehen. Erforderlich und
ausschlaggebend ist vielmehr in jedem Fall die unter Berücksichtigung der konkreten
Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des
Unionsbürgers und die insoweit anzustellende Gefährdungsprognose. Das Erfordernis der
538
BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Hinweis
auf EuGH, NVwZ 2004, 1099.
539
EuGH, NVwZ 2004, 1099 (1101); EuGH, EZAR 810 Nr. 1 = NJW 1983, 1250; BVerwGE 57, 61 (64) =
EZAR 126 Nr. 1; VGH BW, EZAR 124 Nr. 12.
540
BVerwGE 121, 296 (304 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
541
EuGH, NVwZ 2004, 1099 (1101).
542
BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Verweis
auf EuGH, Slg. 1975; 297 = NJW 1975, 1096; so bereits BVerwGE 49, 60 = NJW 1976, 494; BVerwG,
InfAuslR 1988.
543
BVerwGE 121, 296 (305) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18
544
VGH BW, InfAuslR 2001, 206 (207); OVG NW, InfAuslR 2004, 224 (227 f.); s. aber VG Stuttgart,
InfAuslR 2002, 66.
545
VG Hamburg, InfAuslR 2002, 188 (189).
546
BVerwGE 121, 296 (304) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18, mit Verweis
auf EuGH, Slg. 1975; 297 = NJW 1975, 1096; so bereits BVerwGE 49, 60 = NJW 1976, 494; BVerwG,
InfAuslR 1988.
156
gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach Art. 27 Abs. 2 2. UAbs. RL
2004/38/EG, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU besagt nicht, dass eine „gegenwärtige Gefahr“
im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des
Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine
hinreichende unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des
möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
differenzierende Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene künftig die öffentliche Ordnung im
Sinne von Art. 39 Abs. 3 EGV beeinträchtigen wird.547
Ob eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nicht gleichsam automatisch –
bereits aus der Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung – geschlossen, sondern nur
aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Dabei
sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit
sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist u.a., ob eine
etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die
öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird, und was gegebenenfalls aus
einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) folgt. Fehlt es danach bereits an einer
gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für wichtige Rechtsgüter, so darf die
Feststellung des Verlustes der Rechtsstellung nicht verfügt und aufrechterhalten werden.548
Nach der Rechtsprechung kann eine auf konkreten Prognosetatsachen beruhende
Wiederholungsgefahr bei schwerwiegender Kriminalität auch dann nicht ohne weiteres
unterstellt werden, wenn sich der Betroffene nach der Begehung der letzten Straftat etwa über
mehrere Jahre straffrei verhalten und jedenfalls für diesen Zeitraum die Prognose widerlegt
hat, er könne rückfällig werden. Selbst wenn der geltend gemachten Stabilisierung auch
während der Haftzeit keine besondere Bedeutung zuzumessen wäre, so fehlt es doch in
Ansehung des mehrjährigen straffreien Aufenthalts an brauchbaren Anhaltspunkten für die
Annahme, der Betroffene werde nach Haftentlassung erneut versuchen, seinen
Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch Straftaten zu finanzieren.549 Die gebotene Prognose
erfordert daher stets zureichende individualisierbare Feststellungen,550 wozu insbesondere
auch eine persönliche Anhörung des Betroffenen gehört.551
Die Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) steht einer spezialpräventiv begründeten
Ausweisung grundsätzlich entgegen.552 Für die Strafaussetzung der Reststrafe (§ 57 StGB)
gilt dies indes nicht.553 Sie kann jedoch gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr
sprechen.554 Die Gefahrenprognose der Ausländerbehörde darf sich im Hinblick auf die vom
Strafgericht oder vom Bewährungshelfer festgestellte günstige Sozialprognose insbesondere
nicht als unzutreffend erweisen.555
cc)
Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte (Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG, §
6 Abs. 4 FreizügG/EU)
547
BVerwGE 121, 296 (305 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
BVerwGE 121, 296 (306) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18.
549
Hess. VGH, InfAuslR 2004, 144 (146).
550
VG Hamburg, InfAuslR 2000, 432.
551
VG Hamburg, InfAuslR 2002, 188 (189), gegen OVG Hamburg, InfAuslR 2001, 420 (421) = EZAR
034 Nr. 10.
552
BVerwGE, 57, 61 (66 f.); BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1120); VGH BW, InfAuslR 2001, 206 (207):
553
BVerwG, InfAuslR 1988, 1; VGH BW, InfAuslR 1992, 158 (159); OVG NW, InfAuslR 2004, 195
(196).
554
BVerwG, InfAuslR 1988, 1 (2).
555
Hess.VGH, EZAR 034 Nr. 1; a.A. OVG NW, InfAiuslR 2004, 195 (196).
548
157
Nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG dürfen gegen daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger
und ihre Familienangehörigen eine Ausweisung nur aus „schwerwiegenden Gründen der
öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ verfügen. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU setzt diese Norm
um. Nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erwerben Unionsbürger und deren Familienangehörigen
bzw. Lebenspartner das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich seit fünf Jahren ständig
rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Die Gesetzesbegründung enthält allerdings
keine Hinweise darauf, wie dieser Auseisungsschutz inhaltlich konkretisiert werden kann.
Aus der Entstehungsgeschichte wird indes deutlich, dass es sich um einen besonders starken
Ausweisungsschutz
handelt.
Zwar
wollte
die
Kommission
für
die
Daueraufenthaltsberechtigten die Ausweisung völlig ausschließen. Mit dieser Auffassung
konnte sie sich jedoch nicht durchsetzen.556 Es muss aber davon ausgegangen werden, dass
Daueraufenthaltsberechtigte nur noch unter ganz besonders strengen Voraussetzungen
ausgewiesen werden können. Die Ausweisungsschwelle liegt zwischen der erheblichen
Gefahr (Art. 27 Abs. 2 2. UAbs. RL 2004/38/EG) und den zwingenden Gründen des Art. 28
Abs. 3 RL 2004/38/EG.
dd)
Zwingende Gründe nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU
Nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG darf eine Ausweisung gegen Unionsbürger, die ihren
Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, sowie gegen
minderjährige Unionsbürger nur noch aus zwingenden Gründen verfügt werden. Die
Einbeziehung der drittstaatsangehörigen Familienangehörigen § 6 Abs. 5 FreizüG/EU in den
Schutz der dritten Stufe ist nach Art. 37 RL 2004/38/EG zulässig.557 Bei Minderjährigen wird
kein Mindestaufenthalt vorausgesetzt. Der Begriff der „zwingenden Gründe“ ist erheblich
enger als der der „schwerwiegenden Gründe“ und erfordert einen „besonders hohen
Schweregrad“ der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit.558 Art. 28 Abs. 3 Buchst. a)
RL 2004/38/EG verlangt keinen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt.559 Bei
Auslandsaufenthalten kommt es unter Berücksichtigung von Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG
auf die Gesamtdauer, die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die hierfür maßgeblichen
Gründe an. Maßgeblich ist. ob sich aufgrund der Abwesenheiten der Mittelpunkt der
persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen verlagert hat. Der
Umstand, dass er zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe zwangsweise in den
Aufnahmemitgliedstaat zurück gebracht wurde und die Haftzeit, können für die Prüfung heran
gezogen werden, ob die Integrationsverbindungen abgerissen sind.560 Die Vorschrift erfordert
kein Durchlaufen der vorangegangenen Stufen und damit den Nachweis des
Daueraufenthaltsrechts.561 Die zwingenden Gründe müssen durch die Mitgliedstaaten
festgelegt werden. In Abgrenzung zu den beiden ersten Stufen muss es sich um
außergewöhnlich schwere Straftaten handeln.
Nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU können zwingende Gründe nur dann vorliegen, wenn
der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer
Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten
rechtkräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit
der Bundesrepublik betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr
556
Hailbronner, ZAR 2004, 299 (303).
Welte, ZAR 2009, 336 (342).
558
EuGH, InfAuslR 2011, 45 (47) = NVwZ 2011, 221 Rn 40 f. – Tsakouridis.
559
VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357); Welte, ZAR 2009, 336 (342).
560
EuGH, InfAuslR 2011, 45 (46) = NVwZ 2011, 221 Rn 33 f. und 38 – Tsakouridis.
561
VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (357); a.A. Welte, ZAR 2009, 336 (342).
557
158
ausgeht. Bei mehreren Verurteilungen erfolgt keine Kumulation. Vielmehr muss eine dieser
Verurteilung mindestens den Strafrahmen von fünf Jahren überschritten haben. 562 Es handelt
sich lediglich um ein Mindeststrafmaß. Die Behörde hat anschließend zu prüfen, ob ein
Schutzgut der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik betroffen ist 563 und eine
Wiederholungsgefahr besteht. Die abstrakt auf den Strafrahmen abstellende Fallgruppe ist mit
Unionsrecht unvereinbar.564 Vielmehr ist stets nach Maßgabe der verwirkten und verhängten
Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens
und gegebenenfalls der Rückfallneigung zu prüfen, ob eine außergewöhnlich schwere
Bedrohung der öffentlichen Sicherheit besteht. Der Begriff der öffentlichen Ordnung, der die
Wahrung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zum Gegenstand hat, unterscheidet sich
wesentlich vom Begriff der öffentlichen Sicherheit. Daher ist es verfehlt, in den Gründen der
öffentlichen Sicherheit lediglich eine quantitative Steigerungsform der Gründe der
öffentlichen Ordnung zu sehen.565
Als Ausnahme von der durch die Grundfreiheiten etablierten Freizügigkeit ist der Begriff der
öffentlichen Sicherheit eng auszulegen.566 Es handelt sich um einen unionsrechtlich
auszulegenden Begriff, sodass seine Tragweite nicht einseitig von jedem Mitgliedstaat ohne
Nachprüfung der Organe der Gemeinschaft bestimmt werden darf.567 Der Begriff der
öffentlichen Sicherheit, auf den sich § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU bezieht, ist nicht im
Sinne des allgemeinen Polizeirechts zu verstehen, sondern verweist auf die innere und äußere
Sicherheit des Staates. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit kann als Beschränkung der
Freizügigkeit nur geltend gemacht werden, wenn für die Existenz des Staates wesentliche
Belange gefährdet sind.568 Dabei umfasst dieser sowohl die äußere wie auch die innere
Sicherheit des Staates, der sich auf sie beruft.569 Die innere Sicherheit umfasst den Bestand
des Staates, seiner Einrichtungen und wichtigen Dienste sowie das Überleben der
Bevölkerung.570 Der betroffene Staat darf sich hierbei allerdings nicht auf die bloße
Feststellung einer möglichen Gefährdung seiner Einrichtungen beschränken. Vielmehr muss
er auch qualifiziert dartun, dass eine Anwendung der unionsrechtlichen Regeln der
Freizügigkeit solche Folgen für seine innere Sicherheit zeitigen würde, die er trotz der ihm zur
Verfügung stehenden Mittel nicht anders abwenden könnte und denen er trotzdem nicht
gewachsen wäre.571 Grundsätzlich beschränkt der EuGH den Begriff der zwingenden Gründe
auf den engen Sicherheitsbegriff und bestätigt damit die Rechtsprechung und Lehre, wonach
die Ausweisung wegen zwingender Gründe nicht dem privaten Rechtsgüterschutz, sondern
nur dem Schutz des Bestands und der Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner
Einrichtungen und den zwischenstaatlichen Beziehungen dient, sodass insbesondere die
Verurteilung wegen eines Staatsschutzdeliktes und terroristischer Aktivitäten eine
Ausweisung aus zwingenden Gründen rechtfertigen kann.572 Eine Ausnahme macht der EuGH
562
BayVGH, InfAuslR 2009, 267 (268).
VGH BW, InfAuslR 2008, 439.
564
EuGH, InfAuslR 2011, 45 (48) = NVwZ 2011, 221 Rn 51 – Tsakouridis; Alexy, in: Hofmann/Hoffmann,
Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33 f.
565
Alexy, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33.
566
EuGH, Rs. C-348/96 – Calfa, Slg. 1999, I-11, Rn 20 ff.
567
EuGH, Rs. 41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn 18/19; Rs. 36/75 – Rutili, Slg. 1975, 1219, Rn 26/28;
Rs. 30/77 – Boucherau, Slg. 1977, 1999, Rn 33/35.
568
EuGH, Rs. 72/83 – Campus Oil Limited, Slg. 1984, 2727, Rn 34.
569
EuGH, Rs. C-367/89 – Richardt, Slg. 1991, I-4621, Rn 22.
570
EuGH, Rs. 72/83 – Campus Oil Limited, Slg. 1984, 2727, Rn 34.
571
EuGH, Rs. 231/83 – Cullet, Slg. 1985, 305, Rn 33; Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I6959, Rn 55 f.
