Rezensionen fIAUPTMAN, JUDITH, Rereading the Mishnah. A new Approach to Ancient Jewish Texts, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2005 (= Texts and Studies in Ancient Judaism, Bd. 109), XIII, 285 S., ISBN 3-16-148713-3. Die von Judith Hauptman behandelte Problematik - das Verhältnis der zwei tannaitischen Sammelwerke Mischna und Tosefta - ist in der Forschung kein unbeschriebenes Blatt. Spätestens seit den Anfängen der Wissenschaft des Judentums trat das Bemühen zu Tage, eine überzeugende Theorie der Entstehung und Redaktion dieser formal und inhaltlich ähnlichen Korpora zu präsentieren. Dabei prägte bis vor wenigen Jahren eine einseitige Beurteilung der Tosefta als Kommentar zur Mischna die Wahrnehmung. Auch wenn die im Gegensatz zur normativen Mischna selten kommentierte Tosefta traditionsgeschichtlich weniger bedeutend ist, reichen die Fragestellungen zur Entstehung und Redaktion der Tosefta bis in die gaonäische Zeit zurück. Eine genaue Bestimmung der Beziehung zwischen beiden Sammelwerken gehört neben der Frage des Verhältnisses von Mischna und Tosefta zu den Baraitot in den zwei Talmudim sowie zu parallelen Stellen im halachischen Midrash zu den wichtigsten Aufgaben der Tosefta-, und damit letztlich auch der Mischna-Forschung. Die vorliegende Studie setzt sich deshalb nicht nur aufgrund des programmatischen Titels Rereading the Mishnah hohen Erwartungen aus. Im Buch wird die von Shamma Friedman (s. vor allem: no:::i - i\T1jl'T1ll i\ri:::iom 11iVi\i, Ramat Gan 2002) und von Verfasserin selbst bereits in verschiedenen Publikationen vertretene Auffassung - wonach die Tosefta als Vorlage die Redaktion der Mischna beeinflusst - in einem umfassenden Erklärungsmodell verifiziert. Dieses misst Hauptman - unter Einbeziehung bisheriger Forschung - anhand der Überzeugungskraft ihrer Analysen zum Textverhältniss paralleler Überlieferungen in beiden Werken. Die Verfasserin bespricht zahlreiche Textstellen und analysiert in einzelnen Kapiteln eingehend 20 parallele Texttraditionen aus Tosefta und Mischna, die verschiedenen Traktaten entnommen sind. Der Aufbau des Buches wird primär durch die der Studie zugrunde liegende These strukturiert. Nach eihem kurzen Rückblick auf Forschungsgeschichte und Präsentation der Zielstellung (Kapitel 1) wird zunächst anhand der Analyse von vier parallelen Texttraditionen die Ursprünglichkeit der Tosefta gegenüber der Mischna behauptet (Kapitel 2). Eine tiefgehende Textarbeit erfolgt vor allem in den Kapiteln 3-5. Im dritten Kapitel versucht Hauptman, ein Umschreiben ganzer Abschnitte aus der Tosefta-Vorlage durch die Hand des Mischna-Redaktors nachzuweisen (darin u.a. eine lange Analyse von rnPes 10 und tPes 10). Im vierten Kapitel widmet sich Hauptman parallelen aggadischen Traditionen, im fünften Kapitel analysiert sie mnemotechnische Verfahrens- weisen in der Mischna, die sie als Überarbeitung der Tosefta-Vorlage interpretiert. Im sechsten Kapitel wird anhand zweier Textbeispiele die Auseinandersetzung mit den Talmudim geführt. Abschliessend (Kapitel 7) fasst die Autorin ihre Thesen zusammen (from Tosefta Atiqta to Matnita lfadeta), gibt einen Ausblick auf die zukünftige Forschung und resümiert die Ergebnisse aus den Textanalysen. Das Buch beschliesst ein Stellen-, Inhalts- und Autorenregister. Das zweite Kapitel wurde bereits mit geringfügigen Änderungen in Jewish Studies, an Internet Journal (2005, S. 1-24), der Abschnitt A aus dem dritten Kapitel in Judaism 51 (2002, S. 5-18) und der Abschnitt D aus dem dritten Kapitel in m'? mirm (Jerusalem 2004, S. 61-70) veröffentlicht. Wie erklärt Verfasserin die Entstehung der tannaitischen Werke? Bis zur letzten tannaitischen Generation kommentiert die Tosefta eine uns nicht mehr erhaltene Ur-Mischna („My response is that, yes, the Tosefta is the collection that accompanied the Mishnah when it was ur-Mishnah, and also later, when it became our Mishnah. But the Tosefta also functions as the source of our Mishnah. Even if the Tosefta continued to assimilate new material in the last tannaitic generation, that does not contradict the possibility that much of the Tosefta