Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Brsg. Philosophische Fakultät Historisches Seminar Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas (Prof. Dr. Jörn Leonhard) Sommersemester 2017 Proseminar „Im Schatten der Gewalt. Abrechnung, Neuordnung und Kriegserfahrung in Deutschland, Italien und Europa, 1945-1958” Dr. Claudia Gatzka „Opfer” und „Gewinner” der Neuordnung nach 1945 In seinem Aufsatz zur Neudefinition des „Opfers“1 bedingt durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, spricht G. Daniel Cohen mehrmals die zunehmende Politisierung des Opferbegriffes und dessen quasi selektive und nutzorientierte Auslegung an. Ausgehend von dieser vermeintlichen Politisierung, vertrete ich im vorliegenden Essay die Hypothese, dass der steigende Ost-West Konflikt, der sich in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre immer mehr zuspitzt und einen sich auf alle gesellschaftlichen Schichten und Bereiche abfärbenden Schatten wirft, den Opferdiskurs der Nachkriegsgesellschaft maßgebend beeinflusste. So wird er mitunter in diesem Text zum Hauptverantwortlichen der vorerst gelungenen Integration vertriebener Deutscher in den Opferdiskurs der Nachkriegszeit. Anhand konkreter Beispiele aus den im Seminar behandelten Texten, werde ich versuchen aufzuzeigen, dass der Kampf um die ideologische und moralische Hegemonie der sich bildenden Blöcke dazu geführt hat, dass es kein politisches Interesse dafür gab, deutsche Flüchtlinge aus dem Opferdiskurs auszuklammern. Diese passten nämlich in das politische Programm des Westens, welches darauf abzielte die UdSSR zu diffamieren und so die gesellschaftlich-moralische Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion zu demonstrieren. Die Deutungshoheit über den Opferbegriff würde so zum politischen Instrument im Kontext des Kalten Krieges. Im Zuge dieser Rahmenbedingungen der im Essay aufgestellten Hypothese, werde ich weniger darauf eingehen, welche Gruppen als „Opfer“ oder „Gewinner“ zu bezeichnen sind, um vielmehr darauf hinzuweisen, wieso die Deutungsmuster und das zeitweilige Bevorzugen verschiedener Opfergruppen auf die entsprechenden politischen Verhältnisse angewiesen sind und sich deshalb auch im Laufe der Jahrzehnte wandeln. Im Mittelpunkt steht also der Gebrauch von Opfergruppen als Instrument westlicher Machtpolitik. Dabei lehne ich mich an die Aussage von Hoffmann an, der davon ausgeht, dass Menschenrechte zu „ […] einer hegemonialen Technik internationaler Politik [wurden] […], 1 Zitiert nach: G. Daniel Cohen: „Who is a Refugee?“, S. 25-35. um ihren partikularen Interessen eine universale Wendung zu geben.“2 Zeitlich begrenzt wird die Anwendung der Hypothese auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre von 1945-1949 die gleichzeitig den Beginn des Kalten Krieges markieren. Ebenfalls greife ich auf die Unterscheidung von Constantin Goschler3 zurück, der zwischen einem integrationistischen und partikularistischen Opferdiskurs unterscheidet. Während der integrationistische Opferdiskurs die Differenzierung der Opfergruppen weitestgehend zu vermeiden sucht, besteht der partikularistische Diskurs auf klar auszumachende Unterschiede zwischen Opfergruppen und überhaupt auf die Existenz dieser. Besonders in den ersten beiden Nachkriegsjahren wurde eine generelle Abneigung gegenüber dem Versuch deutsche Opfer und Opfer von Deutschen auf ein gleiches Niveau zu heben aufrechterhalten. Es ist eine Zeit geprägt von den grausigen Entdeckungen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, sowie den Entnazifizierungsbemühungen der