572
VGH BW, InfAuslR 2008, 439; VG Düsseldorf, InfAuslR 2006, 356 (358); Alexy, in: Hofmann/Hoffmann,
Handkommentar zum AuslR, § 6 FreizügG/EU Rn 33 f.; Welte, ZAR 2009, 336 (342); VGH BW, InfAuslR
563
159
wegen des außergewöhnlichen Charakters der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit bei
„bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln.“ Um zu beurteilen, ob bei einer
Verurteilung wegen eines derartigen Deliktes die Ausweisung verhältnismäßig ist, „sind
insbesondere die Art der begangenen Zuwiderhandlung, die Dauer des Aufenthaltes des
Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat, die seit der Begehung der Zuwiderhandlung
vergangene Zeit und das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit sowie die Intensität der
sozialen, kulturellen und familiären Bindungen“ zu berücksichtigen.573 Nicht der private
Rechtsgüterschutz, sondern wie auch bei terroristischen Taten, rechtfertigt die aus den
internationalen Vernetzungen folgende besonders schwere Bedrohung der öffentlichen
Sicherheit danach die Ausweisung.
ee)
Verbot der Anwendung der Ausweisungssystematik nach § 53 bis 56 AufenthG
Nach der Rechtsprechung des EuGH stehen Art. 39 EGV und Art. 3 der Richtlinie
64/221/EWG innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder einer innerstaatlichen Praxis entgegen,
wonach die Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen, der wegen bestimmter Delikte zu
einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände
auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein
persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt,
gebührend berücksichtigt werden. Da nach Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG allein das
persönliche Verhalten maßgebend und eine vom Einzelfall losgelöste oder auf
Generalprävention verweisende Begründungen unzulässig sind, wird diese Rechtslage durch
die nunmehr geltende Freizügigkeitsrichtlinie bestätigt. Mit diesen Grundsätzen ist die
zwingende Ausweisung nicht vereinbar. Vielmehr haben die Behörden in jedem Einzelfall
einen angemessenen Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen unter
Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere unter
Wahrung der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des Familienlebens vorzunehmen.574
Das BVerwG hat bereits wenig Monate nach Orfanopolous und Oliveri seine frühere
Rechtsprechung geändert und dies damit begründet, dass das System der Regelausweisung für
den Gerichtshof den Anschein erwecke, dass bei der Erfüllung der gesetzlichen
Regeltatbestände ein gewisser Automatismus oder jedenfalls eine „Vermutung“ bestehe, den
Betroffenen trotz Berücksichtigung familiärer Umstände auszuweisen. Hieraus folge, dass §
47 AuslG 1990, jetzt § 53, § 54 AufenthG als Rechtsgrundlage für die Ausweisung
freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ausscheide. Diese dürften nur noch nach § 12
AufenthG/EWG, jetzt § 6 FreizügG/EU in Verbindung mit § 45, § 46 AuslG 1990, jetzt § 55
AufenthG auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. § 12
AufenthG/EWG sei dabei vorrangig und nicht lediglich ergänzend zu § 45, § 46 AuslG 1990
zu prüfen.575
ff)
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist bei der Ausweisung von Gemeinschaftsangehörigen
in Abweichung vom deutschen Recht für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den
Tag der letzten mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichtes abzustellen. Begründet
2009, 268; OVG NW, NVwZ-RR 2010, 79 (LS), beide Vorabentscheidungsersuchen zu dieser Frage an den
EuGH; zum Sicherheitsbegriff des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG siehe auch VG Münster, EZAR NF 40 Nr. 10.
573
EuGH, InfAuslR 2011, 45 (47 f.) = NVwZ 2011, 221 Rn 44–56 – Tsakouridis.
574
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri.
575
BVerwGE 121, 296 (302 f.) = EZAR 034 Nr. 17 = NVwZ 2005, 220 = InfAuslR 2005, 18; BVerwGE
121, 315 (321) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 224 = InfAuslR 2005, 26; bekräftigt BVerwG, NVwZ 2006,
475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38; so auch OLG Karlsruhe, InfAuslR 2007, 118.
160
wird dies damit, dass Art. 3 RL 64/221/EWG einer innerstaatlichen Praxis entgegenstehe,
wonach die innerstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet seien, bei der Prüfung der
Rechtmäßigkeit der gegen einen Gemeinschaftsangehörigen verfügten Ausweisung ein
Sachvorbringen zu berücksichtigen, das nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt sei
und das den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen
Gefährdung mit sich bringen könne, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche
Ordnung darstellen würde. Dies sei vor allem der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen
dem Erlass der Ausweisungsverfügung und der Beurteilung durch das zuständige Gericht
liege.576 Da Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38/EG eine gegenwärtige Gefahr voraussetzt,
bleibt es bei der bisherigen Rechtslage.
b)
Ausweisungsschutz für langfristig Daueraufenthaltsberechtigte (Art. 12 RL
2003/109/EG)
Der Gesetzgeber hat die langfristig Aufenthaltsberechtigten in das rigide Korsett des
deutschen Ausweisungsrechts gesteckt (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AufenthG). Hiergegen
ist nach dem Grundsatz der richtlinienkonformen Anwendung nationalen Rechts unmittelbar
auf Art. 12 RL 2003/109/EG zurückzugreifen. Zutreffend ist zwar, dass der dreistufige
Ausweisungsschutz nach Art. 27 bis 28 RL 2004/38/EG nicht auf den Ausweisungsschutz
nach der Daueraufenthaltsrichtlinie übertragen werden kann. Zur Bestimmung der
gegenwärtigen, hinreichend schweren Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit sind
jedoch dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie sie der EuGH und im Anschluss daran das
BVerwG für den Ausweisungsschutz der Unionsbürger entwickelt haben. Endgültige Klärung
wird jedoch erst durch den EuGH erfolgen können, wobei für die Daueraufenthaltsrichtlinie
Art. 68 Abs. 1 Satz 1 EGV bestimmt, dass unterinstanzliche Gerichte nicht befugt sind, dem
EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens eine Frage der Gültigkeit oder Auslegung
von auf Titel IV EGV gestützten Rechtsakten vorzulegen.577Nach Inkrafttreten der Richtlinie
hat der EuGH aus dem Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen
Sicherheit oder Ordnung abgeleitet, dass eine Ausweisung nur auf das persönliche Verhalten
des Betroffenen gestützt werden könne und nationale Regelungen, die automatisch aufgrund
einer strafrechtlichen Verurteilung eine Ausweisung verfügten, mit Gemeinschaftsrecht
unvereinbar seien.578 Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG setzt eine konkrete
Einzelfallentscheidung voraus. Die Ausweisung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist
nur zulässig, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche
Ordnung oder Sicherheit darstellt. Bereits der Wortlaut gebietet damit eine Berücksichtigung
des persönlichen Verhaltens und ist mit dem Automatismus des deutschen
Ausweisungsrechtes unvereinbar.579 Verstärkt wird dies auch durch die Aufzählung der
Ermessensbelange in Art. 12 Abs. 3 RL 2003/109/EG, die nur dahin verstanden werden
können, dass in jedem konkreten Einzelfall eine Ermessensentscheidung nach Maßgabe der in
Art. 12 Abs. 3 RL 2003/109/EG bezeichneten Vorgaben zu treffen ist.
c)
Ausweisungsschutz für assoziationsrechtlich privilegierte türkische Arbeitnehmer
Das BVerwG hat festgestellt, dass wegen Orfanopolous und Oliveri auch bei türkischen
Staatsangehörigen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen können, von
veränderten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Ausweisung auszugehen sei.
Zwar beziehe sich Orfanopolous und Oliveri auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger.
576
577
578
579
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275 f.) = NVwZ 2004, 1099 – Orfanopolous und Oliveri.
S. hierzu ter Steeg, ZAR 2006, 268.
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (272) = NVwZ 2004, 1099– Orfanopoulos und Oliveri.
EuGH, InfAuslR 2004, 268 (275) = NVwZ 2004, 1099– Orfanopoulos und Oliveri
161
Diese Entscheidung sei jedoch hinsichtlich ihrer materiell-rechtlichen Grundsätze auf
türkische Staatsangehörige, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB
1/80 besitzen, zu übertragen.580 Ausdrücklich stellt das BVerwG fest, dass im Blick auf
assoziationsrechtlich privilegierte türkische Arbeitnehmer die zwingende und
Regelausweisung unzulässig sei. Das deutsche Ausweisungsrecht darf danach auch nicht
ergänzend angewendet werden. Vielmehr finden für die Gefährdungsprognose wie für die
Ermessensgrundsätze sowie für den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt die für
Unionsbürger maßgeblichen Grundsätze Anwendung.581
Aus der Übertragung der für Unionsbürger geltenden Grundsätze auf assziationsrechtlich
privilegierte türkische Arbeitnehmer ergibt sich, dass eine Ausweisung in diesen Fällen nicht
nach dem System der zwingenden und Regelausweisung, sondern ausschließlich nur aus
spezialpräventiv motivierten Erwägungen zulässig ist.582 Diese Grundsätze waren allerdings
bereits vor der Klarstellung durch das BVerwG anerkannt. Nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80
gelten die Rechte aus dem ARB 1/80 vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der
öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Die Ausweisung
türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 besitzen,
beurteilt sich folglich wegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nach Gemeinschaftsrecht.583 Zwar
kann die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung
angesehen werden. Doch ist die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eng auszulegen, sodass
eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen kann, als die ihr
zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine
gegenwärtige Störung der öffentlichen Ordnung darstellt. Die auf generalpräventive
Gesichtspunkte gestützte Ausweisung ist daher unzulässig.584 Eine – nach deutschem Recht –
verfügte Regelausweisung, die aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung für eine
bestimmte Straftat zum Zwecke der Generalprävention verfügt werde, ist deshalb mit Art. 14
Abs. 1 ARB 1/80 unvereinbar.585.
Mit unionsrechtlichen Grundsätzen ist es deshalb unvereinbar, die Ausweisung tragend oder
auch nur mittragend auf andere als in der persönlichen Gefährlichkeit des Betroffenen
liegende generalpräventive Erwägungen zu stützen. Die Annahme, die Ausweisung könne
neben primär spezial- auch aus hilfsweise und ergänzend vorgebrachten generalpräventiven
Gründen verfügt werden, ist mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar. Generalpräventive
Erwägungen sind nur zulässig, wenn und soweit die Ausweisung ausschließlich – etwa bei
den nicht durch Gemeinschaftsrecht privilegierten türkischen Staatsangehörigen ohne
580
BVerwGE 121, 315 (318 f.) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; so auch
Hess.VGH, InfAuslR 2005, 184 (185 f.); a.A. OVG NW, EZAR 19 Nr. 7.
581
BVerwGE 121, 315 (319 f.) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; BVerwG,
NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAs 2006, 38.
582
BVerwGE 121, 315 (319) = EZAR 037 Nr. 10 = NVwZ 2005, 225 = InfAuslR 2005, 26; BVerwG,
NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAs 2006, 38; OVG NW, AuAS 2006, 125 )(126); Harald
Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1226).
583
BVerwGE 101, 247 (263) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwG,
NVwZ 1997, 1119 (1123) = EZAR 035 Nr. 20 = InfAuslR 1997, 296; BVerwG, NVwZ 1999, 303 (305) =
EZAR 037 Nr. 1; BayVGH, NVwZ-RR 2002, 696 (697) = InfAuslR 2002, 348; VGH, EZAR 033 Nr. 9; OVG
NW, NVwZ-Beil. 1998, 58 (59); VGH BW, EZAR 035 Nr. 28; VGH BW, NVwZ-RR 2001, 134 (137) = EZAR
029 Nr. 13; VGH BW, InfAuslR 2002, 375 (378); Vormeier, in: GK-AuslR, § 45 AuslG Rn 191; Renner,
Ausländerrecht in Deutschland, S. 571 m.Hw.; VGH BW, InfAuslR 1999, 59 (66 f.); OVG Hamburg, InfAuslR
1999, 169 (172); a.A. OVG Bremen, EZAR 032 Nr. 8; Dörig, DVBl. 2005, 1221 (1226).
584
EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) = NVwZ 2000, 1029 - Nazli; Hess. VGH, InfAuslR 2000, 428 =
EZAR 029 Nr. 12.
585
EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) = NVwZ 2000, 1029 – Nazli.
162
Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 – auf nationales Recht gestützt werden kann.586 Derzeit
ist umstritten, ob Art. 28 RL 2004/38/EG auch auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische
Arbeitnehmer Anwendung findet. Es liegen dem EuGH hierzu Vorabersuchen deutscher
Verwaltungsgerichte vor. Für die Anwendbarkeit der Richtlinie spricht, dass der EuGH in
ständiger Rechtsprechung entschieden hat, dass die im EG-Vertrag verankerten
Freizügigkeitsrechte soweit wie möglich auf Assoziationsberechtigte übertragen werden
müssen. Bei der Bestimmung des Umfangs von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 stellt der EuGH
darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von Unionsbürgern ausgelegt wird. Es
kommt danach darauf an, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung eine „tatsächliche
und hinreichend schwere Gefährdung“ vorliegen muss, die ein Grundinteresse der
Gesellschaft berührt.587
Nach dem Zweck der Richtlinie 2003/38/EG und bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des
EuGH und diesem folgend des BVerwG stellt diese eine weitere Konkretisierung und
Ausgestaltung des Art. 39 Abs. 3 EGV dar. Der EuGH hat die Ausgestaltungen und
Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen auf Assoziationsberechtigte
übertragen. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass dies bei der Richtlinie
2004/38/EG anders zu sehen sein könnte. Vielmehr erscheint die „Stufenfolge“ der
Ausweisungseinschränkungen nach Art. 28 RL 2004/38/EG, also das Erfordernis von
schwerwiegenden
Gründen
der
öffentlichen
Ordnung
und
Sicherheit
bei
Daueraufenthaltsberechtigten und das grundsätzliche Ausweisungsverbot nach zehnjährigem
Aufenthalt als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und ist deshalb eine
Anwendung auf Assoziationsberechtigte geboten.588 Demgegenüber verweist die
Gegenmeinung allein darauf, dass die Freizügigkeitsrichtlinie nach ihrem Wortlaut nur auf
Unionsbürger Anwendung finde.589 Inzwischen liegt diese Frage aufgrund eines deutschen
Vorabersuchens590 dem EuGH zur Klärung vor.
d)
Insbesondere Ausweisungsschutz für Familienangehörige Art. 7 Satz 1 ARB 1/80
Neben den nach Art. 6 ARB 1/80591 erworbenen Rechten kommt für den unionsrechtlichen
Ausweisungsschutz insbesondere Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 eine
besondere Bedeutung zu. Danach haben die Familienangehörigen eines dem regulären
Arbeitsmarkt angehörigen türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu
ihm zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder
Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen
Wohnsitz haben. Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts setzt zwangsläufig die Existenz
eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das ebenfalls auf Gemeinschaftsrecht beruht.