is older then and is the basis ofthe Mishnah [ ... ]". S. 25). Der Redaktor der Mischna schliesslich schreibt Paragraphen und ganze Kapitel der Tosefta im Sinne einer anderen halachischen Ausrichtung um und redigiert die Mischna aus Ur-Mischna, Tosefta und anderen Quellen in der fünften tannaitischen Generation. Viele Aussagen jüngerer Rabbinen verbleiben jedoch in der Tosefta. Die Verfasserin betont dabei die - im Gegensatz zum Redaktor der Tosefta - intensive Redaktionsarbeit seitens des Mischna-Redaktors, die sich in den Texteingriffen niederschlägt: Der Redaktor der Mischna komprimiert nach Hauptman lange aggadische Exkurse durch kurze Anmerkungen, er fügt mnemotechnische Einheiten in den Text und komponiert dadurch gleichsam eine Struktur, die vorher nicht existierte. Nach der letzten tannaitischen Generation haben sich Tosefta-Stellen, die bereits im Prozess der Einbindung in die Mischna geändert wurden, bis zur Aufnahme in die Talmudim weiterentwickelt. Hauptman erklärt das in der Tosefta im Gegensatz zur Mischna gehäufte Auftreten von Tradenten der fünften Generation mit einer absichtlichen Anonymisierung zeitgenössischer Weisen in der Mischna, die sich durch die hierarchische Struktur des rabbinischen Kreises begründen lässt (S. 25). Es ist an dieser Stelle unmöglich, auf alle in der vorliegenden· Studie besprochenen Textbeispiele einzugehen. Exemplarisch sei auf die Analyse von mRH 1,1-2 (ml usw.) und tRH 1,1-13 (tl usw.) verwiesen, welche im ersten Kapitel als Beispiel einer mishnischen Überarbeitung der Tosefta-Vorlage besprochen wird („Comparative analysis will demonstrate that the redactor of Mishnah knows the Tosefta material on the various new years and rewrite it to make several points of his own", S. 5). Das Textverhältnis ist sehr komplex und muss jeweils im Detail geklärt werden. Die halachische Aussage in ml (vierfache landwirtschaftliche Zeiteinteilung) verbindet sich zunächst mit der aggadischen Aussage in m2 (kultischer Festkalender). Die ausführlichen Tradi218 tionen in tl-10 nehmen auf ml; tll-13 dagegen auf m2 Bezug. Hauptman argumentiert überzeugend, dass das in tRH 1 nicht tradierte Datum ( 1. oder 15. Shebat) in der Mischna ein Produkt der Überarbeitung des Redaktors zugunsten einer verbesserten Merkbarkeit des Stoffes ist, auch wenn dadurch die J(ontroverse der Schulen Hillel und Shammai sowie zahlreiche weitere Texteingriffe als sekundär zu betrachten sind (S. 9f.). Dennoch, warum verbindet tl l - worauf die Autorin nicht eingeht - das Eintreffen des Gerichtes Gottes mit der Neumondbestimmung? Letzteres Thema wird vom Redaktor der Mischna erst ab m3 gesondert thematisiert. Sollte der Redaktor der Mischna diese teleologische Deutungsebene nur zugunsten einer leichteren Merkbarkeit des Lernstoffes reduzieren? Bei solchen wie auch anderen Detailanalysen fragt sich, ob nicht alternative Erklärungsmodelle - etwa eine differenzierte Quellenanalyse der Tosefta-Tradition, eine unabhängige Entwicklung beider Traditionslinien oder zeitgleiche Kompilationen beider Werke (mit unterschiedlicher Zielstellung) aus einem noch umfangreicheren alten Traditionskomplex besser zur Klärung der Textphänomene beitragen können. Hauptman erhebt einleitend den Anspruch, hinsichtlich der Fragestellung zum Verhältnis der beiden Werke ein umfassendes Modell zu vertreten („The difference between my work and that of other investigators of MishnahTosefta issues is that I have tumed my findings [ ... ] into a global theory", Vorwort X). Damit grenzt sie sich zunächst von anderen Forschem -vor allem von Shamma Friedman - ab, läuft dabei aber auch Gefahr einer Pauschalisierung, die, besonders älteren Erklärungsmodellen zur Entstehungsgeschichte der Tosefta eigen ist. Zurückhaltender fällt die Gesamtbeurteilung zum Verhältnis beider Werke dagegen in der Zusammenfassung am Ende der Studie aus, wo sich Hauptman für eine differenzierte Betrachtungsweise ausspricht („This book is not, and does not purport to be, a systematic study of, or a commentary on, the Mishnah and the Tosefta. The materials analyzed herein were chosen for how well they illustrate a point. lt