Alliierten. Ein zweites Mal wurde der europäische Kontinent vom Krieg heimgesucht, und ein zweites Mal wurden die Deutschen verantwortlich gemacht. Aus Tony Judts Überblickswerk4 lässt sich hervorragend die deutschlandfeindliche Gesinnung der Siegermächte ablesen, wenn man die Schilderungen von Übergriffen der Roten Armee an deutschen Frauen in den „befreiten“ Gebieten mit einbezieht. Hier heißt es beispielsweise: „Mit stillschweigendem Einverständnis der Kommandeure stürzte sich die Rote Armee auf die Zivilbevölkerung in den eroberten deutschen Gebieten.“5Auch von der Seite der Westalliierten her waren Übergriffe, Plünderungen und Schikanen an den Deutschen keine vereinzelnd vorkommende Anomalien, sondern der Ausdruck einer tiefen Verachtung gegenüber einem Volk, welches man als totalitär, apathisch und grausam einstufte. Besonders anschauliches Quellenmaterial wären hier zum Beispiel die Aufzeichnungen von Hanna Fueß6 über den Landkreis Celle in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Hier finden wir Belege für die passive Haltung der Westalliierten Besatzer, wenn es zu Übergriffen auf Deutsche kam als auch deutschfeindliche Aussagen der Soldaten. Ebenfalls von höchster Ebene her, wurden die Deutschen als Opfer übergangen und hintergangen. Die Allgemeine Erklärung der 2 Zitiert nach: Stefan-Ludwig Hoffmann: Zur Genealogie der Menschenrechte, S. 8. 3 Vgl. Constantin Goschler: „Versöhnung“ und „Viktimisierung“, S. 873-884. 4 Vgl. Tony Judt: Geschichte Europas. 5 Vgl. Ebd., S. 37. 6 Vgl. Rainer Schulze (Hg.): Erlebnisberichte aus dem Landkreis Celle 1945-1949. 2 of 6 Menschenrechte 1948 zielte zweifellos darauf ab, die Verschiebungen der Bevölkerung zugunsten der Siegermächte zu erleichtern. Niemand setzte sich auf internationalem Niveau für die Repatriierung oder Entschädigung der vertriebenen Deutschen ein. In dieser Zeitspanne der unmittelbaren Nachkriegsjahre, wurden deshalb vorab die aus den Konzentrationslagern befreiten Juden als der Archetyp von Opfergruppen der Gräueltaten des Dritten Reiches angesehen. Hier manifestiert sich, wenn man den Blick auf die 1946 gegründete International Refugee Organization (IRO) lenkt, das erste Mal die politische Nutzausrichtung der westlichen Hilfsorganisationen. Durch Konflikte mit der Sowjetunion, beschränkte sich die IRO auf Flüchtlinge der westlichen Besatzungszonen und schlossen somit die deutschen Vertriebenen aus ihrem Hilfsprogramm aus7 . Dies unterstreicht ebenfalls Cohen, wenn er sagt, dass vor allem „the international protection of refugees concretely made Jewish survivors into paradigmatic victims […]“8 . Er führt ebenfalls an, dass die Hervorhebung der Juden als wichtigste Opfergruppe der Verdienst des internationalen Tribunals in Nürnberg war9 . Dass die Definition des Opfers schon vorher als moralisches Instrument praktisch angewandter Politik diente zeigt uns der Umstand, dass die Menschenrechte während dem Zweitem Weltkrieg ein regelrechtes revival erlebten. Mark Mazower argumentiert sogar, dass die Menschenrechte den strategischen Interessen der Allierten dienten und als „Werte- und Normengerüst der gegen Nazideutschland verbündeten Staaten“10 fungierten. Da in diesem Fall besonders die Juden als Opfer angesehen wurden, deren Menschenrechte infolge der Verfolgung, Deportation und Ermordung verletzt wurden, bewahrheitet sich die Annahme, dass die Einigung auf eine bestimmte Opfergruppe als Aushängeschild einer gemeinsamen außenpolitischen Kampagne klare Interessen verfolgte. In einer ersten Phase finden wir also die Durchsetzung eines (in der Manier von Goschler) partikularistischen Opferdiskurses in der Politik und Gesellschaft, die die Deutschen eindeutig als Täternation abstempelten. Es war das Resultat einer Anti-Hitler-Politik, die darauf drängte im Militär und der Bevölkerung keine Sympathie oder sonstiges Mitgefühl für die Deutschen entstehen zu lassen. Dass dies nur solange der Fall sein würde, bis dass die sich ändernden politischen Gegebenheiten eine erneute Anpassung des Diskurses erforderlich 7 Vgl. Ebd., S. 46. 