Die Voraussetzung eines fünfjährigen Aufenthaltes ist auch erfüllt, wenn der
Familienangehörige in Deutschland geboren ist und stets dort gelebt hat.592
586
BVerwG, NVwZ 2006, 475 (476) = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38.
EuGH, InfAuslR 2000, 161 (164) – Nazli; EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15) – Cetinkaya; EuGH,
InfAuslR 2005, 252 (354) – Aydinlik.
588
Hess.VGH, InfAuslR 2006, 393 = AuAS 2006, 231 = NVwZ 2006, 1311 (LS); Hess.VGH, InfAuslR
2007, 98; VG Karlsruhe, U. v. 9. 11. 2006 – 2 K 1559/06; a.A. Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 287 (288) =
InfAuslR 2005, 453; Nieders.OVG, NVwZ 2006, 1304; Nieders.OVG, B. v. 5. 10. 2005 – 11 ME 247/05; OVG
NW, InfAuslR 2006, 257 (258) = AuAS 2006, 124 (125).
589
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2005, 654 (655)
590
VGH BW, InfAuslR 2008, 439 (nur LS); VG Berlin, AuAS 2009, 5.
591
S. hierzu § … Rdn…
592
BVerwG, NVwZ 2006, 475 = InfAuslR 2006, 114 = AuAS 2006, 38.
587
163
Nach der Rechtsprechung des EuGH verliert der Betroffene das Recht aus Art. 7 Satz 1 ARB
1/80 nur, wenn die Voraussetzungen für eine Ausweisung nach Art. 14 ARB 1/80 vorliegen
oder wenn er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum
ohne berechtigte Gründe verlässt.593 Aus dieser Rechtsprechung wird in der
Kommentarliteratur geschlossen, dass Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 keine anspruchsvernichtende
Regelung entsprechend Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 enthalte. Freiwillige oder unfreiwillige
Arbeitslosigkeit sei deshalb für die Ausübung der Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80
unschädlich. Der assoziationsrechtliche Anspruch aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 diene gerade
nicht der Verwirklichung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, sondern der sozialen Integration der
Familie.594 Aus dieser Rechtsprechung des EuGH folgt, dass Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 den
Familienangehörigen zwar Zugang zu einer Beschäftigung gewährt, ihnen aber keine
Verpflichtung auferlegt, eine solche auszuüben.595 Damit wird Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 in der
Praxis zum zentralen Anknüpfungspunkt für das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht und
verliert Art. 6 ARB 1/80 damit an Bedeutung.596 Die Nichtaufnahme einer Beschäftigung
führt ebenso wenig zum Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 wie eine
längere Abwesenheit vom Arbeitsmarkt wegen einer mehrjährigen Inhaftierung mit
anschließender Drogentherapie. Vielmehr unterliegt nach der Rechtsprechung des EuGH das
Aufenthaltsrecht des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 lediglich zweierlei Beschränkungen: Einerseits
ermöglicht es Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80, das Aufenthaltsrecht unter den dort genannten
Voraussetzungen zu beschränken. Zum anderen verliert der Familienangehörige bei
dauerhafter Ausreise ohne berechtigte Gründe die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. 597
Ungeklärt ist, ob die Verbüßung einer Freiheitsstrafe in der Türkei zum Verlust der
Rechtsstellung führt.598Die Vorschrift lässt es deshalb nicht zu, dass die hieraus folgenden
Rechte wegen einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, der sich eine Drogentherapie
anschließt, wegen längerer Abwesenheit vom Arbeitsmarkt beschränkt werden.599
e)
Ausweisungsschutz nach Art. 8 EMRK für „faktische Inländer“
Wer sich auf den besonderen Ausweisungsschutz des Europarechts nicht berufen kann, kann
nach den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung in Anlehnung an die Rechtsprechung des
EGMR600 für „faktische Inländer“ entwickelt worden sind, besonderen Ausweisungsschutz
genießen, der allerdings im Rahmen der §§ 53 ff. AufenthG materialisiert wird, deren
Rigidität indes mildert. Das BVerwG hatte zunächst vorsichtig angedeutet, dass bei
„faktischen Inländern“ die Ausweisung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
kollidieren könne.601 In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird darauf hingewiesen, dass
der Gesetzgeber durch die Regelung der zwingenden Ausweisung nicht die Schutznorm von
Art. 8 EMRK habe aufheben wollen.602 Die Rechtsprechung bleibt jedoch ungeachtet des
EuGH, InfAuslR 2005, 13 (15 f.) – Cetinkaya.
Gutmann, in: GK AufenthG, IX – Art. 7 Rdn. 87.
595
EuGH, NVwZ 2007, 1393 (1395), § 35 = ZAR 2007, 365 – Derin; Nieders.OVG, InfAuslR 2006, 314.
596
Mallmann, ZAR 2006, 50 (54).
597
EuGH, NVwZ 2007, 1393 (1395), § 35 = ZAR 2007, 365 – Derin, mit Hw. Auf EuGH-Rspr.
598
So Nieders.OVG, InfAuslR 2009, 54 (56).
599
EuGH, InfAuslR 2005, 13 (16) – Cetinkaya; Hess.VGH, InfAuslR 2005, 132 = NNVwZ-RR 2005, 571;
OVG Rh-Pf, InfAuslR 2005, 238 (241); VGH BW, InfAuslR 2007, 49 (50); Otto Mallmann, ZAR 2006, 50 (52).
600
Zur aktuellen Rechtsprechung s. EGMR, InfAuslR 2008, 333 – Maslow I; EGMR, InfAuslR 2008, 333
– Maslow II; EGMR, InfAuslR 2008, 336 – Emre; EGMR, InfAuslR 2008, 333 – Chair; EGMR, NVwZ 2008,
59 = InfAuslR 2007, 425 – Polat;EGMR, NVwZ 2007, 1279 – Üner; s. auch Truchseß, InfAuslR 2007, 332.
601
BVerwG, NVwZ 1999, 303 (305) = InfAuslR 1999, 54; ebenso BayVGH, InfAuslR 2001, 123 (124);
VGH BW, InfAuslR 2001, 119 (121) = NVwZ-Beil. 2001, 17 = EZAR 032 Nr. 16; VG Berlin, InfAuslR 2003,
313 (320); VG Oldenburg, InfAuslR 2003, 433 (435) = AuAS 2003, 21; weniger kritisch BerlVerfGH, NVwZRR 2001, 61 (62); VG München, InfAuslR 2002, 365 (366) = AuAS 2002, 150.
602
VGH BW, InfAuslR 2001, 286 (288) = NVwZ-Beil. 2001, 81 = EZAR 031 Nr. 7; VGH BW, NVwZBeil. 2001, 51 = InfAuslR 2002, 2; VGH BW, AuAS 2003, 64 (66); s. auch BayVGH, AuAS 2003, 5.
593
594
164
abstrakten Bekenntnisses zu Art. 8 EMRK in der konkreten Umsetzung rigide. So bringt sie
Art. 8 EMRK z.B. erst bei einem ledigen und kinderlosen Angehörigen der zweiten
Generation zur Anwendung, wen, wenn keinerlei Bindungen zum Heimatstaat mehr bestehen.
Die Rechtsprechung geht jedoch davon aus, dass solche über die Familie vermittelte
Bindungen im Regelfall vorhanden sind.603 Es geht hier um lebensgeschichtlich an das
Bundesgebiet gebundene Delinquenz und soziale Fehlentwicklungen, auf die deshalb auch
ausschließlich im Bundesgebiet mit den herkömmlichen, auf Straftaten und abweichendes
Verhalten reagierenden strafrechtlichen und individualpsychologischen Maßnahmen,
insbesondere aber mit erzieherischen und sozialpolitischen Mitteln, geantwortet werden sollte.
Gegen die restriktive Rechtsprechung bilden sich gegenläufige Tendenzen heraus.
So wird darauf hingewiesen, es sei einem Ehepartner nicht zuzumuten, dem ausgewiesenen
Ehegatten in dessen Herkunftsland oder in ein anderes Land zu folgen. Stelle der Betroffene
eine vergleichweise geringe Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, könne die Ausweisung
nach Art. 8 EMRK unverhältnismäßig sein. Seien die Interessen des Ehepartners
schutzwürdig und ihm eine Begleitung des Ehegatten nicht zumutbar, sei eine Ausweisung
nur zulässig, wenn hinreichend gewichtige spezialpräventive Gründe vorliegen würden.
Fehlten derartige Gründe, sei die Ausweisung unverhältnismäßig.604 Daraus ist zu schließen,
dass eine generalpräventiv begründete Ausweisung mit Art. 8 EMRK unvereinbar ist.
Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass Art. 8 EMRK inhaltlich einen über das deutsche
Ausweisungsrecht hinausgehenden Schutz gewähre. Der EGMR verlange in jedem Einzelfall
eine umfassende Abwägung, bei der je nach dem Gewicht der Belange des Ehegatten
generalpräventive Gründe als Rechtfertigung für die Ausweisung ausscheiden können.605
Inzwischen werden auch in der deutschen Rechtsprechung erhebliche Bedenken gegen eine
generalpräventiv begründete Ausweisung gegenüber faktischen Inländern angemeldet. 606 Das
BVerwG hat diese jedoch zurückgewiesen.607 Die Rechtsprechung des EGMR räumt den
öffentlichen Interessen nicht von vornherein über die Kategorie des Regelfalles ein zunächst
die individuellen Interessen überragendes Gewicht bei. Darüber hinaus wird bei der Prüfung
des Regelfalles anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur eine „Grobabwägung“
vorgenommen.608 Die vom EGMR geforderte Herstellung eines „ausgewogenen
Gleichgewichtes zwischen den betroffenen Interessen“ bedarf jedoch einer Feinabwägung,
d. h. einer Ermessensentscheidung nach Maßgabe des § 55 Abs. 3 AufenthG609 und erlaubt
erst recht keine generalpräventiv begründete Ausweisung. Eine sachgerechte dogmatische
Verarbeitung des vom EGMR entwickelten konventionsrechtlichen Ausweisungsschutzes hat
daher zur Folge, dass zunächst – losgelöst von der Regel-Ausnahme-Typik des deutschen
Ausweisungssystems – die betroffenen Interessen ermittelt und in ihrem jeweiligen Gewicht
bestimmt werden müssen. Auch die obergerichtliche Rechtsprechung muss einräumen, dass
das deutsche Ausweisungssystem den Anforderungen des Art. 8 EMRK nicht vollständig
603
VGH BW, AuAS 2003, 75 (78) = NVwZ-RR 2003, 307.
604
OVG Bremen, InfAuslR 2004, 328 (331).
OVG Bremen, InfAuslR 2004, 328 (331).
606
BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300; BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 946; OVG Bremen,
InfAuslR 2008, 163; OVG NW, NVwZ 2008, 450; VG Schleswig, InfAuslR 2009, 114; s. auch VerGH Wien,
InfAuslR 2008, 30; s. insbesondere VGH BW, InfAuslR 2011, 293; VGHBW, InfAuslR 2011, 377; VGH BW,
AuAS 2012, 53
607
BVerwGE 142, 29; BVerwG, InfAuslR 2013, 217; BVerwG, NVwZ 2013, 733
608
Barth, NVwZ 1998, 1031 (1035).
609
A.A. wohl OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1999, 205 = InfAuslR 1998, 496.
605
165
gerecht werde.610 Konturen wegen der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung anhand des
Maßstabs des Art. 8 Abs. 2 EMRK seien aber nur in „außergewöhnlichen Fällen“ denkbar.
Diese müssten entweder hinsichtlich des gesteigerten Gewichts der Schutzgüter (Privat- und
Familienleben) oder hinsichtlich der geminderten Bedeutung der öffentlichen
Ausweisungszwecke signifikante Besonderheiten aufweisen.611
4.