is not clear that a systematic study of a tractate or even an order would yield conclusive proof that the Tosefta precedes the Mishnah. One could always suggest that the materials be read and interpret in some other way. At the same time, there exist not contradictory evidence, i.e., there are no texts that prove that the Tosefta, as a collection, followed the Mishnah", S. 257). Auch wenn die Argumentation der Verfasserin in vielen Textpassagen plausibel ist, entstehen doch;- gerade durch die von ihr vorgetragene apodiktische Bestimmtheit des Modells - neben der Operation mit der uns unbekannten Ur-Mischna eine Reihe neuer Fragen grosser Komplexität. Wie sind die doppelten Redaktionsprozesse der Rabbinen (die Tosefta kommentiert die UrMischna, die Mischna entsteht hauptsächlich durch Ur-Mischna und Tosefta) und die Endredaktion beider Texte in den beiden letzten tannaitischen Generationen im soziokulturellen Umfeld der Rabbinen zu bewerten? In der auffallend zurückhaltenden Auswertung eines synoptischen Textvergleiches von Mischna und Tosefta Berakhot und Shebi 'it hat Alberdina Houtman beispiels219 weise ein Modell der Redaktion der Tosefta als Anti-Mischna skizziert (Mish- .· nah and Tosefta, Tübingen 1996, S. 236-237 sowie ihre Aufsätze zum Thema)~ Eine systematische Analyse der Traditionen Rabbis in beiden Werken könnte ebenso als Argument zu einem Entstehungsmodell der Tosefta aus traditionsgeschichtlicher Perspektive beitragen (dazu in Ansätzen bereits Epstein und Lieberman in ihren Kommentaren zur Tosefta). Zudem fragt sich, inwieweit die Marginalität der Tosefta (im Vergleich zur Mischna) mit einer seitens der Verfasserin behaupteten weitgehend stabilen Textkontinuität eine Generation vor der Redaktion der Mischna zu vereinen ist, variieren doch die Handschriften der Tosefta (Wien und Erfurt) in einem weitaus grösseren Masse voneinander als die vielen Textzeugen der Mischna. Warum reagiert die Tosefta nicht oder kaum auf die weitreichenden Eingriffe aus der Hand des MischnaRedaktors? Interessant ist ebenso der Umstand, dass scheinbar auch viele Stellen im halachischen Midrash in der Tosefta überarbeitet und demnach einer früheren redaktionellen Schicht entnommen sind (S. 133ff., S. 9 Anm. 25, vgl. auch Friedman, Kl"lji'l"ll7 Kl"l!l0111, S. 75-77). Neben dem textkritischen Befund sprechen zudem verschiedene - im Buch nicht systematisch analysierte - Beobachtungen für die Bewahrung älterer Textschichten in der Tosefta, die dem Redaktor der Mischna nicht unbekannt waren: So überliefert die Tosefta im Vergleich zur Mischna proportional zwar mehr Tannaiten der fünften Generation, diese kommentieren aber - wiederum proportional zur Mischna - mehr die Kontroversen alter Traditionen (aus der ersten tannaitischen Generation wie die Dispute zwischen den Schulen Hillel und Shammai oder zwischen Aqabja ben Mehalalel und den Chahamim), während in der Mischna die Kommentierung der Kontroversen der zweiten Generation überwiegt. Auch aus sprachwissenschaftlicher Analyse werden Natan Braverman zufolge viele Lemmata der Tosefta einer älteren Sprachschicht als der Mischna zugerechnet (s. vor allem Cl'Km;i 11lL''i~ 'il71!l;-J '1Kl"11 111'7'~;-J, Phil. Diss. Jerusalem 1995). Dennoch führen diese BeobachtUngen nicht zwangsläu--·:--· fig zu dem von Hauptman behaupteten Modell. Das vorliegende Buch ist eine wichtige Forschungsarbeit zu einer grundlegenden Fragestellung der Mischna- und Toseftaforschung, auch wenn die behauptete Rekonstruktion der Redaktionsprozesse von Mischna und Tosefta gerade durch die dem Modell zugrunde liegende Apodiktizität meines Brach~ tens nicht überzeugt. Dennoch verleihen der Studie die sich aus dem Erklärungsmodell ergebenden Fragestellungen - mit denen sich die zukünftige Forschung auseinandersetzen muss - grosse Bedeutung. Viele Einzelanalysen zeichnen sich zudem durch eine überzeugende Argumentation aus und verdienen unabhängig von Hauptmans Gesamtkonzeption Beachtung. Verdienst gebührt zudem einem bislang wenig beachteten Aspekt; der Auseinandersetzung mit aggadischen Kontroversen in Mischna und Tosefta. Heidelberg 220 AlexanderJJubrau