8 Zitiert nach: G. Daniel Cohen: „Who is a Refugee?“, S. 30. 9 Vgl. Ebd., S. 30. 10 Vgl. Stefan-Ludwig Hoffmann: Zur Genealogie der Menschenrechte, S. 24. 3 of 6 machen würden, wird mit den zunehmenden Konflikten der Siegermächte gegen Ende der 1940er Jahre ersichtlich. Ziehen wir erneut Cohen heran, sehen wir, dass auch er von einer „Neuerfindung“ des Opferbegriffes im Kontext des Kalten Krieges ausgeht11. Hier befinden wir uns in einer Zeit geprägt von der steigenden Kluft zwischen dem Westen und dem Osten, welcher seinen Schatten auf alle Art öffentlicher Diskurse wirft. Analog dazu erkennt man in logischer Konsequenz auch eindeutige Veränderungen im Opferdiskurs der Jahre 1947-1949. Diese Veränderungen könnten nicht zuletzt auch auf internationaler Ebene vorgekommen sein. So führt Cohen an, dass nun „[…] anticommunist dissidents became the new symbols of persecution following the Communist takeover in East-Central Europe.“ Die anfänglichen Vorbehalte gegenüber den Deutschen treten vermehrt in den Hintergrund, wenn auch nur auf öffentlicher Ebene und passen sich an die veränderten politischen Verhältnisse an. Intensive und ausgeweitete Kampagnen gegen die deutsche Zivilbevölkerung haben sich mit dem Sieg über den einstigen gemeinsamen Feind, Hitler, erübrigt. Das Militär wird nicht mehr auf den „bösen Deutschen“ vorbereitet und Gespinste wie das der Werwölfe haben sich erledigt. Der einzige Grund, welcher eine Kohäsion der politischen Interessen der Alliierten ermöglicht und gerechtfertigt hatte, war niedergeworfen und zerschlagen worden. Inmitten Europa wuchsen neue Spannungen zwischen den einstigen Verbündeten an die sich der Diskurs durchaus angepasst haben könnte. Dadurch dass die Juden ihren Status als die Opfergruppe verloren hatten und nun durch die idealtypische Vorstellung eines Dissidenten als Inkarnation der Opfervorstellung ersetzt worden waren, verlagerte sich die Aufmerksamkeit des Diskurses auch auf die aus der UdSSR geflüchteten Menschen. Dies lag natürlich im besonderen Interesse der USA, die im Kampf um ideologische Hegemonie die Oberhand behalten wollten. Es galt die gesellschaftliche Überlegenheit mit allen Mitteln zu demonstrieren. Dass sich auch der Opferdiskurs in dieses politisches Programm einreiht erscheint genauso provokant wie einleuchtend. Robert G. Moeller setzt den Opferdiskurs ebenfalls in einen hoch politisierten Kontext, wenn er folgendes anführt: „To be sure, in the early 1950’s, descriptions of German suffering were more likely to portray the losses inflicted on Germans by the Red Army […]; it is not surprising that in the context of the Cold 11 Vgl. G. Daniel Cohen: „Who is a Refugee?“, S. 30. 4 of 6 War, attacking the Soviet Union - past and present - was far easier than recounting the sins of former enemies who were now allies.