Ausweisungsrechtlicher Rechtsschutz
a)
Zweck und Funktion des Eilrechtsschutzverfahrens
Der Aufenthaltstitel erlischt mit Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung (§ 51 Abs. 1 Nr. 5
AufenthG; § 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990). Der Aufenthalt wird also mit Bekanntgabe der
Verfügung unrechtmäßig und es entsteht die Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG), der
unverzüglich nach Ablauf der Ausreisefrist Folge zu leisten ist (§ 50 Abs. 2 AufenthG).
Rechtsmittel gegen die Ausweisungsverfügung entfalten aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1
VwGO). Die Behörde kann aber die sofortige Vollziehung der Ausweisungsverfügung
anordnen (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Hiergegen kann Eilrechtsschutz beim zuständigen
Verwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragt werden. Mit der Stattgabe des
Eilrechtsschutzantrags entfällt die Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung. Die
Ausreisefrist wird bis zur unanfechtbaren Entscheidung über die Ausweisungsverfügung
unterbrochen (§ 50 Abs. 3 AufenthG). Wird der Antrag unanfechtbar zurückgewiesen, hat der
Betroffene für die spätere mündliche Verhandlung im ausweisungsrechtlichen
Hauptsacheverfahren aus Art. 6 EMRK ein Recht auf Teilnahme und dementsprechend einen
inhaltlich derart beschränkten Anspruch auf Erteilung eines Visums.612
Für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit gilt der Aufenthalt
ungeachtet der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit als fortbestehend (§ 84 Abs. 2 Satz 2
AufenthG). Der Betroffene darf also während des Schwebezustandes zwischen der
Antragstellung und der Entscheidung des Verwaltungsgerichts sowie des Beschwerdegerichts
ein bestehendes Arbeitsverhältnis fortsetzen und darüber hinaus auch eine neue
Erwerbstätigkeit aufnehmen. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG modifiziert also aus pragmatischen
Gründen den Berechtigungsinhalt nach § 4 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, erlaubt mit anderen
Worten die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ohne Aufenthaltstitel. Der Betroffene hat einen
Anspruch auf eine behördliche Bescheinigung seiner Beschäftigungserlaubnis.613
Ziel des ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrags ist die Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels. Widerspruch und Klage lassen unbeschadet ihrer
aufschiebenden Wirkung die (innere) Wirksamkeit der Ausweisungsverfügung, also die
Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG),
unberührt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990). Ziel des
Eilrechtsschutzantrags ist also nicht die Erhaltung der inneren Wirksamkeit, sondern die
Hemmung der Vollziehung (Vollziehbarkeitshemmnis). Wird die Ausweisungsverfügung
durch das Gericht oder die Behörde aufgehoben, tritt eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit
des Aufenthaltes nicht ein (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG), die innere Wirksamkeit der
Ausweisungsverfügung wird mithin rückwirkend beseitigt.
b)
Stillhalteabkommen
610
VGH BW, AuAS 2003, 64 (66) = NVwZ-RR 2003, 304.
VGH BW, AuAS 2003, 64 (66) = NVwZ-RR 2003, 304.
611
612
613
EGMR, InfAuslR 2006, 349 – Kaya.
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62); Nr. 4.3.1 VAH.
166
Der Eilrechtsschutzantrag entfaltet ebenso wenig wie die Beschwerde aufschiebende
Wirkung. Es ist indes allgemein anerkannt, dass die Behörde ungeachtet dessen allgemein die
verfassungsrechtliche Obliegenheit trifft, während eines Gerichtsverfahrens um vorläufigen
Rechtsschutz grundsätzlich von Maßnahmen des Verwaltungszwangs abzusehen. 614 Deshalb
nimmt die Verwaltung üblicherweise auf Anfrage oder Empfehlung des Gerichts von einem
Vollzug während des Eilverfahrens Abstand („Stillhalteabkommen“). Hierauf besteht indes
kein ausdrücklich geregelter Anspruch.615 Für das Gemeinschaftsrecht enthält Art. 31 Abs. 2
RL 2004/38/EG (§ 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU) ein zwingendes Abschiebungsverbot
während des anhängigen Eilrechtschutzverfahrens. Andererseits wird die Behörde auch
unabhängig von einer richterlichen Aufforderung im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht
für verpflichtet gehalten, den Abschluss des Verfahrens abzuwarten.616 Es wird darüber
hinaus vertreten, dass die Behörde unmittelbar aus Verfassungsrecht verpflichtet ist, dem
Bürger zumindest eine erstinstanzliche Überprüfung des Behördenbescheids im
Eilrechtsschutzverfahren zu ermöglichen und bis zu diesem Zeitpunkt – auch ohne einen
ausdrücklichen Hängebeschluss – keine vollendeten Tatsachen zu schaffen.617 Im
Allgemeinen halten die Behörden die Stillhalteabkommen ein. Es empfiehlt sich allerdings,
im Eilrechtsschutzantrag unmittelbar nach dem Hauptantrag und erneut im
Beschwerdeverfahren ausdrücklich eine entsprechende gerichtliche Empfehlung an die
Ausländerbehörde zu beantragen.
In der Rechtsprechung ist darüber hinaus anerkannt, dass auch während des
Beschwerdeverfahrens
eine
behördliche
Obliegenheit
besteht,
vom
Vollzug
618
aufenthaltsbeendender Maßnahmen Abstand zu nehmen.
Im Bundesland Hessen besteht
seit 1990 die allgemein eingehaltene Übung, dass die Ausländerbehörden auch während eines
Eilrechtsschutzverfahrens in der zweiten Instanz vom Vollzug aufenthaltsbeendender
Maßnahmen absehen. Falls dennoch im Einzelfall Vollzugsmaßnahmen geplant sind, werden
diese dem Beschwerdegericht mindestens zwei Wochen vorher angekündigt und entscheidet
dieses unverzüglich vor dem vorgesehenen Vollzugstermin.619 Anders als im erstinstanzlichen
Eilrechtsschutzverfahren kann bei drohender Verletzung des Stillhalteabkommens keine
Vorsitzendenentscheidung (vgl. § 80 Abs. 8 VwGO) getroffen werden, da § 80 Abs. 8 VwGO
im Beschwerdeverfahren nicht entsprechend anwendbar ist.620 In diesem Fall kann aber der
Erlass eines Hängebeschlusses beantragt werden.
c)
aa)
Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags
Form des Antrags
614
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162; OVG Berlin, NVwZ 2001,
1424; VG Berlin, InfAuslR 2001, 253 = AuAS 2001, 158; s. hierzu auch Andreas Fichser-Lescano, InfAuslR
2006, 317.
615
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162.
616
Hess. VGH, NVwZ-RR 1992, 34 (35); Andreas Fichser-Lescano, InfAuslR 2006, 317.
617
VG Berlin, InfAusl 2001, 253 (254) = AuAS 2002, 158 (159).
618
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318 = EZAR 622 Nr. 38 = AuAS 2000, 162; s. hierzu auch FischerLescano, InfAuslR 2006, 317 (318).
619
620
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318.
Hess. VGH, NVwZ 2000, 1318.
167
Da die Ausweisung ein belastender Verwaltungsakt ist, ist Eilrechtsschutz nach § 80 Abs. 5
VwGO zu beantragen. Die Sperrwirkung greift nicht, wenn die Ausweisung bereits im
Rahmen summarischer Kontrolle ernstlichen Zweifel begegnet.621 In der Hauptsache ist
Anfechtungswiderspruch bzw. Anfechtungsklage zu erheben. Will der Betroffene zugleich
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG geltend machen und hat er zuvor
kein Asylverfahren betrieben, kann eine isolierte Feststellung eines derartigen Verbotes im
Ausweisungsverfahren nicht beantragt werden. Dieses Ziel muss der Betroffene in einem
gesonderten Verfahren verfolgen.622 Dem kann nicht zugestimmt werden. Vielmehr ist im
Ausweisungsverfahren inzidenter zu prüfen, ob derartige Abschiebungshindernisse bestehen.
bb)
Rechtsschutzbedürfnis
Die Hauptsache (Widerspruch oder Anfechtungsklage) muss noch anhängig sein. Der
Eilrechtsschutzantrag ist nicht fristgebunden, kann also jederzeit gestellt werden. Nach
unanfechtbarer Zurückweisung des Antrags kann allerdings nur noch beim Gericht der
Hauptsache ein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestellt werden.
Entsprechend den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsprozessrechts ist der
Eilrechtsschutzantrag nicht fristgebunden (s. aber § 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG, § 36 Abs. 3
Satz 1 AsylVfG), sondern kann während der Anhängigkeit der Hauptsache jederzeit gestellt
werden. Die Gefahr des Vollzugs der Ausweisungsverfügung wird aber regelmäßig Anlass
geben, den Eilrechtsschutzantrag unverzüglich zu stellen. Nach der obergerichtlichen
Rechtsprechung ist dem untergetauchten Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis nicht
zuzubilligen. Dieses bestehe solange nicht, wie er sich im Rahmen der ihm in seinem
ausländerrechtlichen Belangen obliegenden Mitwirkungspflicht (vgl. § 82 Abs. 1 AufenthG)
nicht wieder der ausländerbehördlichen Kontrolle unterstelle. Dafür genüge es regelmäßig
nicht, dass ein „untergetauchter“ Ausländer durch seinen Prozessbevollmächtigten und/oder
Dritte, zu denen auch nahe Familienangehörige zu zählen seien, gegenüber dem Gericht
und/oder der Ausländerbehörde eine neue Anschrift mitteile, unter der er nunmehr tatsächlich
wieder erreichbar sei, ohne vorher weder persönlich bei der Ausländerbehörde vorzusprechen
noch persönlich die notwendige melderechtliche Neuerfassung zu beantragen. Soweit der
Betroffene befürchte, weiterhin Gefahr zu laufen, von der Behörde abgeschoben zu werden,
bleibe es ihm unbenommen, erneut um Eilrechtsschutz nachzusuchen.623
Eines der zentralen Probleme im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren wird
dadurch aufgeworfen, dass der Antrag an der bereits aus anderen ausländerrechtlichen
Gründen bestehenden Ausreisepflicht des Antragstellers scheitern kann. Bei inhaftierten
Ausländern bedeutet die Verhaftung häufig einen derart gravierenden Einschnitt in die
konkreten Lebensverhältnisse, dass die Verteidigung gegen den Strafvorwurf im Zentrum des
individuellen Interesses steht. Antragsteller mit einem befristeten Aufenthaltstitel vergessen
darüber häufig, dass sie rechtzeitig die Verlängerung des Aufenthaltstitels beantragen müssen.
Haben sie den Antrag nicht vor Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels gestellt, tritt
nach Fristablauf Ausreisepflicht ein (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG). In diesem Fall fehlt dem
ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzantrag das Rechtsschutzbedürfnis, weil bereits aus
anderen als ausweisungsrechtlichen Gründen Ausreisepflicht besteht. Nach der
Rechtsprechung muss nämlich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs
im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren einen rechtlichen oder tatsächlichen
Vorteil erbringen können.624 Eine Ausnahme wird in Betracht gezogen, wenn mit der
621
OVG SA, AuAS 2008, 5 (6).
VG Köln, B. v. 28. 12. 2005 – 12 K 6395/05.
623
OVG NW, InfAuslR 2005, 146 (147).
624
Hess. VGH, NVwZ-Beil. 1997, 57; Hess. VGH, AuAS 1999, 161 (162); 2002, 125 (126); OVG NW,
NVwZ-RR 1996, 173; OVG NW, InfAuslR 2000, 113 (114); OVG NW, InfAuslR 2001, 502; OVG NW,
622
168
Ausweisung zugleich ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt worden oder
mit der Ausweisung eine Abschiebungsandrohung verbunden ist.625 Einschränkend wird
eingewandt, es komme darauf an, ob dem Betroffenen aus der jeweiligen
Ausreiseverpflichtung ausländerbehördliche Vollstreckungsmaßnahmen drohten. Dabei sei
von dem Grundsatz auszugehen, dass es zwischen den auf verschiedenen Verwaltungsakten
oder sonstigen Grundlagen beruhenden Ausreiseverpflichtungen und deren sofortiger
Vollziehbarkeit keinen logischen oder anderweitigen inhaltlichen Vorrang oder ein sonstiges
Prioritätsverhältnis gebe. Vielmehr habe die Ausländerbehörde beim Zusammentreffen
mehrerer Ausreiseverpflichtungen zu entscheiden, welche Verpflichtung sie nach
Vollziehbarkeit zwangsweise durchsetze.626 Hat die Behörde etwa vor dem Erlass der
Ausweisungsverfügung die bereits bestehende Ausreiseverpflichtung nicht durchgesetzt, ist
davon auszugehen, dass Vollzugsmaßnahmen, die im Zusammenhang mit einer
Ausweisungsverfügung geplant werden, sich auf die aufgrund der Ausweisung begründete
Ausreiseverpflichtung beziehen. In diesem Fall kann trotz anderweitig bereits bestehender,
behördlich indes nicht durchgesetzter
Ausreiseverpflichtung dem
auf die
Ausweisungsverfügung bezogenen Eilrechtsschutzantrag das Rechtsschutzbedürfnis nicht
abgesprochen werden.627
Gegen jede ausländerrechtliche Maßnahme, d.h. gegen die Versagungs- wie die
Ausweisungsverfügung, ist einstweiliger Rechtsschutz zu beantragen.628 Auch wenn die
Behörde nicht die sofortige Vollziehung der Ausweisungsverfügung angeordnet hat, muss
gegen die mit dieser Verfügung zugleich erfolgte Versagung der begehrten Verlängerung des
Aufenthaltstitels Eilrechtsschutz beantragt werden.629 Zwar beschränkt sich die
Rechtswirkung des Sofortvollzugs der Versagungsverfügung auf die Durchsetzung der
Ausreisepflicht. Denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lässt auch bei Anordnung der
aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs die innere Wirksamkeit der Ausweisung
unberührt und bewirkt die kraft Gesetzes nach § 84 Abs. 1 AufenthG sofort vollziehbare
Versagung der beantragten Verlängerung des Aufenthaltstitels ohnehin, dass der Betroffene
zur Ausreise verpflichtet ist. Der Betroffene hat aber jedenfalls einen rechtlichen Vorteil, weil
die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht vorläufig suspendiert wird, wenn der auf die
Versagungsverfügung bezogene Eilrechtsschutzantrag Erfolg hat. 630 Darüber hinaus hat das
Verwaltungsgericht zu prüfen, ob der auf § 80 Abs. 5 VwGO zielende ausweisungsrechtliche
Eilrechtsschutzantrag in einen einstweiligen Antrag nach § 123 VwGO umgedeutet werden
kann.631 Eine derartige Umdeutung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn nach dem
Sachvortrag Abschiebungshindernisse, inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse oder
andere mit ausländerrechtlichen Verteidigungsmitteln durchsetzbare Ansprüche in Betracht
kommen.
cc)
Antragsbefugnis des Ehegatten
Auch der deutsche oder ausländische Ehegatte wird durch die sofortige Vollziehung der
gegen den anderen Ehegatten gerichteten Ausweisung in seinem persönlichen Schutzbereich
betroffen und hat deshalb aus eigenem Recht eine Antragsbefugnis im
InfAuslR 2000, 113; OVG Bremen, NVwZ-RR 1999, 204; OVG Bremen, NVwZ-RR 2006, 643; VGH BW,
NVwZ 1992, 702.; OVG SA, AuAS 2008, 5 (6).
625
OVG SA, AuAS 2008, 5 (7).
626
Hess. VGH, AuAS 2002, 215 (126).
627
Hess. VGH, AuAS 2002, 215 (126).
628
VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (296).
629
Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901).
630
Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90.
631
Hess. VGH, AuAS 1999, 161 (162).
169
ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren.632 Die obergerichtliche Rechtsprechung
beruft sich auf die Rechtsprechung des BVerwG, der zufolge der Ehegatte aus eigenem Recht
aufgrund von Art. 6 Abs. 1 GG durch die gegen den anderen Ehegatten gerichtete
Versagungsverfügung belastet wird.633 Versäumt danach die Ausländerbehörde die
Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung gegenüber dem deutschen oder ausländischen
Ehegatten, gilt für diesen ungeachtet des Eintritts der Bestandskraft der Verfügung wegen
Fristversäumnis im Hinblick auf den durch die Ausweisung belasteten Ehegatten nicht die
Monatsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO. Der Rechtsbehelf des Ehegatten gegen die ihm
gegenüber bekannt gegebene Ausweisungsverfügung begründet aufschiebende Wirkung. Will
die Behörde die Ausweisung durchsetzen, muss sie auch gegenüber dem Ehegatten die
sofortige Vollziehung unter besonderer Abwägung der Belange des Ehegatten im öffentlichen
Interesse anordnen.634 Wird der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung
des Rechtsmittels gegen die Ausweisung gestellt, obwohl die Behörde keine auf diese
Verfügung bezogene sofortige Vollziehung angeordnet hat, fehlt dem Antrag der Ehefrau
zwar insoweit das Rechtsschutzbedürfnis. Hat die Behörde in der Ausweisungsverfügung
indes zugleich einen Verlängerungsantrag abgelehnt, entfaltet das Rechtsmittel bezogen auf
die Versagungsverfügung keine aufschiebende Wirkung (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). In
diesem Fall fehlt dem Eilrechtsschutzantrag der Ehefrau insoweit nicht das
Rechtsschutzbedürfnis.635
d)
Begründetheit des Eilrechtsschutzantrags
Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage war bislang im allgemeinen
Ausweisungsverfahren ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung.636 Nunmehr hat
das BVerwG entschieden, dass es in allen Ausweisungsverfahren auf den Zeitpunkt der
letzten mündlichen Verhandlung ankommt und begründet dies mit der entsprechenden
Rechtsprechung des EGMR.637 Das Verwaltungsgericht hat anhand der üblichen
verwaltungsprozessualen Grundsätze die Begründetheit des Eilrechtsschutzantrags zu prüfen.
Ist die Ausweisungsverfügung offensichtlich rechtswidrig, entfällt danach das öffentliche
Vollzugsinteresse. Ist hingegen die angefochtene Verfügung offensichtlich rechtmäßig, fällt
dies bei der anschließenden Interessenabwägung zwischen den öffentlichen
Vollzugsinteressen und den individuellen Interessen zu Lasten des Antragstellers ins Gewicht.
Das Verwaltungsgericht hat im summarischen Eilrechtsschutzverfahren insbesondere zu
prüfen, ob die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse
des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittelt und eingehend gewürdigt, insbesondere
auch Einsicht in die Strafakten genommen hat.638 Nach Erlass der Ausgangsverfügung
eingetretene Umstände bleiben, werden berücksichtigt.
632
VGH BW, InfAuslR 1999, 419; VGH BW, EZAR 44 Nr. 2; Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 8; Hess. VGH,
InfAuslR 2002, 362; Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901); VG Wiesbaden, AuAS 2004, 50.
633
BVerwGE 102, 12 (15) = InfAuslR 1997, 16 (17) = EZAR 023 Nr. 8; Hess. VGH, InfAuslR 2002, 362;
VGH BW, EZAR 44 Nr. 2.
634
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 8.
635
Hess.VGH, NVwZ-RR 2004, 900 (901).
636
BVerwGE 101, 247 (250) = EZAR 035 Nr. 16 = InfAuslR 1997, 8 = NVwZ 1997, 297; BVerwGE 102,
63 (64) = EZAR 035 Nr. 18 = NVwZ 1997, 1123 = InfAuslR 1997, 63; BVerwGE 102, 249 (251) = EZAR 033
Nr. 10 = NVwZ 1997, 685 = InfAuslR 1997, 193; BVerwG, InfAuslR 1995, 150 (151); BVerwG, NVwZ 1997,
1119 (1120); OVG NW, EZAR 34 Nr. 2.
637
BVerwGE 130, 20 (22) = NVwZ 2008, 434 = InfAuslR 2008, 156 = AuAS 2007, 40.
638
BVerfGE 51, 386 (399).
170
Unverändert gilt die frühere Rechtsprechung des BVerfG fort, der zufolge für die sofortige
Vollziehung ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich ist, das über jenes Interesse
hinausgeht, das die Verfügung selbst trägt.639 Dies hat das BVerfG in einer
Kammerentscheidung später bestätigt: Die Ausweisung ist in jedem Fall eine schwerwiegende
Maßnahme, die nicht selten tief in das Schicksal des Ausländers und seiner
Familienangehörigen eingreift. Ihr Gewicht wird durch die Anordnung der sofortigen
Vollziehung erheblich verschärft. Für die Verbindung der Ausweisung mit der Anordnung des
Sofortvollzugs muss danach wegen des mit ihr verbundenen schwerwiegenden Eingriffs und
mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „stets ein besonderes, über die
Voraussetzungen für die Ausweisung selbst hinausgehendes Erfordernis vorliegen“.640 Es
muss mithin die begründete Besorgnis bestehen, die von dem Betroffenen ausgehende, mit
der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich schon vor Abschluss der Hauptsache
realisieren. Der allgemeine Verdacht einer Belangbeeinträchtigung genügt nicht. Ein
unbestimmter Verdacht oder die abstrakte Möglichkeit einer Gefährdung reichen nicht aus,
das besondere Vollzugsinteresse zu begründen.641 Durch § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO hat sich
jedoch der maßgebende Zeitraum erheblich verkürzt. Die aufschiebende Wirkung des
Rechtsmittels endet nach geltender Rechtslage nicht mit dem rechtskräftigen Abschluss des
Hauptsacheverfahrens. Vielmehr endet die aufschiebende Wirkung bzw. tritt infolgedessen
die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des ausgewiesenen Ausländers ein, wenn die
Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist und drei Monate nach Ablauf
der gesetzlichen Begründungspflicht des gegen die ablehnende Entscheidung gegebenen
Rechtsmittels verstrichen sind, also fünf Monate nach Zustellung des klageabweisenden
Urteils.642
Muster:
Vorläufiger Rechtsschutz gegen Ausweisungs- und Versagungsverfügung nach
§ 80 Abs. 5 VwGO
An das
Verwaltungsgericht
Antrag
des russischen Staatsangehörigen
– Antragsteller –
gegen
Stadt, vertreten durch die Oberbürgermeisterin
– Antragsgegnerin –
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt:
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Ausweisungsverfügung des
Landrates des Kreises vom , zugestellt am , wird angeordnet.
2. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Verfügung des Landrates
des Kreises vom , zugestellt am , wird wiederhergestellt.
Es wird gebeten der Antragsgegnerin mitzuteilen,
639
BVerfGE 35, 382 (402); 38, 52 (58); 69, 220 (228); BayVGH, InfAuslR 2004, 244; s. hierzu auch
ausführlich Strieder, InfAuslR 2006, 211 (213 ff.).
640
BVerfG (Kammer), NVwZ 1996, 58 (59); zu den Anforderungen an die Begründung s. auch Strieder,
InfAuslR 2006, 211.
641
BVerfGE 35, 382 (404); 38, 52 (58); s. hierzu auch OVG Hambueg, InfAuslR 2005, 198 (199); VG
Stuttgart, InfAuslR 1999, 79.
642
OVG Hamburg, InfAuslR 2005, 198 (199)
171
dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zu einer Entscheidung des Gerichts
die Abschiebung nicht vollzogen wird
e) Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO
Auch im ausweisungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren kann nach unanfechtbarer
Zurückweisung des Eilrechtsschutzantrags ein Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2
VwGO gestellt werden. Das Abänderungsverfahren ist kein Rechtsmittelverfahren, sondern
ein gegenüber dem Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO selbständiges und neues
Eilrechtsschutzverfahren. Es setzt voraus, dass ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO formell
unanfechtbar abgeschlossen worden ist und hat als Verfahrensgegenstand die Frage, ob die
ergangene rechtskräftige Entscheidung für die Zukunft aufrechterhalten bleiben soll. Deshalb
kann die Entscheidung auch nur geändert und nicht etwa aufgehoben werden. Allenfalls in
Ausnahmefällen wird in der Rechtsprechung eine rückwirkende Aufhebung erwogen, etwa
dann, wenn die frühere Entscheidung auf einem schweren Verfahrensfehler oder auf einer in
jeder Hinsicht unzutreffenden Tatsachengrundlage beruht.643 Voraussetzung ist aber, dass das
Rechtsmittel in der Hauptsache nicht verfristet ist. Denn ein verfristeter Rechtsbehelf vermag
mangels Anfechtbarkeit des bestandskräftig gewordenen Bescheides von vornherein keine
aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO auslösen. Die aufschiebende Wirkung solle
die Schaffung irreparabler Tatsachen verhindern, die sich aus der sofortigen Vollziehung des
angefochtenen Verwaltungsaktes ergeben könnten. Komme hingegen die Gewährung von
Eilrechtsschutz wegen eindeutiger Verfristung des an sich statthaften Rechtsmittels nicht
mehr in Betracht, bestehe auch für den Eintritt der aufschiebenden Wirkung kein
hinreichender Anlass mehr.644 Sofern das Rechtsmittel fristgemäß eingelegt worden war, kann
jedoch auch nach unanfechtbarer Zurückweisung des Eilrechtsschutzbeschluss erneut
Eilrechtsschutz im Wege des Abänderungsverfahrens beantrag werden. Legt der Antragsteller
nach unanfechtbarer Zurückweisung seines Eilrechtsschutzantrags ärztliche Stellungnahmen
vor, aus denen sich infolge der Unterbringung zur Therapie gemäß § 64 StGB eine positive
Entwicklung im Hinblick auf die Bewältigung seiner Drogenabhängigkeit ergibt, haben sich
gegenüber dem vorangegangenen Verfahren die Gewichte deutlich verschoben, sodass dem
Eilrechtsschutz im Abänderungsverfahren – bezogen auf die Versagungsverfügung – der
Erfolg nicht versagt werden kann.645
F.
Rechtsschutz im Asyslverfahren
I..
Klageerhebung
§ 74 Abs. 1 AsylVfG ordnet für die Klageerhebung im Asylprozess kürzere Fristen als nach
allgemeinem Verwaltungsprozessrecht an. Besondere Vorschriften über die Klageerhebung
selbst sind dem Gesetz nicht zu entnehmen. Insofern gelten die allgemeinen Vorschriften.
Darüber hinaus enthält das Gesetz besondere Begründungsfristen mit Präklusionswirkungen
(vgl. § 74 Abs. 2 AsylVfG).
1.