“12 Ob geflohene DDR-Staatsbürger, denen die BRD unverzüglich Pässe anbot und sie so vom „Joch“ der russischen Handlanger in Ost-Berlin befreiten, oder die Exilgewährung für russischen Dissidenten wie Alexander Solschenizyn. Jeder im Westen aufgenommener Flüchtling war ein Affront gegen den Osten und eine weitere Beschädigung des Images des UdSSR. Hier gewinnt die Definition des Opferbegriffes machtpolitische Dimensionen und ist ein nicht zu unterschätzendes Instrument praktisch angewandter Politik. Ebenfalls Goschler geht für die frühen 50er Jahre von einer zunehmenden Durchsetzung des integrationistischen Opferdiskurses innerhalb des deutschen Diskurses aus13 , was auch auf den Einfluss des Kalten Krieges zurückgeführt werden könnte. In dieser zweiten Phase lässt sich also für die ausgehenden 1940er und frühen 1950er ein Stimmungswandel auf politisch-rechtlichem und internationalen Niveau erkennen. Die Konturen des Kalten Krieges nehmen Gestalt an und werden zu einem nicht zu negierenden Problem der europäischen Nachkriegsgesellschaften, sowie der ganzen Welt. Im Ringen um das Wohlwollen der öffentlichen Meinung war es unabdinglich die moralische Deutungshoheit für sich beanspruchen zu können was darauf schließen lässt, dass sich der Begriff des „Opfers“, welcher unmittelbar von den Menschenrechten abgeleitet ist, sich der politischen Landschaft angepasst hat. Wir können also festhalten, dass es in der unmittelbaren Nachkriegszeit Veränderungen im Opferdiskurs gegeben hat. Ob jedoch Parallelen zwischen dem innerdeutschen und dem internationalen Opferdiskurs gezogen werden können und inwieweit beide voneinander abhängig sind, konnte auch im Essay nicht eindeutig hervorgebracht werden. Dass es Analogien zwischen den weltpolitischen Zuständen um 1947 und den Schwerpunkten des Opferdiskurses geben kann, liegt meines Erachtens nach auf der Hand. Wenn wir, angelehnt an die Aussage von Hoffmann14 davon ausgehen, dass auch Menschenrechte in ihrer Funktion als überzeitliche moralische Normen durchaus in einem politischen Kontext 12 „missbraucht“ und beliebig ausgelegt werden können , liegt es der Zitiert nach: Robert G. Moeller: War Stories., S. 1019. 13 Vgl. hierzu insbesondere das 1. Kapitel in Constantin Goschler: „Versöhnung und „Viktimisierung“, S. 873-884. 14 Vgl. Stefan-Ludwig Hoffmann: Zur Genealogie der Menschenrechte, S. 8. 5 of 6 angeführten Hypothese nahe, dass auch der Opferbegriff politisch instrumentalisiert wurde und durch den aufziehenden Kalten Krieg seine Schwerpunkte und Akzente anders setzte. Die Aussage von Goschler15 , dass die derzeitige Politik der Viktimisierung durch ihre ständige Adaption Gefahr läuft den Begriff des Opfers aus seinen zeitbedingten politischen Konflikten herauszulösen, ihn also zu entkontextualisieren, bestärkt jedoch die im Essay aufgestellte These. Im Umkehrschluss geht Goschler nämlich auch von einer kontextuell bedingten Auslegung des Opferbegriffes in dessen jeweiliger politischen Gesamtlage aus. Inwieweit wir jedoch den innerdeutschen vom internationalen Opferdiskurs abhängig machen können, ohne den letzteren zu dominant darzulegen, beziehungsweise den deutschen Diskurs lediglich als Anhängsel globaler Meinungsbilder zu diskreditieren, bleibt ebenfalls offen. In Bezug auf das Thema des Essays, können wir dennoch postulieren, dass die internationale Politik durch ihre ausgeweiteten Propagandastrategien ein nicht zu überschätzender und beeinflussender Faktor der öffentlichen Meinung ist, zumal im „Zeitalter der Massenmedien“. Wer also „Opfer“ oder „Gewinner“ des Opferdiskurses nach 1945 ist, hängt durchaus mit einem gewissen politischen Opportunismus zusammen, der durch die Durchsetzung der im politischen Interesse liegenden Auslegung des Begriffes diesen maßgeblich prägen kann. 15 Vgl. Constantin Goschler: „Versöhnung“ und „Viktimisierung“, S. 883. 6 of 6