Formelle Erfodernisse
Die Klage muss bei dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht erhoben werden. Bei der
örtlichen Zuständigkeit handelt es sich um eine von Amts wegen zu beachtende
Prozessvoraussetzung.646 Insbesondere in den Fällen, in denen während der Klagefrist eine
Zuweisungsentscheidung (§§ 50 f. AsylVfG) erlassen wird, ist zu prüfen, welches
643
644
645
646
VGH BW, InfAuslR 2005, 313 (314 f.) = AuAS 2005, 170.
VGH BW, NJW 2004, 2690.
OVG SH, AuAS 2001, 87.
BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301).
172
Verwaltungsgericht zuständig ist. Nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ist in Streitigkeiten nach
dem AsylVfG und wegen Verwaltungsakten der Ausländerbehörde gegen Asylsuchende das
Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Asylantragsteller mit Zustimmung
der zuständigen Ausländerbehörde entweder seinen Wohnsitz oder in Ermangelung dessen
seinen Aufenthalt hat oder seinen letzten Wohnsitz oder Aufenthalt hatte.647
Maßgebend für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit des Gerichts ist der Zeitpunkt der
Rechtshängigkeit, d. h. der Zeitpunkt des Eingangs der Klage beim Gericht. 648 Die
nachträgliche länderübergreifende Verteilung bewirkt wegen des Grundsatzes perpetuatio
fori keine Änderung in der gerichtlichen Zuständigkeit.649 Entscheidend für die Bestimmung
des Gerichtsstandes ist ausschließlich die Zustimmung der Ausländerbehörde, die in dem der
Klageerhebung vorangegangenen Verteilungsverfahren im Hinblick auf den Kläger örtlich
zuständige Ausländerbehörde geworden ist. Maßgebend für das Vorliegen der die
Gerichtszuständigkeit begründenden behördlichen Zustimmung ist im Übrigen der Zeitpunkt
der Erhebung der Klage 650. Es ist also für die den Gerichtsstand begründende behördliche
Zustimmung die Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylVfG
maßgebend.651
Wird ein Asylsuchender im Bezirk einer Ausländerbehörde aufgegriffen und in
Untersuchungshaft genommen bzw. zum Zwecke der Haft in den Bezirk einer anderen
Ausländerbehörde überstellt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass dies mit Einverständnis
der Ausländerbehörde erfolge, als die für den Haftort zuständige Behörde zuständig ist.652
Hat der Asylsuchende indes unerlaubt den ihm zugewiesenen Aufenthaltsbereich verlassen
und wird er in einem anderen Bundesland aufgegriffen und zwecks Rückführung
festgenommen, ist das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der
Asylsuchende mit Zustimmung der Ausländerbehörde seinen Aufenthalt zu nehmen hat.653
Liegen bei einem Folgeantrag die Voraussetzungen des § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylVfG vor,
wonach eine räumliche Beschränkung im Folgeantragsverfahren fortgilt, ist das
Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Antragsteller gemäß § 71 Abs. 7
Satz 1 AsylVfG seinen Aufenthalt zu nehmen hatte.654
Ist der Rechtsbehelf trotz ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung beim örtlich nicht
zuständigen Verwaltungsgericht erhoben worden, ist gemäß § 17 Abs. 2 GVG Antrag auf
Verweisung an das zuständige Verwaltungsgericht zu stellen. Dies gilt auch im
Eilrechtsschutzverfahren.655 Die Verweisung erhält, auch wenn sie erst nach Ablauf der
Rechtsbehelfsfrist erfolgt, die Rechtshängigkeit der Sache (vgl. § 83 VwGO i.V.m. § 17b
Abs. 1 Satz 2 GVG).656 Dies gilt jedoch nicht für die schuldhaft bei einem unzuständigen
647
648
649
650
651
652
653
654
655
656
BVerwG, InfAuslR 1983, 76.
BVerwG, InfAuslR 1985, 149 (150) = EZAR 611 Nr. 7.
Thür. OVG, AuAS 1997, 24.
BVerwG, BayVBl. 1986, 504.
BVerwG, BayVBl. 1986, 504; OVG Hamburg, EZAR 611 Nr. 5.
Hess. VGH, EZAR 611 Nr. 9.
VG Berlin, InfAuslR 1994, 379 (380).
VG Schleswig, AuAS 1993, 228.
BayVGH, NVwZ-RR 1993, 668; VG Berlin, InfAuslR 1994, 379.
BGH, NJW 1986, 2255; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1996, 181; OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995,
251.
173
Gericht erhobenen Rechtsbehelfe.657 Ebenso wenig erhält die Einreichung einer an das
zuständige Gericht adressierten Klage bei einem unzuständigen Gericht die
Rechtshängigkeit.658 In diesem Fall ist das Gericht, bei dem das Schriftstück eingeht, obwohl
es dort nicht eingehen sollte, zu einer prozessualen Behandlung weder verpflichtet noch
überhaupt berechtigt, sondern allenfalls nur gehalten, die Eingabe zurückzusenden oder
weiterzuleiten. Die versehentliche Zuleitung an ein anderes als das angesprochene Gericht
unterscheidet sich damit nicht vom sonstigen Irrläufer des Schriftstückes an einen beliebigen
Dritten. Im Gegensatz zum Rechtsirrtum, der zur Anrufung des falschen Gerichts führt und
den der Gesetzgeber nachsichtig behandelt hat, ist sie daher ebenso wenig fristunschädlich
wie eine sonstige Nachlässigkeit bei der Übermittlung fristgebundener Schriftstücke.659
Der Beschluss, mit dem sich das Verwaltungsgericht für unzuständig erklärt sowie das
Verwaltungsstreitverfahren an das nach seiner Auffassung zuständige Verwaltungsgericht
verweist, ist für dieses analog § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindend.. Im Rahmen des § 83 Satz 1
VwGO bedeutet dies, dass das Berufungsgericht bei der Überprüfung des erstinstanzlichen
Urteils von einer in dem Urteil ausdrücklich oder stillschweigend bejahten örtlichen
Zuständigkeit des betreffenden Verwaltungsgerichts ohne weiteres auszugehen hat. 660 Auch
wenn sich erst im Antragsverfahren nach § 78 Abs. 4 AsylVfG herausstellen sollte, dass das
erstinstanzliche Verwaltungsgericht örtlich unzuständig ist, darf daher das Berufungsgericht
die Sache nicht an das örtlich zuständige Berufungsgericht verweisen.
Abweichend von der allgemeinen Klagefrist von einem Monat für Anfechtungs- und
Verpflichtungsklagen (§ 74 VwGO) ist nach § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG die Klage gegen alle
Entscheidungen nach dem AsylVfG innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der
Entscheidung zu erheben. Die verkürzte Klagefrist gilt damit für alle Rechtsstreitigkeiten
nach dem AsylVfG, seien sie verfahrens-, aufenthalts- oder verteilungsrechtlicher Art.
Eine zusätzliche Verschärfung erfolgt durch § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG. Danach wird die
Klagefrist auf eine Woche nach Zustellung verkürzt, wenn der Antrag nach § 80 Abs. 5
VwGO innerhalb einer Woche zu stellen ist. Mit dem Verweis auf § 36 Abs. 3 Satz 1
AsylVfG in dieser Vorschrift ist klargestellt, dass in allen asylverfahrensrechtlichen
Eilrechtsschutzverfahren die Klagefrist mit der Frist für den Eilrechtsschutzantrag
zusammenfällt. Ordnet das Gesetz an, dass zur Gewährleistung des Abschiebungsschutzes der
vorläufige Rechtsschutzantrag binnen einer Woche nach Bekanntgabe der
Abschiebungsandrohung zu stellen ist (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG), ist abweichend von § 74
Abs. 1 1. Hs. AsylVfG auch die Klage binnen einer Woche zu erheben. Die verkürzte
Klagefrist ist bei unbeachtlichen (§ 29 Abs. 1 AsylVfG) und bei offensichtlich unbegründeten
oder als solche geltenden Asylbegehren (§§ 29a, 30 AsylVfG) zu beachten.
Überdies verweisen die Vorschriften über den Folgeantrag (§ 71 Abs. 4 1. Hs. AsylVfG)
sowie über den Zweitantrag (§ 71a Abs. 4 AsylVfG) auf die Bestimmungen des § 36
AsylVfG, so dass in diesen Fällen ebenfalls die einwöchige Klagefrist zu beachten ist (§ 74
Abs. 1 2. Hs. i.V.m. §§ 36 Abs. 3 Satz 1, 71 Abs. 4 1. Hs. oder 71a Abs. 4 AsylVfG). Für das
Asylfolgeantragsverfahren gilt dies indes nur, wenn das Bundesamt nach § 71 Abs. 4
AsylVfG eine erneute Abschiebungsandrohung erlässt. Geht es nach § 71 Abs. 5 AsylVfG
657
658
659
660
OVG Rh-Pf, NJW 1981, 1005; OVG Rh-Pf, NVwZ-RR 1996, 181 f.; VGH BW, NJW 1988, 222.
OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995, 251 f.
OVG NW, NJW 1996, 334 = AuAS 1995, 251 f.
BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301); offen gelassen Thür. OVG, AuAS 1997, 24.
174
vor, bleibt es bei der Klagefrist nach § 74 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG. Eilrechtsschutz ist in
diesem Fall nach § 123 VwGO zu beantragen.
Die Klage ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei
dem Verwaltungsgericht zu erheben (§ 81 Abs. 1 VwGO). Der Urkundsbeamte hat den
anwaltlich nicht vertretenen Asylkläger sachgerecht zu belehren und insbesondere auch auf
die Notwendigkeit mehrerer Klageerhebungen sowie gegebenenfalls auf die Erforderlichkeit
der Stellung eines Eilantrags nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG hinzuweisen. Die Klage muss
den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen (§ 82 Abs. 1
Satz 1 VwGO). Sie soll einen bestimmten Antrag enthalten (§ 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die
schriftliche Klage ist in deutscher Sprache abzufassen (§ 55 VwGO, § 184 GVG). Das gilt
auch für den der deutschen Sprache nicht mächtigen Asylsuchenden.661 Die Klageschrift muss
vom Kläger oder dessen Verfahrensbevollmächtigten eigenhändig unterschrieben sein. Ist die
Unterschrift nicht einmal andeutungsweise erkennbar, wie z.B. durch ein Handzeichen, ist das
Erfordernis der Schriftform nicht gewahrt.662 Dem Schriftformerfordernis genügt eine
Unterschrift mittels Faksimile-Stempel nicht.663 Dem Erfordernis der Schriftlichkeit kann
jedoch auch ohne eigenhändige Namenszeichnung genügt sein, wenn sich aus anderen
Anhaltspunkten eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft und den
Rechtsverkehrswillen ergibt.664 Insoweit ist ein Handzeichen ausreichend.665 Eine Heilung des
Mangels der Unterschrift durch Vollziehung nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist ist nicht
möglich.666
Die Klage muss Kläger, Beklagten und Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen (§ 82
Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zur ordnungsgemäßen Klageerhebung und zur Bezeichnung des
Klägers gehört grundsätzlich auch die Angabe der ladungsfähigen Adresse des Klägers.667
Demgegenüber ist anerkannt, dass die Berufungsschrift lediglich die Angabe enthalten muss,
für wen und gegen wen das Rechtsmittel eingelegt wird.668 Der Kläger muss jedoch nicht
ausdrücklich benannt werden. Es genügt, wenn sich aus der Berufungsschrift oder aus
anderen dem Berufungsgericht innerhalb der Rechtsmittelfrist vorgelegten Unterlagen eine
hinreichende Bestimmung des Klägers ergibt. Die Person des Berufungsführers muss mithin
innerhalb der Rechtsmittelfrist für das Gericht erkennbar werden.669
Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten (§ 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Beantragt der
Kläger die uneingeschränkte Aufhebung des angefochtenen Bescheides, stellt er indes
schriftsätzlich mit der Klageerhebung lediglich einen auf die Asylanerkennung gerichteten
Antrag und erst in der mündlichen Verhandlung den Verpflichtungsantrag nach § 60 Abs. 1
und § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, so ist die Klage in Ansehung der in der mündlichen
Verhandlung gestellten Anträge nicht als verfristet anzusehen.670
BVerwG, NVwZ-RR 1995, 300 (301); offen gelassen Thür. OVG, AuAS 1997, 24.
EGH Hamm, BRAK-Mitt. 4/1990, 249.
663
VG Darmstadt, HessVGRspr. 1994, 6; 1994, 71; VG Wiesbaden, HessVGRspr. 1994, 7; 1995, 31 (32).
664
BVerwG, NVwZ 1989, 555 = NJW 1989, 1175; VGH BW, ESVGH 39, 320.
665
EGH Hamm, BRAK-Mitt. 4/1990, 249.
666
OVG NW, NVwZ 1991, 582.
667
Hess. VGH, NVwZ-RR 1996, 179 (180); OVG NW, NVwZ-RR 1994, 124 (125); 1997, 390; OVG
NW, AuAS 1998, 236 (237).
668
BGH, NJW 1994, 1879.
669
BGH, NJW 1994, 1879.
670
OVG Hamburg, NVwZ-Beil. 1998, 44 (45) = AuAS 1998, 115; zur Auslegung von Klageanträgen in
einem ähnlich gelagerten Fall s. BFH, NVwZ-RR 1998, 408.
661
662
175
§ 67 Abs. 3 Satz 1 VwGO bestimmt, dass der Bevollmächtigte eine schriftliche Vollmacht
einzureichen hat. Aus § 67 Abs. 3 Satz 2 1. Hs. VwGO folgt andererseits, dass die
Wirksamkeit der Klage nicht von dem gleichzeitigen Nachweis abhängig ist. Der Umstand
allein, dass eine Vollmacht weder zusammen mit dem Rechtsbehelf noch später nachgereicht
worden ist, berechtigt das Gericht noch nicht, den Rechtsbehelf nach Ablauf einer gewissen
Frist als unzulässig zurückzuweisen. Eine derartige Verfahrensweise verletzt das
verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf Gehör671 Denn das Gericht darf keine
Überraschungsentscheidungen treffen. Gerade im Hinblick auf die Möglichkeit einer
Nachreichung der Vollmacht muss dem Bevollmächtigten deshalb zu erkennen gegeben
werden, dass die Vollmacht bisher nicht vorgelegt wurde, dies jedoch zur Beurteilung der
Zulässigkeit des Rechtsbehelfs für erforderlich erachtet wird. Dazu ist im Allgemeinen
ausreichend, dass die Prozessvollmacht angefordert wird. Insbesondere bei rechtlich nicht
vorgebildeten Bevollmächtigten kann es sich empfehlen, entsprechend der Vorschrift des § 67
Abs. 3 Satz 2 2. Hs. VwGO eine Frist zu setzen. Diese hat jedoch keine ausschließende
Wirkung, sondern eine gesteigerte Warnfunktion in dem Sinne, dass nach Fristablauf mit der
Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs nicht mehr zugewartet werden
braucht.672 Legt der Prozessbevollmächtigte jedoch auch nach wiederholter gerichtlicher
Erinnerung keine Vollmacht vor und stellt sich heraus, dass er den Rechtsbehelf lediglich
fristwahrend im vermuteten Interesse des Auftraggebers erhoben hat, ist der Rechtsbehelf
nach dem BVerwG mit der Folge abzuweisen, dass dem Prozessbevollmächtigten die Kosten
des Verfahrens aufzuerlegen sind.673
Die schriftliche Vollmacht muss wie eine Willenserklärung im Sinne des § 126 BGB vom
Auftraggeber unterzeichnet sein Im Rahmen dieser Vorschrift ist es anerkanntermaßen
unerheblich, in welcher Reihenfolge Text und Unterschrift gesetzt werden. Demgemäß sind
Blankounterschriften, denen erst später ein Text vorgestellt wird, nach allgemeiner Ansicht
formwirksam. Das Prozessrecht verbietet es daher nicht, dass der Auftraggeber seinem
Rechtsanwalt mehrere unterschriebene, im Übrigen aber unausgefüllte Vollmachtsformulare
übergibt und ihn ermächtigt, sie nach eigener Entscheidung von Fall zu Fall zu ergänzen –
erst dadurch entsteht die konkrete Prozessvollmacht – und zu verwerten.674 Auch eine bereits
vor Jahren erteilte Vollmacht bleibt unter diesen Voraussetzungen wirksam.675
bb)
Zustellung an den Prozessbevollmächtigten
Ist ein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind Zustellungen oder Mitteilungen des
Gerichts an diesen zu richten (§ 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Solange der Vollmachtsvertrag im
Innenverhältnis fortbesteht, findet § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO Anwendung. Besteht daher das
Auftragsverhältnis noch fort, weil der Kontakt des Rechtsanwaltes zum Auftraggeber
abgerissen ist und dieser daher im Innenverhältnis den Auftrag nicht kündigen kann, ist
gemäß § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO ungeachtet der Mandatsniederlegung nach wie vor an den
Verfahrensbevollmächtigten zuzustellen.676
671
BVerwG, InfAuslR 1985, 166; a. A. BFH, NVwZ-RR 2000, 263, Setzung einer Ausschlussfrist unmittelbar nach Klageeingang ist zulässig.
672
BVerwG, InfAuslR 1985, 166.
673
BVerwG, NJW 1960, 593; s. aber § 83b Abs. 1 AsylVfG.
674
675
676
BVerwG, InfAuslR 1983, 309.
BFH, NVwZ 1998, 662 (663).
BVerwG, InfAuslR 1984, 90; BVerwG, NVwZ 1985, 337; Hess. VGH, NVwZ 1998, 1313 (1314).
176
Das Gericht kann nach dieser Rechtsprechung, etwa bei Kenntnis von dem unterbrochenen
Kontakt an den Rechtsanwalt, eine Betreibensaufforderung gemäß § 81 AsylVfG zustellen,
mit der Folge, dass nach Fristablauf die Klage mit allen für den Auftraggeber nachteiligen
Folgen als zurückgenommen gilt. Wer als Rechtsanwalt oder Rechtsanwältin dem Gericht
Mitteilung macht, dass der Kontakt zum Mandanten unterbrochen ist, muss diese prozessuale
Vorgehensweise bedenken. Vor einer entsprechenden Mitteilung an das Gericht sind daher
alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Kontakt zum Mandanten wiederherzustellen. Dazu
gehören auch Anfragen bei der zuständigen Ausländerbehörde und bei Dritten. Andererseits
ist es unzumutbar, Akten über Jahre lediglich zu verwalten, wenn der Mandant jeglichen
Kontakt unterbrochen hat und auch keine Möglichkeiten erkennbar sind, diesen
wiederherzustellen.
Bei Zustellung an mehrere Prozessbevollmächtigte, beginnt die Rechtsmittelfrist mit der
ersten Zustellung zu laufen. Nach § 173 VwGO in Verb. mit § 84 Satz 1 ZPO sind mehrere
Bevollmächtigte eines Beteiligten berechtigt, sowohl gemeinschaftlich als auch einzeln den
Beteiligten zu vertreten. Bei der Bestellung mehrerer Prozessbevollmächtigter kann daher die
Zustellung an jeden von ihnen gemäß § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 8 Abs. 4VwZG wirksam
bewirkt werden. Wird an jeden von ihnen zugestellt, ist die zeitlich erste Zustellung für den
Lauf der Frist für alle Prozessbevollmächtigten maßgebend, ohne dass es auf Kenntnis des
jeweils anderen Prozessbevollmächtigten von der weiteren Zustellung ankommt 677 Das
Gericht soll an den Verfahrensbevollmächtigten in Anerkennung der besonderen Stellung des
Rechtsanwaltes als Organ der Rechtspflege die Zustellung durch Empfangsbekenntnis (§ 5
Abs. 2 VwZG) vornehmen.678
Wechselt der Asylsuchende nach Zustellung den Rechtsanwalt und erhebt dieser die Klage,
wird häufig bereits durch den bisherigen Rechtsanwalt die Klage erhoben worden sein. In
Kooperation mit dem bisherigen Verfahrensbevollmächtigten, gegebenenfalls durch Anfrage
an das Verwaltungsgericht ist zu klären, welche Klage zuerst eingegangen ist und
anschließend die später erhobene Klage zurück zu nehmen. Denn der letzteren steht das
Prozesshindernis der Rechtshängigkeit im Wege. Nimmt der frühere Bevollmächtigte die
Klage zurück, obwohl diese zuerst eingegangen ist, erwächst der Bescheid in Bestandskraft,
de zweite Klage wird als unzulässig zurück gewiesen. Allerdings kann ihm bereits vor
Klageerhebung die Vollmacht entzogen worden sein. In diesem Fall ist die von ihm erhobene
Klage mangels Nachweises einer Vollmacht unzulässig.
Bei einem beharrlichen Verschweigen des Aufenthaltsortes des Klägers wird wegen der damit
einhergehenden groben Verletzung der Mitwirkungspflichten das Rechtsschutzinteresse
verneint. Vorauszusetzen ist indes ein beharrliches Verschweigen. Bei einmaligem Verstoß
gegen die Verpflichtung zur Mitteilung des Aufenthaltsortes wird dies nicht angenommen.679
Zweifel am Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses sind mithin erst dann begründet, wenn der
Kläger sich beharrlich weigert, seine Adresse bekannt zu geben. Das Verwaltungsgericht
muss wiederholt aufgefordert haben, eine ladungsfähige Adresse mitzuteilen.680 Wird dem
Verwaltungsgericht bekannt, dass der Kläger nach „unbekannt abgemeldet“ ist, bedarf es
ebenfalls einer vorherigen Aufforderung, eine ladungsfähige Adresse mitzuteilen.681 Häufig
677
BVerwG, AuAS 1998, 260.
Thür.OVG, AuAS 1999, 195 (196); OVG MV, NVwZ 2002, 113, zu den Voraussetzungen der
Zustellung durch Empfangsbekenntnis
679
Hess. VGH, Hess. VGRspr. 1988, 41; 1988, 47; s. auch BVerfG (Kammer), AuAS 1996, 31, zur
Zurückweisung des einstweiligen Anordnungsantrags eines im Kirchenasyl „untergetauchten Asylsuchenden“.
680
Hess. VGH, Hess. VGRspr. 1988, 41; Hess. VGH, InfAuslR 1990, 291 (292).
681
Hess. VGH, EZAR 630 Nr. 9, S. 2; BayVGH, AuAS 1999, 98.
678
177
erfolgen derartige Abmeldungen ohne Wissen des Klägers oder der Aufsichtsperson in der
Gemeinschaftsunterkunft durch den Hotelbesitzer oder Vermieter.
Tritt der Asylsuchende im Asylverfahren unter falschem Namen auf, so wird nach der
Rechtsprechung der Bescheid auch dann wirksam zugestellt, wenn er an den Kläger unter
seinem falschen Namen gerichtet wird. Voraussetzung für eine wirksame Bekanntgabe nach
§ 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG sei lediglich, dass der Kläger als Adressat wirklich existiere, nicht
hingegen, dass er unter falschem Namen aufgetreten sei. Denn dies berühre seine tatsächliche
Identität nicht. Auf diese allein komme es jedoch an.682 Dementsprechend kann der Kläger
unter dem Namen, den er dem Bundesamt angegeben hat und unter dem der Bescheid an ihn
zugestellt worden ist, Klage erheben. Eine ganz andere Frage betrifft die Notwendigkeit, zur
Durchsetzung des Klageanspruchs die Identitätstäuschung im Rahmen der Klagebegründung
Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bestehen, wenn der Kläger ausgereist
ist.683 Betreibt er nach Ausreise das Verfahren ordnungsgemäß weiter und bekundet unter
Bezeichnung nachvollziehbarer Gründe sein fortbestehendes Interesse an der Erlangung eines
positiven Verpflichtungsurteils, kann das Rechtsschutzbedürfnis hingegen nicht verneint
werden. So lange die dem Urteil eigenen Wirkungen rechtlich möglich und auch mithilfe des
Gerichts, eben durch gerichtliche Entscheidung, erreichbar sind, kann ein objektives Interesse
am Ergehen einer richterlichen Entscheidung grundsätzlich nicht verneint werden.684
2.
Begründung der Klage
Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG sind die zur Begründung dienenden Tatsachen und
Beweismittel binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Entscheidung
anzugeben. Die Begründungsfrist knüpft damit nicht an die Klagefrist des § 74 Abs. 1
AsylVfG an. Vielmehr beginnen mit Zustellung Rechtsbehelfs- und Begründungsfrist
einheitlich zu laufen. Während die Klagefrist nach Ablauf von zwei Wochen (§ 74 Abs. 1
1. Hs. AsylVfG) bzw. von einer Woche (§ 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG) nach Zustellung endet,
läuft die Begründungsfrist nach Ablauf eines Monats nach Zustellung einheitlich für alle
Klagen – auch für die im Zusammenhang mit einem Eilrechtsschutzantrag nach § 36 Abs. 3
Satz 1 AsylVfG erhobene Klage – ab (§ 74 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG).
Wohl in stillschweigender Anknüpfung an die Rechtsprechung des BVerwG zum Umfang der
Darlegungslast in Asylverfahren differenziert die Gesetzesbegründung zwischen den
Mitwirkungspflichten des Asylsuchenden einerseits und den aus dem Untersuchungsgrundsatz
(§ 86 Abs. 1 VwGO) folgenden gerichtlichen Verpflichtungen andererseits. Der
Asylsuchende berufe sich regelmäßig auf Umstände, die in seinem persönlichen
Lebensbereich lägen und daher nur von ihm selbst vorgetragen werden könnten. Auch die
Beweismittel, die diese Umstände belegen könnten (insbesondere Zeugen und Urkunden),
könne vielfach nur der Kläger selbst benennen. Komme er seiner hieraus folgenden
Mitwirkungspflicht nicht oder nur unzureichend nach, führe dies zu erheblichen
Verfahrensverzögerungen. Dem solle durch die zwingende Begründungsfrist in § 74 Abs. 2
Satz 1 AsylVfG Rechnung getragen werden.685
682
683
BayVGH, EZAR 210 Nr. 12.
BVerwG, InfAuslR 1985, 278 (279) = EZAR 630 Nr. 19; BVerwG, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG
Nr. 10.
684
BVerwGE 81, 164 (166) = EZAR 205 Nr. 10 = NVwZ 1989, 673; s. auch BVerfGE 56, 216 (243 f.) =
DVBl. 1981, 623 = DÖV 1981, 453 = NJW 1981, 1436; BVerfGE 67, 43 (57) = NJW 1984, 2028 = InfAuslR
1984, 216; ebenso OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 1998, 60 = AuAS 1998, 58.
685
BT-Drs. 12/2062, S. 40.
178
Unberührt von dieser Darlegungspflicht bleibe der Untersuchungsgrundsatz nach § 86 Abs. 1
VwGO. Deshalb müssten die Gerichte beispielsweise Ermittlungen über die allgemeine
politische Lage im Herkunftsland des Asylklägers, soweit erforderlich, auch weiterhin von
Amts wegen vornehmen. Als generelle Faustregel zur Handhabung der fristgebundenen
Begründungspflicht wird man daher sagen können, dass innerhalb der Begründungsfrist
sämtliche den individuellen Lebensbereich des Klägers betreffende Tatsachen und
Beweismittel anzugeben sind. Dies erfordert insbesondere eine konkrete und detaillierte
Auseinandersetzung im Einzelnen mit den im angefochtenen Asylbescheid erhobenen
Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben innerhalb der Begründungsfrist. Sie sind
innerhalb dieser Frist nach Möglichkeit erschöpfend auszuräumen.
Ausreichend ist aber, dass dem Grunde nach Tatsachen und Umstände vorgetragen werden,
die geeignet sind, Glaubhaftigkeitsbedenken auszuräumen. Ergänzendes Sachvorbringen nach
Fristablauf, das sich auf dem Grunde nach bereits vorgetragene Tatsachen bezieht, bleibt
rechtlich zulässig. Das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel bleibt unberührt (§ 74
Abs. 2 Satz 4 AsylVfG). Der Anknüpfungszeitpunkt hierfür ist das Fristende nach § 74 Abs. 2
Satz 1 AsylVfG. Tatsachen und Beweismittel, die nach dieser Frist bekannt werden, können
nachträglich vorgebracht werden und unterliegen keiner besonderen Fristbestimmung. Spät
vorgetragene neue Tatsachen können aber Zweifel an deren Glaubhaftigkeit aufkommen
lasssen. Mit Beweismitteln sind in erster Linie vorhandene Urkunden und Zeugen gemeint,
die nur der Kläger selbst benennen kann. Es genügt insoweit deren „Angabe“, d. h. die
Vorlage der Urkunde oder Benennung des Zeugen. Die Präzisierung des Beweisthemas wie
auch die Angabe der ladungsfähigen Anschrift des benannten Zeugen können nachgeholt
werden. Vielfach wird der Kläger auch erst nach Ablauf der Begründungsfrist Kenntnis von
vorhandenen Zeugen erlangen.
Tatsächliche Ausführungen zur allgemeinen politischen und rechtlichen Situation im
Herkunftsland des Klägers bleiben jederzeit möglich. Dies trifft auch auf die zur Aufklärung
der allgemeinen Situation im Herkunftsland dienenden Beweismittel zu. Insoweit ist das
Gericht nach § 86 Abs. 1 VwGO ohnehin gehalten, von Amts wegen jede mögliche
Aufklärung des Sachverhalts bis zur Grenze des Zumutbaren zu versuchen, sofern dies für die
Entscheidung des Verwaltungsstreitverfahrens von Bedeutung ist. Rechtsausführungen sind
ebenfalls jederzeit möglich. Denn das Gericht hat über das Klagebegehren nach seiner
eigenen Rechtsauffassung zu entscheiden. Rechtsausführungen des Klägers haben daher
lediglich anregende Funktion bzw. bereiten das Rechtsgespräch in der mündlichen
Verhandlung vor. Dem entspricht es, dass sie jederzeit vorgetragen werden können.
Der Umfang des fristgebundenen Begründungserfordernisses wird also durch die den Kläger
treffende Darlegungspflicht bestimmt. Der Asylsuchende braucht nur in Bezug auf die in
seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine in sich stimmige
und widerspruchsfreie Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu
tragen. Hinsichtlich der allgemeinen Umstände ist ein Asylsuchender oft in einer schwierigen
Lage. Denn seine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen sind häufig auf einen engeren
Lebenskreis begrenzt und liegen zudem stets einige Zeit zurück. Daher würde seine
Mitwirkungspflicht überdehnt, wollte man auch insofern einen Tatsachenvortrag verlangen,
der seinen Anspruch lückenlos zu tragen vermöchte und im Sinne der zivilprozessualen
Verhandlungsmaxime schlüssig zu sein hätte. Insofern muss es genügen, um das Gericht zu
Ermittlungen zu veranlassen, wenn sich aus den vom Kläger vorgetragenen Tatsachen – ihre
179
Wahrheit unterstellt – die nicht entfernt liegende Möglichkeit ergibt, dass ihm bei Rückkehr
politische Verfolgung droht.686
Der Inhalt der fristgebundenen Begründungspflicht ist damit nach Maßgabe dieser Grundsätze
zu bestimmen. Innerhalb der Begründungsfrist sind vom Kläger sämtliche in seine
persönliche Erlebnissphäre fallenden Ereignisse und Vorkommnisse, die Anlass zur Flucht
gegeben hatten oder sich auf Aktivitäten im Bundesgebiet beziehen, erschöpfend und
detailliert darzulegen. Da im angefochtenen Asylbescheid häufig eine Reihe von Einwänden
gegen die persönliche Glaubwürdigkeit bzw. die Glaubhaftigkeit der Sachangaben erhoben
werden, ist eine konkrete Auseinandersetzung mit diesen nach Maßgabe der genannten
Grundsätze erforderlich. Häufig werden Glaubhaftigkeitsbedenken auch aus Erkenntnissen
zur allgemeinen Situation im Herkunftsland abgeleitet. Hier reicht es aus, wenn der Kläger
substanziiert den Hergang der Ereignisse darlegt, so wie er ihn erlebt hat. Ist dieses
Sachvorbringen in sich schlüssig, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass
die vom Bundesamt verwertete Erkenntnisquelle die ihr beigemessene Aussagekraft hat.
Erforderlichenfalls ist von Amts wegen aus Anlass des Sachvortrags weiter aufzuklären oder
ist zu diesem Zweck Beweisantrag zu stellen.
Musterklage: Asylanerkennung, internationaler Schutz
An das
Verwaltungsgericht
Verpflichtungsklage
der angolanischen Staatsangehörigen
– Klägerin –
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Leiter der Außenstelle des Bundesamtes
für Migration und Flüchtlinge
– Beklagte –
wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wird unter Aufhebung des Bescheides des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom .., zugestellt am.. , verpflichtet
festzustellen, dass die Kläger Asylberechtigte sind und ihnen die Flüchtlingseigenschaft
nach § 3 Abs. 4 1. Hs. AsylVfG zuzuerkennen;
hilfsweise:
den Klägern den subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zuzuerkennen;
hilfsweise
den Klägern den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG
zuzuerkennen.
II.
Eilrechtsschutz im Asylverfahren
Das asylrechtliche Eilrechtsschutzverfahren hat seinen verfassungsrechtlichen Ort in Art. 16a
Abs. 4 GG. Die Regelungen in § 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG setzen die verfassungsrechtliche
Beschleunigungsmaxime um. Das BVerfG beschreibt die Funktion des Art. 16a Abs. 4 GG so,
dass durch diese Norm in Verb. mit Art. 16a Abs. 3 GG das vorläufige Bleiberecht des
686
BVerwG, InfAuslR 1981, 156; 1983, 76; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507.
180
Asylsuchenden beschränkt werden soll.687 Diese Verfassungsnorm gilt für die Fälle des
Art. 16a Abs. 3 GG und damit insbesondere für offensichtlich unbegründete Asylbegehren im
Sinne des § 30 AsylVfG. Die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Anfechtungsklage
hat keine aufschiebende Wirkung (§ 75 AsylVfG). Will der Antragsteller für das weitere
Verfahren sein Verbleibsrecht sicherstellen, muss er deshalb abweichend vom allgemeinem
Verwaltungsprozessrecht binnen Wochenfrist einen Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in Verb. mit § 80 Abs. 5
VwGO stellen. Wegen § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG ist auch die Klage innerhalb dieser Frist
zu erheben. Wird kein einstweiliger Rechtsbehelf eingelegt, wird die Abschiebungsandrohung
(§§ 34 und 35 AsylVfG) nach Ablauf der einwöchigen Ausreisefrist vollziehbar. Wird zwar
der Eilrechtsschutzantrag innerhalb der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG gestellt,
die Klage jedoch erst nach Ablauf der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylVfG erhoben,
ist der einstweilige Antrag als unzulässig zurückzuweisen. Anders als im normalen
Verwaltungsstreitverfahren, in dem der einstweilige Antrag jederzeit wiederholt werden kann,
sofern die Anfechtungsklage fristgemäß erhoben worden ist, folgt aus der Fristgebundenheit
des Eilrechtsschutzantrags das Verbot der Wiederholung.688 Da bei Versäumung der
Klagefrist die Klage unzulässig ist, das Eilrechtschutzverfahren im Asylverfahrensrecht seine
Eigenart als Mittel des einstweiligen Rechtsschutzes, das in Abhängigkeit zum
Hauptsacheverfahren steht, jedoch nicht verliert,689 teilt es das rechtliche Schicksal des
Anfechtungsprozesses.
Der Gesetzgeber hat keine Begründungsfrist festgelegt. Im Hinblick auf die das Gericht
betreffende Entscheidungsfrist (vgl. § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG) kann ein unterbliebener
oder unvollständiger Sachvortrag einschneidende Rechtsfolgen haben. Auch kann die
Präklusionswirkung nach § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG eingreifen. Zwar hindert das Gesetz das
Verwaltungsgericht nicht, bereits vor Ablauf der Frist nach § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG zu
entscheiden. Vielmehr geht diese Norm davon aus, dass die Entscheidung „innerhalb“ von
einer Woche nach Ablauf der einwöchigen Ausreisefrist getroffen werden „soll“. Es spricht
jedoch vieles dafür, dem Antragsteller zur möglichst umfassenden Begründung seines
Rechtsschutzbegehrens entgegenzukommen und deshalb nicht unmittelbar nach Ablauf der
Wochenfrist zu entscheiden. Gegebenenfalls ist das Verwaltungsgericht darauf hinzuweisen,
dass der Antrag innerhalb der Frist des § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG begründet werden wird.
Muster: Klage und Eilrechtsschutzantrag bei Ablehnung des Folgeantrags nach § 71 Abs. 5
AsylVfG
An das
Verwaltungsgericht
Klage und Eilrechtsschutzantrag
der türkischen Staatsangehörigen
– Klägerin/Antragstellerin –
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch den Leiter der Außenstelle des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
– Beklagte/Antragsgegnerin –
wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
687
688
689
BVerfGE 94, 166 (190 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
VGH BW, VBlBW 1985, 466 = DÖV 1986, 296.
BVerfG, EZAR 631 Nr. 4.
181
Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wird unter Aufhebung des Bescheides des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom .., zugestellt am.. , verpflichtet
festzustellen, dass die Klägerin Asylberechtigte ist und ihr die Flüchtlingseigenschaft
zuzuerkennen;
hilfsweise:
zu verpflichten, der Klägerin subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 1, und 7 Satz 2 AufenthG
zuzuerkennen;
hilfsweise
zu verpflichten, der Klägerin subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG
zuzuerkennen
Des weiteren beantrage ich,
die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123
VwGO zu verpflichten, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass aufgrund der
Klageerhebung ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wird.
(Variante bei Zuständigkeit einer zentralen, für die Abschiebung zuständigen
Ausländerbehörde:
die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123
VwGO zu verpflichten, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass diese dem
Regierungspräsidium … mitteilt, dass aufgrund der Klageerhebung ein weiteres
Asylverfahren durchgeführt wird.)
Des Weiteren wird gebeten,
der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in … aufzugeben, der
Ausländerbehörde in … den gerichtlichen Hinweis zu übermitteln, dass im Hinblick auf
den anhängigen Eilrechtsschutzantrag bis zur einer gerichtlichen Entscheidung die
Abschiebung ausgesetzt wird.
(Variante bei Zuständigkeit einer zentralen, für die Abschiebung zuständigen
Ausländerbehörde:
der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in … aufzugeben, der
Ausländerbehörde in … den gerichtlichen Hinweis zu übermitteln, dass diese dem
Regierungspräsidium in … den Hinweis übermittelt, dass im Hinblick auf den anhängigen
Eilrechtsschutzantrag bis zur einer gerichtlichen Entscheidung die Abschiebung
ausgesetzt wird.
Muster: Eilrechtsschutzverfahren nach § 71 Abs. 5 AsylVfG in Verb. mit § 123 VwGO
An das
Verwaltungsgericht
Klage und Eilrechtsschutzantrag
der türkischen Staatsangehörigen
– Klägerin/Antragstellerin –
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch den Leiter der Außenstelle des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
– Beklagte/Antragsgegnerin –
wegen Asylrecht und Flüchtlingsschutz
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich Klage und beantrage:
(wie zuvor)
182
Ich stelle den Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tage gegen die
Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom
anzuordnen.
183
Download